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Martin Kušej

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Maximilian Hauptmann

Coverfoto: Lukas Beck

Gesetzt in der Arial

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ISBN 978-3-99001-538-4

KUŠEJ

HINTER MIR WEISS

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Inhalt

I. PROVOKATION

II. IDENTITÄT

III. TOD

IV. ÖSTERREICH

V. KÖRPER

VI. SPRACHE

VII. LIEBE

VIII. FREIHEIT

IX. GOTT

X. HINTER MIR WEISS

DANKSAGUNG

I. PROVOKATION

Buh. Die Empörung des Publikums peitscht mir ins Gesicht. Es ist Jänner 2022, meine Inszenierung von Tosca ist gerade zum ersten Mal im Theater an der Wien aufgeführt worden. Ich finde, es war ein brillanter Abend. Musik fantastisch, Sänger herausragend, Diva überirdisch. Meine Tosca ist von allen Konventionen befreit, keine historischen Kostüme, keine Krönchen, kein angestaubtes Zeug, das in unserer Zeit für niemanden mehr eine Bedeutung haben kann. Stattdessen zeige ich die Tosca in einer Dystopie, postapokalyptisch und deshalb in ihrer Relevanz nicht mehr auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit beschränkt, sondern universell gültig. Ich habe die Beziehung der drei Hauptfiguren in den Mittelpunkt gesetzt, die Dynamik zwischen diesen Charakteren fasziniert mich. An diesem Abend hat man auf der Bühne die hellsten Seiten der Liebe ebenso gesehen wie ihre düsteren, brutalen, abgründigen. Ich finde das fantastisch.

Ein Teil des Premierenpublikums findet, ich habe seine Tosca zerstört. Buh. Passiert mir nicht zum ersten Mal. Buh, buh, buh. Willkommen in meinem Leben. Ich bin durchaus ein bisschen stolz darauf.

Der Ruf, ein Provokateur zu sein, ein Berserker, ein Stückezertrümmerer, begleitet mich schon meine ganze Karriere hindurch, und genauso lange ist das auch ein Missverständnis. Natürlich habe ich die Tosca auseinandergenommen, aber ich habe sie eben auch wieder zusammengesetzt. Ihr eine neue Bedeutung gegeben, eine Relevanz für die Gegenwart. Viele Menschen denken, das sei eine Respektlosigkeit, dabei ist es eine Liebeserklärung. Meine Art der Liebeserklärung.

Buh.

Ich habe Kunst seit jeher so verstanden, dass sie das Althergebrachte, Zufriedene, Verlässliche in Frage stellen soll. Seit ich angefangen habe, Theater zu machen, will ich Menschen dazu bringen, sich auf etwas Neues einzulassen. Unerwartetes zu erleben. Grenzen zu überschreiten. Wenn der Zuschauerraum dunkel wird, soll das der Moment sein, in dem sich das Bewusstsein verändert. Das setzt eine gewisse Risikobereitschaft voraus, auf beiden Seiten. Als Künstler muss ich das Risiko eingehen, Altes loszulassen, um überhaupt Raum für das Unbekannte zu schaffen. Das gilt auch für Rezipienten, das Publikum. Es ist die Voraussetzung dafür, dass ein Erlebnis unvergesslich und unverwechselbar wird.

Im Lauf meiner Karriere habe ich alle möglichen Menschen aufgeregt. Ich habe die Kirche gegen mich aufgebracht, meinen Eltern den Schlaf geraubt, Feuilletonisten empört. Einmal wünschte mir eine Vereinigung von Beethovenfreunden den Tod, weil sie fand, ich habe mich an Fidelio unverzeihlich vergangen.

Mit dieser Verachtung konnte ich immer gut umgehen, weil ich sie als Form der Anerkennung verstanden habe, als ein Zeichen dafür, dass es nicht egal ist, was ich mache. Das ist immer noch so. Was sich verändert hat: Anders als früher finde ich es heute wichtig, zumindest aus den richtigen Gründen verachtet zu werden. Ich habe auch festgestellt, dass sich die Rezeption des Publikums verändert, wenn man sich erklärt, auch deshalb gibt es dieses Buch. Irgendwann im Leben kommt der Punkt, an dem man nicht mehr missverstanden werden will.

