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Über dieses Buch:

Die elfjährige Nina weiß noch nicht, was sie auf ihrer neuen Schule, dem Internat Sternenfels, alles erwarten wird – aber dann gefällt es ihr auf Anhieb richtig gut! In ihrer Wohngemeinschaft, der „Wunderbar“, findet sie gleich tolle Freunde, und auch der Lehrer Andreas ist richtig nett! Außerdem gibt es da noch Cheerio, der ebenfalls neu ist im Internat Sternenfels. Als die Wunderbar-Clique herausfindet, dass er ein Geheimnis hat, das ihm ganz schön zu schaffen macht, setzen Nina und ihre Freunde alles daran, Cheerio zu helfen!


Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

Bei dotbooks erschienen Sissi Flegels Romane „Weiber, Wein und Wibele“ und „Das Flüstern der Vergangenheit“, ihr Kinderbuch „Gruselnacht im Klassenzimmer“ sowie die die Trilogie um das „Internat Sternenfels“.

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Neuausgabe Mai 2014

Copyright © der Originalausgabe 1999 Thienemann Verlag, Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

ISBN 978-3-95520-597-3

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Sissi Flegel

Internat Sternenfels

Band 1: Wilde Hummeln

dotbooks.

1

»Die Ferien waren grässlich!«, rief Naomi und fiel Aldo um den Hals. »Wir haben tausend Verwandte, die kamen alle zu Besuch. Und wenn die nicht zu uns kamen, mussten wir sie besuchen! Bin ich froh, dass ich wieder hier bin!«

»Lieber tausend Verwandte als tausend Kirchen.« Aldo verzog das Gesicht. »Unsere Eltern haben das ganze Bildungsprogramm mit uns abgespult. Wir machten eine Fahrt durch Frankreich, was ja nicht schlecht gewesen wäre, aber du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie viele Kirchen und Schlösser und Burgen und Museen es in diesem schrecklichen Land gibt. Und alle mussten wir uns ansehen!«

Naomi lachte. »Wer ist denn das hier?«, fragte sie und deutete auf das Mädchen, das ein wenig verloren neben Aldo stand.

»Das ...«, begann Aldo.

»Ich bin Nina«, unterbrach ihn diese. »Aldos Schwester. Und wer bist du?«

»Das ist Naomi«, erklärte Aldo. »Du wirst sie kennen lernen, wir sind in derselben Wohngemeinschaft.«

»Freut mich!«, sagte Nina und streckte Naomi die Hand hin.

Naomi grinste und begutachtete die Neue. Sie war wohl so alt wie sie selbst, nämlich elf, aber sie war ziemlich klein, dünn, fast dürr, hatte helle krause Haare, die sie in zwei mageren Zöpfen mühsam bändigte. Aber das Auffälligste war ihr Gesicht: Das war lebendig, die Augen strahlten. »Wisst ihr, ob ich zu euch ziehen darf?«, fragte die Neue.

»Augenblick mal«, sagte Aldo und verschwand.

Nina schaute sich neugierig um.

Es war der Tag der großen Anreise.

Noch immer rollten Wagen in den riesigen Innenhof von Burg Sternenfels, inzwischen wurde der Parkplatz so knapp, dass Herzogs, das Gärtnerehepaar, um die Blumenrabatten fürchten mussten. Autotüren gingen auf, Kinder stiegen aus und nahmen von diesem Augenblick an von den Menschen, die auch noch aus den Autos kamen, keine Notiz mehr.

Sie rannten um Kofferberge, stolperten über Taschen und Tennisschläger, fielen anderen Kindern hemmungslos um den Hals und schrien sich ihre Begrüßungsfreude ins Gesicht.

Die älteren Schüler, die Elfer, Zwölfer und Dreizehner, allerdings jubelten dezenter; die begrüßten sich mit »Hi!«, Handschlag und gebremstem Grinsen. Dass sie sich freuten, sah man aber trotzdem.

Eine Mutter jammerte: »Ich will mich doch noch von dir verabschieden, Liebes. Aber hier gibt's ja kein ruhiges Plätzchen für uns!«

Das hatten Nina und Naomi gehört. Sie sahen sich an und lachten.

