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Andreas Hahn

ENTSCHWÖRUNG

Was man über Verschwörungstheorien wissen sollte und wie uns der Glaube Orientierung gibt

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7567-8 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2022 SCM Verlagsgruppe GmbH

Alle Internetlinks wurden am 12.01.2022 auf ihre Aktualität geprüft.

Weiter wurden verwendet:

Lektorat: Mirja Wagner, www.lektorat-punktlandung.de

Inhalt

Über den Autor

PROLOG: Bielefeld – anstelle einer Einleitung

TEIL 1: Fakes, Facts, Fiction – Was man über Verschwörungstheorien wissen sollte

Verschwörungstheorien – eigentlich ein alter Hut

Mythos? Glaube? Erzählung? – Warum sprechen wir von Verschwörungstheorien?

Erste Begegnungen mit Verschwörungstheorien – Facts oder Fakes?

Woran wir sie erkennen können – Merkmale von Verschwörungstheorien

Digitalität und Deep fakes – Welche Rolle die modernen Medien spielen

Wo kippt es? – Nur Skepsis oder schon Verschwörungsglaube?

Kein harmloser Spaß! – Was macht Verschwörungstheorien so gefährlich?

»Truther« oder »Schlafschaf« – Wer glaubt denn eigentlich (nicht) an Verschwörungstheorien?

Das Geheimnis der Attraktivität – Verschwörungsmentalität

TEIL 2: Warum Gott nicht einfach ein guter Verschwörer ist – Christlicher Glaube im Licht von Verschwörungstheorien

Religiöser Glaube – Einfallstor für Verschwörungstheorien?

Church matters – Christliche Ressourcen gegen Verschwörungsglauben

Ein Blick in Gottes Wort – Biblisch-theologische Argumente gegen Verschwörungsglauben

TEIL 3: Was können wir tun? – Entschwörungstraining und Entschwörungs-konzepte

»Debunking« – Fake News entlarven

Warum der BER nicht fertig wurde – Entschwörungskompetenzen entwickeln

Wir begegnen Menschen, nicht Theorien! – Tipps für Gespräche

EPILOG: Zurück nach Bielefeld – Von Ausstiegen und einem Blick in die Zukunft

Weiterführende Quellen

Anmerkungen

Über den Autor

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Andreas Hahn (Jg. 1962) ist Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen und berät Menschen sowie Institutionen inmitten der religiös-weltanschaulichen Vielfalt. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

PROLOG:

Bielefeld – anstelle einer Einleitung

Ich schreibe dieses Buch in der Nähe von Bielefeld – und frage mich, welche Gedanken Ihnen wohl durch den Kopf schießen, wenn Sie diesen Namen lesen. Womöglich wissen Sie schon längst, dass es Bielefeld gar nicht gibt. Vielleicht sind Sie sogar bereits bestens über die Bielefeld-Verschwörung informiert: Bielefeld, das ist die Stadt, deren Existenz nur vorgetäuscht worden ist. So die Theorie.

Tatsächlich war die Bielefeld-Verschwörung eigentlich ein Party-Gag von Kieler Soziologie-Studierenden. Als 1993 durch eine selten dusselige Planung von Bauarbeiten sämtliche Autobahnabfahrten nach Bielefeld zur gleichen Zeit gesperrt worden waren, haben sie angefangen, eine ganze Verschwörungstheorie darumzubasteln: Bielefeld gebe es gar nicht. Alle Nummernschilder seien gefälscht. Und nicht nur die: Auch die Fahrpläne der Deutschen Bahn mit einem angeblichen ICE-Bahnhof Bielefeld würden so gar nicht existieren. Es sei sogar eine Fußballmannschaft erfunden worden und überall in Deutschland würden Lastwagen mit Tiefkühlpizza einer angeblichen Bielefelder Firma herumfahren.

