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Über dieses Buch:

Michaela und ihr Mann Rolf sind glücklich verheiratet und betreiben gemeinsam erfolgreich eine kleine Gärtnerei – bis ein Unfall, bei dem Rolf ums Leben kommt, alles für immer verändert. Michaela steht vor einem Scherbenhaufen: Rolf hat ihr einen Schuldenberg hinterlassen und zu allem Übel auch noch eine Affäre gehabt. Doch als sie glaubt, alles verloren zu haben, wendet sich das Blatt: Von einer Tante erbt sie ein Haus auf Elba. Nach kurzem Zögern stürzt sich Michaela in ein neues Leben – doch bald ahnt sie, dass sie sich nicht nur in die Schönheit der Insel verlieben wird …

Die Geschichte eines Neuanfangs; denn für alles im Leben gibt es eine Zeit – eine Zeit zum Trauern, eine Zeit zum Lieben …

Über die Autorin:

Charlotte Baumann ist das Pseudonym der Autorin und Übersetzerin Maria Linke. Die Mutter von zwei Kindern und stolze Großmutter eines Enkels lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

Bei dotbooks veröffentlicht Charlotte Baumann bereits ihre Romane »Am Ende jenes Sommers« und »Im Herzen bei dir«.

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eBook-Neuausgabe April 2014

Copyright © der Originalausgabe 2008 Blanvalet, München

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München, unter Verwendung von iStockfoto.com/YinYang

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-542-3

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Charlotte Baumann

Sommer der Träume

Roman

dotbooks.

Eins

Der Sommer hatte sich in diesem Jahr auf wenige Wochen im Frühjahr beschränkt und war ansonsten feucht und viel zu kalt gewesen. Deshalb waren erst jetzt, Ende August, die Felder abgeerntet, und die weite, hügelige Landschaft war mit Strohrundballen übersät – das erste Anzeichen des nahenden Herbstes. Es war zwar in den letzten Tagen noch einmal heiß geworden, und die Sonne brannte von einem wolkenlos blauen Himmel herunter, aber morgens und abends lag doch schon ein kühler, feuchter Hauch in der Luft, an manchen Stellen stiegen sogar bereits Nebelschwaden auf. Noch standen die Wälder dunkel und grün, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich bunt färbten.

Wie ein schmales Band wand die Straße sich durch die Landschaft. Aus der Vogelperspektive betrachtet, wirkte sie harmlos, aber wenn man sie befuhr, merkte man schnell, dass man sich sehr konzentrieren musste. Es gab tückische, lang gezogene Kurven, deren Gefährlichkeit einem erst bewusst wurde, wenn man sich mitten darin befand. Und übersichtliche Streckenabschnitte durch freies Feld wechselten sich mit dunklen Waldstücken ab, in denen es häufig feucht und rutschig war. Gerade weil die Strecke eine Herausforderung selbst für Könner war, war sie bei Motorradfahrern äußerst beliebt. Allerdings überschätzten auch nicht wenige ihre Fähigkeiten.

»Papa, mir ist schlecht!«, quengelte das kleine Mädchen. »Wann sind wir endlich da?«

Besorgt drehte Corinna Wegener sich zu ihrer Tochter um. »Du bist ja ganz blass, Mäuschen. Das kommt sicher von den vielen Kurven. Halt doch mal an, Lothar«, sagte sie zu ihrem Mann.

Lothar Wegener verdrehte genervt die Augen. »Alle fünf Minuten was anderes! So kommen wir heute nie mehr nach Monschau!« Aber er fuhr trotzdem langsamer und hielt Ausschau nach einem Parkplatz. Am Ende kotzte ihm Vanessa noch die Polster voll – das hätte ihm gerade noch gefehlt. Den Gestank bekam man nie mehr heraus.

Zum Glück lag hundert Meter entfernt ein Parkplatz. Das Motorrad, das vor ihm gefahren war, bog ebenfalls ab. Schöne Maschine, dachte Lothar mit einem Anflug von Neid. Während seine Frau eilig ausstieg und Vanessa aus dem Kindersitz hob, betrachtete er die schwere BMW. Die Beifahrerin hatte gerade den Helm abgenommen und schüttelte ihre dicken, blonden Locken. Süße Maus, sagte Lothar anerkennend im Stillen und warf einen Blick auf den Fahrer, der ebenfalls abgestiegen war. Na, der war aber mindestens fünfzehn Jahre älter als die Frau, wenn nicht sogar noch mehr. Aber er hatte sich gut gehalten, wirkte fit und durchtrainiert. Und er hatte dichte, dunkle Haare mit nur einer Spur von Silber an den Schläfen. Nicht so wie ich, dachte Lothar wehmütig und fuhr sich unwillkürlich über seinen fast kahlen Schädel. Die beiden unterhielten sich lebhaft, jetzt lachte der Mann und blickte seine Begleiterin liebevoll an. Das war aber auch eine Zuckerpuppe. Lothar warf einen Seitenblick zu seiner Frau und seiner Tochter, die am Rand standen und auf der Stelle hüpften. Nun, so übel war seine Corinna auch nicht. Nicht ganz so blond, nicht ganz so schick, aber was sollte er mit so einem Model anfangen? Und sein kleines Mädchen liebte er abgöttisch, auch wenn er manchmal ein bisschen barsch tat. Nein, nein, seine zwei Frauen waren schon in Ordnung. Aber einmal mit so einer Maschine und so einer Wahnsinnsblondine durch die Prärie brausen, das wär's doch. Seine Augen weiteten sich sehnsüchtig. Träumen war ja wohl erlaubt. Als er seine Frau mit Vanessa zum Auto zurückkehren sah, setzte er sich jedoch rasch wieder ans Steuer. Auch die beiden Motorradfahrer machten sich abfahrbereit. Ah, anscheinend durfte nun die Blonde fahren. Lothar verzog missbilligend den Mund. Der Typ musste ja heftig verliebt sein. Die BMW war viel zu schwer für eine Frau. Hoffentlich beherrschte sie die Maschine.

