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Mountain Men



In dieser Reihe bisher erschienen

4501 John F. Cooper Wind River Gold

4502 John F. Cooper Der goldene Fluss

4503 John F. Cooper Stadt der Pelze

4504 John F. Cooper Bisonkrieg

4505 John F. Cooper Das alte Volk

4506 John F. Cooper Camp des Todes

4507 John F. Cooper Blutfrost

4508 John F. Cooper Die Belagerung


John F. Cooper


Blutfrost


Zweiter Band der Blutfrost-Trilogie





Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen 
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© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Alfred Wallon
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-357-5



Was bisher geschah ...


Die Mountain Men Jedediah Jones und Malcolm ­McGruder begleiten Hannah Billings, die Bastard-­Tochter des großen Auguste Chouteau, zusammen mit einer Trapper-Brigade in die Berge am Wind River. Hannah will sich einen Namen als Bourgeoise einer Pelztierjäger-­Brigade machen. Doch das Unternehmen steht unter keinem guten Stern. Sabotage und Verrat greifen um sich. Als Jed und Mel begreifen, dass hinter allem Gael Prevost, der Anführer der härtesten Mannschaft der Northwest-Company steckt, ist es schon zu spät.

Prevost glaubt, dass die Trapper seinem Vater das Tal, in dem sie jagen, gestohlen haben. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein, doch die Rachsucht des jungen Prevost kennt keine Grenzen, und seine Männer sind berüchtigt dafür, dass sie niemals Gnade gewähren. Nachdem die Hommes du Nord ihre Mannschaft massakriert haben, werden Hannah und Mel von Jed getrennt. Allein müssen sie durch die verschneiten Berge flüchten. Gerade als sie glauben, ihre Verfolger abgeschüttelt zu haben, erscheint ein Kanu auf dem Fluss ...



Kapitel 1


Die Rocky Mountains, Winter 1822/23


Hannah hatte Glück gehabt. Gedankenverloren hatte sie auf den Baumstamm eingehackt, doch um ihre Kräfte zu schonen, musste sie immer wieder kurze Pausen einlegen. In solch einem Moment, als die Axt gerade schwieg, war das Kanu wie ein träger Raubfisch vorbeigeglitten. Die Entfernung betrug keine dreißig Yards, doch Hannah war sicher, dass die Männer im Boot nichts gehört hatten.

„Wie viele waren es?“, fragte Mel.

„Drei, glaube ich.“ Hannah hatte sich hinter den Stamm geduckt und mehr darauf geachtet, nicht gesehen zu werden, als selbst zu beobachten.

„Waren Irokesen dabei?“ Mel befürchtete, dass die Waldindianer mit ihrem legendären Geruchssinn den Holzrauch aus dem Unterschlupf wahrgenommen haben könnten.

„Ich habe keine Rothäute gesehen.“ Mel fiel auf, dass Hannah die Indianer nur noch als Rothäute bezeichnete, seitdem der Irokese Delsy die kleine Hope ermordet hatte.

„Das ist gut“, meinte er, obwohl sie wussten, dass die Anwesenheit des Kanus ganz und gar nichts Gutes bedeutete. Es besagte, dass die Hommes du Nord die Verfolgung nicht aufgegeben hatten. Sie waren auf der Suche nach ihnen. Vielleicht jagten sie ganz allgemein Überlebende des Massakers, doch Mel nahm an, dass Gael Prevost sich nicht für einen einzelnen Trapper interessierte, der durch die Wildnis irrte. Er wollte ihn und Jed haben, um seine Rache zu vollenden. Wahrscheinlich war er auch hinter Hannah her, die eine wertvolle Geisel darstellte und außerdem die einzige weiße Frau im Umkreis von Hunderten Meilen war.

„Wir dürfen nicht hierbleiben“, erklärte er. „Sonst finden sie uns irgendwann. Wir sind nicht weit genug von unserem alten Lager entfernt.“ Die Hommes du Nord nutzten das Chouteau-Camp sicherlich als Basis.

„Für den Einbaum brauchen wir noch einige Tage“, wandte Hannah ein.

