© Daniel Costantino, 2021

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editionSastra by BoD

! Christian Urech

Michael-Maggi-Strasse 14

8046 Zürich

www.christianurech.com

Herstellung und Verlag: BoD – Books On Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-8893-8

Inhaltsverzeichnis

DREI KLEINE GESCHICHTEN VON SCARP

Einer neuen Stadt, aus deren Häusern die Bewohner glotzen wie Gefangene hinter Gitterstäben, zeugt Scarp ganz gegen den Brauch ein Kind. Jeder Einzelne nämlich dort, sobald er seine Tage nach vierzig Jahren abgezählt, meldet sich am Friedhof zur Einäscherung, die unverzüglich und ohne weitere Umstände erfolgt. Darauf stellt die Gemeinde wieder einen frischen Menschen bereit; so sind die Dinge für alle geregelt. Scarp aber, der Fremde, nimmt sich im Dunkeln ein Weib, schwängert es und macht sich aus dem Staub, noch ehe der Morgen graut. Und das Kind, der Kegel, der Balg, wird flügge und zieht eines Tages zur Stadt hinaus und durch den schönen Wald und kehrt nicht wieder.

Weintrinkend zu nächtlicher Stunde auf dem Balkon hingestreckt, fühlt Scarp sich von einer zarten Pflanze umästelt, die leise zu ihm emporwächst, ihn aufhebt und über die Mauer trägt in die Luft. Da wiegt er sich schön auf ihren Blättern und Stengeln und schwebt bald am Nachbarhaus, bald wieder am eigenen vorüber, bald auch gegen die Allee zu, die das Trottoir von der Strasse trennt. Durch ein Fenster spiegelt Nachbars Flimmerkasten. In der Kinderstube schlafen die Kleinen und träumen. Gegen den Rasen, den Spielplatz zu, fängt er an, auf seiner Pflanze zu weinen vor Glück. Sie sausen die Rutschbahn hinab und fliegen mit Schwung hinauf in die sternklare Nacht. Aus der Pflanze wird ein flauschiges, atmendes Tier. Sie fliegen am Mond vorbei, wo er es küsst, am Saturn, an der Wega, wo er es liebt, bis zum lieben Gott, der sie freundlich bewirtet.

Und der Wirt im Dorfe, der ihm für einmal die Zeche erlässt, wischt sich den Bierschaum vom Mund; so verlässt Scarp das Lokal als der Letzte. Am Kirchturm der Gockel schaut tief in sein Herz und heisst ihn sich drehen zum Tor hinaus, hinunter zum Fluss und zur alten Wehr, wo er sich in den Schleusen verfängt und durch einen Schacht in den Abgrund purzelt. Es rettet ihn aber am Morgen eine junge Verkäuferin, vor deren Kasse im Supermarkt er unsanft gelandet. Sie hilft ihm, auf die Beine zu kommen, und reicht ihm in der Kantine einen warmen Kaffee.