Während er hinter dem Motorrad wieder auf die Straße einbog, sagte er zu seiner Frau: »Ich bleibe mal ein bisschen hinter denen. Der Typ lässt die Frau fahren, aber ich glaube, die Maschine ist viel zu schwer für sie. Das will ich mir anschauen.«

»Mmmh«, erwiderte seine Frau geistesabwesend. Sie hatte sich schon wieder zu dem Kind umgedreht und reichte ihm eine Banane. »Hier, iss mal was, dann geht es dir gleich wieder besser.«

Lothar hörte nur mit halbem Ohr zu, was die beiden miteinander plapperten. Konzentriert fuhr er hinter dem Motorrad her. Die fährt viel zu schnell, dachte er. Und ständig blickte sie nach oben. Ein typischer Fehler von Anfängern, die sich zu viel zutrauten und sich von dem Rausch mitreißen ließen. Es war aber auch wirklich schön hier. Die Straße führte durch den Wald, und das Sonnenlicht flimmerte durch das Laub der Bäume, so dass die tanzenden Sonnenflecken bei der hohen Geschwindigkeit ihr vermutlich das Gefühl vermittelten, zu fliegen. Allerdings wurde sie dadurch auch unaufmerksam und leichtsinnig. Die Strecke an dieser Stelle war anspruchsvoll und so verkehrsreich, dass man sich solche Empfindungen nicht leisten konnte. Etwas weiter vorne kam jetzt ein dunkleres Waldstück. Lothar sah, wie der Mann sich vorbeugte und der Frau anscheinend etwas zurief. Jetzt nahm sie auch noch eine Hand vom Lenker, drehte sich halb zu ihm um und tätschelte ihm das Knie. »Ich glaube es ja nicht! Spinnt die?«, murmelte Lothar. »Die hat sie ja wohl nicht alle!«

»Was hast du gesagt?« Seine Frau hatte sich wieder umgedreht und blickte ihn fragend an. »Willst du ...«

In diesem Moment gab es einen fürchterlichen Krach, ein Kreischen und Knirschen, einen dumpfen Schlag, und dann war es wieder still.

Das Motorrad war verschwunden.

»Ach du liebe Scheiße!« Lothar trat abrupt auf die Bremse, der Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Hastig schnallte er sich ab und riss die Autotür auf. »Ruf den Notarzt«, schrie er seiner Frau zu. »Und bleib mit Vanessa im Auto.« Er rannte auf das Motorrad zu, das an der Seite halb an einem Baum lag. Das Vorderrad drehte sich noch. Die Frau lag seltsam verrenkt darunter, der Mann war zwischen die Bäume geschleudert worden.

Einen Moment lang war es unwirklich still, aber dann zwitscherten die Vögel wieder. In der Ferne läuteten die Glocken.

Zwei

Willi, kannst du mir bitte mal helfen?« Michaela wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Die Luft flirrte vor Hitze, und gerade heute musste sie die Lieferung für das Burgfest allein fertig machen. Die zehn Buchsbaumhochstämme waren zwar in Plastikkübel gepflanzt, aber alleine konnte sie die auf keinen Fall auf die Ladefläche des Kleintransporters hieven. Dazu waren sie viel zu schwer.

Es war eigentlich egoistisch von Rolf gewesen, dass er sich gerade dieses Wochenende frei genommen hatte, um mit seinen Kumpels vom Motorradverein eine Tour durch die Eifel zu machen. Seit Jahren schon fand traditionell am letzten Augustwochenende das Burgfest statt, und es war zwar erfreulich, dass die Gärtnerei Bartels stets den Auftrag für den Blumenschmuck bekam, aber es war natürlich auch mit viel Arbeit verbunden. Seufzend zog Michaela ihr Handy aus der Tasche ihrer Jeans. Laura hatte doch versprochen zu helfen. Wo blieb sie denn nur? Rasch tippte sie die Nummer ihrer Jüngsten ein.

»Mama!« Laura war sofort am Apparat. »Ich bin schon von der Autobahn runter. In fünf Minuten bin ich da. Ich habe im Stau gestanden. Du weißt doch, was freitagabends auf dem Kölner Ring los ist.« Sie legte auf, bevor Michaela noch etwas sagen konnte. Nun, wenigstens war sie bereits unterwegs.

Laura war mit ihren vierundzwanzig Jahren das Nesthäkchen, und Michaela ertappte sich immer wieder dabei, dass sie in ihr noch das kleine Mädchen von früher sah. Dabei war sie eine schöne junge Frau, die ihre Mutter um zehn Zentimeter überragte und selbstsicher auf ihren langen Beinen durch die Weltgeschichte stolzierte. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre und wohnte seit einem Jahr mit ihrem Freund Michael, einem jungen Anwalt, in Köln in einer gemeinsamen Wohnung.

»Lass dir doch noch ein bisschen Zeit«, hätte Michaela am liebsten gesagt, als Laura letztes Jahr verkündet hatte, dass sie und Michael zusammenziehen würden, aber sie hatte sich im letzten Moment gerade noch zurückgehalten. Rolf hatte Recht: Sie war manchmal eine unmögliche Glucke. Warum sollte das Kind nicht mit seinem Freund zusammenziehen? Michaela war in ihrem Alter schon verheiratet gewesen und mit dem ersten Kind in Hoffnung. Ja, aber damals waren andere Zeiten, meldete sich eine hartnäckige kleine Stimme in ihrem Kopf. Ach, Quatsch, andere Zeiten. Ihre Mutter hatte ihr damals auch geraten, doch erst einmal ihr Leben zu genießen. Und sie hatte doch auch nicht auf sie gehört. Im Gegenteil, sie hatte es eilig gehabt, endlich mit Rolf eine eigene kleine Familie zu gründen.