Die Stadt selbst hat diese Verschwörungstheorie übrigens hervorragend vermarktet. Das selbstironische Motto zur 800-Jahr-Feier hieß: »Bielefeld – das gibt’s doch gar nicht!«1 2019 wurden dann eine Millionen Euro als Belohnung für diejenigen ausgelobt, die den Beweis der Nichtexistenz von Bielefeld liefern könnten.2 Das hat – trotz sehr origineller Eingaben – natürlich nicht funktioniert, und so gibt es in der Stadt jetzt einen Gedenkstein zum Ende der Bielefeld-Verschwörung. Ich schreibe also aus Bielefeld – und vielleicht denken Sie jetzt: »Dieser Autor ist ja allein von seiner Herkunft her schon ein echter Experte für Verschwörungstheorien.« Oder: »Er ist ein besonders gewiefter Verschwörer und will uns einwickeln.« Oder Sie denken: »Das ist ja mal ein schöner Einstieg, da bin ich auf den Rest des Buches gespannt« – und das ist natürlich genau das, was ich mit dieser Einleitung beabsichtigt habe.

Es geht also um Verschwörungsdenken, Verschwörungserzählungen, Verschwörungstheorien. Vor allem aber geht es um die Frage, wie wir damit am besten umgehen können, und zwar nicht nur ganz allgemein, sondern auch aus christlicher Perspektive. Kann der christliche Glaube ein Kitt für unsere Gesellschaft sein? Oder treibt er gar in den Auseinandersetzungen um Verschwörungstheorien einen Keil zwischen die verschiedenen Parteien? Gerade während der Corona-Pandemie mit all den sozialen Einschränkungen entzündete sich so mancher Streit. Das Ergebnis waren zerstrittene Familien, zerbrochene Freundschaften und sogar gespaltene Gemeinden. Wie können wir also mit diesem Problem gut und evangeliumsgemäß umgehen?

Sicherlich gibt es hier nicht den eindeutigen Königsweg. Aber ich möchte mit meinen Überlegungen eine Hilfe bieten, um die manchmal mühsamen Gespräche zwischen »Verschwörungsgläubigen« und »Schlafschafen« wieder in Gang zu bringen. Dieses Buch richtet sich also nicht nur, aber in besonderer Weise an eine christliche Leserschaft. Nicht selten gibt es in christlichen Gemeinschaften Spannungen, die sich vor allem am Umgang mit der Corona-Pandemie entzündet haben, und manche von ihnen führten sogar zu Spaltungen von Gemeinden. In diesen Diskussionen rund um Corona spielt oft genug Verschwörungsdenken eine wichtige Rolle. Insofern werde ich immer wieder christliche Aspekte zur Sprache bringen, aber vieles gilt auch darüber hinaus.

Das Buch folgt einem Dreischritt: Im ersten Teil finden Sie viele Informationen zu den Merkmalen von Verschwörungstheorien. Was macht sie so attraktiv und zugleich gefährlich? Wer wird von ihnen besonders angezogen? Im zweiten Teil wird es dann um das Verhältnis von christlichem Glauben zu Verschwörungsglauben gehen und Sie werden biblische und theologische Kriterien an die Hand bekommen. Im dritten Teil wird es dann praktisch: Mithilfe eines »Entschwörungstrainings« können Sie »Entschwörungskompetenzen« gewinnen.

Vieles von dem, was Sie lesen werden, habe ich in Veranstaltungen, Vorträgen und Seminaren ausprobiert. Anfangs lag der Schwerpunkt noch auf der Aufklärung: Was sind eigentlich Verschwörungstheorien? Mit welchen Argumenten kann man sie widerlegen? Warum halten manche Menschen sie für wahr? Im Laufe der Zeit habe ich jedoch immer mehr die Fragen nach einem guten Umgang mit Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien in den Fokus genommen. Das eine geht aber nicht ohne das andere. Erst wenn man versteht, was Verschwörungstheorien sind und wie sie auf Menschen wirken, kann man auch überlegen, wie man mit ihnen umgehen kann. Dazu dient dann mein »Entschwörungstraining« im letzten Teil dieses Buches.

Jetzt habe ich Sie hoffentlich neugierig gemacht und Sie haben Lust bekommen, mit mir gemeinsam eine Reise in die Welt der Verschwörungstheorien zu unternehmen. Auf geht’s!