SPIEZ

Wir da drinnen im zug: kinder fast noch zu alt aber zur umkehr lachten und alberten als befänden wir uns in fantastischen gefilden wo jeder wunsch gleich realität jedes verlangen erfüllung erfährt in einem erregenden traum und man bräuchte nur in den nächsten zu wechseln wenn das unternehmen zu gefährlich die luft zu stickig das rhytmische tacktack der schienenschwellen zu lästig würde wir taten unbedarft wie ganz unserem sehnen verhaftet und wollten nichts mit den übrigen passagieren gemein haben die im vertrauen auf gott ihres wegs fuhren und deren sorgen wir spürten und mehr noch die aussichtslosigkeit auf besserung wir hielten uns aneinander und mokierten uns ein wenig über die belehrungen die uns von den gesetzten zuteil wurden vielleicht gutgemeint denn es war eine lange fahrt und es gab nicht viele stationen sich von ihr zu befreien man musste eine schöne weile miteinander auskommen und einem der unsern der nicht mehr mitreisen wollte sprachen wir mut zu wie wird es aber werden fragte er wenn wir angekommen sind und wir erzählten ihm der sich nicht aufrichten mochte dass hinter den rauchbeschlagenen fenstern und der wolkenverhangenen gegend immerhin die postautos noch führen und also biedere männer ihr tagwerk verrichteten und feriengäste in die hügel und berge hinaufkutschierten die lange gearbeitet und ihr geld gespart hätten und in den höhen und wäldern erholung suchten die jeder von ihnen wohlverdient und dass der landstrich gewiss nicht ohne grund ein gesunder genannt werde die menschen hierherum ausnahmslos hohe jahre erreichten und es ihnen bis zum tode an nichts gebreche soviel war uns bekannt und dass der wald noch immer grüne und seine erde verberge aber das wussten wir schon nicht mehr exakt wir konnten es nicht mehr erkennen in den stumpenschwaden die uns allerdings zur behauptung berechtigten so selbstsicher und unangreifbar beherrschten sie das abteil und die wacklige fahrt und die zeit und die geschichten der alten die noch in ganz andern verhältnissen gelebt und für fünfzig rappen die stunde in der munitionsfabrik gearbeitet und nie aufgemuckt und bös untendurch gemusst hatten indes wir es nun besserzuhaben freundinnenzugewinnen familienzugründen hätten damit für die zukunft gesorgt wäre und wir gaben zu aber unser freund schwieg nun dass wir den see nicht schimmern sahen in seinem grünlichen blau wie keine heimat so schön wie wäre es dachten wir in einer vision wenn der zug eine andere richtung nähme auf den see zu und hoch von einer einstürzenden brücke in ihn hinab versänke und alles ein ende und eine ruhe fände im freundlichen wasser das uns aufnähme und bärge wie eine gütige mutter und als vernähme der zug unsre gedanken verlangsamte er die fahrt und blieb nach einigem zögern stehen wie in erwägung der sache und da erhob sich von ihrem sitz eine alte die lange vor unserer zeit zugestiegen und da gelebt und recht getan und darob vergreist und humpelte durchs abteil sich festhaltend wo es ging und die gespräche hielten inne unser lachen erlosch wir wussten nicht recht sind wir angekommen jetzt oder hält der zug auf offener strecke und weiss die alte davon oder meint sie zuhause zu sein die aber nicht den eindruck machte sich von jungen schnöseln eine frage gefallen zu lassen und zielstrebig zum abteil hinausstapfte und wir animiert hintendrein in der aussicht auf bahnhof und das ende der fahrt und lustigeren zeitvertreib und schon hatte sie die ächzende tür aufgesperrt und war ihr entschlüpft und hatte der zug seine fahrt wieder aufgenommen ehe sichs einer versah und zurückbleibend schauten wir zu wie sie mitten auf einem knotenpunkt von gleisen und stromkabeln auf dem schotter stand und dann ansetzte über die hindernisse zu hinken und zu stolpern in eine ungefähre richtung die sie mehrmals änderte so schien es aus etlicher ferne nur mit ihrem handtäschchen bepackt in viel zu grossen schuhen und wo über der entschwindenen szene ein regenbogen zu erwarten gewesen und hinter den brechenden wolken eine mächtige sonne schien nur ein mattes milchiges licht das alles in eine ferne erinnerung tauchte und der schweigsame sagte nun als einziger: wir hätten sie noch zurückhalten können.

YLEM

Vorbemerkung: Ylem, heisser Urbrei und dichter Neutronenklumpen. Im Zusammenhang die Theorie des oszillierenden (pendelnden) Universums. Alle 80 Milliarden Jahre explodiert das Universum, entfaltet sich und zieht sich wieder zusammen. Alle Geschichte wiederholt sich. Man vergleiche dazu STOP für Orchester von Karlheinz Stockhausen, Londoner Version 1973.

Ausser Atem betrat er das Schulzimmer, Ylem im Kopf und alle 80’000’000’000 Jahre explodiert die Geschichte, entfaltet sich und zieht sich wieder zusammen, die Hausaufgabe über die Theorie des oszillierenden Universums, periodische Wiedergeburt allen Übels nach der Involution und der Reinigung mit Feuer, rein («Wasserstoff!») und frisch, ausser Atem, und alle schauten weg, als hätten sie nichts Gutes von ihm gesprochen. Nur Ruths stumme und weitaufgerissene Augen boten sich ihm dar, wie eine Explosion, die stille steht. Er hatte sich neben sie und Meier zu setzen, dessen wiederkehrendes Geschick es war, körperlich im Wachsen, mit seiner jungunternehmerischen Computerfirma aber schon im Schmelzen begriffen zu sein, Meier zwo oder zweikommavierfünf oder π, zum wievielten Male so beneidenswert wohlgeformt, welche Vergeudung.