Man kann also meine Arbeit diskutieren, natürlich, aber niemand soll denken, ich hätte keinen Respekt vor dem Werk, ob ich nun Tosca anfasse oder Maria Stuart, Fidelio, Hamlet oder Don Giovanni. Mehr als das: Alle sollen wissen, dass die Auseinandersetzung mit einem Stoff bei mir immer ein Zeichen von Zuneigung ist, von Verehrung. Meine Provokationen sind immer das Ergebnis einer Liebe. Das gilt auf der Bühne – und sonst wahrscheinlich auch.

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Thomas Hampson kommt auf die Bühne, die ersten Takte setzen ein, plötzlich erlischt das Licht. Es hat nicht einmal Zeit, sich sanft aus dem Raum zurückzuziehen, es verschwindet mit einem Schlag. Die plötzliche Finsternis schwappt über uns wie das kalte Wasser eines Bergsees.

Blackout.

Bis zu diesem Moment hatten zweitausend Menschen im Publikum meine Inszenierung von Don Giovanni im großen Salzburger Festspielhaus verfolgt. Ich hatte die Bühne in gleißendes Weiß getaucht, eine Oberfläche von schmerzender Kälte geschaffen, hier sollte mein Don Giovanni sein Spiel treiben, ungeschützt, an einem Ort, an dem sich nichts verstecken lässt. Gerade als er zu seiner berühmten Canzonetta ansetzt, wird das Publikum von der Dunkelheit überfallen. Es ist eine absolute Dunkelheit, die sich jedem Blick widersetzt. Das Orchester aber spielt weiter, und Thomas Hampson singt die Canzonetta mit einer überirdischen, niemals wiederkehrenden Schönheit.

Momente wie dieser bleiben lange, vielleicht für immer im Gedächtnis. Manche tragen uns über die Schwelle einer neuen Erfahrung. Für die, die ihn erleben dürfen, spielt in einem solchen Augenblick keine Rolle, was ist und was sein wird. Es geht nur um den Moment. Für mich gehört das zu den größten Dingen, die Kunst erreichen kann.

Don Giovanni ist ein Mann, der völlig in seinen Begierden aufgeht. Sein Diener Leporello, der fleißig Buch führt über Don Giovannis Liebschaften, zählt exakt »mille e tre« Eroberungen auf: eintausenddrei allein in Spanien. Doch sein rastloses Verlangen stürzt Don Giovanni ins Verderben. Bei seinem Versuch, Donna Anna zu verführen, die zu dieser Zeit bereits einem anderen versprochen ist, kommt es zu einem Duell mit ihrem Vater, einem Komtur. Don Giovanni tötet ihn.

In meiner Interpretation ist dieser Mord am Komtur zu Beginn des Stückes ein konzeptioneller Schlüsselmoment. In ihm bekommt Don Giovanni zum ersten Mal eine Ahnung vom Tod. Von diesem Augenblick an ist jeder Exzess Don Giovannis immer auf den Tod ausgerichtet. Er will ihn überwinden, so wie er die Liebe überwunden hat. Während unsere Gegenwart auf das Weiterleben ausgerichtet ist, den Tod von uns fernhalten will wie eine ansteckende Krankheit, treibt es Don Giovanni zum Äußersten: Am Ende lädt er den Tod – in Form des Komturs, der als Geist zurückkehrt – sogar an seine Tafel.

Für mich ist Don Giovanni eine getriebene Figur, ein Mensch der Extreme. Deshalb musste meine Inszenierung diesen Extremen entsprechen.