Vermutlich tat sie sich nur deshalb so schwer, weil Laura ihr jüngstes und letztes Kind war. Leeres-Nest-Syndrom. Lächelnd schüttelte Michaela den Kopf. Dazu fehlte ihr doch eigentlich die Zeit.

Der gute, alte Willi, der schon bei ihrem Vater gearbeitet hatte, hatte mittlerweile wortlos die schweren Töpfe auf die Ladefläche gewuchtet.

»Willi, wirklich«, schimpfte Michaela, »du sollst doch nicht alleine so schwer heben. Wenn du wieder einen Bandscheibenvorfall bekommst, ist auch keinem gedient.«

»Ach was, Chefin«, brummte der alte Mann. »Das ist doch nichts, so ein paar Kübel. Das mach ich doch mit links. Ich hol schon mal die Paletten mit den kleinen Sonnenblumen.« Damit drehte er sich um und ging zu den Gewächshäusern. Kopfschüttelnd blickte Michaela ihm hinterher. »Mit links«, wiederholte sie. Es war nicht in Ordnung, dass sie Willi außerhalb der Arbeitszeit so sehr beanspruchte. Sie würde mit Rolf ein ernstes Wort reden müssen, wenn er am Sonntagabend zurückkam. Natürlich gönnte sie ihm sein Hobby, zumal er erst letztes Jahr damit angefangen hatte, aber wenn solche wichtigen Termine anstanden, musste er auch schon einmal darauf verzichten. Er konnte sie nicht einfach mit der ganzen Arbeit allein lassen. Als sie jedoch daran dachte, wie fröhlich er heute Mittag losgezogen war, nachdem er den Anruf vom Verein erhalten hatte, musste sie unwillkürlich lächeln. Er sah toll aus in der Ledermontur, aber er hatte sich mit seinen sechsundfünfzig Jahren auch echt gut gehalten.

Sie blickte auf, als Paula, ihre braune Labradorhündin, bellend zum Tor raste. Gerade ging die Seitentür auf, und Laura kam herein. »Ja, Paulchen«, begrüßte sie den Hund überschwänglich, »wo ist denn meine Süße? Passt du so gut auf alles auf?« Die Hündin wackelte vor Freude mit dem gesamten Hinterteil. Winselnd sprang sie an Laura hoch und machte dann einen Satz zu Michaela hin, als wollte sie ihr mitteilen, dass noch ein Familienmitglied gekommen sei.

»Manchmal geht sie mir mit ihrer Überschwänglichkeit ein bisschen auf die Nerven«, meinte Michaela und begrüßte ihre Tochter mit einem Kuss. »Ich müsste eigentlich mit ihr in die Hundeschule gehen, damit sie nicht immer so stürmisch ist. Danke, dass du gekommen bist, Kind. Ich weiß langsam nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Wenn es nicht so heiß wäre ...«

»Ach was, sie freut sich doch nur. Und du kannst jetzt erst mal einen Gang runterschalten. Ich fahre das Zeug gleich mit dir zusammen zur Burg, und während ich ablade, kannst du dich ein bisschen mit Andrea unterhalten. Wo ist denn Papa überhaupt?«

»Hatte ich das nicht gesagt? Er ist mit seinem Motorradverein unterwegs. Sie wollten eine Tour durch die Eifel machen.«

»Also wirklich, Mama.« Laura verdrehte die Augen. »Das letzte Augustwochenende ist seit Jahren das stressigste Wochenende überhaupt, weil ihr das Burgfest beliefern müsst, und du lässt Papa einfach seinem Vergnügen nachgehen. Ich finde es ja ganz in Ordnung, dass er so spät seine Liebe fürs Motorradfahren entdeckt hat, aber jetzt übertreibt er es ein bisschen, finde ich.« Sie tätschelte Paula, die ihr nicht von der Seite wich, den Kopf. »Michael würde ich das nie erlauben. Du bist einfach zu gutmütig.«

Michaela lachte. »Komm du erst mal in mein Alter. Und sei du erst mal so lange verheiratet wie ich. Glaub mir, da macht man noch ganz andere Sachen. Aber lass uns jetzt erst mal die Arbeit hier zu Ende bringen.«

Willi war mit einer Sackkarre voller kleinblütiger Sonnenblumen angekommen, und mit vereinten Kräften hatten sie die letzten Pflanzen rasch auf den Lieferwagen geräumt. »Wir fahren jetzt zur Burg, Willi. Wenn wir wiederkommen, wollte ich uns rasch noch ein paar Koteletts auf den Grill legen, aber wenn du jetzt schon Hunger hast, in der Küche steht auch noch Gemüsesuppe. Du brauchst sie nur warmzumachen.«

Willi hatte zwar sein eigenes kleines Häuschen am anderen Ende des Dorfes, aber seit dem Tod seiner Frau hielt er sich meistens bei Michaela und Rolf auf. Abends saß er in der Werkstatt bei den Gewächshäusern, in die Michaela ihm letztes Jahr noch einen Fernseher gestellt hatte, und bastelte seine Vogelhäuschen, die bei den Kunden immer beliebter wurden. Es war sogar schon einmal vorgekommen, dass er auf dem alten Sofa in der Werkstatt übernachtet hatte, und Michaela und Rolf hatten schon einige Male darüber gesprochen, den alten Mann ganz bei sich aufzunehmen. Platz genug hatten sie ja, seitdem die Kinder aus dem Haus waren, und Willi gehörte schließlich zur Familie. Für die Kinder ersetzte er den Opa, den sie nie kennen gelernt hatten, und sie liebten ihn sehr.