„Den Einbaum können wir vergessen. Irgendwann kommt dieses Kanu zurück. Auf dem Fluss finden sie uns am leichtesten.“

„Und wenn wir nun warten, bis sie zurückkehren? Wir lassen sie passieren, dann ist der Weg frei, und wir fahren los.“

Doch das Risiko erschien Mel zu groß. Was, wenn sie das Kanu verpassten und so nicht erfuhren, dass die Luft flussabwärts wieder rein war? Was, wenn die Besatzung sie bei ihrer Rückkehr doch noch entdeckte? Oder wenn Prevost weitere Boote den Fluss hinunterschickte? Nein, sie mussten zu Fuß weitergehen.

Insgeheim war Mel sogar froh über diese Entwicklung, denn er war nicht sicher, ob der Einbaum funktioniert hätte. Er hatte schon gehört, dass schlecht ausbalancierte Einbäume umschlugen wie Nussschalen auf hoher See und ihre Besatzungen in den Tod rissen. Ihr neuer Plan erschien ihm verlässlicher. Ein Fußmarsch war jedoch kräftezehrend, besonders wenn es wieder schneite.

„Wir brauchen Schneeschuhe“, sagte Mel.

„Klar. Aber die sind alle im Lager zurückgeblieben.“

„Wir bauen uns selber welche.“ Mel wusste, dass dabei weniger schiefgehen konnte als bei einem Einbaum. Nachts hatte er schon darüber nachgedacht, wie sich Schneeschuhe improvisieren ließen.

Mit dem Tomahawk schlug er daumenstarke Äste von den Bäumen, sechs Stück pro Schuh, dazu jeweils eine Handvoll Reisig. Die Äste brachte er auf unterschied­liche Länge. Jetzt benötigten sie nur noch Stricke. ­Hannah opferte ihr Haarband, Mel steuerte ein Tuch bei, in das er auf seinen Jagdausflügen Pemmikan einge­wickelt hatte. Das Gewebe war durchtränkt mit Fett, was es nahezu reißfest machte.

Mit Hannahs handlichem Messer schnitt er das Tuch in Streifen. Jeweils zwei unterarmlange Stöcke legte er so auf den Boden, dass sie ein V bildeten. Als Quer­streben, die das V zusammenhielten, verwendete er kürzere Stöcke. Er verband alles mithilfe der Stofffetzen und des Haarbandes. Auf diese Weise entstand ein keilförmiges Gitter. Zum Schluss flocht Mel Reisig zwischen die Streben. Das Ganze ergab eine Art übergroße Sohlen, mit denen sie im tiefen Schnee nicht versinken würden. Zu guter Letzt schnitt Mel lange Streifen aus dem Saum seines Capotes, mit denen sie die provisorischen Schneeschuhe an ihren Füßen festbanden.

„Alle Achtung“, sagte Hannah.

Mel zuckte mit den Schultern, als baue er jeden Tag Schneeschuhe und nebenher den einen oder anderen Einbaum. Insgeheim aber war er mächtig stolz auf seine Idee und auf Hannahs Lob.


*


Sie nahmen ihre wenigen Habe und gingen los. Das Wetter meinte es zunächst gut mit ihnen. Die Sonne schien, spendete ein wenig Wärme und hob ihre Stimmung. Allerdings kamen sie nur langsam voran. Auf weitläufigen Flächen waren die Schneeschuhe ein gutes Fortbewegungsmittel. Im Wald jedoch stießen sie häufig auf vom Sturm gefällte Bäume. Hier mussten sie die Treter abschnallen, um über die Stämme steigen zu können, die wild durcheinander lagen wie von Riesen verschüttete Schwefelhölzer.

Sie folgten dem Fluss in nördlicher Richtung. Mel hatte noch immer vor, den Handelsposten am ­Yellowstone River zu erreichen, obwohl er nicht wusste, ob es ihn wirklich gab. Doch sie konnten schlecht auf gut Glück durch die Berge streifen. Sie benötigten ein Ziel. Auf dem Weg zum Yellowstone mussten sie durch die Absaroka-­Berge. Vielleicht fanden sie dort ein Lager der Crow. Mel hoffte außerdem, dass sie auf Überlebende aus ihrer Mannschaft stießen. Wo, zum Teufel, steckte Jed? Nachdem er Hedlunds Angriff abgewehrt hatte, war er verschwunden. Mel glaubte nicht, dass Prevosts Männer ihn erwischt hatten. Nicht Jed. Mel wünschte, sein Partner wäre bei ihnen.