Es herrschte Schweigen im Zimmer, mehr Schweigen als Stille. Er setzte sich hin und las, bevor der Professor kam, im Gesellschaftsvertrag, der immerwährenden Prüfungsdisziplin. Man konnte nie wissen, plötzlich wurde man darüber abgefragt. Er begriff wenig davon, wusste aber instinktiv, dass er dagegen war, das Allgemeinwohl über den Willen des Einzelnen zu stellen. Ins Schweigen der Klasse mischte sich eine spürbare Häme, auch jetzt wieder, nach all den Milliarden von Jahren, da er wieder so dasass und im Grunde nichts begriff, und man tauschte die immer gleichen vielsagenden Blicke. Dann trat der Professor ein: Deutsch aber, weil aller Geschichte wesensverwandt und wie sie gebeutelt vom wellenförmigen Auf und Ab über die Generationen, voller Blessuren, in dieser Klasse seit längerem fortschrittslos, zum Stillstand gekommen, rückschrittsträchtig – «Deutsch!», befahl der Professor, «Rechtschreibung!» Und mit rasendem Puls langte man nach Papier und Griffel und spitzte die Ohren zum Diktat.

Und abermals genas der Professor eines starren, morbiden, jedem Leben unverwandten Textes, sie alle zu ärgern, sperrig und fachidiotisch. Seine Aussprache mehr Trübung als Klarheit, blubbernd intonierte Haarspalterei, dennoch äusserst schulmeisterhaft und ambitioniert. Ein Dichterspott. Und in den Klassenköpfen, die eben noch voller Häme, expandierende Ratlosigkeit, auch in seinem. Aufgehoben nun die Distanz zwischen ihm und ihnen, dumm war er wie sie, überfordert, ihnen im Hass auf den Alten ganz gleich. Murrend und trotzig rückten sie dem ärgerlichen Text zuleibe, dessen Inhalt tatsächlich aus dem Gesellschaftsvertrag bestand, aber immer wieder durchsetzt war von Physik und Astronomie und mit diesem lächerlichen Ylem gepanscht, das sie nicht zu schreiben wussten, einem pflotschigen Virus- und Bazillusbrei, urgeschichtlich wie der Wunsch ihrer aller, der Alte möge sich zum Teufel und in die brandschwarzen Tiefen der barbarischsten Hölle scheren und dort auf 40’000’000’000-jährige Distanz zu ihnen gehalten werden, der sichersten Entfernung vom Hier und Jetzt ihres periodisch wiederkehrenden Lebens, falls sich der Kreis einmal anders herum drehen sollte. Seine Erziehungsmassnahmen setzten das Gegenteil dessen voraus, was er zu fördern vorschützte: nicht mündige Bürger wie Rousseaus Vertrag und noch weniger ein kritisches Vorstellungsvermögen, sondern kleinmütiges Erdulden rechthaberischer Schreib- und Denkvorschriften.

Nachdem er einen ungemein langen, unverstandenen, vielfach korrigierten, verworfenen und wiederbegonnenen Satz samt und sonders gestrichen und lauthals geschrien, er komme nicht nach, und der Alte «ihm zuliebe» die Stelle wiederholt, aber Ylem im Wege gestanden, Rousseau orthographisch geschwankt und sich zuletzt gänzlich verweigert und eine kafkaeske Frau Daŝ-Daŝ, ausgesprochen wie Daschdasch, seinem rechtschreiberischen Bemühen endgültig einen Riegel geschoben hatte, wurde sein feuriger Geist rein («Wasserstoff!») und frisch. Eine Lust zu morden brach mit ihm durch, «nie mehr Rechtschreibung!» schoss es ihm durch alle Nervenzentren seines Systems, und er stampfte auf wie ein Tier und schoss fluchend und wutschnaubend empor, warf seinen Griffel in hohem Bogen weg, stiess den Stuhl und nochmals ein Stuhlbein um, fuhr Ruth, die zu beschwichtigen suchte, über den schönen Mund, zerknüllte sein vermaledeites Papier, immer weiterfluchend, wüst und gotteslästerlich, grauenhaft, entwendete handgreiflich nun auch Ruth das Papier und Meier π und sogar dem Professor seinen Diktatzettel, riss bühnenreif alles in hundert Fetzen und brüllte, man möge ihm eine Eins schreiben und seine Tat in der nächsten Abfassung des Alten Testaments brandmarken, in 80’000’000’000 minus einiger Handvoll Jahren, und verliess unter dem Wortgehagel nun allerdings auch des Professors («Tue ich, tue ich, fauler Hund!») und oszillierender Anteilnahme der Klasse das Schulzimmer, sie mitsamt Ylem und Rousseau und Daŝ-Daŝ auf alle Ewigkeit verdammend, türeknallend und voll Verlangens, der Knall möge nie, aber auch wirklich nie mehr verebben.