TEIL 1

Fakes, Facts, Fiction –
Was man über
Verschwörungstheorien
wissen sollte

Verschwörungstheorien – eigentlich ein alter Hut

»Verschwörungstheorien« – seit wann sind sie eigentlich in aller Munde? Angeblich, so munkeln einige, sei der Begriff »Verschwörungstheorie« eine Erfindung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA gewesen. Man habe mit dieser abwertenden Bezeichnung Kritikerinnen und Kritiker mundtot machen wollen, die lautstarke Zweifel an der offiziellen Darstellung des Mordes an John F. Kennedy geäußert hatten. Sie seien eben »Verschwörungstheoretiker«. Niemand kann wirklich sagen, wann und wo dieses Gerücht zum ersten Mal aufgetaucht ist. Fakt ist aber: Es hält sich hartnäckig.

Tatsächlich steht die Wortkombination conspiracy theory (»Verschwörungstheorie«) in einem Schriftstück der CIA von 1967. Allerdings wurde das Wort dort nicht zum ersten Mal gebraucht. Bereits im 19. Jahrhundert kann man den Begriff oder seine inhaltliche Umschreibung in verschiedenen Texten finden. Und schon 1949, also achtzehn Jahre vor dem CIA-Schriftstück, schrieb der berühmte Philosoph Karl Raimund Popper, dass sich anstelle der alten Götter jetzt »verschiedene mächtige Menschen und Gruppen« gesetzt hätten, die in Wirklichkeit die Fäden in der Hand hielten und für »alle Übel, an denen wir leiden« verantwortlich seien.3 Auch Popper verwendete in seinem Text bereits den Begriff »Verschwörungstheoretiker«.

Wichtig ist: Das Wort »Verschwörungstheorie« ist immer eine Fremdbezeichnung und ist meistens negativ gemeint. Niemand würde sich selbst als »Verschwörungstheoretikerin« oder »Verschwörungstheoretiker« bezeichnen. Ganz im Gegenteil: Sich selbst sieht man als Wahrheitssuchender, Aufklärer, als Wissender oder »Truther«, wie der offizielle Begriff lautet. Genau das macht gemeinsame Gespräche so schwierig: Jeder von uns wähnt die Wahrheit auf der eigenen Seite.

Verschwörungsdenken ist kein Phänomen der heutigen Zeit, sondern vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Dabei greift es auf etwas zurück, das zu unserer menschlichen Grundausstattung gehört: Wir alle beobachten und stellen Zusammenhänge her. Diese Veranlagung ist nicht nur hilfreich, sondern manchmal sogar lebensrettend. Damals wie heute. Ein Beispiel aus der Vergangenheit: Stellen Sie sich vor, sie hätten in der Steinzeit gelebt. Um Trinkwasser zu bekommen, hätten Sie erst einmal eine enorme Wegstrecke zu einer Wasserstelle zurücklegen müssen. Wenn Sie sie endlich erreicht hätten, wären Sie sicherlich nicht schnurstracks auf diese Wasserstelle zugelaufen, um Wasser zu schöpfen. Sie hätten sie stattdessen erst einmal sehr genau beobachtet, um herauszufinden, zu welcher Zeit die Gazellen und zu welcher die Säbelzahntiger kommen. Denn davon hätte abgehangen, ob Sie Futter bekommen hätten oder selbst zum Futter geworden wären.4 Es liegt also in der menschlichen Natur, dass wir unsere Umgebung beobachten, einschätzen und bewerten. Das ist heute nicht anders: Aus dem laut aufheulenden Motor schließe ich, dass ein weit entferntes Auto sehr schnell näher kommen wird. Also warte ich besser mit dem Überqueren der Straße.

Was es auch schon immer gab, sind geheime Absprachen einzelner Verschwörergruppen, um ein bestimmtes Ziel durchzusetzen.5 Insbesondere politische Verschwörungen durchziehen die ganze Geschichte – sei es 44 v. Chr. die Ermordung Julius Cäsars oder 1914 das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Solche Absprachen müssen allerdings von Verschwörungstheorien unterschieden werden. Doch dazu später mehr.

