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Kapitel 11


Lobo hatte auf der Straße sein Pferd herumgerissen und sich im Sattel geduckt. Er sah die beiden Männer in der Gasse und erkannte Crawford. Er sprang aus dem Sattel und stürmte los, während Crawford in das Zwielicht der schmalen Gasse flüchtete.

Lobo hörte, dass hinter ihm Sharon aus dem Sattel glitt. Da lief er bereits an einem kleinen, schmächtigen Mann vorbei, der bewusstlos und blutend am Boden lag. Crawford war nirgends mehr zu entdecken.

Lobo blieb stehen und lauschte. In einem Hinterhof klapperte es. Lobo ging langsam weiter. Die Dämmerung verdichtete sich. Hier, in den schmalen Gassen und Höfen der Stadt war das letzte Tageslicht längst versickert, hier herrschte bereits tiefe Dunkelheit.

Lobo konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf einen Hofeingang ein Stück voraus. Als er seitlich von sich ein Geräusch hörte, fuhr er herum, aber es war zu spät. Eine Holzkiste flog aus dem Schatten des vor­gebauten Daches eines Schuppens auf ihn zu. Lobo sah Bill Crawford dahinter. Der Kopfgeldjäger grinste breit.

Lobo riss den Revolver hoch und wurde gleichzeitig von der Kiste an den Kopf getroffen. Er stürzte schwer zu Boden und spürte einen wahnsinnigen Schmerz in der Wunde. Benommen versuchte er, sich aufzurichten. Da war Crawford schon da und schlug mit dem Revolver zu. Lobo sackte zurück. Um ihn herum drehte sich alles in rasendem Wirbel. Er stürzte in bodenloses Dunkel, bis alles Gefühl in ihm erlosch.


*


Lobo sah ein graues, bekümmert aussehendes, schmales Gesicht vor sich, als er die Augen aufschlug. Der Mann hatte auf der Stirn eine dunkel verfärbte Schwellung und eine Platzwunde. Langsam begann Lobo sich zu erinnern. Der kleine Mann, der bewusstlos in der Gasse ­gelegen hatte, als er Crawford gefolgt war.

Lobo wälzte sich herum und griff zum Holster. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, hämmernde Kopfschmerzen setzten ein.

„Bleiben Sie liegen“, sagte der kleine Mann. „Crawford ist weg. Hier ist niemand, der Ihnen etwas tut. Hier bin nur ich.“

„Sie?“ Lobo richtete den Oberkörper auf und ertrug die Schmerzen, die in seinem Körper wühlten, ohne einen Laut von sich zu geben.

„Fletcher Coburn“, sagte der andere. „Ich bin Schuster hier in Milestown.“

„Schuster?“

„Ich weiß, es klingt seltsam. Wieso hat ein Schuster etwas mit einem Kopfgeldjäger zu tun? Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich mag keine langen Geschichten“, sagte Lobo. „Wo ist Sharon? Wo ist mein Pferd?“

„Alles der Reihe nach“, sagte der kleine Mann. „Sharon Tatus ist von Mister Crawford mitgenommen worden.“

„Sie ist was?“

„Nicht freiwillig“, sagte Coburn. „Sie hat sich gewehrt. Aber er war stärker, und er hat sie mitgeschleppt, bevor unser Marshal auftauchte. Vielleicht verspricht er sich etwas davon, wenn er hinter ihrem Vater her ist.“

„Langsam“, sagte Lobo. „Ich habe Kopfschmerzen und muss mich erst wieder daran gewöhnen, zu denken. Sie kennen Sharon?“

„Ich war Gefangener in Van Buren während des Krieges“, sagte Coburn. „Tatus war unser Henker. Seine Familie haben wir ab und zu gesehen.“

„Und Jonathan Tatus war hier in der Stadt?“

„Ja“, sagte Coburn. „Er konnte zusammen mit dem Zwerg flüchten, als Crawford auftauchte. Allerdings haben beide jetzt nur noch ein Pferd. Das Pony von Calico. Das hält nicht lange durch.“

„Und Brown?“

„Tot“, sagte Coburn.

„Großartig“, sagte Lobo. „Ist Sharon am Leben?“

„Als Crawford mit ihr davonritt, war sie sehr lebendig“, sagte Coburn. „Sie hat geschworen, ihm die Haut abzuziehen, wenn sie noch einmal die Hände frei haben sollte.“

„In welche Richtung sind sie geritten? Erst Tatus und der Zwerg, und dann Crawford mit Sharon?“

„Nach Süden“, sagte Coburn. „Schnurgerade südwärts.“

„Wenn Crawford glaubt, dass er den Henker mit Sharon erpressen kann, ist er schief gewickelt“, sagte Lobo. „Sie ist selbst unterwegs, um ihn zu töten.“

„Seine eigene Tochter?“

„Warum nicht?“, sagte Lobo. „Sie hat vielleicht mehr recht dazu als jeder andere.“

Er richtete sich auf. Er lag auf einer Bank in der niedrigen Schusterwerkstatt.