Als Peter Ruzicka, damals Intendant der Salzburger Festspiele, mich gefragt hatte, ob ich Don Giovanni inszenieren wolle, schwebte ich tagelang in anderen Sphären. Ich hatte erst drei Jahre zuvor, 1998, überhaupt angefangen, in diesem Fach zu arbeiten, und jetzt sollte ich die Oper aller Opern bei einem der bedeutendsten Musikfestivals der Welt auf die Bühne bringen. Nikolaus Harnoncourt als Dirigent, Thomas Hampson für die Titelpartie, mehr Glück kann man nicht haben.

Ich arbeitete an dem Konzept mit Martin Zehetgruber, der bereits seit meinen Anfängen am Theater in Graz die Bühnenbilder für meine Stücke entwarf. Mein Don Giovanni sollte sich zwischen den beiden existenziellen Phänomenen des menschlichen Lebens abspielen, zwischen Liebe und Tod, wir wollten einen Raum schaffen für einen Taumel aus Exzess und Sinnlichkeit.

Diese Oper ist ein Nachtstück, in dem die Dinge auseinanderfallen und nicht mehr zu kitten sind. Die Nacht, die sich mit ihrer Dunkelheit über alles legt, ist im Stück allgegenwärtig. »Was für eine schöne Nacht«, singt Don Giovanni. »Heller als der Tag!« Er, der seine unmoralischen Taten in der Nacht verbirgt, weigert sich, die Dunkelheit anzuerkennen. Gerade deshalb wollten wir Don Giovannis Höllenfahrt in eine noch nie erlebte, die Augen der Zusehenden geradezu verbrennende Helligkeit verlegen. Millionen Kilowatt sollten eine Hölle aus Licht schaffen.

Als ich das Konzept Peter Ruzicka präsentierte, überflog er das Ganze, ging nervös auf und ab und meinte schließlich: »Das kostet ungefähr die Summe von sechs Einfamilienhäusern, ist Ihnen das klar?«

Das ist er wohl, dachte ich, der Moment, in dem mein Traum von den Salzburger Festspielen platzt wie eine Seifenblase. Nikolaus Harnoncourt trat zu uns, er hatte die Vorstellung meines Konzeptes bis dahin nur schweigend verfolgt. »Ich finde diese ganze Idee hervorragend«, sagte er. »Ich habe nur ein Problem… Wenn wir die Bühne so gestalten wie in Ihrem Konzept, müsste ich das Orchester so setzen, dass noch die Schnecken, also die Enden der Bassgeigen, zu sehen sind.«

Bedeutungsschwer blickte er mich an. »Stört Sie das?«

»Nein«, sagte ich. »Das wäre kein Problem.«

Harnoncourt lächelte. »Dann machen wir das.« Er nickte Ruzicka zu. Damit war die Entscheidung gefallen. Meiner ersten Operninszenierung bei den Salzburger Festspielen stand nichts mehr im Wege. Dachte ich.

Don Giovanni betrachtet Frauen als Objekte. Er kümmert sich wenig um ihre Wünsche oder Bedürfnisse. Hat er eine erobert, verliert er bereits das Interesse an ihr. Diese »Verdinglichung« von Frauen und ihre Reduzierung auf den Körper ist nach wie vor aktuell. Hier berührt Mozarts Oper unsere Gegenwart. Frauen werden durch die Augen des Mannes betrachtet, sei es in Werbung, Medien, Filmen oder Serien. Ich wollte diesen Aspekt des Don Giovanni herausstreichen. In den Neunzigern gab es ein berühmtes Werbeplakat des Modeunternehmen Palmers, auf dem fünf Models, mit nichts als Nylonstrümpfen bekleidet, abgebildet waren. Die Kampagne war einerseits immens erfolgreich, erregte aber auch wütende Kritik. Die Frauen lagen quasi griffbereit da, der Lust des männlichen Blickes zur Verfügung gestellt. In diesem Werbeplakat war mein interpretatorisches Motiv des Don Giovanni perfekt eingefangen. Herausgerissen aus dem Kontext der Werbung und an einem völlig anderen Ort platziert, wäre es seiner eigentlichen Funktion enthoben und würde tatsächlich sofort zum Nachdenken anregen. Wir wollten die fragwürdige Botschaft des Plakats umdrehen und zur ersten und wichtigsten Manifestation unserer Inszenierung machen. Die bestrumpften Beine der Frauen waren so riesig, dass es schon unangenehm war. Durch eine kleine Tapetentür im Bild traten dann alle Frauen des Stücks in die dahinterliegende Bühne ein, um ihre »Arbeit als Frauen« zu verrichten. Diese Ouvertüre sollte den Blick des Publikums auf das ganze Stück prägen.