Verschwörungstheorien waren zunächst, im Gegensatz zu den eben erwähnten Absprachen, weniger politisch, sondern religiös aufgeladen. Teufel, Dämonen oder später Ketzer und Hexen wurden als geheime Drahtzieher genannt. Besonders »die Juden« wurden Opfer von Verschwörungsglauben. Es hieß, sie würden rituell Kinder ermorden, Hostien schänden oder Brunnen vergiften, sodass es in der Folge zu Pestepidemien gekommen sei.

Verschwörungstheorien verbreiten nicht nur Fake News – es gibt auch Fakes (Falschaussagen), die über sie selbst im Umlauf sind. Je genauer wir über sie Bescheid wissen, desto besser können wir mit ihnen umgehen.

Wenn ich die Geschichte der Verschwörungstheorien genauer betrachte, halte ich einige Beobachtungen für bemerkenswert:

• Rationale Erklärungen schützen offensichtlich nicht vor Verschwörungsdenken. Gerade in der Aufklärung – als der Verstand hoch geschätzt wurde – kam es zu einem Aufblühen von politischen Verschwörungserzählungen. Deren Akteure waren sogenannte Geheimgesellschaften wie die Illuminaten oder die Freimaurer. So sahen Gegnerinnen und Gegner der Französischen Revolution 1789 ebendiese Geheimgesellschaften am Werk, um Regierungen zu stürzen und die Weltherrschaft zu übernehmen.

• Über lange Zeit waren es gesellschaftliche Randgruppen, denen Verschwörungen unterstellt wurden. Besonders die Juden gerieten immer wieder in den Fokus. Bis heute spielt ein fiktives Dokument – die »Protokolle der Weisen von Zion« – in vielen Verschwörungstheorien eine zentrale Rolle. Dieser Text gibt eine angebliche, auf 1897 datierte Rede wieder, in der die geheimen Methoden einer angeblich jahrhundertealten jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung aufgezählt werden. Schon früh hat man diesen Text als eine Fälschung entlarvt, zusammengesetzt aus unterschiedlichen literarischen Texten. Aber bis zum heutigen Tag halten sich die Behauptungen eines nach Weltherrschaft strebenden Judentums, und nicht selten landet man bei heutigen Verschwörungstheorien bei »den Juden« als Urheber. Ich werde das später an Beispielen noch zeigen.

• Man kann es heute kaum glauben, aber lange Zeit war der Begriff »Verschwörungstheorie« positiv besetzt. Wer eine solche Theorie formulierte und sein Wissen an die Öffentlichkeit brachte, galt als scharfsinnig und stimmte mit der allgemeinen Mehrheitsmeinung überein. So behauptete der amerikanische Senator Joseph McCarthy beispielsweise, dass die Institutionen in den USA vom Kommunismus unterwandert werden würden. Mit dieser Aussage stieß er auf eine breite Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung. Oder: In der DDR wurde die Propaganda verbreitet, die Amerikaner würden über DDR-Kartoffelfeldern gezielt Kartoffelkäfer (»Ami-Käfer«) abwerfen, um die Ernten in Ostdeutschland zu vernichten. Auch diese Behauptung wurde von kaum jemandem angezweifelt.
Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts schwand diese gesellschaftliche Akzeptanz von Verschwörungstheorien. Jetzt wurden sie weniger von regierungsnahen Akteuren, sondern von zahlreichen Einzelpersonen verbreitet. Teilweise berechtigte Kritiken an offiziellen Darstellungen wie beispielsweise beim Kennedy-Mord oder der Mondlandung verbanden sich mit »wahnhaften« Spekulationen.6 Die Mehrheit der Bevölkerung schloss sich ihnen nicht an. So bekamen etwa ab den 1960er-Jahren Verschwörungstheorien ihr heutiges negatives Image.
Seitdem wird »Verschwörungstheorie« als Kampfbegriff verwendet. Er sagt aus: »Mit Behauptungen, die dieses Label tragen, braucht man sich gar nicht mehr abzugeben.« Problematisch wird es dann, wenn dies dazu führt, dass berechtigte Anliegen und Kritiken als Verschwörungstheorie abgetan und zukünftig nicht mehr mitbedacht werden.