kein unfall, doch blut auf dem feuchten asfalt, schorf eines tauben tiers, das seines weges weiterkroch, unterschlupf in einem wald ausspähte, kehrtmachte, nach lauterer quelle weitertastete, abdrehte und sich hügelan in vagen windungen verlor wie ermattet von der vergeblichkeit allen suchens, klumpige wunde, von hirn durchzogene sülze, schien es ihm nun aus der nähe, rest eines nichtigen willens, einer kurzen imaginierten realität, verstummte existenz, erschöpfte welt im kleinen und makel im morgennebel der herbstlandschaft, als wäre die hand ihres malers ausgeglitten, frisches blut noch, er bückte sich und stocherte mit einem holz in der schwabbligen pfütze, rätselhaft, denn die beiden busse waren nicht in voller fahrt ineinandergekracht wie zwei kometen, die von ungefähr ihre bahn gekreuzt und mit wucht zersplittert, die grosse katastrofe ausgeblieben da, der eine um haaresbreite am andern vorbeigerast und hinterher ein wenig ins schleudern geraten vom starken windstoss wohl, er hatte einen langen pfiff vernommen und schmetternden donner verspürt, der andre aber hatte unbeirrt seinen kurs fortgesetzt, als ginge ihn dieser vorfall nichts an, und es hatte auch kein passant zufällig oder aus andern gründen dazwischengestanden, der irgend unter die räder geraten, und hätte er ihn übersehen, wäre gewiss mehr herumgelegen als diese murklige masse, des war er froh, die musste von einem tier stammen, das überfahren worden oder anderweitig knapp zuvor gerade hier verendet, verstreute glieder, kleiderfetzen, ein rumpf oder ein kopf, welcher mensch verlor nur so wenig hirn, warum mahnte ihn diese lache, mahnte ihn alles entseelte an menschliches leben.

nicht mitzutun hätte geheissen, es mit den übrigen zu verderben, die in der wirtschaft zusammengesessen, für einen aussenseiter gehalten, als ein versager verachtet zu sein, der misstrauisch oder dünkelhaft sich jedem gemeinsinn verschloss, und es hätte viel dafürgesprochen; sie waren etwas angeheitert gewesen an ihren tischen, man gab sich ausgelassen, doch keinesfalls besoffen, hatte lieder gesungen, kameradschaftlich einander aufgezogen und doch nicht den bogen ins gemeine überspannt, sogar getanzt, nach alter weise und sehr zu seinem trost, so war er dortgeblieben und in erinnerung versunken, welche die musik ihm heraufbeschwor, und einer hatte ihm zugeprostet und auch ein glas gereicht, da hielt ers aus, aufgenommen und doch entrückt; und nun, da er aufgestanden und müdegetan und sich entschlossen hatte, endlich aufzubrechen, die bitte des chauffeurs auszuschlagen, der mitgezecht, an der kreuzung unten zeichen zu geben, damit er gefahrlos im dichten nebel passieren könne, wäre ihm kleinlich vorgekommen, er konnte ohne weiteres dort auf die gesellschaft warten, man hatte ihm versprochen, bald nachzukommen.

zwar hatte er, vom langen abstieg gedankenverhangen und ihrer musik noch gewärtig, klängen entfernter kindertage, den andern bus übersehen, er musste es sich eingestehen, erst bemerkt, dass jener von der andern talseite schon um die kurve und auf die kreuzung zugebogen, nachdem er seinen herangewinkt, der aber noch weit genug zurückgeblieben, dass er sich gleich wieder beruhigt, die beiden fahrzeuge kämen unbeschadet aneinander vorbei, auch konnten die lenker sich jetzt erkennen, der nebel hatte sich unterdessen ziemlich gelichtet und es hätte seiner gar nicht bedurft; doch als er sich abwandte und seinen zerstreuten gedanken wieder zu, schoss ihm die vertraute gruppe jäh und hinterrücks in einem höllentempo entgegen, seine erschreckten und grossen gebärden blieben unerwidert und sein lautes rufen, der mann am steuer schien ihn nicht einmal mehr zu kennen, er konnte gerade noch weichen, sich selber retten, und musste mitansehen, wie auch der zweite koloss, kaum der biegung entwunden, ebenso in toller beschleunigung auf die kreuzung zuhielt, wettrennen zweier hasardeure um den einsatz schuldloser menschen, abgekartetes spiel mit ihm als sündenbock, eine blitzhafte und entsetzliche einsicht.