„Der Marshal hat mir geholfen, Sie herzutragen“, sagte Coburn, bevor Lobo ihn fragen konnte. „Das ist meine Werkstatt. Der Marshal lässt Ihnen ausrichten, Sie sollen schleunigst aus Milestown verschwinden. Er habe mit Fremden schon genug Ärger gehabt. Wahrscheinlich muss er den Stern sogar ablegen.“

„Keine Angst“, sagte Lobo. „Ich verschwinde sofort. Wo ist mein Pferd?“

„Im Hof“, sagte Coburn.

„Danke“, sagte Lobo. „Es war sehr freundlich von Ihnen, mir zu helfen.“

„Sie sollten sich aus allem ‚raushalten“, sagte Coburn. Er lief hinter Lobo her. „Es sind schon zu viele gestorben.“

Lobo verließ das Haus und ging zu seinem Pferd im Hof. Er schwang sich in den Sattel und spürte wieder das Stechen in seiner rechten Seite.

„Es sind zu viele gestorben“, murmelte Lobo. „Aber immer die Falschen. Es wird Zeit, dass die Richtigen drankommen.“

Er trieb den Morgan-Hengst an und ritt vom Hof. Hinter ihm stand Fletcher Coburn und schaute ihm nach. Ein kleiner, schmächtiger Mann, der fast doppelt so alt aussah, wie er war, ein unscheinbarer aber zufriedener Mann, der ein so ruhiges Leben führte, wie es Lobo nie vergönnt gewesen war und auch nie vergönnt sein würde.

Lobo verließ Milestown und ritt nach Süden in die Nacht.

Die Schmerzen in seinem Körper ließen nach. Bald umgab ihn nichts als die Stille, die nur vom Hufgeräusch seines eigenen Pferdes gestört wurde.


*


Bill Crawford hob seinen Revolver, spannte lautlos den Hahn und blickte hinunter in die vom Mondlicht erhellte Mulde mit dem kleinen Wasserloch. Calico und Jonathan Tatus standen am Rande des Tümpels und schauten zu, wie das Pony des Zwerges soff.

Als Crawford abdrückte, trat der Henker einen Schritt zur Seite, und das Pony drehte sich, um das Wasser zu verlassen.

Der Schuss zerriss belfernd die Stille der Nacht. Das Pony wieherte klagend auf, als die Kugel es in den Schädel traf. Dann stürzte es auf die Seite.

Crawford fluchte.

Tatus und Calico standen einen Moment wie erstarrt. Dann warfen sie sich hinter einige Bäume in Deckung. Der Zylinder des Henkers rollte durch den Lehm der Böschung des Wasserlochs und versank im Wasser.

Bill Crawford robbte rückwärts, richtete sich auf und hastete knapp fünfzig Yards zurück zu einer Buschinsel, wo er die Pferde stehengelassen hatte. Sharon Tatus saß gefesselt im Sattel ihres Tieres und spuckte auf Crawford hinunter. Er lachte wütend und zerrte die Pferde hinter sich her.

„Warte nur, Täubchen“, keuchte er. „Du bist auch bald dran.“

Als er den Hügel vor dem Wasserloch erreichte, riss er Sharon brutal aus dem Sattel. Sie stürzte schwer zu Boden und richtete sich mit schmerzerfülltem Wimmern auf. Ihre Augen glänzten feucht.

„Du gottverfluchtes Schwein“, sagte sie.

Crawford lachte wieder und schlug ihr die flache Linke ins Gesicht. Dann zerrte er sie hinter sich her auf den Hügel hinauf.

Aus der Mulde neben dem Wasserloch krachte ein Schuss. Crawford duckte sich, dann schrie er: „Hör zu, Tatus. Ich würde an deiner Stelle nicht schießen, nicht sofort. Hier steht jemand, der dir guten Tag sagen möchte.“

Er blickte Sharon an.

„Los! Zeig dich!“

Zögernd trat sie auf die Hügelkuppe und blieb im Mondlicht stehen.

„Na, Tatus?” Crawford lachte meckernd.

„Sharon?” Tatus richtete sich halb hinter seiner Deckung auf.

„Er bildet sich ein, er könnte dich mit mir erpressen“, sagte sie. Sie stieß ein trotziges Lachen aus. „Wenn er mir die Fesseln abnimmt, dreh ich dir den Hals um, du Dreckskerl.“

Crawford kniete hinter ihr und starrte sprachlos an ihr hoch.

„Ich weiß schon lange, dass du hinter uns her bist.“ rief Tatus. „Du bist ein undankbares, missratenes Kind.“ Er hob einen kurzläufigen Revolver und feuerte auf Sharon, ohne sie zu treffen.

Crawford packte sie von hinten und riss sie in Deckung.

„Seid ihr verrückt geworden?“ Crawford feuerte mit seinem Revolver in die Mulde hinunter und zwang Tatus und den Zwerg wieder in Deckung. „Wenn ihr glaubt, ich falle auf diese Tricks ‚rein, seid ihr schief gewickelt. Hör zu, Tatus: Ich jage deiner schönen Tochter eine Kugel durch den hübschen Schädel, wenn du nicht freiwillig aufgibst. Ich garantiere dir, dass ich euch lebend abliefere. Die Prämie auf deinen Kopf wird auch für einen lebenden Jonathan Tatus gezahlt.“

„Geh zur Hölle!“ Die Stimme des Henkers klang nicht mehr ölig, dafür hektisch und fast schon schrill. „Knall sie ab! Damit tust du mir einen großen Gefallen, Crawford!“

Crawford wandte den Kopf. Er blickte Sharon durch die Dunkelheit ratlos an. Sie lächelte kalt. Sie lag auf dem Bauch im Gras, die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Gesicht zur Seite gewandt. In ihren Augen lag nackter Hass.