Mythos? Glaube? Erzählung? – Warum sprechen wir von Verschwörungstheorien?

Wir haben es bereits gesehen: Geheime Absprachen gab es schon immer und wird es zweifellos auch in Zukunft geben. Erinnern Sie sich nur an Cäsar. Nun könnte man natürlich jede geheime Absprache bereits als Verschwörung bezeichnen – aber das ist wenig sinnvoll. Wenn Sie sich mit einigen Personen verabreden, um dieses Buch einem Freund zum Geburtstag zu schenken, und dies bis dahin geheim halten, sollte man nicht von einer Verschwörung sprechen.

Was meint man also mit dem Begriff »Verschwörungstheorie« im Unterschied zu einer Absprache, die im Geheimen getroffen wird? Ich halte folgende Definitionen für sinnvoll:

• Nicht jede geheime Absprache ist sofort eine Verschwörung. Von Verschwörungen spricht man immer dann, wenn etwas in böser Absicht geschieht.

• Den Verschwörern geht es immer um Macht und Einfluss. Alles andere ist nur vorgeschoben.

• Verschwörungstheorien betreffen immer Ereignisse von sehr großer Reichweite.

• Sie behaupten: »Die Welt ist nicht so, wie es nach außen hin scheint.« Ihre Deutung des Weltgeschehens grenzt sich bewusst von den üblichen Erklärungen ab.

Zusammengefasst heißt das: Eine Verschwörerclique übt ihr weltumspannendes Handeln im Verborgenen aus, zieht mit bösen Absichten ihre Fäden und hält die Bevölkerung mit manipulierten Informationen von der Erkenntnis der Wahrheit ab.

Nun ist der Begriff »Verschwörungstheorie« teilweise umstritten. Die Kritik lautet: Eine Verschwörungstheorie sei doch keine »Theorie«, denn jede echte Theorie arbeite mit rational überprüfbaren Kriterien und zeige, unter welchen Umständen sie sich als falsch erweist. In der Wissenschaft spricht man hier vom »Falsifikationsprinzip«. Eine Verschwörungstheorie, so die Begründung, sei dagegen immun gegen jede Art von Kritik. Da man diese Art von Weltdeutung, die sich gegen jede Form von Kritik selbst immunisiert, als »Ideologie« bezeichnet, solle man stattdessen besser von »Verschwörungsideologien« sprechen, heißt es.

Das ist natürlich grundsätzlich richtig. Daher kann man den Begriff »Verschwörungsideologie« durchaus bevorzugen. Allerdings sollte man dabei zweierlei bedenken:

1. International spricht man von conspiracy theories. Will man davon abweichen, beschreitet man einen ungewöhnlichen Sonderweg. Das sollte man nur aus guten Gründen machen.

2. Für viel wichtiger halte ich aber folgendes Argument: Die Übergänge zwischen einer rationalen Erklärung und einer Ideologie sind nicht immer so trennscharf zu ziehen, wie wir es gern hätten. Streng genommen gilt das sogar für die Wissenschaften.7 Wenn man wissenschaftlich arbeitet, unterzieht man sein Wirklichkeitsverständnis einer Prüfung. Man hinterfragt es und rückt es in ein neues Licht, nämlich in das Licht einer neuen Theorie. Auch Wissenschaft beginnt mit dem Zweifel an bisherigen Deutungen und sucht nach Erklärungen, um dann daraus eine neue Theorie zu formulieren. Denken Sie zum Beispiel an Nikolaus Kopernikus, der in seiner neuen Weltsicht die Sonne statt die Erde in den Mittelpunkt rückte, weil sich damit die astronomischen Beobachtungen besser erklären ließen.
Zudem zeigt uns die Wissenschaftsgeschichte: Wissenschaftliche Fortschritte basieren nicht nur auf rationalen Argumenten, sondern auch auf gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt auf den Persönlichkeiten der Forscherinnen und Forscher. Nehmen Sie beispielsweise Galileo Galilei: Weil er für seine Beobachtungen extra angefertigte Linsen verwandte, wurden seine Theorien zunächst nicht ernst genommen. Mit solchen Hilfsmitteln »überliste« man die Natur und dementsprechend seien die Beobachtungen nichts wert. Erst als man im Laufe der Zeit den Wert von Experimenten, mathematischen Beschreibungen und mechanischen Hilfsmitteln erkannte, wurden seine Theorie anerkannt und damit salonfähig.8

