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     Sumaya Farhat-Naser– Disteln im Weinberg– Tagebuch aus Palästina– Herausgegeben von Chudi Bürgi, Martin Heule und Regula Renschler– Mit einem Essay von Ernest Goldberger– Lenos Verlag

Die Autorin

Sumaya Farhat-Naser, geboren 1948 in Birseit bei Ramallah. Studium der Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Promotion in Angewandter Botanik. Seit 1982 Dozentin für Botanik und Ökologie an der Universität Birseit in Palästina. Mitbegründerin und Mitglied zahlreicher Organisationen, u.a. von Women Waging Peace an der Harvard-Universität und von Global Fund for Women in San Francisco. Von 1997 bis 2001 Leiterin des palästinensischen Jerusalem Center for Women. Regelmässige Vorträge in Deutschland, Österreich und der Schweiz, u.a. über Erziehung, Alltag, Ökologie, Frauen und die politische Lage in Palästina. Sie lebt in Birseit.

1989 erhielt Sumaya Farhat-Naser die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Münster. 1995 wurde sie mit dem Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte und 1997 mit dem Evangelischen Buchpreis des Deutschen Verbands Evangelischer Büchereien sowie dem Versöhnungspreis Mount Zion Award in Jerusalem ausgezeichnet. Zudem erhielt sie 2000 den Augsburger Friedenspreis, ihr wurden die Hermann-Kesten-Medaille des P.E.N.-Zentrums Deutschland (2002), der Bremer Solidaritätspreis (2002), der Profaxpreis (2003) und der AMOS-Preis für Zivilcourage in Religion, Kirchen und Gesellschaft (2011) verliehen.

Die arabischen Namen wurden – soweit möglich – in ihrer Schreibweise der deutschen Aussprache angenähert. Zur Erleichterung der Aussprache wurden betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (^) versehen.

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 561 8

Im Gleichnis vom Weinberg erzählt der Prophet Jesaja, dass sein geliebter Freund einen Weinberg mit edlen Reben anlegte. Sie brachten aber nur schlechte Trauben hervor. Deshalb beschloss er, ihn verwüsten zu lassen, »Disteln und Dornen sollten darauf wachsen« (Jesaja 5,6).

Diese Geschichte gab dem vorliegenden Buch seinen Titel. Gott, der Weinbergbesitzer, liebt seine Menschen – die Reben. Er schenkt ihnen Leben, Nahrung und Pflege und erhofft sich von ihnen Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Die Menschen aber gehen den falschen Weg. Er zürnt ihnen und richtet: Dem Weinberg droht das Verderben. Es herrscht Unmenschlichkeit und Rechtsbruch.

Disteln sind hartnäckig, schwer auszurotten und kehren immer wieder. Sie werden gefürchtet, weil sie Schmerz zufügen, und zugleich bewundert, weil sie sich durchsetzen, ausdauernd sind und prächtige Blüten treiben. Sie sind wehrhaft und bieten Schutz.

Wie die Disteln, wie die Olivenbäume, wie der Thymian und die Steine gehören auch die Weinreben zu unserem Leben. Wie die Olivenbäume sind die Reben tief verwurzelt und weit verzweigt. In ihrem Schatten fühlen wir uns geborgen, wir lieben und besingen sie. Die Reben sind grosszügig und duften wie gutes Leben. Sie verkünden Gelassenheit und Lebensmut – zum Schaffen und Hoffen.

Sumaya Farhat-Naser

Vorwort

Als wir Sumaya Farhat-Naser im Frühling 2006 als Konzept für ihr drittes Buch ein Tagebuch zu schreiben vorschlugen, wussten wir nicht, ob dieser Vorschlag ihre Zustimmung finden würde. Sie hat sich darauf eingelassen, obwohl ihr Leben nicht vorgegebenen Strukturen folgt; alles hängt von unvorhersehbaren politischen Gegebenheiten ab, und diese können sich von einem Tag auf den andern, von einer Stunde auf die andere, verändern. Gegebenheiten, Ereignisse, Vorkommnisse, die stets auch einen gefährlichen Verlauf nehmen können. So beschreibt Sumaya Farhat-Naser zum Beispiel am 22. Dezember 2006, wie Weihnachtseinkäufe wegen eines Gewaltausbruchs in den Strassen von Ramallah abgebrochen werden müssen. Gefahr droht ihr jedesmal, wenn es an Checkpoints zu Auseinandersetzungen kommt. So verwundert es nicht, dass in Sumaya Farhat-Nasers Tagebuch von neun Monaten, von Mitte Juni 2006 bis Mitte März 2007, ein zermürbender Alltag beschrieben wird, der von immer wiederkehrender Angst und Beklemmung zeugt, hervorgerufen durch die Gewalt der Besatzung mit ihren mannigfachen Folgen. Dennoch ist der Alltag der Autorin auch ein Alltag: Sie kocht, kauft ein, betreut ihre alte Mutter, kümmert sich um ihre weitverzweigte Familie und um ihren Garten mit dem Olivenhain; sie kommt ihren Verpflichtungen an ihrer Schule nach, treibt ihre Friedensarbeit mit palästinensischen Frauen und Mädchen voran, reist ins Ausland, hält Vorträge. Ein Alltag, der viel Kraft kostet. Doch Sumaya Farhat-Naser hat ihre ganz eigene Regeneration: In der Natur, im Garten, mit ihrer Familie erholt und ermutigt sie sich. Und vielleicht auch in den Analysen und Reflexionen über ihre Situation und die Situation ihres Landes.

Wie ein farbig gewebter Teppich breitet sich vor den Leserinnen und Lesern ein Leben in Palästina aus, ein im Vergleich mit den meisten ihrer Landsleute privilegiertes Leben, aber auch ein stets gefährdetes Leben. Dieses Tagebuch ist einzigartig und kann zum Verständnis einer für uns kaum vorstellbaren Realität beitragen.

Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Birseit, wenige Kilometer von Ramallah entfernt, im Westjordanland. Deshalb wird Gasa, wo seit Mai 2007 die Hamâs das Sagen hat, während im Westjordanland die Fatach regiert, in ihrem Tagebuch nur am Rand erwähnt; sie kann nicht dorthin reisen, es gibt keine Kontakte, keine Verbindungen zwischen den beiden Regionen. Gasa findet im Westjordanland, wie bei uns, in den Medien statt.