„Ihr denkt, ihr könnt mich ‚reinlegen“, sagte Crawford. Es lag keine Überzeugungskraft in seiner Stimme.

„Gib es auf“, sagte sie. „Es ist nicht zu ändern. Ich jage ihn, und er würde mich jederzeit umbringen, wenn er könnte. Ich bin kein Druckmittel.“

Bill Crawford schüttelte stumm den Kopf. Er robbte zur Hügelkuppe hoch und schaute zum Wasserloch hinunter. Unten blitzte es auf. Eine Kugel schlug dicht vor Crawfords Gesicht in den Boden, riss die Grasnarbe auf. Eine Handvoll Dreck traf ihn ins Gesicht und blendete ihn für einen Moment. Er presste den Kopf fest gegen den Boden und rieb sich mit der linken Hand die Staubpartikel aus den Augen. Ein weiterer Schuss strich heiß über ihn hinweg.

Crawford hörte das hämische Meckern des Zwerges und dann die Fistelstimme Calicos: „Wir können auch schießen, Mister Crawford. Sie sind allein, wir sind zu zweit. Passen Sie nur gut auf, Mister Crawford.“

„Du Missgeburt!“, schrie Crawford. „Du verkrüppeltes Monstrum! Dir blase ich das Hirn aus dem Zwergen­schädel!“

Er hob seinen Revolver und feuerte in wilder Wut sämtliche Kugeln ab, die er noch in der Trommel hatte. Als Antwort hörte er das ölige Lachen des Henkers und das fistelnde Kichern Calicos.

Mit zitternden Händen lud Crawford die abgeschossenen Kammern seines Colts nach. Er warf einen Blick auf Sharon Tatus, die stumm lächelnd im Gras lag und als Geisel gar nichts wert war.

Crawford dämmerte es, dass er sich gründlich verrechnet hatte. Er dachte an die beiden Männer unten beim Wasserloch, die eigentlich, im Gegensatz zu ihm, überhaupt nichts zu verlieren hatten. Ihm waren einige Fehler unterlaufen. Mit der Vergewaltigung von Sharon Tatus hatte es angefangen. Jetzt war nichts mehr zu ändern, und obwohl Bill Crawford im Augenblick scheinbar noch alle Trümpfe in der Hand hatte, wusste er, dass seine Lage lange nicht so günstig war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Er fühlte sich alles andere als wohl und wusste nicht, wie er das ändern sollte.


*


Als Lobo die Schüsse hörte, zügelte er seinen Morgan und sprang aus dem Sattel. Er nahm den Hengst am Zügel und zog ihn hinter sich her, als er zu Fuß weiterging.

Vor sich sah er Mündungsblitze durch die Dunkelheit zucken. Das Echo der Detonationen rollte dumpf über die Ebene. Lobo näherte sich langsam der Hügelkette. Knapp fünfzig Yards entfernt ließ er den Hengst stehen, lockerte den Army Colt im Holster und ging allein weiter.

Im Mondlicht konnte er jetzt Umrisse erkennen. Er sah zwei Pferde im Schutz der Hügel stehen, und erkannte den gelb-braunen Hengst Sharons. Dann sah er sie selbst im Gras liegen. Unweit davon Bill Crawford, der über die Hügelkuppe hinwegfeuerte.

Lobo zog seinen Revolver. Im gleichen Moment sah er seitlich von Crawford eine kleine Gestalt aus einer Buschinsel auftauchen. Die Gestalt hielt ein Gewehr in den Fäusten, das fast so groß war wie sie selbst.

Calico, der Zwerg.

Lobo sah sein hässliches Gesicht im Mondlicht. Er wollte schießen, zögerte aber und hörte im nächsten Moment die durchdringende Fistelstimme des Zwerges.

„Hallo, Crawford! Du schießt in die falsche Richtung. Ich bin hier. Ich freue mich, dich persönlich kennen­zulernen, bevor du ins Gras beißt.“

Lobo duckte sich ins kniehohe Büffelgras und sah, dass Bill Crawford sich mit einem hysterischen Aufschrei herumwarf und noch in der Drehung schoss.

Er feuerte zweimal, ohne zu treffen, und blickte dann direkt in den grellen Mündungsblitz, der aus der Mündung des Sharps-Gewehrs in den kleinen Fäusten Calicos zuckte.

Der Aufprall der Kugel, die ihm fast die Schädeldecke wegriss, wirbelte Crawford einmal um die eigene Achse. Dann stürzte er zu Boden und streckte Arme und Beine von sich.

Der Zwerg bewegte sich mit schrillem Kichern auf sein Opfer zu. Er ließ sein Gewehr fallen und zerrte ein Messer aus dem Gürtel.

„Und jetzt, du Hurensohn, schneide ich dir den Bauch auf!“

Er warf Sharon, die sich aufgelegt hin und her wand, einen lüsternen Blick zu.