Es war der erste Traditionsbruch von vielen bei dieser Inszenierung. Der nächste kam, als ich Leporellos und Don Giovannis Rollen tauschen wollte. Im ersten Akt sind normalerweise zuallererst Leporellos Klagen zu hören, denn während sein Herr sich dem Vergnügen hingibt, muss der arme Diener hinter ihm aufräumen. Ich hatte die Idee, Leporellos erste, sehr berühmte Zeilen des Stücks von Thomas Hampson, dem Sänger des Don Giovanni, singen zu lassen – denn natürlich war auch Leporello manchmal in erotische Abenteuer verstrickt.

Die Beziehung zwischen Leporello und Don Giovanni interessierte mich. Während Giovanni in seinen Begierden aufgeht, bildet Leporello den rationalen Gegenpol. Er ist genauso heimatlos wie Don Giovanni, dient seinem Herrn aufopferungsvoll und macht ihn als Chronist und beobachtende, passive Instanz vielleicht überhaupt erst möglich. Die beiden spiegeln zwei Seiten desselben menschlichen Schicksals, den Trieb und das Rationale, ergänzen und komplimentieren sich. Deutlich wird dies in jener Szene, in der die empörten Leute den verkleideten Leporello mit Don Giovanni verwechseln und ihre Wut an ihm auslassen. Das Rationale muss letztlich verantworten, was im Trieb verübt wird.

Natürlich hatte ich Ärger an allen Ecken und Enden. Ständig war irgendjemand über mich empört. Aber Nikolaus Harnoncourt hatte in seiner musikalischen Karriere ebenfalls schon oft gegen Konventionen und Regeln verstoßen. Vielleicht kamen wir deshalb so wunderbar miteinander aus. Seine Idee für unseren Don Giovanni war Resultat seiner akribischen Auseinandersetzung mit den originalen Kompositionen Mozarts in der Staatsbibliothek. Dort verglich er penibel, welche Stellen bisher falsch oder nicht genau genug gelesen worden waren. In der »Registerarie« des Leporello fand er eine Auffälligkeit: nämlich da, wo die spezielle Neigung Don Giovannis zu sehr jungen Mädchen, also Kindern, erzählt wird. Davon leitete er ab, dass Don Giovanni Donna Anna schon seit der Zeit begehrte, als sie noch ein Kind war. Diesem Umstand war noch nie zuvor Bedeutung beigemessen worden, und er hat radikale Konsequenzen. Denn folgen wir dem Original wortgetreu, dann hätte Don Giovanni auch pädophile Neigungen. Ein weiterer Beweis, dass für Don Giovanni die Befriedigung seiner Lust über alle moralischen Grenzen geht und dass er Frauen – oder eben Mädchen – nicht als menschliche Wesen begreift, sondern als wechselnde Gefäße zur Erfüllung seiner alles dominierenden männlichen Begierde. Diese Lesart war ein entscheidender Grund für die Besetzung der Donna Anna mit der jungen Anna Netrebko, die damals gerade zu internationalem Ruhm kam und für die diese Rolle den endgültigen Durchbruch bedeuten sollte.