Auch andere Kontakte gibt es nicht mehr. Im Unterschied zu ihrem zweiten Buch kann die Autorin in diesem Tagebuch nicht von der gemeinsamen Friedensarbeit mit den israelischen Friedensfrauen berichten, die israelischen Behörden haben diese wertvollen und spannenden Aktivitäten verunmöglicht. Nur unter grossen Schwierigkeiten gelingt einmal ein Treffen, es wird ein Freudenfest für beide Seiten. Sumaya Farhat-Naser ist eine Friedensfrau, sie verbietet sich jeden Hass, und sie kommt in ihren Analysen letztlich auf dieselben Schlussfolgerungen wie Ernest Goldberger, der in seinem Essay schreibt:

»Der Nahostkonflikt ist nur mehr lösbar auf der Grundlage von Vernunft, Realitätssinn und Hochhaltung der universalen Menschenrechte für alle als oberstes Prinzip.«

Ernest Goldberger lebte in Tel Aviv, in einer anderen Realität. Viele Jahre lang beobachtete und analysierte der Basler Sozialwissenschafter, der 1991 nach Israel ausgewandert war, die Geschichte Israels und die Politik der israelischen Regierungen und ihre Folgen für Israelis und Palästinenser. In seinem Essay unter dem Titel »Israels Verantwortung« zeigt er auf, was wider Vernunft und Realitätssinn geschah und geschieht, wie Menschenrechte verletzt werden und warum der Nahostkonflikt scheinbar unlösbar geworden ist. Der Essay ist nicht nur eine unerbittliche Analyse der Dauerkrise im Nahen Osten, er zeugt auch von der Hoffnung des Autors, Israel möge eines Tages zu seinen Idealen zurückfinden.

Regula Renschler und Martin Heule

Juni 2006

11. Juni

Heute, an meinem achtundfünfzigsten Geburtstag, öffne ich dieses Tagebuch, um die nächsten neun Monate von meinem Leben in Palästina zu berichten.

Es ist Sommer, und die Pracht des Frühlings ist längst vergangen. Doch es ist auf andere Weise bunt und schön: Das Grün der Olivenbäume, das Gelb der Weizenähren, das Braun der Erde und die vielen hellen Steine zwischen dem duftenden, hoch aufragenden Thymian widerspiegeln das Mosaikbild Palästinas. Zu meinem Geburtstag gehen wir zum Kasr im Olivenhain, einem massiven Rundbau aus Stein, und wir geniessen das Beisammensein in der Natur mit Salbei- und Pfefferminztee. Dabei erinnern wir uns an unsere Frühjahrswanderung und daran, wie unser Kasr entstanden ist.

Im April waren mein Mann Munîr, unser Sohn Anîs, unsere Töchter Ghâda und Hâla und ich durch Täler und über Hügel gewandert. Anemonen, Ginster, Zyklamen, wilde Tulpen, Lilien und Orchideen sowie wilde Rosen und Kletterpflanzen schmückten das Grün der Landschaft. Wir schwirrten nach allen Seiten aus und erkundeten die Vielfalt der Lebewesen. Wir suchten wilden Spargel, der sich im Gestrüpp der stachligen Beeren und Kletterpflanzen versteckte, wurden von Dornen zerkratzt und gestochen. Wie freuten wir uns, wenn wir die Köpfe der Spargelstangen aufragen sahen, als hätten sie auf uns gewartet. Wir jauchzten, pflückten davon, soviel wir konnten, und verglichen dann unsere Spargelsträusse.

Später gelangten wir zur grossen Mülldeponie von Birseit. Im ganzen Land wird der Müll, ohne Verarbeitung, einfach am Rande der Dörfer aufgeschüttet und der Bauschutt entlang der Strassen abgelagert. Wohnhäuser werden immer näher an die Deponien herangebaut.

Haufenweise lag der Müll offen verstreut. Rauch und Fäulnisgeruch raubten uns fast den Atem. Wir verhüllten das Gesicht, hielten den Atem an, kniffen die Augen zusammen und stiegen zügig, doch vorsichtig über die Haufen, um die Müllandschaft möglichst schnell hinter uns zu lassen. Wir wollten einfach die Schönheit der Natur sehen.

Wir erreichten den Weinberg meines Grossvaters Ibrahîm. Heute wachsen dort Olivenbäume. Vergebens suchte ich den alten Johannisbrotbaum, unter dem wir uns jeweils ausgeruht und die gepflückten Weintrauben für den Verkauf in Kisten gelegt hatten. Traurig musste ich erkennen, dass er abgeholzt worden war. Ich erinnerte mich, wie Grossmutter Miriam damals im Tontopf auf dem Holzfeuer Frischgemüse gekocht und Fladenbrot gebacken hatte. Sie hatte auch die Ziegen versorgt und aus der gemolkenen Milch Frischkäse und Joghurt zubereitet.

In diesem Weinberg steht die Ruine eines Kasrs. Er gehörte Regina, der Schwester meiner Grossmutter. Wir krochen hinein, setzten uns auf den felsigen Boden und betrachteten das Gewölbe, das aus Steinen geschichtet ist, die sich ohne Mörtel neben- und übereinander stützen. Ein Kunstwerk aus früheren Zeiten. Wir berührten die Steine voller Achtung und spürten die Anwesenheit der Vorfahren, ihrer Arbeit und ihrer Seelen. Wir empfanden eine tiefe Verbundenheit mit der Familie über Generationen hinweg.

Ganz in der Nähe befindet sich auch eine römische Ruine. Wir besichtigten die grosse Anlage von eingestürzten Mauern, die noch die verschiedenen Räume und Gänge erkennen lassen. Die Zisterne zum Auffangen von Regenwasser deutet auf die Versorgung einer grösseren Zahl von Menschen hin. Tiefe Rinnen in den Felsen hatten die Stampf- und Pressstelle der Weintrauben mit dem Sammelbecken verbunden.

Es war heiss und das Laufen und Klettern auf dem bröckligen Gemäuer mühsam. Wir wollten zu den Ruinen des Kasrs zurück, doch die bunten Mosaiksteine, die Glas- und Tonscherben, die überall verstreut lagen, hielten uns auf. Wir fanden viele schöne Steine, kleine und grosse. Die schönsten waren die Mosaiksteine, die mit Kalkerde aneinandergeklebt waren. Wuchtige Säulen und Portale lagen zwischen den Acanthus-Disteln auf dem Boden. Eine einst blühende Kultur wurde sichtbar und sprach uns an.