dass sie in panik gerieten, war nicht auszumachen gewesen, noch zeichen der erregung beiderseits, von aufstand und protest; milde köpfe im morgengrau, von leselampen da und dort erhellte kleine, grelle, entschwindende fetzen, flüchtig zeitungen, kopfhörer, wippende schultern hatte er sich vorgestellt, genüsslich verschlossne augen, auch schlafende, niedergedrückte, kurzsichtig blinzelnde gestalten, die nichts erfassten, unklar aus der ferne im wackelnden licht dann, ob immerhin die gesellschaft aufbegehrt, deren boot ins schlingern gekommen, einige mutige das steuer zu entreissen suchten oder flucht berieten, fraglich, welche, die fahrt wurde weder im geringsten verlangsamt noch aufgehalten, und beide geschosse flogen ihrem horizonte zu und einer bangen zukunft, talwärts, waldwärts, fürchterlich.

und diese schliere da, erlegtes hirn, gebrochner mut, namenlos verblasstes geschick, von einer macht zertreten und widerrufen, welcher alles sich beugt, es war doch ein leben gewesen darin, das aufhebens von sich gemacht, das begehrt und gestritten und sich widersetzt, ehe sein glück vertan, zuspruch erfahren und absonderung, bedrohung und sippschaft, und mit dem eine ganze fühlende welt erloschen und untergegangen, wie bald wäre auch von ihm solches zu sagen und endlich von allen; er nahm noch einmal den stecken, kratzte und schabte an dem festgeklebten, zähen stück und beförderte es mit zwei, drei kunstvollen schwüngen ins morsche laub des strassengrabens, und dann ging er endlich nach hause.

DAS KONZERT

Von einem alten Freund, der sich nachts nicht mehr alleine auf die Strasse traute, um Begleitung in ein spätes Konzert gebeten, fand er sich nach langen Jahren der Abstinenz unter einem feierlich gestimmten Publikum wieder, einem aufrechten Häufchen erwartungsfroher Liebhaber zeitgenössischer Klassik, wenn nicht gar mit den Musikern selbst bekannt und verwandt, das um runde Tischchen stand, an Sekt und Orangensaft nippte oder sich an einer kleinen Bar von einem Mitglied des fördernden Kulturvereins mit Räucherlachs und Croque Monsieur verköstigen und ausserdem distinguiert im bevorstehenden Programm unterweisen liess.

Dann bat man ihn und alle anderen in eine zum Konzertraum ausgebaute Diele, wo inmitten der noch verwaisten Orchesterbestuhlung ein einstimmendes Referat gehalten wurde, das sich furchtlos der Frage widmete, ob falsch tönende Akkorde einem Mangel an kompositorischer Sorgfalt oder gerade bewusster Bestrebung des Komponisten zuzuschlagen seien. Wer der Feinheiten einer Körpersprache kundig, vermochte an den Gänsefüsschen zu erahnen, die der Referent bei den Adjektiven «falsch» und «falsch tönend» jedesmal in die Luft schlug, für welche Antwort er hundert Jahre nach Schönbergs «Pierrot lunaire» Zustimmung erwedeln wollte. Ganz besonders hob er eine Komposition hervor, die dritte von vieren in der kleinen Reihe des Abends, welche der Kreuzigungsszene eines berühmten Gemäldes nachempfunden war. Er vergass nicht zu erwähnen, dass sie als einziges Werk bereits an etlichen grossen Orten aufgeführt worden war. Mithilfe eines Diaprojektors gleich neben dem Dirigentenpult und einer spektakulären Leinwand, die beflissene Geister eilends wie einen schrägen Himmel über den hinteren Teil der Bühne spannten, konnte dem staunenden Publikum das Martyrium Christi vor Augen geführt werden. Die eindrucksvolle Dornenkrone und die leidenden Gesichtszüge des Gekreuzigten blieben als erschütterndes Mahnmal auch während des Konzertes über das Dielengewölbe gebreitet, von zwei eigens darauf gerichteten Scheinwerfern beleuchtet und dem leisen Rasseln des Projektors begleitet, was man aber nur in den Pausen zwischen den Stücken hören konnte, wenn sich die Musiker nach dem Abklingen des Beifalls wieder sammelten.

Mit der Nennung aller anderen Kompositionstitel beschloss der Referent nun recht bündig seinen Vortrag, den ihm das Publikum mit warmem Applaus verdankte.