Wir hatten also bereits vor der Aufführung den Rahmen der Salzburger Festspiele mehrfach gesprengt. Ein monumentales Bühnenbild, eine freizügige Werbung für Damenunterwäsche über die gesamte Bühne gespannt, ein unverfrorener Rollentausch von Don Giovanni und Leporello sowie eine Donna Anna, die bereits als Mädchen Opfer von Don Giovannis Verführungsversuchen wird. Im Verlauf der Proben waren wir alle – der Intendant Peter Ruzicka, der Dirigent Nikolaus Harnoncourt und ich als Regisseur – am Ende unserer Kräfte, und es war nur die Überzeugung, an etwas wirklich Epochalem zu arbeiten, die uns weiterhin und unerschütterlich bei der Stange hielt.

Schließlich probten wir die Canzonetta, in der Don Giovanni seine Vision der idealen Frau besingt. Sie ist bloß ein Trugbild, das ihm stets im Objekt seiner Begierde erscheint, aber bereits verschwunden ist, wenn er es erobert hat. Ein ums andere Mal entwischt ihm dieses Ideal und treibt ihn dazu, noch rücksichtsloser danach zu jagen. Es sollte der Höhepunkt der Aufführung werden. In ihm wird am eindrücklichsten diese unglaubliche Ambivalenz der Figur Don Giovanni spürbar. Für einen kurzen Moment lässt Don Giovanni die ironische und oberflächliche Maske fallen, mit der er sonst der Welt begegnet, und begibt sich in einen zutiefst menschlichen Bereich. Es ist jener der wahren Sehnsucht und eines Verlangens, das echt ist, weil es enttäuscht werden kann. Insgeheim weiß Giovanni, dass es nicht in seiner Macht liegt, dieses Idealbild für sich zu gewinnen, ganz gleich, wie viele Frauen auf Leporellos Liste stehen.

Wie sollte ich nun diese entscheidende Stelle inszenieren?

Ich fragte Harnoncourt am Ende dieser Probe: »Kann Thomas seinen Part eigentlich auch mit verbundenen Augen singen?«

Harnoncourt antwortete: »Natürlich, er kennt den Text ja auswendig.«

»Und könnte das Orchester die Passage auswendig spielen?«

»Klar, das sind doch alles Profis«, antwortete Harnoncourt mit einem Stirnrunzeln. Er wusste offenbar nicht, worauf ich hinauswollte.

»Können wir die Szene dann in völliger Dunkelheit machen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Harnoncourt. »Dann sieht mich das Orchester ja nicht!« Er wirkte beinahe empört.

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass sowohl Thomas als auch das Orchester ihren Part auswendig können«, ließ ich nicht locker. »Das heißt ja, sie brauchen dich nicht notwendigerweise.«

Ich sah, wie Harnoncourt nachdachte.

»Gut«, sagte er schließlich. »Wir können es probieren. Aber lass mich das mit dem Orchester regeln!«

Und tatsächlich führte er das Orchester ganz sanft auf dieses unvorbereitete Ereignis hin. Zunächst sagte er bei einer Probe: »Ich möchte hören, wie die Akustik hinten im Saal ist«, verließ das Dirigentenpult und stieg aus dem Orchestergraben. »Spielt doch bitte einmal ohne mich.«

Als das funktionierte, sagte er zu den Musikern: »Ich würde gerne mal etwas ausprobieren. Ich werde kurz das Licht ausmachen und mir anhören, wie ihr dieses Stück auswendig spielt.« Und nachdem auch das problemlos funktioniert hatte, gab er seinen Segen.

Die letzte Hürde war der ORF, der die Oper im Fernsehen übertragen wollte. »Wir können das nicht in völliger Dunkelheit filmen«, meinte einer der Verantwortlichen zu mir. »Da sieht man doch nichts! Und die Leute meinen, ihr Fernseher wäre kaputt. Kann man nicht zumindest eine kleine Beleuchtung einschalten?« Ich blieb stur. Ich wollte meine Idee auf keinen Fall für das Fernsehen verraten.