Sie sehen also: Es gibt sie, die Grauzonen. Nicht alles ist rational. Auch nicht in der Wissenschaft. Und dennoch sind alle wissenschaftlichen Theorien im Unterschied zu den Verschwörungsdeutungen prinzipiell nachprüfbar und präzise kontrollierbar. Allerdings können auch Wissenschaften ideologisch vereinnahmt werden. Wir haben es beispielsweise bei den Wirtschaftsvorstellungen im Kommunismus oder in den »Rassenlehren« des Nationalsozialismus sehen können, bei denen sich die jeweils ideologisch voreingenommenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihre angeblich nachprüfbaren Theorien beriefen. Zudem müssen wir bedenken, dass wir, wenn wir in den Wissenschaften auf Daten zugreifen, bereits im Vorfeld entschieden haben, was wir erforschen wollen und was nicht. Wissenschaftliches Arbeiten begrenzt sich immer auf bestimmte Aspekte aus der Fülle von möglichen Phänomenen. Nur diese werden untersucht. Welche das genau sind, bestimmt die wissenschaftliche Theorie. Beispielsweise werden bei Menschen oder Menschengruppen in der Psychologie oder der Soziologie nur bestimmte Aspekte erforscht (Alter, Geschlecht, Bildung, besondere Vorlieben, Familiengeschichte u. Ä.). Alles andere findet keine Berücksichtigung. Das heißt, auch wissenschaftliche Daten sind nicht einfach gegeben, sondern etwas Gemachtes, etwas, das die Wissenschaft zum eigenen Gebrauch herstellt, und stellen immer nur einen Ausschnitt dar. Den zweifelsfreien Blick auf die Wirklichkeit gibt es also selbst in der Wissenschaft nicht.

Doch was bedeutet das nun für uns? Wenn doch alle Versuche, zu wissen, was Fakten sind und was nicht, lediglich unser Verständnis bereichern können, bleibt uns da nicht letztlich nur das Gespräch? Die Diskussion? Die Erkenntnis, dass wir gemeinsam auf dem Weg bleiben müssen und alle wissenschaftliche Forschung und alles Erkennen dies nicht ersetzen können? Das mag sein. Als Menschen beobachten wir und ziehen unsere Schlussfolgerungen. Wir alle, Tag für Tag. Wir sehen etwas, lesen einen Artikel, machen uns unsere Gedanken, prüfen vielleicht sogar nach – und kommen zu einem Ergebnis. Dabei bringen wir immer auch eigene Voraussetzungen mit. Aus diesem Zusammenhang werden wir nicht herausfinden – weder wissenschaftlich noch im privaten Leben.

Trotzdem sind Verschwörungstheorien nicht einfach mit Wissenschaft gleichzusetzen. Man könnte sagen: Sie imitieren Wissenschaft. Und es stimmt: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass jede Form von Zweifel ausgeschlossen wird.