„Später nehme ich mir dich vor, mein Kind.“ Er kicherte wieder. „Ich wollte schon immer eine Frau wie dich haben.“

Dann tauchte eine feiste, mittelgroße Gestalt im Frack mit wehenden Schößen auf den Hügeln auf. „Steck das Messer weg, du Idiot!“

Lobo erkannte die ölige Stimme sofort. Er sah, wie der Henker auf Sharon zuging und unweit von ihr stehen blieb.

„Hallo, Töchterchen“, sagte er. „So sieht man sich wieder.“

Sie stieß einen verzweifelten Fluch aus und versuchte wieder, sich aufzubäumen. Sie schaffte es, sich bis auf die Knie aufzurichten. Dann hob Jonathan Tatus sein rechtes Bein und versetzte ihr einen Tritt, der sie wieder auf den Bauch warf.

„Du bist seit zwei Jahren hinter mir her“, sagte Tatus. „Ich weiß es. Wenn ich gewollt hätte, wärst du längst tot. Es wäre leicht gewesen, dir eine Falle zu stellen. Tausendmal in den letzten zwei Jahren hätte ich es gekonnt.“

„Du feiger Lump!“, sagte sie. „Ich möchte dir die Schlinge umlegen und dich langsam hochziehen.“

Tatus lachte.

„Das hast du von mir geerbt. Schade, Töchterchen, dass wir uns auf den Tod nicht ausstehen können. Wir wären ein ganz gutes Gespann geworden. Ich hätte dir gern alles gezeigt, was ich kann. Aber so ...“

„Du bist ein geisteskrankes Vieh“, sagte sie. „Du und dein verkrüppelter Helfer.“

„Ich weiß, du bist unverbesserlich“, sagte Jonathan Tatus. „Ich habe dich längst aufgegeben. Calico und ich haben jetzt zwei gute Pferde. Das genügt uns. Du bist überflüssig. Wenn ich dich lebend zurückließe, müsste ich damit rechnen, dass du unsere Spur wieder aufnimmst und eines Tages vielleicht doch Glück hast, uns aus dem Hinterhalt zu erwischen. Ein Risiko, dass ich nicht eingehen kann, wie du verstehen wirst.“

Jonathan Tatus griff unter seinen Frack und zog einen kurzläufigen Pocket-Colt hervor.

„Ich habe dich gezeugt, ich werde dich vernichten“, sagte er theatralisch. Er hob den Revolver.

Lobo richtete sich auf.

„Tatus!“, rief er.

Jonathan Tatus fuhr herum und blieb wie angewurzelt stehen. Stumm blickte er auf die hohe, dunkle Gestalt des Halbbluts. Calico reagierte sofort. Er griff zum Revolver.

Lobo schwenkte den Army Colt herum und schoss von der Hüfte aus. Die Kugel erwischte den Zwerg oberhalb der Gürtelschnalle und schleuderte ihn ins Gras. Für einen Moment schien der Zwerg zu schweben.

Seine kurzen Arme und Beine bewegten sich flatternd wie bei einer in die Luft geworfenen Stoffpuppe. Er versank im hohen Gras und rührte sich nicht mehr. Er war tot.

Jonathan Tatus zielte mit seinem Pocket-Colt auf Lobo. Lobo duckte sich.

„Schieß nicht!“, schrie Sharon. „Er gehört mir. Ich ...“

Lobo feuerte gleichzeitig mit Tatus. Lobo fühlte die Kugel des anderen sengend heiß an seinem Kopf vorbeistreichen. Gleichzeitig brach Jonathan Tatus zusammen. Er ließ seinen Revolver fallen und presste beide Hände auf den Leib, wo das Geschoss ihn getroffen hatte.

Er kniete brüllend im Gras, während das Blut aus seiner Wunde quoll und zwischen den Fingern seiner Hände hindurchfloss.

Lobo setzte sich in Bewegung und ging auf ihn zu. Er behielt den Revolver in der Hand.

Er ging an Tatus vorbei, während der Henker vornüber ins Gras sackte und starb.

Lobo bückte sich und zerschnitt die Fesseln Sharons.

Einen Moment lang blieb die junge Frau liegen. Dann richtete sie sich auf. Ihr Gesicht glich einer Maske. In ihren Augen standen Tränen. Wie in Trance ging sie auf Lobo zu. Bevor er es verhindern konnte, schlug sie ihm die Rechte ins Gesicht.

Der Hieb traf ihn überraschend. Er spürte ein scharfes Brennen und stieß unwillkürlich seine Rechte vor. Er packte ihr Handgelenk.

„Du Bastard!“, schrie sie. „Dreckiger Bastard! Du hast ihn getötet. Du hast meinen Vater getötet! Hatte ich dir nicht gesagt, dass sein Leben mir gehört? Dass ich ihn für mich haben wollte? Er hat meinen Bruder ermordet. Er hat auch meine Mutter auf dem Gewissen. Ich hatte ein Recht auf ihn!“

Sie schluchzte auf. Ihr Gesicht wirkte im Mondlicht bleich wie eine frischgekalkte Wand. In ihren Augen lag ein eisiges Glitzern. Lobo blickte sie schweigend an.