Normalerweise sehe ich mir die Premieren meiner Stücke nicht an. Stattdessen sitze ich mit meinem Team in der Nähe in einem Lokal, wir trinken Wein und gehen erst kurz vor dem Schlussapplaus zurück ins Theater. Aber den Moment der totalen Finsternis in meinem Don Giovanni wollte ich dann doch erleben. Es lohnte sich: In diesem Moment der Dunkelheit, als die Umrisse des Bekannten der Formlosigkeit des Unbekannten gewichen waren, tat sich ein Raum von Weiß um mich auf. Ich konnte hören, wie ich noch nie zuvor gehört hatte.

II. IDENTITÄT

Kušej. Als ich dieses Wort zum ersten Mal gesehen habe, war ich fast elf Jahre alt. Es stand im Klassenbuch des Gymnasiums, auf das ich nach der Volksschule gerade gewechselt war, und ich konnte mir nicht erklären, was zur Hölle dieses Ding sein sollte, das da aus der Mitte des Wortes wuchs wie eine seltsame Krone. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Nachnamen immer nur als »Kuschej« gesehen. So stand er überall, vom Briefkasten bis zu den Zeugnissen, die mein Lehrer-Vater ausstellte. Mir hatte nie jemand gesagt, dass diese Schreibweise eine Erfindung meiner Eltern war. Sie hatten den Hatschek einfach gestrichen, unseren Namen eingedeutscht. Wir waren Kärntner Slowenen – und ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Bis zu diesem Moment, als ich meinen Namen in seiner richtigen Schreibweise sah. Mit dem Hatschek.

Die Suche nach der eigenen Identität ist für viele Menschen ein lebenslanger Kampf, den sie gegen innere und äußere Hindernisse führen müssen. Oft will uns die Gesellschaft in das Korsett einer Identität zwingen. Das Korsett kann religiös, kulturell, ethnisch oder beruflich sein: der konservative Katholik, der ordentliche Deutsche, der emotionale Slowene oder der exzentrische Künstler. Ich glaube, diese starren Identitätsbilder bedürfen konstanter Überwindung, Bekämpfung, Zerstörung. Sonst schnüren sie einem die Luft ab.

»Das scheiß Slowenisch hat uns nichts als Unglück gebracht«, sagte meine Mutter. Meine Eltern hatten die Assimilierung so weit getrieben, dass sie alles Slowenische in unserer Familiengeschichte ignorierten. Ihre Erfahrungen mit der alltäglichen Stigmatisierung hatten sie mürbe gemacht. Je älter ich wurde, desto häufigerteilte ich die Erfahrung von offener Anfeindung und unterschwelliger Verachtung. Man nannte mich einen »verdammten Tschuschen«. Einmal sagte einer aus meinem eigenen Handballteam in der Garderobe zu mir: »Unterm Hitler wären solche wie du vergast worden.« Wer waren solche wie ich?

Identität besteht aus mehr als einem Parameter, es ist ein komplexes, dreidimensionales, immer einzigartiges Konstrukt. Ich aber scheiterte schon an der banalsten Zuordnung: War ich Österreicher? Ich hatte einen österreichischen Pass, war hier geboren und aufgewachsen, Deutsch war meine Muttersprache, den Kärntner Dialekt habe ich bis heute nicht verlernt. Trotzdem gehörte ich nicht dazu.

Mein Wunsch nach der Zertrümmerung dieser nationalen und kulturellen Identitäten, nach einer Entzauberung alter Heldengeschichten wurzelt in dieser Erfahrung – und er prägte meine erste große eigene Inszenierung. 1987 im Kongresshaus in Villach.

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»Bub, weißt du eigentlich, was du da gerade angestellt hast?« Im Gesicht meines Vaters stand die pure Fassungslosigkeit. Ich befand mich ganz am Anfang meiner Theaterkarriere und hatte endlich die Gelegenheit bekommen, ein von mir selbst geschriebenes Stück zur Aufführung zu bringen. Es hieß »Sprache – Zeit – Begegnung«, und ich spielte selbst darin mit. Zwei schwierige Jahre, die aus ständigem Suchen und einigen Fehlschlägen bestanden, waren vorbei. Und was hatte ich getan mit meiner ersten großen Chance? Ich hatte die halbe Welt gegen mich aufgebracht. Oder zumindest ganz Kärnten, was für einen Kärntner aufs Gleiche hinausläuft.