Ein Bauer hatte auf den fruchtbaren Boden in den Trümmern der römischen Ruine Weizen gesät. Die Ähren, und dazwischen prachtvolle rosa- und lilafarbene Lilien, wuchsen üppig; Hâla, die mittendurch ging, verschwand fast darin. Im sanften Wind schienen sich Hâla, die Ähren und die Lilien wie Wellen im Pflanzenmeer zu bewegen. Dann kletterten wir auf die Ruine des Kasrs. Von oben konnten wir weit in die Ferne schauen und die Bewegungen auf der Nablusstrasse, die sich durchs Tal schlängelt, beobachten. Wir sassen wortlos lächelnd da und genossen die Stille. Aus den Ruinen früherer Zeiten könnten auch heute und morgen blühende Kulturen entstehen. Wir müssten es wollen, und es müsste uns nur erlaubt sein.

Wir pflückten Thymian, wilden Pfefferminz, Salbei und Wildgemüse, die wir zu Hause als Salat, gekocht oder in Teigtaschen gebacken geniessen werden. Wie schön ist das Ausruhen nach einer erschöpfenden Wanderung.

Während dreier Jahre waren wir im Frühling jeweils von einem Kasr zum nächsten gewandert. Munîr dokumentiert sie, er hat bereits mehr als hundertzwanzig dieser Rundbauten in Birseit registriert und viele schöne Geschichten dazu gesammelt. Sie sind etwa dreihundert Jahre alt. Es sind wunderbare Bauwerke, bei denen ein Stein den anderen stützt. Sie dienten der Wache in Wein- und Feigenpflanzungen. Sie bestanden aus einem runden Raum mit vier Meter Radius, bis zu vier Meter hohen dicken Mauern und einer runden Türöffnung, die nachts mit einer Steinplatte oder stachligem Gestrüpp versperrt wurde. Sie waren ein- oder zweistöckig. Den Abschluss bildete eine gedeckte Dachterrasse. Sie diente zum Wachehalten, Ausruhen und Schlafen.

Vielen dieser schönen Rundbauten droht der Zerfall, weil sie vernachlässigt wurden. In der Landschaft verbirgt sich der Schatz unserer Kultur, dort sind unsere Wurzeln. Inspiriert von den Wanderungen in den Hügeln, beschlossen wir vor einem Jahr, den verfallenen Kasr Reginas wieder aufzubauen. Wir begannen damit, als Munîr in den USA weilte. Kaum waren die ersten paar Reihen der Steinmauer aufgeschichtet, wurden viele Menschen in Birseit auf die Wiedergeburt einer alten Idee oben auf dem Hügel aufmerksam. Neugierig kamen sie herbei und wollten Genaueres wissen. Die Freude war gross, als sie feststellten, dass hier die Kultur und damit das Bebauen des Bodens neuen Schwung erlebten. Viele wollten bei der Entstehung dabeisein. Sie schleppten verstreut herumliegende Steine herbei, ordneten sie der Grösse nach und beteiligten sich am Wiederaufbau. Autos, die auf der gegenüberliegenden Hangseite vorbeifuhren, drückten mit einem Hupkonzert ihre Freude über die aussergewöhnliche Aktivität aus.

Die aufeinandergeschichteten grossen Steine brauchten kleine und noch kleinere Steine, die sie stützten. Diese Aufgabe übernahmen wir Frauen und Mädchen, und wir dachten dabei an das Sprichwort: Jeder Stein, wie gross er auch sein mag, braucht einen kleineren als Stütze. Freudenschreie erklangen, wenn wieder eine von uns es schaffte, den passenden Stein an den richtigen Platz zu legen.

Als Munîr, der eine grosse Vorliebe für Land- und Terrassenbau hat, zurückkehrte, war er beglückt, zu sehen, dass wir mit dem Bau begonnen hatten. Er übernahm die Baumeisterrolle, und jeden Tag nach Arbeitsschluss an der Universität Birseit ging er hin, um weitere Reihen zu bauen. Eine kleine Brücke führt von der nächsthöheren Bodenterrasse auf das Dach des Rundbaus. Dieses ist ringsum gesäumt von einer halbmeterhohen Steinbank, auf der etwa fünfzehn Leute sitzen können. Darüber spannten wir eine Jutedecke, die an vier Balken befestigt und mit Palm- und Olivenzweigen bedeckt ist. Am Fusse des Kasrs pflanzten wir zwei Weinreben, die an den Mauern hochklettern und ihn im nächsten Jahr umhüllen sollen.

Ein Ort der Begegnung, der Meditation und der Freude ist entstanden. Uns stört und ärgert jedoch, dass die Schlachter ihre Abfälle hinter unseren Weinberg kippen. Besonders bei Ostwind erreicht uns der Fäulnisgeruch. Oft verbrennen wir die Abfälle, damit keine Hunde, Katzen und Wildtiere angelockt werden, die Krankheitserreger ins Dorf schleppen. Eine Zisterne zum Sammeln des Regenwassers wurde gebaut, und die verfallenen Terrassenmauern wurden in mühseliger Arbeit repariert. Die alten Olivenbäume wurden gepflegt. Unter dem Gestrüpp entdeckten wir die Wurzelstöcke zweier Feigenbäume aus Urgrossmutters Zeit – ein Geschenk, das wir schätzen und pflegen. Wir pflanzten Bäume und Blumen; auch ein Gemüsegarten wurde angelegt. Das Stück Land lebt wieder und mit ihm alle, die sich an seiner Belebung beteiligten. Fast täglich treffen sich hier Freunde und auch Fremde, die sich über dieses Projekt freuen. Manche liessen sich dazu ermutigen, ihren eigenen Kasr wieder aufzubauen.

Sehnsüchtig hatten wir auf Regen gewartet. Plastikplanen wurden unter den Bäumen ausgelegt, um das Regenwasser aufzufangen und in die Zisterne zu leiten. Erst im April regnete es dann in Strömen. Sobald wir das Rauschen hörten, rannten wir ans Fenster. Wir lauschten dem Tropfen, Plätschern und Rauschen. Unsere Blicke folgten dem Strömen des Wassers ins Tal. Sobald der Regen aufgehört hatte, eilten wir zur Zisterne. Die matschige Terra-rossa-Erde klebte an unseren Schuhen und Kleidern, doch dies gehörte dazu, ebenso wie die Spannung beim Messen der Wassermenge in der Zisterne. Viele Leute riefen an und wollten wissen, wieviel Regenwasser uns die Natur beschert habe.