„Warum hat Hedlund uns verraten?“, fragte Hannah, als sie rasteten.

„Ich nehme an, er hat es als Notwendigkeit angesehen“, sagte Mel.

„Verrat als Notwendigkeit?“

„Er hat sich bessere Chancen ausgerechnet, wenn er mit Prevost zusammenarbeitet.“

„So ein Schuft. Ich habe ihn stets respektvoll behandelt.“

„Ja, aber so denkt Hedlund nicht.“

Hannah schwieg verbittert. „Ihn werden wir ebenfalls töten“, erklärte sie nach einer Weile. „Delsy, Hedlund ... und natürlich diesen verdammten Prevost.“ Die Liste ihrer Rache wurde von Tag zu Tag länger. Aber Mel sah ein, dass sie erst sicher sein würden, wenn auch Gael ­Prevost tot war.

„Was ist euer Geheimnis?“, wollte Hannah plötzlich wissen.

„Geheimnis?“

„Dieser Prevost behauptet, ihr hättet ihm das Tal seines Vaters gestohlen, schön. Aber es gibt viele Täler, und die meisten sind voller Biber. Er hätte keinen tödlichen Streit anzetteln müssen. Was hat er mit dem Gold gemeint? Ich nehme an, es ging wirklich um Gold.“ Sie sah Mel forschend an. Er fühlte sich unbehaglich. Konnte er ihr das Geheimnis anvertrauen? Vielleicht nicht. Aber konnte er es ihr vorenthalten und riskieren, dass sich Misstrauen in ihre Beziehung schlich? Ganz sicher nicht. Sie brauchten einander.

Mel beschloss, Hannah gerade so viel zu erzählen, wie nötig war, damit keine Spannungen zwischen ihnen entstanden.

„Sein Vater, Jehan Prevost, hatte ein bisschen Gold gefunden. Er hat uns verraten, wo das war.“

„Und, wo war es?“

„In einem Gebiet, das die Crow für sich beanspruchen. Man kommt nur hin, wenn man ihr Freund ist. Aber ­Prevost würde es natürlich trotzdem versuchen.“

„Verstehe“, sagte Hannah. „Es würde zum Kampf kommen, bei denen auch eure Rothaut-Freunde Verluste zu beklagen hätten.“

„Genau.“ Ihm gefiel der Begriff Rothäute im Zusammenhang mit den Crow nicht, aber er ging darüber hinweg.

Sie zogen weiter. Mel hielt nach Wild Ausschau, doch als sie in der Ferne einen Weißwedelhirsch erblickten, wagte er keinen Schuss. Das Tier war zu weit weg, ein tödlicher Treffer unwahrscheinlich. Der Büchsenknall wäre jedoch weithin zu hören. Er fragte sich, wie lange sie ihren nagenden Hunger noch ignorieren konnten.

„Vielleicht sollten wir Prevost verraten, wo sich das Gold befindet“, sagte Hannah nach einer Weile.

„Das denke ich nicht.“

„Überlege mal: Wir gehen zu ihm und ergeben uns. Wir sagen, dass er im Tausch für unser Leben bekommt, was er will. Dann locken wir ihn auf das Gebiet der Crow und sehen zu, wie die roten Teufel Prevost und seine Bande fertigmachen. Dafür musst du nicht einmal die richtige Stelle preisgeben.“

Das war kein schlechter Plan. Doch was würde geschehen, wenn sie die Crow nicht fanden? Außerdem hatte Mel nicht vor, die Hommes du Nord auf den Stamm von Little Eagle zu hetzen. Das würde auch für ihre Indianerfreunde blutig enden.

Er dachte an ihren Feind Bloody Buffalo. Bei ihm würde er nicht zögern, aber er hatte keine Ahnung, wo sich der Kriegshäuptling der Blackfeet aufhielt. „Ich denke, wir schlagen uns lieber so durch“, sagte er.