»Ist schon in Ordnung, Chefin«, erklärte er jetzt. »Ich hab noch nicht so viel Hunger. Ich gehe erst mal mit Paula in die Felder, und dann kann ich ja schon den Grill anheizen.« Paula wedelte mit dem Schwanz, als sie ihren Namen hörte, und blickte den alten Mann erwartungsvoll an. Felder, das klang gut. Da fand sich immer ein Stöckchen oder ein alter Turnschuh, den man dann stolz nach Hause tragen konnte.

»Ja, gut, Willi. Dann bis später.« Michaela und Laura stiegen in den Lieferwagen. »Und?«, fragte Michaela, als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. »Wie läuft's denn so bei euch? Alles klar? Du hast am Telefon ziemlich genervt geklungen.«

»Ja, schon«, erwiderte Laura zögernd. »Doch, nein, es ist alles in Ordnung«, setzte sie dann entschieden hinzu. »Michael hat viel Stress in der Kanzlei. Hat sich Momo eigentlich mal gemeldet? Mit Johanna habe ich vorgestern telefoniert. Sie ist ganz erleichtert, dass die Zwillinge endlich wieder in den Kindergarten gehen können. Es muss die Hölle sein, wenn zwei Kinder gleichzeitig Windpocken haben.«

»Ja, ihr hattet sie damals wenigstens alle nacheinander. Ich muss Johanna dringend anrufen, ich hatte bloß die letzten Tage so viel zu tun, dass ich zu nichts gekommen bin. Wir wollten ja jetzt endlich auch mal mit dem Umbau anfangen, und da gibt es eine Menge zu bedenken.«

Anscheinend wollte Laura sich nicht weiter über ihren Freund auslassen, dachte Michaela. Sonst hätte sie nicht so schnell von ihren Geschwistern gesprochen. Johanna war das älteste ihrer drei Kinder, und sie war damals auch der Grund dafür gewesen, dass Rolf und sie ein wenig überstürzt hatten heiraten müssen. Sie lebte mit ihrem Mann Jörg und zwei süßen kleinen Jungen, den Zwillingen Jakob und Johannes, die Michaela über alles liebte, in Stuttgart. Leider sahen sie einander viel zu selten, zumal sie auch noch eine gut gehende Praxis als Physiotherapeutin hatte. Mein tüchtiges Mädchen, dachte Michaela zufrieden. Aber sie hatte mit allen drei Kindern großes Glück gehabt. Momo war ihr Sohn Moritz. Er wohnte in Bonn, also eigentlich ganz in der Nähe, war aber beruflich so engagiert, dass er sich nur selten meldete, geschweige denn mal vorbeikam. Er war Physiker, und keiner wusste so recht, wie er auf dieses Studienfach gekommen war, denn niemand sonst in der Familie hatte vorher auch nur annähernd eine ähnliche Neigung gezeigt. Aber Momo hatte von Anfang an gewusst, dass er Physik studieren wollte, und für ihn war auch immer nur eine Universitätslaufbahn in Frage gekommen. Mit seinen achtundzwanzig Jahren hatte er bereits promoviert, und jetzt ging es in Riesenschritten auf die Habilitation zu. Michaela verstand ja nicht viel davon, aber offensichtlich war Momo ein gefragter Wissenschaftler, und er würde wohl seinen Weg gehen. Auch privat ging es ihm ganz gut. Er lebte mit einer Kollegin zusammen – seit der letzten Bundestagswahl für Rolf ein ständiger Grund für blöde Witze –, die zwar bisher keine Anstalten machte, ihnen Enkel zu schenken, aber sehr nett war. Nein, wirklich, sie wollte nicht ungerecht sein, Heike war eine reizende Person. Unwillkürlich seufzte Michaela leise.

Laura warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Was ist los, Mama? Sorgen?«

»Nein, nur ein bisschen müde. Fahr hinten am Stall vorbei, Andrea hat gemeint, da könnten wir besser abladen.«

Im Hof wartete schon einer der Pferdeknechte. Andrea von Hoven betrieb mit ihrer Familie neben der Burg einen Privatstall, und obwohl es schon nach sieben war, herrschte immer noch reger Betrieb. Laura winkte einer Frau zu, die gerade mit ihrem Pferd am Halfter zu den Ställen ging. Sie kannte die meisten Leute, weil sie schon als Kind regelmäßig hier geritten war. Zwar hatte es leider nie zu einem eigenen Pferd gereicht, aber da Laura eine gute Reiterin und vor allem sehr beliebt war, hatte es ihr an Reitmöglichkeiten nie gemangelt.

Jetzt begrüßte sie fröhlich Egbert, den Vorarbeiter auf der Burg, und lud mit ihm zusammen die Pflanzen von dem Lieferwagen, um sie im Burghof zu verteilen. Michaela trat zu einer rundlichen, dunkelhaarigen Frau, die am Tor stand und die Arbeiter dirigierte, die gerade die Tische aufstellten.

»Micha!« Andrea von Hoven lächelte der Freundin zu. Sie kannten sich, seitdem ihre Kinder zusammen im Kindergarten gewesen waren, und obwohl Andrea fast fünf Jahre älter war als Michaela, waren sie eng miteinander befreundet.