12. Juni

Wie jeden Tag blätterte ich in der Zeitung. Nichts war darin zu lesen, was das Herz erfrischte, nur traurige und erschreckende Nachrichten. Zum Beispiel Berichte über den israelischen Luftangriff am Strand von Gasa:

Die elfjährige Huda Ghâlia überlebte, aber ihre ganze Familie wurde am Strand getötet: Ali Ghâlia (45), Raîfa Ghâlia (26), Alia Ghâlia (25), Ilhâm (7), Sabrîn (3), Hanadi (2) and Haitham (1). Gestern abend sah ich im Fernsehen, wie Huda neben der Leiche ihres Vaters weinte und ihn anflehte aufzuwachen, während die anderen Leichen zerfetzt um sie verstreut lagen.

Mir war schlecht. Ich konnte nicht mehr lesen, hinschauen und hinhören. Für einen kurzen Moment, denke ich, herrscht Empörung und Trauer. Aber was wird dann aus dem traumatisierten Kind, wer kümmert sich weiter um Huda? Israel äussert Bedauern, nie jedoch kommt eine Entschuldigung, denn das würde bedeuten, dass es die Verantwortung übernähme. Aus diesem Grund entschuldigt sich Israel prinzipiell niemals. Das steigert bei vielen Palästinensern Wut und Zorn, was in Hass und weitere Gewalt umschlägt.

Ich hatte zu nichts Lust. Ich räumte die Wohnung auf und ging ins Dorf einkaufen. Ich fand alles, was ich suchte, ausser frischen Tomaten und Auberginen. Kein Problem, sagte ich mir, dann essen wir heute Mudschaddara, das Reis- und Linsengericht mit gerösteten Zwiebeln, und dazu Joghurt. Kaum zu Hause angekommen, hörte ich den Gemüsemann aus dem fahrenden Lastwagen rufen. Von der Veranda aus antwortete ich ihm laut. Er blickte wie immer nach oben und winkte mir zu, er schien verstanden zu haben. Schnell ging ich auf die Strasse hinunter. Er hatte vielerlei frisches Gemüse, was mich sehr freute, und ich kaufte für die ganze Woche Gemüse und Obst. Achmad schleppte mir die Einkäufe die neununddreissig Treppenstufen hoch und stellte sie wie immer vor die Küchentür am hinteren Eingang. Er erzählte begeistert von seiner ersten Tochter und von seiner Frau, die die Geburt tapfer durchgestanden hatte. Ich gratulierte ihm und wünschte ihnen alles Gute. Ich gab ihm eine Schachtel Schokolade für die Familie und ein paar Seifenstücke für seine Frau. Dann kochte ich Auberginen mit Hackfleisch, Tomaten und Zwiebeln und dazu Reis.

Ich brachte meiner achtzigjährigen Mutter, die in der Nähe wohnt, ihr Essen und blieb eine Stunde bei ihr. Gegen zwei Uhr war ich wieder zu Hause, um mit meiner Familie zu essen.

13. Juni

Ich konnte es nicht lassen und las auch heute die Zeitung. Wieder eine blutige Nacht in Gasa: zwei Tote und fünfzehn Verletzte in Rafah, darunter drei Kinder, bei einer Schiesserei zwischen der Polizei des Präsidenten Abbâs und den Sicherheitskräften der Hamâs-Regierung. Maskierte Männer drangen in das Parlamentsgebäude ein, zerschlugen Türen und Fenster, verwüsteten Möbel und Büromaschinen und setzten öffentliche Gebäude in Brand. Ein Fatach-Abgeordneter wurde gekidnappt, nachdem zuvor Hamâs-Leute entführt worden waren.

Um dies zu verkraften, wandte ich mich meinen Aufgaben zu.

Heute wurde das Frauenseminar in Dair Ibsî wiederaufgenommen, nach der mehrwöchigen Pause, wenn die Kinder in der Schule Prüfungen haben. Alle Frauen berichteten über ihre Erlebnisse und Gedanken. Suzan und Nida waren nicht wiedergekommen. Sie waren mit ihren fünfköpfigen Familien in die USA ausgereist. Unser Seminar behandelte deshalb die erzwungene Auswanderung. Dabei stellten wir fest, dass auch Hadîl und Samar mit ihren Familien den Antrag zum Auswandern eingereicht hatten. Sie sagten: »Das Leben ist nicht mehr zu ertragen: Es gibt kein Einkommen, keinen Schutz, keine Zukunft.« Samar ist Sekretärin an der Universität und verdient dreihundert Dollar im Monat. Ihr Mann verkaufte Fliesen und Steine für Bauten. Doch seit drei Jahren gab es kaum mehr Arbeit, und sein Geschäft ging ein. Das Baugewerbe liegt genauso wie die meisten anderen Gewerbezweige darnieder. Es fehlt an Geld, und die Menschen riskieren keine Investitionen. Ohne Unterstützung durch die in den USA lebende Familie hätte Samar kaum überleben können. Ihr Haus liegt in der Nähe des Checkpoints Atara. Ständig fahren Militärjeeps und Panzer vorbei, und oft wird geschossen. Sie hat Angst um ihre Kinder.

Hadîl ist Hausfrau. Ihr Mann ist seit drei Jahren arbeitslos. Es gibt bei uns weder Arbeitslosenunterstützung noch Sozialhilfe, noch Krankenversicherungen, denn wir haben keinen Staat. Wenn sie nichts zu essen haben, warten sie, bis sie von der Schwägerin eingeladen werden. Sie haben Schulden und wissen nicht weiter. Deshalb verlassen sie das Land. In Israel wird das als »Human Transfer« bezeichnet. »Man braucht den Menschen nur das Leben schwerzumachen, dann gehen sie freiwillig«, sagte Hadîl.

14. Juni

In der Zeitung steht, dass die fünfzigjährige Palästinenserin Nada Abu Chaisarân getötet wurde, weil sie mit dem israelischen Geheimdienst kollaborierte. Sie wurde beschuldigt, bei vielen Tötungen Beihilfe geleistet zu haben. Ich denke an die vielen, die von den eigenen Leuten getötet wurden, nur weil ein Verdacht bestand, ohne dass die Schuld bewiesen oder dem Opfer die Chance gegeben wurde, seine Unschuld zu beweisen. Alle Familienmitglieder werden zu Opfern, weil Schande auf sie fällt. Sie werden ausgestossen oder zur Kollaboration gedrängt.

Im Flüchtlingslager Balata bei Nablus schoss eine Gruppe bewaffneter Männer auf Hussâm Thaladsch (29) und verletzte ihn am Bein. Die Täter blieben unerkannt.

Jetzt beginnen unsere Jugendlichen auch noch sich gegenseitig zu beseitigen. Welch ein Jammer, ein solches Verbrechen!