Sie stapften weiter, und Hannah blieb für den Rest des Tages still. Mel wusste nicht, ob sie ihre Kräfte einteilte oder schmollte.

Abends entfernten sie sich vom Fluss, um in sicherem Abstand ein Feuer zu entfachen. Mel baute wieder einen Unterstand aus Reisig, und sie legten sich eng nebeneinander. Mel fühlte sich von Hannah angezogen, aber sie ließ durch nichts erkennen, ob das auf Gegenseitigkeit beruhte. Nach allem, was sie beim Alten Volk erduldet hatte, nach ihrer erzwungenen Schwangerschaft, konnte er sich vorstellen, dass sie nie wieder mit einem Mann zusammen sein wollte. Andererseits hatte Hannah in der sogenannten zivilisierten Gesellschaft von St. Louis allerlei Gerede über sich ergehen lassen müssen. Die Frau, die von den Roten genommen worden war. Mel hatte nie derartige Vorbehalte gezeigt. Vielleicht machte ihn das zu einem Kandidaten, den sie in Erwägung zog?

Er schlief ein und verbrachte eine unruhige Nacht.


*


Am Morgen zogen sie weiter. Hannah ließ keine Spuren von Verstimmung erkennen, machte aber auch keine Vorschläge mehr. Mel war es ganz recht so. Der Fluss blieb ihr Wegweiser, und als die Sonne am höchsten stand, nahm Mel eine Bewegung in Ufernähe wahr. „In Deckung“, zischte er.

Sie duckten sich hinter eine kleine Gruppe Kiefern, deren immergrüne Zweige ihnen Tarnung gaben. Mel holte sein Fernrohr aus der Tasche und robbte zwischen den Kiefern nach vorne.

„Was ist los?“, wollte Hannah wissen.

„Es sind nur Biber“, sagte Mel. Unweit des Flusses machten sich zwei Biber an einer hohen Tanne zu schaffen. In Bodennähe hatten sie einen Keil in den Stamm genagt. Das frische Holz hob sich deutlich ab. Nicht mehr lange, und der Baum würde fallen.

Aus reiner Gewohnheit schwenkte Mel das Ufer mit dem Fernrohr ab. Eine Unregelmäßigkeit ließ ihn innehalten. Er schwenkte zurück, drehte am Okular, bis das Bild scharf war, und erstarrte.

Ein Kanu lag am Kiesstrand. „Verdammt.“

Das Kanu bestand aus Baumrinde und wirkte schäbig, was wohl daran lag, dass man es rasch zusammengebaut hatte. Holz und Rinde direkt aus dem Wald. Keine Veredelung, keine Schnörkel. Ein Boot, das schnellst­möglich zu Wasser gelassen werden sollte.

Er winkte Hannah zu sich. „Ist es das Kanu, das du gesehen hast?“

Sie legte sich neben ihn auf den Bauch und nahm das Fernrohr. „Ich glaube schon“, sagte sie nach einer Weile.

Sie hatten Prevosts Männer gefunden. Besser als umgekehrt, dachte Mel. Aber wo waren die Kerle? Er ließ sich das Fernrohr wiedergeben und suchte die Umgebung ab. Nichts, niemand da. Vielleicht sind sie ein Stück landeinwärts auf Jagd. Hier eröffnete sich ihnen gerade eine hervorragende Chance.

„Wir nehmen das Kanu“, verkündete er. Hannah nickte. Ein diebisches Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Sie umgingen die Biber, bis die Tanne in ihrem Rücken und das Kanu vor ihnen lag. Die Nager ließen sich nicht stören. Sie waren ganz in ihre Arbeit vertieft. Mel fragte sich, was sie mit dem Baum vorhatten. Wollten sie den Fluss stauen? Doch für einen neuen Damm war der Winter zu weit fortgeschritten. Wahrscheinlich ging es ihnen um die zarten Äste, die weit oben am Stamm saßen und nur erreichbar wurden, wenn der Baum am Boden lag. Mel hatte gelernt, dass Biber unterschiedliche Vorlieben besaßen. Manche fraßen Rinde und Blätter von Laub­bäumen. Andere bevorzugten den herben Geschmack von Nadelhölzern, und zu dieser Jahreszeit gab es kein Laub mehr, bloß jede Menge Tannengrün.