„Ich habe dir gesagt, dass ich jeden umbringe, der mir zuvorkommt. Auch dich.“

Er antwortete nicht.

Sie bückte sich unvermittelt und hob den Colt Bill Crawfords auf, der dem Toten aus der Hand gefallen war. Sie richtete ihn auf Lobo und drückte ab, bevor er reagieren konnte.

Klickend fiel der Hammer auf ein abgeschossenes Zündhütchen. Sie zog den Hahn ein zweites Mal zurück und drückte abermals ab. Wieder ertönte nur das scharfe, metallische Klicken.

Mit einem Wutschrei hob sie die Waffe und schleuderte sie nach Lobo. Er wich aus, und Sharon blieb mit müde herab hängenden Armen stehen. Ein paar Tränen rannen über ihr Gesicht.

„Ich wollte ihn töten“, flüsterte sie. „Was jetzt ...?“

„Einen Menschen zu jagen und zu töten ist nicht der Sinn des Lebens“, sagte Lobo.

Sie antwortete nicht. Er konnte verstehen, was in ihr vorging. Sie fühlte sich verloren, hatte das Ziel, dem sie zwei Jahre lang nachgelaufen war, verfehlt und glaubte nun, am Ende zu sein.

Er hatte dieses Gefühl oft gehabt und überwunden. Sie würde es auch überwinden, sie war stark genug dazu. Und sie hatte die Chance dazu. Im Gegensatz zu ihm. Sie konnte immer wieder neu anfangen. Für sie würde es immer wieder einen neuen Morgen geben, einen neuen Weg.

Er aber war ein Verlorener. Sein Weg war vorbestimmt. Er konnte nicht neu anfangen, er musste seinen Weg immer weitergehen, obwohl es ein Weg ins Ungewisse war.

Er war ein Halbblut, ein Mann zwischen zwei Träumen, nirgends geduldet, überall verachtet.

„Ich wünsche dir viel Glück“, sagte er.

Sharon antwortete nicht.

„Reite weiter“, sagte er. „Irgendwo gibt es eine Stadt, in der dich niemand kennt. Du wirst alles vergessen. Die Zeit heilt vieles. Du hast noch sehr viel Zeit vor dir.“

Sie schwieg noch immer.

Lobo drehte sich um und ging zurück in die Dunkelheit. Er erreichte den Morgan-Hengst und schwang sich in den Sattel.

Als er sich umdrehte, sah er sie noch immer zwischen den Toten stehen, eine sehr schlanke, sehr schmale Gestalt. Ihr langes Haar bewegte sich leicht im Nachtwind.

Lobo zog die Zügel seines Pferdes herum und ritt westwärts. Er ritt einer neuen Einsamkeit entgegen. Er wusste, dass er seinem Schicksal nicht entfliehen konnte. Er wollte es auch nicht. Er war nicht der Mann, der vor sich selbst davonlief. Ihm blieben nur die Möglichkeiten, sich selbst aufzugeben oder weiterzugehen, selbst wenn sein Trail geradewegs in die Hölle führte.

Die Nacht umgab ihn mit einem schützenden Schleier. Sie nahm ihn auf, er wurde ein Teil von ihr.

Seine Spur verwehte der Wind.


LOBO
Der Einzelgänger



In dieser Reihe bisher erschienen

4201 Dietmar Kuegler Ausgestoßen

4202 Alfred Wallon Caleb Murphys Gesetz

4203 Dietmar Kuegler Todesfährte

4204 Alfred Wallon Victorios Krieg

4205 Alex Mann Schwarze Pferde

4206 Dietmar Kuegler Der Galgenbruder

4207 Alfred Wallon Ein Strick für Johnny Concho


Dietmar Kuegler


Der Galgenbruder





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© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-396-4



Töte ihn zweimal


Kapitel 1


Lobo stand am Fenster, hatte die Gardine ein Stück gelüftet und schaute hinaus auf die Dächer von San Pedro. Es wurde Abend. Die Hitze des Nachmittags lastete noch immer wie ein zäher Brei auf den flachen Hütten der kleinen Stadt.

Die Schatten wurden länger. Lobo sah kaum einen Menschen auf der einzigen Straße von San Pedro.

Lobo ließ die Gardine los und wandte sich um. Das Zimmer war klein, aber erstaunlich sauber. Die Decke war niedrig. Lobo stieß fast mit dem Kopf dagegen.

Die Frau stand an der Tür. Sie war mittelgroß und üppig. Ihr Gesicht wirkte in dem rötlichen Schimmer der Abendsonne, der durch die Gardine in die Kammer eindrang, weich, glatt und sehr jung. Das blonde Haar floss ihr wie eine Löwenmähne auf die schmalen Schultern.

Als sie jetzt ihr dunkelrotes Kleid abstreifte, sah Lobo ihre vollen, straffen Brüste, die sich ihm herausfordernd entgegenreckten. Sie waren birnenförmig und hatten steil aufgerichtete Spitzen mit großen Vorhöfen.

Lobo war lange nicht mit einer Frau zusammen gewesen. Er war ein Mann, den die Einsamkeit der Wildnis wie ein unsichtbarer Schleier umgab. Die Einsamkeit war sein Schicksal, die Wildnis sein Zuhause. Er war ein ­Halbblut, ein Ausgestoßener, ein Einzelgänger, ein Mann ohne Freunde.