Ich machte Wäsche, danach beantwortete ich Mails. Beim Besuch bei meiner Mutter erledigte ich das Nötigste in ihrem Haushalt, mass ihr den Blutdruck und kontrollierte die Medikamente. Dann begannen wir zu erzählen und uns zu erinnern, und wir lachten viel.

15. Juni

Heute bereitete ich zwei Stunden lang mit Reis, Fleisch und Gewürzen gefüllte Zucchini und Weinblätter zu. In einem grossen Topf trug ich sie zum Kasr. Obwohl wir nur zu viert waren, reichte das Essen für sieben, denn wir rechnen immer mit zufällig vorbeikommenden Gästen. Wir genossen den schönen Blick über die Hügel, die frische Luft und das Beisammensein. In solchen Stunden leben wir einfach dankbar, ohne Zwischenfälle. Danach las ich eine Weile und kümmerte mich dann um den Boden: Steine einsammeln und die Pflanzen pflegen.

In mir wächst die Sorge um meinen Sohn Anîs, der seit sieben Monaten eine Stelle als Arzt sucht. Er hatte vor zwei Jahren sein Studium in Innsbruck abgeschlossen, war nach Hause zurückgekehrt und hatte ein Ausbildungsjahr in der Klinik von Ramallah absolviert. Ganz Birseit und Umgebung freute sich mit uns. Die Leute kamen mit Blumen und Geschenken, um zu gratulieren, und wollten so ihre Hoffnung stärken, dass auch ihre gebildeten Söhne und Töchter eines Tages zurückkehren würden. Die Probleme, sich hier wieder einzuleben, sind enorm, doch Anîs bewältigt sie Schritt für Schritt.

Entsprechend den Vorschriften der Ärztekammer arbeitete er ein Jahr in der Klinik auf allen Abteilungen, und nach einer Prüfung erlangte er die Erlaubnis zur Berufsausübung. Doch aufgrund der fehlenden Mittel im Gesundheitswesen ist es sehr schwierig, eine Anstellung zu bekommen. Seit sieben Monaten arbeitet er als Volontär in verschiedenen Kliniken und macht Hausbesuche – unentgeltlich, denn die meisten können nichts bezahlen. Für eine Spezialisierung müsste er nach Jerusalem. Doch dafür benötigt er eine Erlaubnis des Militärs, die ihm nicht gewährt wird. Ihm wurde gesagt, er müsse zuerst beim israelischen Geheimdienst um Begnadigung bitten; als Fünfzehnjähriger war er von israelischen Soldaten angeschossen und zwei Jahre später verhaftet worden. Er müsse seine Schuld bekennen und Reue aussprechen für das Böse, das er dem Staat Israel zugefügt habe, und sich zu Loyalität verpflichten. Anîs lehnt dies ab, weil er sich unschuldig fühlt. Ein solches Schreiben würde als Eingeständnis von Schuld gelten. Und es wäre zu befürchten, dass er zur Zusammenarbeit mit dem Militär erpresst würde.

Alte Wunden brachen auf, von denen wir gehofft hatten, sie wären nach fünfzehn Jahren wenn nicht geheilt, so doch zumindest vernarbt. Anîs beschloss dennoch, sich bei der Augenklinik in Jerusalem für eine Spezialisierung zum Augenarzt zu bewerben. Die ganze Familie zitterte, als er sich unter Gefahren zur Prüfung nach Jerusalem schmuggelte. Er gehörte zu den fünf Besten und wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Zwei Monate später rief das Krankenhaus an; sie wollten ihn als Stationsarzt anstellen. Aber noch immer durfte er nicht nach Jerusalem. So verlor er die Chance auf diese Arbeit.

Auch ich hatte vor eineinhalb Jahren eine Einreise nach Jerusalem beantragt, um in einer Schule Friedensarbeit für Schülerinnen, Eltern und Lehrerinnen anzubieten. Der Antrag wurde abgelehnt mit dem Hinweis, ich stünde auf der schwarzen Liste und müsse erst beim Geheimdienst vorsprechen. Ich gab meine Telefonnummer an, da sie mich anrufen wollten – noch in derselben Woche oder nächsten Monat oder erst in paar Jahren, wie der diensthabende Soldat mir mitteilte. Ich wartete drei Monate, ohne dass ein Anruf kam. Dann übergab ich den Fall einer israelischen Rechtsanwältin. Sie erreichte, dass ich zwei Monate später von der schwarzen Liste gestrichen wurde, ohne dass ein Treffen mit dem Geheimdienst nötig war. Ich ging mit dem Brief der Benediktinerabtei in Jerusalem, in dem bestätigt wurde, dass wir gemeinsam an einem Friedensprogramm arbeiten würden, zur Militärbehörde. Viele Menschen standen Schlange, und einer nach dem anderen durchlief die drei Durchsuchungsphasen vor dem Schalter. Als ich nach vier Stunden an der Reihe war, zeigte ich meine Identitätskarte, die es erlaubt, einen Antrag zu stellen, und reichte dem Soldaten dann den Brief der Abtei. Die Karte sei in Ordnung, sagte er, der Brief auch, aber er datiere von vor zwei Monaten. Ich müsse ein neues Schreiben mit einem aktuellen Datum bringen, dann sei alles in Ordnung. Die ganze Prozedur, bis ich an diesen Schalter gelangt sei, habe zwei Monate gedauert, sagte ich, aber sie meinten, es sei nicht zu ändern.

Ich besorgte einen neuen Brief mit einem neuen Datum und ging wieder hin. Nach stundenlangem Warten kam ich wieder zum Schalter und übergab die Unterlagen. Nach einer Stunde sagte man mir, es sei alles in Ordnung. Doch nicht ich müsse den Antrag stellen, sondern die Partnerorganisation in Jerusalem müsse beim israelischen Amt für Erziehungsangelegenheiten vorstellig werden. Diese Behörde müsse bestätigen, dass es sich um eine anerkannte Institution handle und dass meine Arbeit in Jerusalem tatsächlich nötig sei.

Die Bestätigung haben wir bisher nicht bekommen. Es ist sehr hart und schmerzlich für mich, Jerusalem nicht besuchen zu dürfen. Aber mein Sohn wird für sein Leiden als Kind noch viel härter bestraft; ihm wird der Weg in die Zukunft versperrt. Mein 62jähriger Mann und unsere Töchter sind wegen Anîs auch auf der schwarzen Liste. Die ganze Familie ist mit ihm verurteilt. Diese Massnahmen gelten für Tausende von Familien, deren Söhne verhaftet, verletzt oder getötet wurden. Genehmigungen vom israelischen Militär sind auch notwendig, um von einer Stadt in die nächste zu gelangen. Werden sie verweigert, sind die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit und somit in ihren Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten gelähmt. Als Konsequenz bleibt nur: das Land zu verlassen.