Das Kanu lag mit der Öffnung nach unten auf dem geröllhaltigen Strand. Es wirkte roh und unfertig, aber es hatte drei Männer den Fluss hinuntergetragen. Mel konnte nicht umhin, die Fertigkeiten der Hommes du Nord zu bewundern. Egal, was Jed über die Voyageure aus Rupert‘s Land redete, sie waren fähige Männer.

Wie fähig, das erfuhren Mel und Hannah kurz darauf, als sie sich anschickten, das Boot zum Fluss zu tragen.

Metallisch knackend wurden Gewehrhähne gespannt, und zwei Männer traten aus dem ufernahen Wald.

„Wen haben wir denn da?“, sagte der eine grinsend und richtete seine Waffe auf Mel. Der andere ließ Hannah nicht aus den Augen.

Sie trugen speckige Wildlederkleidung, Mokassins und Gamaschen aus Fell. Auf ihren Köpfen saßen dicke Wollmützen. Sie waren unrasiert und hatten faltige Leder­gesichter, gegerbt von den Unbilden der Wildnis.

„Wenn das mal nicht die Leute sind, die wir suchen sollen.“

„Wen sucht ihr denn?“ Mel versuchte, Zeit zu gewinnen. Wofür, wusste er selbst noch nicht.

„Zwei Männer, eine Frau. Unser Commis will sie sehen.“

„Wir sind nur ein Mann und eine Frau, und einen Commis kennen wir nicht, wer immer das sein soll.“ Das war natürlich Schwachsinn, aber so lange sie redeten, wurden keine Tatsachen geschaffen. Mel fragte sich, wo der dritte Voyageur steckte.

„Lassen wir das den Commis selbst entscheiden“, sagte der Kerl, der auf Mel zielte.

Mel zuckte mit den Schultern. „Hört mal, Jungs. Meine Frau und ich sind hier draußen auf Pelztierjagd. Wir haben euer Kanu gesehen und dachten, es gehört diesen verdammten Blackfeet-Bastarden, die sich immer hier herumtreiben. Wir wollten es in den Fluss stoßen, und dafür entschuldigen wir uns. Jetzt wissen wir ja, dass das euer Kanu ist. Wir alle sind Weiße, wir müssen doch gegen die Rothäute zusammenhalten.“

Er hoffte, dass die Hommes du Nord, so kompetent sie im Gebiet der Northwest-Company auch sein mochten, über die Verhältnisse in den Wind-River-Bergen nicht Bescheid wussten und sich verunsichern ließen. Ihm war klar, dass diese Kerle sie nicht am Leben lassen würden. Ihr Kanu fasste keine weiteren Passagiere. Wenn sie etwas zu Prevost bringen, dann unsere Köpfe, dachte er, und plötzlich hatte er eine Idee.

Er trat ein paar Schritte zur Seite. Sofort hoben die beiden Männer wieder ihre Northwest-Guns.

„Bleibt stehen, sonst pusten wir euch weg!“, rief der eine. Sie schienen darüber nachzudenken, ob an Mels Geschichte vom Fallensteller-Pärchen, das mit den Blackfeet im Streit lag, etwas dran sein konnte, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die Wahrheit erkannten.

Aber Mel schätzte, dass er nur noch ein paar Sekunden brauchte.

Durch seine Seitwärtsbewegung standen die Nord­männer jetzt so, dass sie die hohe Tanne genau im Rücken hatten.

Die Biber wurden fertig, und der Baum begann sich zu neigen. Erst kaum merklich, dann jedoch kippte er mit zunehmender Fallgeschwindigkeit zur Seite weg. Holz knirschte und splitterte. Die Voyageure fuhren erschrocken herum. Vielleicht glaubten sie, eine Horde ­Blackfeet bräche mit der Urgewalt einer Büffelherde aus dem Wald hervor.