Was heißt das nun aber für unsere Begriffe? Wer das Wort »Verschwörungstheorie« ablehnt, kann das machen, sollte sich aber nicht zu sicher sein. Theorien und Ideologien sind, wie wir gesehen haben, nicht immer sauber voneinander abzugrenzen. Auch im Verschwörungsdenken verknüpft man ja bestimmte Annahmen und Beobachtungen miteinander und versucht damit, die Welt besser zu verstehen – auch wenn die gewonnenen »Erkenntnisse« falsch sind. Versuchen Sie zum Beispiel mal, einen überzeugten Nazi von der biologischen Gleichartigkeit aller Menschen zu überzeugen oder einen Kommunisten von einem wirtschaftsliberalen Theorieansatz. Beide werden vermutlich auf ihren falsch gewonnenen »Erkenntnissen« beharren. Und umgekehrt gibt es auch in den Wissenschaften Grenzüberschreitungen hin zur Ideologie.

Ich selbst spreche also weiterhin von »Verschwörungstheorien« oder »Verschwörungsdenken«. Gern verwende ich auch den Begriff »Verschwörungserzählungen«, denn eine Verschwörungstheorie hat in der Regel die Gestalt einer Erzählung. Sie hat eine Handlungsabfolge, lässt ein erzähltes Universum entstehen, und das Erzählen stiftet gemeinschaftliche Identität. Die Anhängerinnen und Anhänger sind Teil einer Gruppe, die dieselbe Erzählung hat. Man gehört zusammen.

Ab diesem Punkt können dann andere Beteiligte weitererzählen und es kommt zu einem neuen und erweiterten Modell, die Welt und die Geschehnisse zu deuten. Prinzipiell ist dieses Wissen allen zugänglich, aber wegen der Verschwörer wird es zum Gegenstand geheimer Kommunikation. Daher ist dieses Wissen geheim, aber nicht verborgen.

Eng verwandt mit der »Verschwörungserzählung« ist deshalb der Begriff »Verschwörungsmythos«. Ein Mythos ist eine Erzählung, die sehr grundsätzlich und umfassend zu beschreiben beansprucht, wie die Welt entstanden und zu dem geworden ist, wie wir sie heute wahrnehmen. Damit ist eine umfassendere Weltsicht gemeint, deren Teilbereiche aus einzelnen Erzählungen bestehen können. Einen bekannten Verschwörungsmythos finden wir im Mittelalter: Die Verschwörungserzählungen von »Juden, die Brunnen vergiften« speisen sich aus dem umfassenden Verschwörungsmythos einer behaupteten »jüdischen Weltverschwörung«.

Wer in solchen Verschwörungsmythen oder Verschwörungstheorien eine Wahrheit sieht, kann auch als »Verschwörungsgläubige« beziehungsweise »Verschwörungsgläubiger« bezeichnet werden. Auch wenn die Argumente im Verschwörungsglauben oft abwegig erscheinen, nenne ich ihn dann »Verschwörungsdenken«, wenn ich diesen argumentativen Aspekt betonen möchte.

Jetzt kennen Sie also einige unterschiedliche Begriffe und wissen auch, wie ich es damit in diesem Buch halte. Natürlich können Sie auch weiterhin andere Begriffe verwenden – aber wählen Sie mit Bedacht!

Erste Begegnungen mit Verschwörungstheorien – Facts oder Fakes?

Im Umgang mit Verschwörungstheorien ist es hilfreich, die wichtigsten und am meisten verbreiteten zu kennen, um überhaupt Argumente und Gesprächsmöglichkeiten zu haben und manches besser einordnen zu können. Die Erzählungen von Verschwörungen reagierten damals und reagieren auch heute noch auf konkrete Ereignisse und Erfahrungen. So entstehen immer wieder neue Verschwörungstheorien und andere verschwinden oder tauchen in einem neuen Gewand wieder auf. Verschwörungstheorien aus der Zeit des Kalten Krieges werden zum Beispiel heute kaum noch vertreten, aber der Grundgedanke (gewissermaßen der Verschwörungsmythos) einer bösen politischen Macht kann in neuen Verschwörungserzählungen wieder Gestalt gewinnen.