Das Bordell in San Pedro, in dem er sich jetzt befand, war ihm als der richtige Ort erschienen, für kurze Zeit seine Einsamkeit zu durchbrechen, die Verachtung, der er überall begegnete, zu vergessen.

Hier zählte seine Hautfarbe nicht. Er hatte fünf Dollar bezahlt und sich damit für ein paar Stunden die Liebe der Frau gekauft, die sich jetzt mit katzenhaft geschmeidigen, gleitenden Schritten auf ihn zu bewegte.

„Willst du dich nicht ausziehen?“, fragte sie. Ihre Stimme klang dunkel und weich. Sie passte zu ihr. „Gefalle ich dir nicht?“

Lobo antwortete nicht. Seine Blicke blieben an dem dunklen Dreieck zwischen ihren Schenkeln hängen. Er begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

„Willst du deinen Revolver nicht abschnallen?“, fragte sie. Sie lächelte. Ihre Hände glitten zu seinen Hüften. Sie stand dicht vor ihm. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, traf ihr heißer Atem sein Gesicht. Lobo griff nach ihren Schultern und zog sie an sich. Sie stöhnte hingebungsvoll, als er sie küsste, und schob ihr linkes Knie zwischen seine Beine.

Er hob den Kopf.

„Beeile dich“, sagte sie.

Er löste die Schnalle seines Waffengurtes. Der schwere Gürtel mit der Halfter, in der ein langläufiger Colt Army Kaliber 44 steckte, polterte zu Boden. Die Frau streifte ihm mit einer raschen Bewegung das Hemd von den Schultern und schmiegte sich an seinen breiten, muskulösen Oberkörper.

Lobo spürte ihre Haut an der seinen, er spürte den fordernden Druck ihres Körpers.

Da erklang der Schrei.

Es war eine Frau, die schrie. Es war der Schrei einer Sterbenden. Er kam aus einer der benachbarten Kammern.

Lobo hob den Kopf und lauschte gespannt. Er schob das Mädchen von sich weg und ging zur Tür. Ein weiterer Schrei ertönte.

Lobo riss die Tür auf und trat auf den Gang. Einige Türen hatten sich geöffnet. Spärlich bekleidete Mädchen schauten heraus. Lobo sah einen fetten, unförmigen Mann in ausgebeulten Unterhosen in einem Türrahmen stehen.

„Das war Joan“, sagte eine der Frauen. Sie zeigte auf eine Tür am Ende des Gangs, in dem nur eine staubige Petroleumlampe brannte und einen schwachen Lichtschein verbreitete. Lobo ging auf die Tür zu. Als er sie erreichte, hörte er dahinter ein klirrendes Geräusch. Er drückte die Klinke hinunter und schleuderte die Tür nach innen. Sie flog krachend gegen die Wand.

Erst sah er die Frau. Sie lag mit ausgebreiteten Armen quer über dem Bett. Sie war nackt. Sie war tot.

Der Kopf war unnatürlich zur Seite geneigt. Blut floss aus der großen Wunde am Hals und sickerte in das weiße Laken, auf dem die Frau lag. Der Oberkörper der Toten, ihre großen, schlaff wirkenden Brüste, waren mit Blut bedeckt. Die weit aufgerissenen Augen schimmerten glasig.

Lobo erfasste das alles mit einem Blick. Dann erst sah er den Mann.

Er stand am Fenster, das er Sekunden vorher zerschlagen hatte, um sich hinaus zu schwingen. Er war mittelgroß und stämmig. Das karierte Hemd, das er trug, war ihm zu eng. Es spannte sich straff über muskulösen Schultern und Oberarmen. Das Gesicht des Mannes war breitflächig, knochig und unrasiert, die Augen schmal und tückisch.

Als Lobo im Türrahmen auftauchte, riss er seinen Revolver aus dem Gürtel. Lobos Rechte zuckte instinktiv zur Hüfte. Sie griff ins Leere. Der Revolver lag mit dem Gürtel in der Kammer der blonden Frau.

Ein Schuss krachte. Lobo sah den orange-roten Mündungsblitz. Gleichzeitig warf er sich nach vorn.

Er fühlte einen sengenden Lufthauch, als die Kugel über seine linke Schulter strich, dann prallte er schon hart am Boden auf und rollte geschmeidig nach vorn ab.

Er spürte das Brennen kaum, das der Riss verursachte, den die Kugel des stämmigen Mannes hinterlassen hatte. Ein dünner Blutfaden rann über seinen nackten Ober­körper.

Als Lobo hochsprang, krachte ein zweiter Schuss. Die Kugel bohrte sich in die Decke der Kammer. Putz rieselte herunter. Dann traf Lobos rechter Stiefelabsatz den stämmigen Mann in den Unterleib. Der Mann brüllte wie ein verwundetes Tier. Er krümmte sich zusammen und fiel auf die Knie. Sein Gesicht lief blau an. Er schnappte wie ein an Land geworfener Fisch nach Luft. Er röchelte.

Lobo trat abermals zu. Mit der Stiefelspitze traf er das rechte Handgelenk des Mannes. Der Mann schrie abermals und ließ den Revolver fallen.