16. Juni

Meine Tochter Hâla leitet heute das Mädchenseminar in Birseit.

Auf die Idee, regelmässige Seminare mit jungen Mädchen zu organisieren, war ich gekommen, als ich im August 2002 ein Seminar mit fünfzig Mädchen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren aus drei Schulen in Birseit durchgeführt hatte. Wir hatten das Thema »Töten« gewählt. Es ist ein Jammer, dass wir gezwungen sind, solche Themen auf die Tagesordnung zu setzen – weil fast jeden Tag jemand getötet wird und weil die Realität uns unserer Menschlichkeit beraubt und unsere Seelen zerstört. Nach einem Attentat der Israelis oder der Palästinenser lautet die erste Frage auf beiden Seiten: »Wie viele Tote von uns, wie viele von ihnen?« Und dann heisst es: »Ich bin dafür.« Oder: »Ich bin dagegen.« Vertiefte Gespräche darüber, warum man dafür und warum dagegen ist, finden selten statt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

Ich präsentierte den Mädchen bekannte Fälle aus dem Alltag und wollte wissen, was sie davon hielten. Zum Beispiel: Ein junger Mann aus dem Nachbardorf Atara hatte auf dem Feld zwei Frauen vergewaltigt und getötet. Er wurde hingerichtet.

»Findet ihr das richtig?«

Die Mädchen fanden die Strafe grausam, doch diene sie der Abschreckung, damit sich Gleiches nicht wiederhole.

»Sollen Kollaborateure getötet werden?«

Die eine Hälfte war dafür: »Sie sind schuldig, weil sie dem israelischen Geheimdienst geholfen haben, meinen Bruder zu töten, meinen Vater gefangenzunehmen und zu foltern und die Besatzung aufrechtzuerhalten. Sie sind Verräter und Verbrecher.«

Drei der Mädchen begannen zu weinen und sagten: »Nein, sie sind unsere Brüder, Mütter, Tanten, Freundinnen, Väter. Ihr wisst nicht, was sie dazu bewogen hat und wie sie gezwungen und erpresst worden sind. Sie sind Täter und zugleich Opfer der Situation.« Dann begannen sie unter Schluchzen ihre Geschichten zu erzählen. Es folgte eine hitzige Diskussion, und die Atmosphäre war aufgeladen von Gefühlen der Trauer und der Verwirrung, von Entsetzen und Hilflosigkeit. Es war das Flehen nach Erbarmen, nach Befreiung von solchen Erfahrungen. Es braucht politische Lösungen, die unseren Bedürfnissen entsprechen und unsere Gesellschaft gesund machen.

»Wer befürwortet das Töten von Israelis?«

Erst Schweigen, dann die Reaktion: »Nicht alle darf man töten, aber die Soldaten, und auch die Siedler.«

»Die Soldaten kommen, um uns zu töten, also sollen auch sie getötet werden.«

»Aber die Siedler sind Zivilisten!«

»Nein, sie sind bewaffnet, rauben unser Land und sind schuld daran, dass kein Friede zustande gekommen ist.«

»Würdest du jemanden töten? Wer von euch will töten, kann töten?«

Keine Antwort.

»Das Leben ist jedem geschenkt und anvertraut worden. Niemand hat das Recht, es zu beenden. Leben zu erhalten ist ein Grundprinzip der Menschlichkeit. Wir rufen nach Einhaltung der Menschenrechte, auch zu unserer Befreiung und Sicherheit. Wenn wir diese Rechte selber nicht einhalten, dann werden sie auch uns nicht gewährt.«

»Aber die Israelis und die ganze Welt negieren doch diese Rechte für uns!«

»Bedeutet das, dass wir sie deshalb auch verwerfen sollen? Müssen wir nicht vielmehr für die Respektierung und Einhaltung dieser Rechte sorgen? Das ist unsere einzige Rettung. Wenn wir unsere Menschlichkeit hervorheben und sie mit unseren Idealen des Glaubens und der Tradition speisen, dann machen wir unser Leiden sichtbar, unseren Schmerz begreifbar und lernen die eigenen Traumata und die der anderen zu respektieren und zu verstehen, um sie zu bewältigen.«

»Wenn wir ein einziges Mal das Prinzip des Tötens zulassen, dann ist der Weg frei für ein zweites, drittes und viertes Mal.«

Das Seminar hatte vier Stunden gedauert. Alle Mädchen baten darum weiterzumachen. »Genau das brauchen wir, öffentlich, in einer Gruppe über solche Dinge zu sprechen.« Dass ich nicht ihre Lehrerin war, sondern eine Aussenstehende, eine unabhängige Person, die sie als Dorfbewohnerin kannten, erleichterte das Gespräch und motivierte sie, sich zu öffnen und ihre Probleme und Sorgen zu äussern. Wir stellten eine Prioritätenliste für kommende Themen auf.

Es dauerte zwei Jahre, bis sich daraus ein festes Seminarprogramm entwickelte. Mit rund dreissig Mädchen im Alter von elf bis siebzehn Jahren finden nun wöchentlich in mehreren Gruppen Seminare statt. Eine vertraute Beziehung hat sich entwickeln können, und alle Gruppen sind gemischt, mit Musliminnen und Christinnen.

Ziel ist es, gewaltfreie Kommunikation und Dialogfähigkeit zu lernen und sie sich als Verhaltensprinzip anzueignen. Das heisst, Frieden mit und in sich selbst wie auch mit den anderen zu finden. Die Verantwortung für die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit zu übernehmen setzt die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen ebenso voraus wie Einfühlsamkeit und die Fähigkeit, sich auszudrücken und zuzuhören. Das ist die Basis, um Probleme definieren, ansprechen, aushalten und lösen zu können.

Die Mädchen haben ein grosses Bedürfnis, angehört und respektiert zu werden. Sie wollen frei denken und Fehler machen dürfen, ohne gleich als ganze Person beurteilt oder verurteilt zu werden. Sie lernen von den Fehlern und von den Erfahrungen der anderen. Wir üben, uns auszusprechen, die Stimme zu erheben und uns zu stärken.

18. Juni

Schon um sieben Uhr morgens rief meine Mutter an: »Schläfst du noch? Störe ich?« fragte sie.