Mel riss seine Forsyth-Rifle hoch, spannte den Hahn und erschoss den Nordmann, der ihn bedroht hatte.

Als der Schuss krachte, wandte sich sein Kumpan wieder um, doch Mel sprang ihm mit den Beinen voran gegen die Brust. Eines von Dwayne Rockers Ringkampfmanövern, das er in den zurückliegenden Wochen ständig geübt hatte.

Sein Gegner ging zu Boden, wobei er mit dem Hinterkopf auf einen Stein prallte und das Bewusstsein verlor.

Mel hatte mehr Glück. Er landete zwar unsanft auf dem Rücken, überstand die Landung jedoch ohne größere Blessuren, weil er vorbereitet war und gelernt hatte, sich abzurollen. Er stand auf und begann sofort, sein Gewehr zu laden, während er bereits nach dem dritten Mann Ausschau hielt, der in der Nähe sein musste. Mit Sicherheit hatte er den Büchsenknall gehört.

Dann fiel ein weiterer Schuss, direkt neben Mel.

Hannah war zu dem angeschlagenen Voyageur getreten, hatte die Pistole auf ihn gerichtet und ohne zu zögern abgedrückt. Mel hatte ihr die Waffe gelassen, damit sie sich verteidigen konnte, und nun hatte sie zum ersten Mal Rache genommen.

„Das war weder Delsy noch Hedlund“, sagte Mel tadelnd.

Hannah hob die Schultern. „Aber er war dabei.“

Sie ließen das Kanu zu Wasser und paddelten los. Sie waren entkommen, doch der dritte Mann war es auch.


*


Auf dem Fluss kamen sie rasch voran. Sie besaßen keine Erfahrung im Führen eines Kanus, aber das Boot war erstaunlich gut ausbalanciert, und da die Strömung sie vorantrieb, konnten sie sich darauf konzentrieren, die Paddel als Steuerruder einzusetzen. Mels Respekt vor den Voyageuren wuchs. Sie hatten dieses Boot in kürzester Zeit unter den widrigen Bedingungen des Winters gebaut, und es leistete hervorragende Dienste. An zwei, drei Stellen drang Wasser durch die Nähte, aber auch damit hatten die Nordmänner gerechnet. Im Kanu lag eine Blechtasse, mit der Hannah das Leckwasser über Bord schöpfen konnte.

Zum ersten Mal seit Tagen glaubte Mel wirklich daran, dass sie es schaffen konnten.

Vor der Abfahrt hatten sie die Toten durchsucht und in ihren Jagdtaschen etwas Pemmikan und Trockenfleisch gefunden. Außerdem konnten sie ihre Munitionsvorräte um zwei Hörner mit gutem Pulver ergänzen. Die willkommenste Beute aber waren kleine Ledersäcke, von denen jeder der Männer einen bei sich trug. Sie enthielten getrocknete Bohnen und Mais. Energiereiche Marschverpflegung, die die Hommes du Nord unabhängig von Jagderfolgen machte. Sie waren gut auf das Leben in der Wildnis vorbereitet. Lediglich mit zwei übereifrigen Bibern hatten sie nicht gerechnet. Unser Glück, dachte Mel.

Am Abend zogen sie das Kanu ans Ufer, versteckten es hinter ein paar Bäumen und machten ein Feuer. Eine Wand aus Reisig, das Mel wieder zwischen die Bäume flocht, schützte sie vor Wind und dämpfte, wenn auch nicht vollständig, den Schein des Feuers. Er glaubte, dass sie sich ein wenig Sorglosigkeit leisten konnten.

„Prevost wird nicht mehrere Kanus in ein und dieselbe Richtung ausgesandt haben“, erklärte er Hannah.

Am Morgen erwachten sie vom Gekreisch eines Rudels Gänse, die über dem Wasser südwärts flogen. Sie aßen von ihren Vorräten und dachten an den Geschmack von gebratenem Gänsefleisch. Zumindest Mel ging es so. Woran Hannah dachte, vermochte er nicht zu ergründen. Nachdem sie den ersten von Prevosts Männern eigenhändig umgebracht hatte, schmiedete sie womöglich weitere Rachepläne.