Als er sich taumelnd aufrichtete, schlug Lobo mit der rechten Faust zu. Der Hieb erwischte den Mann am linken Kinnwinkel. Der Kopf wurde ihm zur Seite geworfen. Er ruderte Halt suchend mit den Armen durch die Luft und taumelte rücklings gegen die Wand neben dem zerschlagenen Fenster.

Lobo hämmerte ihm seine Fäuste in den Leib und dann, als er sich nach vorn beugte, ins Genick. Kraftlos wie ein Stein plumpste der Mörder zu Boden und schlug mit dem Gesicht auf die rauen Bodendielen auf.

Lobo wandte sich ab. Erst jetzt bemerkte er das Brennen auf seiner linken Schulter, und als er mit der Rechten hinlangte, fühlte er das Blut warm und klebrig an seinen Fingern.

An der Tür standen mehrere Frauen. Sie starrten entsetzt in die Kammer.

„Er hat Joan umgebracht, dieses Schwein!“, schrie eine Frau mit überschnappender Stimme.

Lobo warf noch einen Blick auf die Tote auf dem Bett. Süßlicher Blutgeruch, der scharfe Gestank nach Urin und Schweiß hingen in der Kammer.

Lobo fröstelte plötzlich. Er zog die breiten Schultern hoch und ging zur Tür. Sie wichen ihm aus. Er trat in den Gang.

Der fette Mann, der in Unterhosen in einer Kammertür gestanden hatte, als er den Gang nach dem Todesschrei der Frau betreten hatte, war noch immer da. Er war jetzt fast angezogen und quetschte sich gerade, aufgeregt vor sich hin fluchend und schwitzend in eine sichtlich zu enge Hose.

Er stierte Lobo ängstlich an und fragte: „Ist sie tot?“

„Ja“, sagte Lobo. „Sie trägt fast den Kopf unter dem Arm.“

„Wie furchtbar“, erwiderte der dicke Mann mit einem Keuchen. „Das gibt einen Haufen Ärger.“

„Zunächst gibt es eine schöne Beerdigung“, sagte Lobo. Er ging an ihm vorbei. Das blonde Mädchen, mit dem er hatte schlafen wollen, stand in der Tür ihrer Kammer. Sie hatte sich ein Bettlaken um die Schultern geworfen und weinte leise. Lobo betrat die Kammer und zog sich an. Er hörte, wie mehrere Menschen die steile Treppe herauf eilten. Männerstimmen waren zu hören, dazwischen die Stimme einer ältlichen Frau. Es war die Besitzerin des Bordells. Lobo hatte bei ihr bezahlt. Bezahlt für nichts.

Lobo schnallte den Revolvergurt um. Er strich dem weinenden Mädchen über die Wange.

„Ich komme später wieder“, sagte er. „Ich habe noch fünf Dollar bei dir gut.“

Sie schluchzte und presste die Hände vor den Mund. Aus der Kammer der Ermordeten klang die schrille Stimme der Bordellwirtin. Das Klatschen von Schlägen war zu hören. Ein Mann schrie.

Ein junger Bursche, der mit den anderen die Treppe heraufgelaufen war, taumelte aus der Tür. Er lehnte sich mit kalkweißem Gesicht an die Wand des Ganges und übergab sich.

Lobo ging an ihm vorbei. Er sagte: „Nimm es nicht tragisch. Spätestens beim dritten Mal hat man sich daran gewöhnt.“

Er ging die Treppe hinunter und betrat die Bar des Bordells. Sie war leer bis auf den Keeper hinter der Theke. Auf den Tischen standen halb geleerte Gläser. Eine Flasche war umgefallen. Der Inhalt war ausgelaufen und hatte auf dem Fußboden eine bräunliche, scharf riechende Pfütze gebildet.

Nur wenige Lampen brannten. An den Fenstern hingen rote Samtvorhänge. Die Tapete war geblümt. Es gab ein paar dunkle Nischen.

Lobo setzte sich auf einen hohen Hocker an der Bar. „Whiskey“, sagte er.

Der Keeper schenkte ein. Sein Gesicht war ausdruckslos. Es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, was oben vorgefallen war. Lobo redete nicht darüber. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Er trank, um ihn hinunterzuspülen.


*


Er hieß Ed Banteen. Sein Name war inzwischen bekannt. Er hatte das Bordell von Kitty Hemphil in San Pedro nicht zum ersten Mal aufgesucht.

Die Sonne ging unter, als sie ihn henkten. Die Abendsonne stand wie ein Feuerrad über der Steppe westlich der Stadt. Die Schatten des Abends waren längst eins mit der Dämmerung geworden, die sich zunehmend verdichtete.

Lobo stand abseits und schaute zu. Er lehnte an der rissigen, rauen Wand eines alten Frachtschuppens.

Die Bürger von San Pedro hatten sich versammelt, als zwei Männer Ed Banteen brachten. Sie hatten einen Baum ein Stück außerhalb der Stadt gewählt. Es war ein Cottonwoodbaum mit weit ausladendem Geäst, wie geschaffen für das, was sie vorhatten.