»Nein, ich bin seit einer Stunde auf und trinke Kaffee.«

»Gut so«, sagte sie. Sie bat mich zu kommen, sie habe schlecht geschlafen und ihr tue alles weh.

Ich liess alles stehen und liegen und ging zu ihr. Sie begann sich zu entschuldigen, aber ich sagte zu ihr: »Jamma, ich bin glücklicher als meine Geschwister, die im Ausland leben, denn ich kann deinem Hilferuf folgen; sie können das nicht. Die Arbeit rennt mir nicht davon, und ich nehme mir die Zeit für das, was gerade am nötigsten ist.« Sie lächelte und segnete mich. Ich überprüfte, ob sie sich noch erinnerte, welche Telefonnummer wo gespeichert war, denn sie hatte nie lesen und schreiben gelernt. Dann kontrollierte ich ihren Medikamentenkasten. Sie leidet an Herzrhythmusstörungen, hohem Blutdruck, Diabetes und Schmerzen in den Knien. Nur mit Mühe schleppt sie sich durch die Wohnung, die sie täglich fegt und putzt, wie es sich gehört. Oft fällt sie hin und bleibt am Boden liegen, bis jemand ihre Rufe hört. Wir sind froh, wenn es bei Schrammen, Prellungen und Blutergüssen bleibt. Was wäre, wenn sie sich dabei etwas brechen würde? Gott schütze sie, sagt sie immer.

Mutter ist immer noch in tiefster Trauer, seit mein Bruder Bassâm 1998, mit dreiundvierzig Jahren, in New York an einem Herzschlag starb und dort begraben wurde, ohne dass Mutter dabeisein konnte. Weil wir einen Schock befürchteten, gab ihr der Arzt damals sofort Spritzen, die sie benommen machten und entkräfteten. Ihre Tränen waren blockiert, und sie schämte sich, weil sie nicht weinen konnte. Sie trauerte tief und trug jahrelang Schwarz. Ihr zuliebe, und zu Ehren meines lieben Bruders, behielt auch ich die schwarzen Kleider drei Jahre lang an. Mein Mann und meine Kinder sagten mir oft: »Mama, jetzt ist genug.« Dann weinte ich, und sie schwiegen.

Mutter war diejenige, die uns Kinder zum Lernen und Studieren angespornt hatte. Ihr Herz ist so gross und weit, dass jeder in der Familie seine eigene besondere Nische darin hat. Niemals würde sie dulden, dass eine oder einer zu kurz kommt. Und wer im Leben besondere Schwierigkeiten habe, erhalte eine doppelte Portion Liebe, sagt sie, dann werde es ihm bessergehen.

Vater war beim jordanischen Militär und kam selten nach Hause. Später arbeitete er als Lastwagen- und Taxifahrer und war oft bis in die Nacht hinein unterwegs. Mutter versorgte, neben den eigenen neun Kindern, die sechs Kinder meines Onkels, weil deren Mutter erkrankt war. Jahrelang pflegte sie die bettlägerige Schwiegermutter, und ausserdem lebte auch Grossvater bei uns. Er übernahm oft die Rolle des abwesenden Vaters und dirigierte den Haushalt.

Mutter war Bäuerin und arbeitete im Weinberg und in den Oliven. Täglich holte sie vor Sonnenaufgang Wasser von der Quelle – mehr als einen Kilometer entfernt, den Hügel hinab und hinauf. Sie trug das Wasser in zwanzig Liter fassenden Ton- oder Blechbehältern, und dies vier- oder fünfmal täglich, auch wenn sie hochschwanger war. Sie sammelte Dornengestrüpp und Zweige, um die Reben zu bedecken, und später trug sie die vertrockneten Zweige in Bündeln auf dem Kopf nach Hause, um damit Feuer zu machen zum Kochen, Backen und Waschen. Sie nahm die Schule der Kinder sehr ernst und sorgte dafür, dass alle lernten. Jeden Abend sassen wir am Boden um den niedrigen, runden Tisch herum, mit der Öllampe in der Mitte, und lernten. Sie forderte uns einzeln auf, das Gelernte aufzusagen. Sie lernte mit, während sie ein Kleid bestickte, nähte oder Teig knetete. Sie war immer sehr fröhlich und lachte gerne. Mal verkaufte sie einen Fingerring, mal Ohrringe oder ein Armband, um das Schulgeld bezahlen zu können. Einige Jahre lang bestellte sie ein Gemüsefeld und verkaufte die Erzeugnisse an die Nachbarn. Sie erzählte gern Geschichten und erinnerte sich an viele Zahlen und Ereignisse. Manchmal lachten wir sie aus, wenn sie »Kambuta« statt Computer und »Kiissmuss« statt Christmas sagte. Dann lachte sie mit und sagte: »Seid froh, dass ich diese komischen Wörter überhaupt ausspreche. Hauptsache, ihr versteht, was ich meine. Wäre ich zur Schule gegangen, hätte ich es bestimmt bis an die Universität geschafft. Ich hätte vielleicht das Allerneueste studiert, nämlich Psychologie, davon habt ihr wenig Ahnung.« Dann lachten wir alle.

Mutter ruft mich täglich an. Wenn ich nicht zu Hause bin, geht der Anrufbeantworter an. Irritiert legt sie sofort auf. Danach sagt sie mir dann: »Ich habe dich angerufen und Munîrs Stimme gehört, aber ich habe nichts verstanden, weil er englisch gesprochen hat. Dabei weiss er doch, dass ich kein Englisch kann.« Ich sage ihr dann: »Du brauchst nicht zu antworten, denn wir erkennen deine Nummer und wissen, dass du angerufen hast.« Dann leuchten ihre Augen und sie sagt: »Gott ist gross! So viel kann die Wissenschaft!«

Am Nachmittag feierten wir beim Kasr Anîs’ Geburtstag.

23. Juni

Hâla, Ghâda und ich beschlossen, das Mädchenseminar heute auf englisch abzuhalten, damit die Mädchen sich in der englischen Sprache üben können. Sie hatten sich das gewünscht, und es lassen sich damit auch weitere Mädchen ansprechen.