Wenn auch in grosszügiger Auslegung des statuierten Vereinszwecks, vorzugsweise junge Komponisten zu fördern, die aufgeführten Meister allesamt ein stattliches Alter hatten, so sie denn noch lebten, die nun hinzutretenden Musiker sahen ersichtlich jung und blühend aus und wurden in der Art eines vorweggenommenen Schlussapplauses ausgiebig beklatscht, bevor sie sich auf das Zeichen des Dirigenten hinsetzen durften, der niemand anders als der Referent persönlich war.

Dann wurde es still im Zuschauerraum, mucksmäuschenstill. Kein leises Rascheln, nicht das schwächlichste Hüsteln war zu vernehmen. Der alte Freund, der noch den Vortrag mit gedämpften Kommentaren in sein Ohr untermalt hatte, sass gebannt und kerzengerade auf dem Stuhle wie ein Kind vor dem Tannenbaum. Im kleinen Orchester wurden ein letztes Mal die Instrumente gerichtet und nachdem dies getan noch ein einzelnes Notenpult unter dem stoischen Blick des Dirigenten erst um ein weniges nach links, dann zögernd wieder ein wenig nach rechts verschoben. Nach nochmaligem zentimetergenauem Verschieben stand es wie am Anfang. Nun kehrte die sprichwörtliche Ruhe ein, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören, wäre nicht der Diaprojektor gewesen, der jetzt auf seinem Rollgestell wie ein grantiger Lakai neben dem Dirigenten zu grummeln und zu brummeln anfing.

Das erste Stück, mit Streichern, Flöten und Oboen, gefiel ihm ausnehmend gut und versetzte ihn in ein Gespinst konzentrierter Gedanken und schwärmerischer Vorstellungen, aus denen ihn jäh der Applaus riss, der so unmittelbar mit dem Ende der Musik einsetzte, als hätte er auf der Lauer gelegen, die Musiker zu erschrecken. Bis er sich besonnen und recht ins Mitklatschen gefunden hatte, brach der Applaus unvermittelt wieder ab, so dass er als Einziger zwei- oder dreimal noch ins Leere klatschte, dann aber, als er sich seiner Lage bewusst geworden, ebenso brüsk innehielt wie das übrige Publikum.

Ins zweite Stück vermochte er sich dagegen nicht recht zu schicken. Soweit er im Programmheft gelesen hatte, bestand es massgeblich aus Obertönen, die der Komponist aus kluger Kombination der Streichakkorde gewonnen hatte. Es spielte dieselbe Besetzung wie zuvor, ergänzt mit einer Harfinistin, und er fand, dass immerhin die Musiker ihre Sache sehr gut machten, so dass er guten Gewissens und ohne Fehltritt ins Applaudieren einstimmte.

Das Bravourstück des Abends, die Vertonung der Kreuzigungsszene, enttäuschte ihn ganz und gar. Zu wohlfeil dünkten ihn die musikalischen Effekte, zu demonstrativ die expressionistischen Akzente gesetzt, zu plakativ das ganze Werk in seiner theatralischen Schrecklichkeit. Der Flügel und die Perkussion waren als Instrumente hinzugekommen, doch sie wollten nicht miteinander harmonieren. Der Pianist, der kaum auf den Tasten zu spielen, sondern stur an den immer gleichen Saiten des Flügels zu rupfen hatte, konnte sich gegen das fast durchgängige Fortissimo der Streicher und Oboen und vor allem des Perkussionisten ebensowenig durchsetzen wie die tapfere Harfinistin, die bloss leise und zarte Töne spielen durfte. Die Flötisten waren überhaupt nur an ihren allerhöchsten Tönen als Mitwirkende herauszuhören, alle übrigen gingen gleichsam wie stumme Schreie in einem Gemetzel voll Blut und Wunden unter. Mochte diese Unausgewogenheit einer bewussten Bestrebung des Komponisten oder einem Mangel an dirigentischer Sorgfalt zuzuschlagen sein, dem Publikum gefiel sie. Kaum war das Stück zu Ende, donnerte ein frenetischer Applaus hernieder, der es mit dem Lärm des eben Gehörten aufnehmen konnte. Von überall ertönten Bravorufe, einige Zuhörer erhoben sich begeistert von den Sitzen, und selbst der Erlöser am Dielengewölbe schien ob des unerwarteten Beifalls unter seiner Dornenkrone aufzuhorchen.