Meine persönliche Top 10 aktueller Verschwörungserzählungen sieht so aus – vielleicht ist auch Ihnen die ein oder andere Theorie ja schon mal begegnet:

1. Moon-Hoax: Die Skeptikerinnen und Skeptiker der Mondlandung glauben, dass bei der Mission von Apollo 11 in Wirklichkeit niemand auf dem Mond gelandet sei. Die Bilder seien in einem Filmstudio entstanden. Dafür gebe es viele Hinweise auf den Bildern und Filmen: Nirgendwo seien Sterne zu sehen, der Schattenwurf sei völlig verkehrt. Die amerikanische Flagge wehe, obwohl es auf dem Mond keine Luft gibt. Die Astronauten hätten bei der geringen Schwerkraft viel höher springen müssen. In Wirklichkeit, so behaupten ihre Vertreterinnen und Vertreter, habe die amerikanische Regierung in den 1960er- und 1970er-Jahren in einem Fernsehstudio die Landungen fingiert, um von innen- und außenpolitischen Problemen wie dem Vietnamkrieg abzulenken und einen Propagandasieg über die Sowjetunion im Wettlauf um den Weltraum zu erringen.

2. 9/11: Für den Anschlag auf das World Trade Center seien keine terroristischen Attentäter, sondern die CIA (als ein »inside job«) oder wahlweise auch eine »zionistische Weltverschwörung« verantwortlich. Die Wucht der Flugzeugeinschläge sowie die Hitze des brennenden Flugzeugkerosins hätten nicht ausgereicht, um den Stahl zum Schmelzen und die Gebäude zum Einsturz zu bringen. Stattdessen sollen gezielte Sprengungen von innen zum Kollaps des World Trade Centers geführt haben. Neben den beiden Türmen steht hier auch das weniger bekannte 7 World Trade Center (7 WTC) im Fokus. Dieses Nebengebäude stürzte erst einige Stunden nach den beiden Haupttürmen in sich zusammen, obwohl es gar nicht von den Flugzeugen getroffen wurde. Auch hier wurden in Verschwörungstheorien Sprengungen vermutet. Die wahren Täter seien also entweder die CIA, die unmittelbar nach dem angeblichen Attentat für die Öffentlichkeit überraschend die bis dahin völlig unbekannte Al Qaida aus dem Hut gezaubert habe, oder wieder mal »die Juden«, denn an diesem Tag seien nur wenige jüdische Geschäftsleute vor Ort gewesen.

3. Chemtrails: Die Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel seien die Rückstände chemischer Produkte. Hierzu gibt es mehrere Verschwörungstheorien: Die dort zugefügten Chemikalien würden entweder unsere Gehirne verändern und uns zu willenlosen Marionetten machen. Oder sie reduzierten die Zeugungsfähigkeit der Bevölkerung mit dem Ziel, die Überbevölkerung einzudämmen. Wahlweise wird auch eine gezielte Vergiftung oder Veränderung des pH-Wertes des landwirtschaftlich genutzten Bodens mit Aluminiumverbindungen behauptet, um herkömmliches Saatgut unbrauchbar zu machen. Saatgutgroßkonzerne hätten längst schon präventiv genmanipulierte aluminiumresistente Sorten entwickelt. In neuerer Zeit solle die mit den Chemtrails einhergehende großflächige Verteilung von Partikeln in der Atmosphäre das Sonnenlicht abschwächen und so die globale Erwärmung reduzieren.

4. Barcodes: Die Barcodes zum Scannen von Produkten im Einzelhandel würden negative Energie an die Kundschaft weitergeben, die dadurch krank werde. Hinter dieser Verschwörung stecke eine Geheimregierung, die unsere Bevölkerung verringern möchte, möglicherweise sogar der Antichrist, denn hinter den Doppelstrichen verberge sich die Zahl 666.

5. Reptiloiden: Vor Urzeiten seien Echsen aus einem anderen Sternensystem auf der Erde gelandet. Diese Alien-Echsen würden Menschenkostüme tragen und uns als sogenannte Formwandlerinnen und Formwandler regieren. Zu ihnen würden Angela Merkel und die Queen sowie der frühere Papst Benedikt XVI. oder Emmanuel Macron gehören. Diese »verkleidete Elite« halte uns als Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven und arbeite an der »Neuen Weltordnung«.

6. Reichsbürger