Wir sprachen über Gewalt, die Gewalt hervorbringt, und besprachen Weisheiten von Mahatma Gandhi, unter anderem: »Das Ziel ist nur so gut wie die Mittel, die wir gebrauchen, um es zu erreichen.«

Die Mädchen diskutierten. »Wenn jemand mich schlägt oder verletzt, dann will ich zurückschlagen.« – »Das ist gerecht, denn nur so kann ich meine Wut rauslassen.« – »Aber tut es dir dann nicht mehr weh?« – »Ich ertrage den Schmerz so eher.«

Ghâda fragte: »Möchtest du den Schmerz ertragen oder dich vom Schmerz befreien?«

»Sich befreien wäre sicher besser, aber wie schütze ich mich vor weiteren Verletzungen?«

»Danke! Du hast uns zum Kern der Sache geführt. Ja, wie schütze ich mich vor Gewalt, wie reagiere ich?«

Die Vorschläge wurden zusammengefasst: Gewalt erkennen, benennen und ansprechen. Niemals Gewalt verharmlosen, auch wenn sie nur selten vorkommt. Niemals Gewalt relativieren und als »normal« hinnehmen. Es darf keine Rechtfertigung für Gewaltanwendung geben. Jede von uns kann Wege finden, um Gewalt zu vermeiden.

Als Einstieg gilt: Sprich deine Gefühle aus, sobald du dich verletzt fühlst. Frage nicht: Warum verletzt du mich? Die Frage wird als Angriff, als Beschuldigung verstanden und hat Verteidigung und Rechtfertigungen zur Folge, und du bist immer noch verletzt oder wirst sogar noch mehr verletzt.

Ein Mädchen intervenierte: »Was ist, wenn die Person, die mich verletzt, sagt: ›Ich will dich verletzen, du verdienst es‹?«

»Dann sagst du: ›Ich respektiere deine Haltung, du wirst deine Gründe haben, und ich möchte sie gerne kennenlernen.‹«

Ein Mädchen sagte: »Wenn ich das sage, halten mich die anderen für schwach.«

»Hauptsache, du selber weisst, dass du stark bist. Stark in einer Verhaltensweise, die zum Guten gedacht ist. Stark in deiner Entschlossenheit, das Feuer zu löschen, anstatt es anzufachen. Stark in deinem menschlichen Mitgefühl. Übrigens, was ist denn so schlimm, wenn man Schwäche empfindet? Das gehört zum Menschsein. Schwäche eingestehen ist Teil der Stärke, die wir haben.«

Eine andere Weisheit von Gandhi: »Unsere Alpträume sollen nicht die Alpträume unserer Kinder werden.«

Ein Mädchen sagte: »Bedeutet das, dass wir einfach vergessen sollen, was uns angetan wurde? Die Israelis haben uns unser Land genommen, unsere Häuser zerstört, uns vertrieben, meinen Bruder getötet, viele Massaker unter unseren Leuten angerichtet. Soll ich das meinen Kindern und Enkeln verschweigen? Es heisst doch, wir sollen die Wahrheit sagen, oder?«

»Natürlich müssen wir die Wahrheit sagen und nie die Tatsachen vergessen. Wir sollen sie aber nicht so vermitteln, dass sie zu Alpträumen werden. Die Israelis haben viel Leid erfahren, auch durch uns, sie haben Ängste, die ihr Leben vergiften. Sie fühlen sich als Opfer, genau wie wir. Wenn wir unsere Alpträume und Ängste unseren Kindern weitergeben, dann finden sie und die Kinder der Israelis nie zueinander. Sie bleiben ewig Feinde. Wir und sie sind Opfer und Täter. Wir müssen beide einen Weg finden und uns aus unseren jeweiligen Rollen befreien. Das geht nur, wenn wir uns die Chance geben, unsere Herzen und unseren Verstand für Mitgefühl und für den Vergebungs- und Versöhnungsprozess zu öffnen.«

Ein Mädchen sagte: »Das kann ich niemals.«

»Ja, es ist sehr schwer, es braucht Zeit und vor allem die Perspektive, dass das schreckliche Unrecht, das uns heute angetan wird, aufhört und endlich eine politische Versöhnung in Kraft tritt.«

Ich erzählte ihnen eine Geschichte aus Birseit, um diese Weisheit von Gandhi zu erläutern: »In Birseit leben vier grosse christliche Sippen, die von einem gemeinsamen Urgrossvater abstammen. Ausserdem gibt es zwei grosse muslimische Sippen. Wenn vor hundertfünfzig Jahren ein Mann der einen Sippe einen Mann aus der anderen Sippe tötete, mit Absicht oder ungewollt, so war Rache die Antwort. Diese Geschichten werden von Generation zu Generation weitererzählt und lebendig gehalten. Feindseligkeit und Wut bleiben tief in den Kindern und Kindeskindern verankert. Bis heute verspüren einige Familien ein Unbehagen gegeneinander und können das vor langer Zeit Geschehene nicht verzeihen. Unsere Kinder tragen die Last des Bösen weiter in sich. Das sind die Alpträume, die wir nicht pflegen sollten. Wenn sich heute zwei Jungen zanken, wird die Vermutung wach, es sei vielleicht wegen der Blutrache, die seit hundertfünfzig Jahren zwischen den beiden Familien besteht. Sicherlich lehnen die meisten ein solches Denken heute ab, doch tief drin existiert die Rache weiter als Alptraum. Solche Äusserungen dienen der Ablenkung von den heutigen Problemen und vertiefen Gefühle der Feindseligkeit.

Mein Mann Munîr studiert die Geschichte der Sippen von Birseit. Er stellte neulich fest, dass zwischen den Familien Naser und Saadeh seit mehr als sechzig Jahren keine Verschwägerung mehr stattgefunden hat. Er fand heraus, dass vor siebzig Jahren ein Saadeh einen Naser getötet hatte. Als er neulich Georgette Saadeh traf, fragte er sie, ob sie sich an diesen Zwischenfall erinnere. ›Ja‹, sagte sie, ›wir denken immer wieder daran.‹ Ob es denn nicht schade sei, dass keiner von ihnen eine Frau der Naser-Familie geheiratet habe, wollte Munîr wissen. Ob es denn kein Verlust für die Naser sei, nicht mehr durch Heirat mit den Saadehs verbunden zu sein, gab sie zurück. Sie lachten beide.

Das meine ich mit den Alpträumen, die wir unseren Kindern nicht weitergeben dürfen«, sagte ich zu den Mädchen. »Wir sollten solche Geschichten wie Märchen aus vergangener Zeit erzählen: ›Es war einmal, dass unsere Familien sich stritten, und Rache war üblich. Doch heute sind wir davon befreit.‹ Dann können wir über die Eigenart unserer Urgrossväter lachen.«

24. Juni

Muhammad, ein früherer Student von mir, rief mich an. Er meldet sich von Zeit zu Zeit und berichtet von