»Hallo, meine Liebe.« Michaela umarmte die Freundin kurz. »Ich hatte schon Angst, ich werde nicht mehr rechtzeitig fertig. Rolf macht eine Motorradtour durch die Eifel, und ich hätte ihn wahrscheinlich nicht so leichtfertig ziehen lassen dürfen.«

Andrea von Hoven zog eine Augenbraue hoch. »Du bist aber auch großzügig. Wann kommt er denn zurück? Wolltet ihr nicht morgen zusammen zum Fest kommen?«

»Nein, er ist erst Sonntagabend wieder da. Und ich muss ehrlich gesagt erst mal schauen, wie ich meine Arbeit bewältigt kriege. Morgen muss ich eine Hochzeit in Niederberg beliefern. Brautstrauß, Tischschmuck und so weiter. Sie lassen mir völlig freie Hand, da muss ich mir was Vernünftiges einfallen lassen. Ich habe mir zwar schon was überlegt, aber ich muss noch alles besorgen.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal denke ich, selbständig zu sein ist ja schön und gut, aber ab und zu möchte ich auch einfach nur einen Achtstundentag haben. Aber wem sage ich das?« Sie hakte die Freundin unter, und gemeinsam umrundeten sie den Burghof, um sich davon zu überzeugen, dass alles an seinem Platz war. Die Kapelle würde wie immer unter der dicken, alten Kastanie spielen, und die Biertheke war hinten bei den ehemaligen Kuhställen, in denen sich jetzt schicke Wohnungen befanden. Aber vor allem mussten sie darauf achten, dass im Hof genügend Platz blieb, weil morgen Mittag der gesamte Schützenverein mitsamt Blaskapelle aufmarschieren würde.

Jedes Dorf hier in der Gegend hatte seine eigene Burg, aber Burg Hoven war besonders schön. Eigentlich war nur noch die Vorburg samt Nebengebäuden erhalten, aber sie wirkte schon eindrucksvoll genug mit dem dreistöckigen, weiß verputzten Wohnhaus mit Fachwerkgiebel rechts von der Tordurchfahrt und dem zweistöckigen Gesindehaus auf der anderen Seite. Andrea bewohnte die untere Wohnung im Haupthaus, und wenngleich Michaela ihr altes Haus liebte, so beneidete sie die Freundin doch beinahe um die ganz besondere Atmosphäre in den herrschaftlichen Räumen mit den hohen Steinkaminen.

»Sag mal, bist du mit Rolf eigentlich glücklich?«, fragte Andrea unvermittelt und riss Michaela aus ihren Gedanken.

»Was stellst du denn für merkwürdige Fragen? Gibt es einen konkreten Grund?«, antwortete Michaela und warf der Freundin einen forschenden Blick zu. »Also ich an deiner Stelle würde mir ja eher Gedanken darüber machen, ob das Wetter hält. Ja, klar, im Großen und Ganzen bin ich sicher glücklich mit ihm. Auch wenn ich im Moment ein bisschen sauer auf ihn bin. Er hätte mich wirklich nicht gerade an diesem Wochenende allein lassen müssen. Ich werde ihn mir noch zur Brust nehmen, wenn er Sonntagabend zurückkommt. Aber komisch, dass du mich gerade jetzt danach fragst, ich habe nämlich eben noch darüber nachgedacht, ob Laura eigentlich glücklich ist. In der letzten Zeit weicht sie mir immer aus, wenn ich sie nach ihrer Beziehung frage. In ihrem Alter ist die Frage nach dem Glück doch viel entscheidender als bei uns.«

Andrea lächelte ein wenig traurig. Sie lebte schon lange allein. Ihr Mann hatte sich nach der Geburt des vierten Kindes bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht. Er hatte in ihr wohl immer nur die reiche Erbin gesehen, und als ihm nach dem Tod ihres Vaters schließlich klar geworden war, dass er an ihren Besitz nicht herankam und sie doch tatsächlich von ihm erwartete, dass er mitarbeitete, hatte er sie verlassen. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Noch nie zuvor war ihr Vertrauen in einen anderen Menschen so erschüttert worden. Sie hatte ihre Kinder alleine großgezogen und war keine neue Beziehung eingegangen. Jetzt sagte sie: »Ja, du hast wahrscheinlich Recht. Ich weiß auch nicht genau, wie ich gerade jetzt darauf gekommen bin. Nein, stimmt nicht, ich weiß es schon, aber wir können ja ein anderes Mal darüber reden. Und ich kann dich auch gut verstehen: Um die Kinder macht man sich immer mehr Sorgen als um sich selbst. Wie kommst du denn darauf, dass bei Laura etwas nicht in Ordnung sein könnte?«

»Ach, ich weiß nicht, es ist nur so ein dummes Gefühl. Mütterlicher Instinkt oder so. Gesagt hat sie natürlich nichts, aber eigentlich geht es mich ja auch nichts an, schließlich ist sie erwachsen.«

»Genau.« Beruhigend drückte Andrea ihren Arm. Sie waren beide stehen geblieben und blickten zu Laura, die mit dem Abladen mittlerweile fertig war. Sie lehnte am Lieferwagen und unterhielt sich angeregt mit Andreas ältestem Sohn Robert, der mit seiner Familie im Kutscherhaus lebte, das in einiger Entfernung von der Burg im weitläufigen Park stand.

»Es ist alles fertig, Mutter!«, rief er herüber. »Guten Abend, Michaela. Alles klar?«

»Ja, alles klar«, rief sie zurück.