In einigem Abstand standen die Frauen aus dem Bordell von Kitty Hemphil. Einige weinten. Kitty Hemphil war dabei. Klein, rund wie eine Kugel, mit einem Gesicht, dessen Falten nicht einmal eine zolldicke Schminkschicht verbergen konnte. Sie weinte nicht, obwohl die Tote ihre Schwester gewesen war.

Als Ed Banteen gebracht wurde, herrschte eisiges Schweigen. Nur das leise Singen des Windes, der von der Wüste im Süden heranstrich, war noch zu hören.

Lobo sah eine Lassoschlinge durch die Luft wirbeln, sich über einen schenkelstarken Ast senken und weit geöffnet herunterfallen. Sie pendelte hin und her.

Banteen wurde zum Baum geführt. Er hatte Angst. Er wand sich in den Griffen der Männer, die ihn festhielten.

Er schrie: „Ich verlange eine Gerichtsverhandlung!“

Ein paar Männer lachten.

„Das Luder wollte mich betrügen!“, schrie Banteen.

Ein Mann trat vor, holte aus und schlug Banteen die geballte Rechte in das ungeschützte Gesicht. Banteen stieß einen gurgelnden Laut aus. Sein Kopf wurde in den Nacken geschleudert. Er blutete aus dem Mund, als er weitergeführt wurde. Seine Oberlippe schwoll an.

„Zieht ihn endlich hoch!“, rief jemand.

Lobo schaute sich um. Er fragte sich, warum der ­Marshal von San Pedro nicht auftauchte. Dann entdeckte er ihn unter der Menge. Er hatte seinen Stern abgenommen.

In diesem Moment legten sie Ed Banteen die Schlinge um. Banteen bäumte sich auf. Er schrie, bis er heiser war, und erwischte einen Mann mit einem Fußtritt in den Leib.

Da zogen sie ihn hoch.

Der Strick straffte sich. Ed Banteens Gebrüll brach ab. Ein durchdringendes Röcheln drang aus seinem weit geöffneten Mund.

Die Männer zurrten den Strick am Fuß des Baumes fest. Ed Banteen zappelte in der Schlinge. Sein Körper bewegte sich zuckend. Es dauerte Minuten, dann hing er still.

Die Sonne war untergegangen. Die Bürger hatten es plötzlich eilig, zurück in die Stadt zu gehen. Sie ließen Ed Banteen hängen.

Lobo zog seinen Tabaksbeutel aus der Hemdtasche. Er drehte sich eine Zigarette. Schweigend betrachtete er den Gehenkten, während er rauchte.

Der Tote erinnerte ihn an die Mörder seiner Eltern und seines Bruders. Weiße Skalpjäger, die er als halbes Kind gejagt hatte. Mann für Mann hatte er sie verfolgt und getötet, bis auf den Letzten. Bei dem war er zu spät gekommen. Er war vor seinen Augen gehenkt worden, gehenkt wie Ed Banteen.

Lobo warf die halb gerauchte Zigarette in den Staub und zertrat die Glut mit seinem Stiefelabsatz. Er wandte sich ab. Während er durch die dunkle Mainstreet von San Pedro ging, versuchte er, die düsteren Gedanken an die Vergangenheit zu vertreiben.

Es gelang ihm nicht. Der Anblick der toten Frau hatte ihn an seine Mutter erinnert. Die Skalpjäger hatten sie vergewaltigt, bevor sie sie umgebracht und ihr den Skalp abgerissen hatten.

Tavonah Gates, eine reinblütige Pima-Frau. Lobo konnte sie nicht vergessen, obwohl er es oft versucht hatte. Er hatte versucht, sich von allem zu lösen, was einmal sein Leben gewesen war. Seine Familie war ausgelöscht, es war so, als hätte es sie nie gegeben. Aber die Schatten der Vergangenheit holten ihn immer wieder ein.

Lobo hatte das Bordell von Kitty Hemphil erreicht. Er blieb stehen. Er zögerte. Dann betrat er den Vorbau und ging durch die Tür. Die Tische waren alle besetzt. Mehrere Mädchen standen an der Bar. Die blonde Frau war dabei, für die Lobo fünf Dollar bezahlt hatte.

Kitty Hemphil stand plötzlich vor ihm. Er sah sie im gedämpften Licht der wenigen Lampen und im dichten Zigarettendunst.

„Sind Sie der Mann, der das Schwein gefasst hat?“, fragte sie.

„Ja“, sagte Lobo.

„Sie sind Gast hier“, sagte Kitty. „Sie bezahlen keinen Cent.“

„Ich habe vorhin schon fünf Dollar bezahlt“, sagte Lobo.

„Kriegen Sie zurück“, sagte Kitty. „Sie sind mein Gast.“

„Danke“, sagte Lobo.

„Nehmen Sie sich ein Mädchen“, sagte Kitty.

Lobo ging an ihr vorbei zu der Blonden. Sie erkannte ihn wieder. Ihr Gesicht blieb ernst.

„Gehen wir auf dein Zimmer?“, fragte Lobo.

Sie nickte. Sie ging neben ihm zur Treppe. Er fragte sich, ob das die richtige Art war, die Vergangenheit zu vergessen, und er dachte bei sich, dass es zumindest nicht die schlechteste Art war.