Mein Vater war nach der Uraufführung im Kongresshaus Villach in meine Garderobe gekommen, wo ich mich gerade abschminkte, und hatte mir diese Frage gestellt. Da wusste ich, es würden ein paar schwierige Wochen auf mich zukommen.

Einige Jahr zuvor war ich aus einem kleinen Kärntner Dorf nach Graz gezogen, um dort zu studieren. Graz war für mich eine Verheißung. Ausgestattet war ich mit nichts als humanistischem Gedankengut und aufklärerischen Idealen, die ich von meinen Eltern, beide Volksschullehrer, mitbekommen hatte. Dazu acht Jahre Gymnasium von Kreiskys Gnaden. Kunst spielte immer eine Rolle, aber das wusste ich damals natürlich noch nicht. Mit anderen Worten: Ich war jung und bereit, mich vom Leben überrollen zu lassen.

Im Theater war ich Quereinsteiger. Ursprünglich hatte ich beschlossen, Germanistik zu studieren. Keine Ahnung, warum. Ich hatte bis dahin zumindest schon Hunderte Bücher gelesen. Außerdem spielte ich damals Handball in der österreichischen Bundesliga, also nahm ich noch ein Sportstudium dazu. Mir war nicht bewusst, wie sehr diese Wahl nach einer Karriere als Lehrer schrie. Doch die Zukunft war ein ferner Ort, und die Gegenwart schien ein unerschöpflicher Ozean aus Möglichkeiten.

In Graz bezog ich ein kleines Zimmer im katholischen Studentenwohnheim Leechgasse. Der spätere Kärntner Bischof Egon Kapellari, damals noch ambitionierter Hochschulseelsorger, besaß ein Faible für sperrige, künstlerische junge Menschen. Trotzdem bestand der Alltag im Leechheim aus Mensa mit Gebet, Katholischer Hochschulgemeinde und einer gemeinsamen Abendmesse am Sonntag. Es gab zwar auch viel Kunst, Jazz und Kabarett, aber dennoch konnte ich dem christlichen Konservativismus nicht völlig entkommen. Das Heim war wunderbar paradox: Es versuchte alte Werte zu bewahren, die seine jungen Bewohner wie ich bereits als gescheitert betrachteten, und bot damit eine beständige Reibungsfläche zwischen allen, die da wohnten.

In Graz erlebte ich eine wirklich aufregende Studentenzeit. Wir tranken und tanzten, diskutierten und rauchten und lebten in der selbstverständlichen Gewissheit, die Jugend so wundervoll macht: dass alle unsere Gedanken und Sätze von großer Bedeutung für den Lauf der Weltgeschichte sein würden. Das Germanistikstudium war etwas verstaubt, mein Sportstudium liebte ich. Fast eine marxistische Zelle, mit viel Körper- und politischem Bewusstsein, Gesellschaftsveränderung, junge, nach vorne strebende Menschen, Joints, Party, Training, Geschichte der Leibesübungen, Eishockey und Schwimmen morgens um halb acht, es war wunderschön.

Nach zwei Jahren wechselte ich in eine Wohngemeinschaft in der Uhlandgasse 8, genannt U8. Sieben Vorarlberger und ich. Einer meiner Mitbewohner studierte Regie, und ich erinnerte mich an eine fast vergessene frühere Leidenschaft für Theaterstücke und Schauspielerei. Die Aussicht, Regisseur zu werden, elektrisierte mich und erschien bald viel spannender als Ausdauerlauf, Turnen und Rettungsschwimmen. So wechselte ich kurzerhand das Studium. Es folgten ein paar völlig unerwartete, aber umso aufregendere Jahre. Ich hatte mir ein Ziel geschaffen. Die Theaterszene war in Graz damals nicht groß, aber irgendwo fand sich immer ein Café oder ein Keller, in dem wir mit Stücken experimentieren konnten.