»Willst du zum Abendessen bleiben?«, fragte Andrea und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir könnten noch ein bisschen reden. Und wenn Rolf sowieso nicht da ist, dann vermisst dich doch auch keiner.«

Michaela warf ihr einen scharfen Blick zu. »Sag mal, was ist eigentlich heute los mit dir? Irgendwas willst du doch loswerden, oder? Na, komm schon, mir kannst du doch nichts vormachen.«

Andreas Wangen färbten sich rosa. »Ja, ja, ich weiß schon, dir entgeht nichts. Du hast Recht, ich möchte wirklich gerne was mit dir besprechen, aber nicht so zwischen Tür und Angel. Also, wie sieht's aus? Bleibst du?«

»Nein, tut mir leid, aber ich muss gleich wieder nach Hause. Ich habe Willi versprochen, dass wir heute Abend grillen. Er hat wahrscheinlich den Grill schon angemacht. Weißt du was? Wenn ich morgen in Niederberg war, komme ich vorbei. Die Festleitung kannst du ja ohne Weiteres in die Hände deines Sohnes legen, und wir suchen uns dann ein stilles Eckchen, wo du mir deine Geheimnisse beichten kannst – wenn es was zu beichten gibt.«

»Na gut. Aber versprich mir, dass du auch ganz bestimmt vorbeikommst. Ich rechne fest mit dir.«

»Ja, abgemacht. Und leg diesen melancholischen Blick ab – am Ende steckst du mich noch an.« Michaela knuffte die Freundin liebevoll und stieg in den Wagen. Laura saß bereits hinter dem Steuer. Sie wendete und fuhr hupend über das Kopfsteinpflaster durch das Tor.

»Robert hat mir erzählt, dass sie sich eine Finca auf Mallorca gekauft haben. Cool, was? Er meinte, wir könnten dort jederzeit Urlaub machen, wenn wir rechtzeitig Bescheid sagen. Das muss ich unbedingt Michael sagen, ich glaube, so ein bisschen Urlaub täte uns gut.«

»O ja«, meinte Michaela sehnsüchtig, »Urlaub! Ich weiß ja schon gar nicht mehr, wie es überhaupt ist, Urlaub zu machen. Das mit der Finca hat mir Andrea schon vor längerer Zeit erzählt, aber du wirst lachen, vor lauter Arbeit bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, Mallorca mit Urlaub in Verbindung zu bringen.«

»Mama!« Laura warf ihr einen strengen Seitenblick zu. »Das sieht dir ähnlich! Aber lass es dir gesagt sein: Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit! Und wenn Papa schon ohne dich Motorradtouren macht, solltest du dir auch ein Hobby suchen, bei dem du ein bisschen aus dem Haus kommst.«

»Ich lege jedenfalls keinen Wert darauf, auf Papas Motorrad mitzufahren. Ich glaube, ich würde vor Angst sterben. Motorräder waren mir immer schon ein bisschen unheimlich. Als ich ein Kind war, haben wir mal im DKW deines Großvaters einen Sonntagsausflug in die Eifel gemacht, und da ist uns ein Motorradfahrer fast vors Auto gefallen. Er ist in einer Kurve ins Rutschen gekommen, mit der Maschine gestürzt, und Opa konnte gerade noch bremsen, sonst hätte er ihn überfahren.«

Laura warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu. »Das hast du mir noch nie erzählt. Und, was war mit dem Mann?«

»Ich glaube, er hatte sich das Bein gebrochen oder so, aber genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich schreckliche Angst hatte, weil das Auto so schief im Graben stand und meine Freundin und ich uns auf der Rückbank nicht mucksen durften.«

»Kennt Papa die Geschichte?«

»Ja, sicher. Aber er bezieht sie natürlich nicht auf sich. Es liegt wahrscheinlich in der menschlichen Natur, zu denken, dass die schlimmen Dinge immer nur den anderen passieren. Apropos, wann ist eigentlich deine Diplomarbeit endlich fertig?«

Laura verzog das Gesicht. »Na, du machst ja spektakuläre Überleitungen. Dazu will ich mich heute Abend nicht äußern. Ich lasse mir doch nicht das Wochenende verderben. Ach, übrigens, hast du was dagegen, wenn ich zu Hause übernachte? Michael ist auf diesem Juristenkongress in Travemünde, und ich bin nachher noch mit Kati verabredet.«

»Nein, kein Problem, du musst dir nur das Bett frisch beziehen«, erwiderte Michaela. Nachdenklich setzte sie hinzu: »Ich würde ja gerne mal wissen, was Andrea mir unbedingt erzählen wollte. Sie hat so geheimnisvoll getan. Hast du eine Ahnung?«

»Nein, woher? Vielleicht ist sie schwanger.«

»Laura!« Die beiden Frauen lachten noch, als sie aus dem Wagen stiegen.

Die Gärtnerei lag in einer stillen, baumbestandenen Seitenstraße. Gegenüber dem Ladenlokal befand sich ein kleiner Parkplatz, und während der Verkaufszeiten stand der Bürgersteig voller Blumenkübel und Pflanzenarrangements. Das eigentliche Grundstück mit Wohnhaus, Blumenbeeten und Gewächshäusern erstreckte sich jenseits der weiß getünchten Mauer, die sich an das kleine Häuschen mit dem Laden im Erdgeschoss anschloss. Durch ein großes, elektrisch zu betätigendes Eisentor, das tagsüber immer offen stand, gelangte man auf die Kiesauffahrt, die bis vors Haus führte, einen zweigeschossigen, ebenfalls weiß verputzten, schlichten Bau aus den fünfziger Jahren mit einer doppelflügeligen, geschwungenen Eingangstür aus schwerer Eiche und dunkelgrün gestrichenen Fensterläden.

Seitdem die Kinder aus dem Haus waren, hatten Michaela und Rolf schon einige Male darüber geredet, dass das Haus eigentlich zu groß für sie alleine war, aber Michaela konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben, zumal ja auch die Gärtnerei zu dem Komplex gehörte. »Außerdem brauchen wir den Platz, wenn sie alle auf einmal zu Besuch kommen«, hatte sie angeführt. »Wir können die armen Kinder doch nicht ins Hotel schicken.«

Rolf hatte gelacht. »Die armen Kinder! Ja, von dir hätte ich kein anderes Argument erwartet. Am liebsten hättest du sie alle ständig um dich. Aber wir sollten auch an die Kosten denken, die der Riesenkasten mit sich bringt. Dauernd ist irgendwas zu reparieren und zu renovieren. Und die leer stehenden Räume müssen ja auch geheizt werden! Also, ich könnte mir schon vorstellen, hier zu verkaufen und vielleicht nur das Ladenlokal zu behalten. Dann suchen wir uns was Kleineres, oder wir bauen die Wohnung über dem Laden aus.«

»Nein«, hatte Michaela empört erwidert, »das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich kann doch nicht in einer kleinen Wohnung wohnen, aus der ich auch noch jeden Tag auf mein Haus gucken muss, in dem dann andere Leute leben. Wie stellst du dir das denn vor? Und wir müssen auch an Willi denken. Du hast selbst gesagt, dass wir ihn am besten zu uns nähmen.«

»Ja, ja, ist ja schon gut.« Rolf hatte eingelenkt, und damit war das Thema an jenem Abend erst mal wieder vom Tisch gewesen. Aber er war eben auch nicht so mit dem Haus verwurzelt wie sie. Zwar hatten sie es beide gemeinsam nach dem Tod ihrer Eltern umgebaut, aber Rolf war natürlich nicht hier aufgewachsen. Und auch die Gärtnerei war für ihn als Diplomkaufmann weniger ein traditionelles Familienunternehmen als eine einträgliche Einnahmequelle.

Um nicht ganz so auf verlorenem Posten zu stehen, hatte Michaela in der letzten Zeit häufiger das Gespräch auf eine mögliche Modernisierung gebracht, und beim letzten Mal war es ihr sogar gelungen, eine zwar ungeduldige, aber letztlich doch positive Reaktion von Rolf zu bekommen. »Ja«, hatte er widerwillig zugegeben, »nötig wäre es schon. Du kannst ja schon mal Kostenvoranschläge einholen, zumindest für die Renovierung des Ladens.« Michaela hatte das Gefühl gehabt, einen kleinen Sieg errungen zu haben.

Paula kam ihnen schwanzwedelnd entgegengesprungen, als sie um das Haus herum zur Terrasse gingen. Der gepflasterte Weg wurde von Rosenbüschen, Lavendel und Katzenminze gesäumt, und jetzt am Abend lag ein süßer Duft in der Luft. Willi, der am Grill stand und die Glut bewachte, blickte auf. »Da seid ihr ja endlich. Ich wusste nicht, wo du das Fleisch hingepackt hast, Chefin«, brummte er. »Sonst hätte ich schon was drauflegen können.«

»Ist schon gut, Willi. Ich hole es gleich. Ich wasche mir nur rasch die Hände.« Michaela lief durch die Terrassentür ins Haus. Laura kam ihr hinterher. »Soll ich was aus dem Kühlschrank holen, Mama?«

»Du kannst schon mal das Baguette aufschneiden, das in der Küche liegt«, rief Michaela über die Schulter und verschwand im Bad. Kurz darauf saßen sie alle drei auf der Terrasse in den gemütlichen Korbsesseln, und Willi wendete die Koteletts, die sie am Morgen noch schnell mariniert hatte. Zufrieden blickte Michaela auf ihr kleines Reich. Im Staudengarten blühte es noch üppig, auch wenn mittlerweile bei den Farben Blau und Gelb überwogen. Die Rosen standen in voller Blüte, und der prächtige Rosenbusch neben der Terrasse übertrumpfte mit seinem Duft selbst den würzigen Grillgeruch.

»Nächsten Montag kommt der Großhändler«, sagte sie zu Willi. »Letztes Mal hatte er ein paar Exoten aus Afrika dabei. Wenn er das Dekomaterial auch noch hat, nehme ich ein paar Pflanzen und versuche es mal mit einer Dekoration in Braun- und Orangetönen. Das passt doch gut in den September, oder?«

»Hmm«, nickte der alte Mann. »Du machst das schon richtig, Chefin. Die Koteletts sind durch. Gibst du mir mal deinen Teller?«

Michaela warf ihm einen liebevollen Blick zu. Es interessierte ihn vermutlich gar nicht, wie sie den Laden dekorierte. Aber das war ja auch nicht seine Aufgabe. Bildete sie es sich bloß ein, oder war er in der letzten Zeit arg klapprig geworden? Als sie ihm den Teller reichte, fuhr sie ihm kurz mit dem Finger über die Wange und lächelte ihn an. »Ach, Willi, ich kann es gar nicht oft genug sagen: Wenn wir dich nicht hätten.«

»Ja, genau«, warf Laura ein. »Was würden wir nur ohne dich machen, Opa Willi?«

»Och, dann hättet ihr jemand anderen«, brummte der alte Mann abwehrend, aber sie sahen ihm an, dass er sich freute.

Der Samstag war wie im Flug vergangen. Laura hatte mit der angestellten Verkäuferin bis mittags im Geschäft geholfen, während Michaela noch in der Morgendämmerung aufgestanden war, um die Blumengestecke und Sträuße für die Hochzeit herzurichten. Anschließend hatte sie alles zu dem großen Bauernhof gebracht, in dessen Scheune die Hochzeit stattfinden sollte, die Tische dekoriert und der Braut, die gerade vom Friseur kam, den Brautstrauß persönlich überreicht und ihr alles Gute gewünscht.

Wieder zu Hause, hatte sie mit ihrer Tochter rasch die Abrechnung gemacht, während Willi mit der Angestellten die Blumentöpfe und Kübelpflanzen vom Bürgersteig hereingeräumt hatte.

Jetzt war es halb fünf, sie war kurz unter die Dusche gesprungen, hatte sich ein khakifarbenes Hemdblusenkleid angezogen, das ihre getönte Haut vorteilhaft zur Geltung brachte, und war in ihre Sandalen geschlüpft. Zum Glück war es warm, da brauchte sie nicht so viel anzuziehen. Die Zeit für Strümpfe und Mäntel kam noch früh genug, und Michaela fand, sie war eher der Sommertyp. Bei Wärme fühlte sie sich einfach wohler. Schnell noch die Wimpern getuscht, einen Hauch rosa Lippenstift aufgelegt, und schon war sie bereit, ins Nachbardorf zu fahren, um Andrea wie versprochen auf dem Burgfest zu besuchen.

»Kommst du mit, Laura?«, rief sie in den Garten hinaus.

Ihre Tochter, die im Bikini auf einer Liege unter der Linde lag, blickte von ihrem Buch auf. »Nein, fahr ruhig alleine«, erwiderte sie. »Die Mädels wollten später vorbeikommen, und vielleicht fahren wir noch nach Köln.«

»Die Mädels« waren ihre drei engsten Schulfreundinnen, die bis auf eine zwar alle woanders studierten und ebenfalls mit ihren Freunden zusammenlebten, aber alle noch eine starke Bindung an ihren Heimatort hatten, und es kam gar nicht so selten vor, dass sie sich am Wochenende dort verabredeten.

»Ja, gut, dann kann ich ja eigentlich mit dem Fahrrad fahren«, meinte Michaela. »So lange will ich sowieso nicht bleiben. Aber dich sehe ich ja dann wahrscheinlich nicht mehr. Viel Spaß heute Abend und pass gut auf dich auf.«

Das war ihr Standardsatz, und er funktionierte immer. Laura verdrehte leicht genervt die Augen und erwiderte: »Wann hätte ich schon jemals nicht auf mich aufgepasst? Tschüss, Mama!« Sie schickte ihr einen Luftkuss.

Als Michaela zur Garage ging, um ihr Fahrrad zu holen, läutete es an der Haustür. »Ich mach schon auf«, rief sie Laura zu und lief zur Tür. Draußen standen zwei uniformierte Polizeibeamte, ein älterer, etwas rundlicher Mann, der ab und zu schon mal Blumen für seine Frau bei ihr im Laden gekauft hatte, und eine junge Beamtin mit halblangen, dunklen Haaren, die ein Madonnengesicht umrahmten.

»Guten Abend, Frau Bartels«, sagte der Polizist. »Dürfen wir hereinkommen?«

»Guten Abend.« Fragend schaute Michaela die beiden an. »Ja, natürlich. Was gibt es denn? Ist irgendwas passiert?«

»Ja, leider, Frau Bartels«, erwiderte die junge Polizistin. Sie hielt Michaela ihren Ausweis hin. »Ich bin Sandra Köhler, und das ist mein Kollege, Hauptwachmeister Decker. Wir ...« Sie schluckte und blickte den älteren Mann hilfesuchend an.

»Ja.« Der Mann räusperte sich. »Die Sache ist die, Frau Bartels – Ihr Mann, er ist verunglückt.«

Michaela blickte ihn verständnislos an. »Mein Mann ist verunglückt?«, wiederholte sie. »Wie? Warum? Ich verstehe nicht. Er ... er ist gar nicht zu Hause«, setzte sie hinzu, als ob sie ihm damit die Absurdität seiner Äußerung vor Augen führen könnte.

»Ja, das wissen wir.« Der Polizist räusperte sich erneut. »Ihr Mann und seine Begleiterin hatten einen Unfall. Ihr Mann ist dabei ums Leben gekommen.« Unbeholfen streckte er ihr die Hand hin. »Herzliches Beileid, Frau Bartels. Es tut mir sehr leid.«

Michaela hatte das Gefühl, als käme eine Nebelwand auf sie zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die beiden Polizeibeamten an. Mechanisch ergriff sie die Hand des Mannes. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie konnte kaum ihre eigene Stimme hören, als sie sagte: »Ich ... ich verstehe nicht. Er ist mit seinen Freunden vom Motorradverein unterwegs. Was für eine Begleiterin?«

»Mama, war das für mich?« Laura, die sich ein T-Shirt übergezogen hatte, kam in die Diele. Besorgt trat sie an die Seite ihrer Mutter, als sie die beiden Polizeibeamten sah. »Ist was passiert?«

Michaela drehte sich zu ihr um. »Papa ...«, sagte sie. Dann griff sie hilfesuchend nach Lauras Schulter. »Ich muss mich hinsetzen. Mir ist schwindlig«, stammelte sie.

Drei

Laura wischte sich die Tränen vom Gesicht und putzte sich die Nase. Im Haus war es still. Der alte Dr. Peters war gekommen und hatte ihrer Mutter eine Beruhigungsspritze gegeben, und jetzt schlief sie. Willi war nicht zu bewegen gewesen, nach Hause zu gehen, und sie hatte ihm schließlich das Bett im Gästezimmer gerichtet, damit er bei ihnen übernachten konnte. Der arme Willi! Er war völlig fertig gewesen. Auch er war wohl mittlerweile eingeschlafen, es war ja auch schon weit nach Mitternacht.

Die letzten Stunden waren wie ein böser Traum an Laura vorbeigezogen. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihr Papa, ihr geliebter Papa, sollte tot sein? Und er hatte Mama angelogen und war gar nicht mit seinen Freunden unterwegs gewesen, sondern mit einer anderen Frau? Wieder stiegen Laura die Tränen in die Augen, aber sie kämpfte energisch dagegen an. Sie musste jetzt erst mal Michael informieren. Mit Johanna hatte sie schon gesprochen, und Momo hatte sie auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, er möge bitte so schnell wie möglich zurückrufen.