»Eltern ...!«, sagte Nina, und Naomi grinste zustimmend. »Mütter vor allem!«

»Nina kommt zu uns«, rief ihnen Aldo von weitem zu. »Ich habe Andreas endlich gefunden. Wir treffen uns in der ›Wunderbar‹.«

»Wo?«, fragte Nina.

»Die Wunderbar ist keine Bar, sondern unser gemeinsames Wohnzimmer samt Kochnische«, erklärte Naomi. »Komm mit.«

Nina nickte. Sie schaute noch einmal auf die Autos, die Leute und das Gepäck und stellte fest, dass das Durcheinander bereits abnahm.

Nina blickte sich in der Wunderbar um. An einer Seite standen ein blaues, ziemlich durchgesessenes Sofa und ein niedriges Regal mit ein paar zerfledderten Comics und einer vertrockneten Topfpflanze. Zu dieser Sitzgruppe gehörte ein Sessel mit abgewetztem Blumenmusterbezug und ein ovales Tischchen, das schief stand, weil ein Bein eingeknickt war.

Nina rümpfte die Nase. Sehr gemütlich fand sie das nun wirklich nicht. Der große runde Tisch mit der robusten Holzplatte und den sechs, sieben Stühlen mit ihren knallroten Kissen sah viel einladender aus.

»Wir sitzen immer hier am Tisch«, erklärte Naomi. »Für alle ist das Sofa sowieso zu klein. Dann gibt es keinen Streit, wer sonst auf dem Sessel oder auf dem Fußboden Platz nehmen muss.«

»Aldo hat gesagt, du hättest den Namen ›Wunderbar‹ erfunden«, meinte Nina und zog einen Stuhl heran.

Naomi grinste. »Ich bin Irin, das heißt, ich bin in Dublin geboren. Aber seit zehn Jahren wohnen wir in Deutschland. Mein Vater ist nämlich Journalist. Wir verbringen alle unsere Ferien auf der Insel. Als ich vor einem Jahr hierher kam, fiel mir als Nichtdeutsche auf, dass Andreas, unser Lehrer, immer ›wunderbar‹ sagt, wenn er etwas super oder gut oder in Ordnung findet. Da machte ich ihm nach, sagte auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit ›wunderbar‹. Bis wir feststellten, dass ›Wunderbar‹ zu uns und unserem Gemeinschaftsraum passte. Ständig sitzen auch irgendwelche anderen Leute bei uns in der Küche herum. Ich möchte nur wissen, wo Andreas ist. Er müsste längst da sein, er soll sich doch um uns kümmern!«

»Hallo, ihr Lieben! Alles klar so weit?«

»Wo warst du denn?«, fragte Naomi vorwurfsvoll. »Du bist unsere Mutter und unser Vater und unser Lehrer und überhaupt unser Ein und Alles, und du musst da sein, wenn wir kommen. Vor allem nach den Ferien, und besonders, wenn eine Neue zu uns zieht. Wir fühlen uns vernachlässigt!«

»Ihr armen Nestflüchter«, spottete Andreas. Er zog Nina zu sich. »Du bist also Aldos kleine Schwester. Herzlich willkommen. Ich habe gehört, du bist ein besonders munterer Sonnenschein.«

Nina lachte. »Na klar.«

»Ich habe auch gehört, dass deine alte Schule ...« Er zögerte.

»Die ist froh, dass ich weg bin«, erklärte Nina stolz. »Mal sehen, ob wir froh sind dich hier zu haben«, sagte Andreas.

Nina legte den Kopf schief. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kommt ganz drauf an.«

»Worauf?«

»Na, ob's mir hier gefällt oder nicht.«

»Benimm dich bloß«, fuhr Aldo sie an. »Hier ist's besser als zu Hause. Außerdem wolltest du ja unbedingt kommen, vergiss das nicht.«

Nina hob die Schultern.

Andreas beobachtete sie aufmerksam, dann meinte er: »Nach dem Abendessen macht ihr Ordnung in euren Zimmern. Wenn ich mit allem zufrieden bin, treffen wir uns in unserer Küche. Sagen wir – so gegen neun Uhr?«

Die drei nickten.

»Wo ist Sakiko?«, fragte Andreas.

»Hier bin ich! Meine Mutter kann einfach nie pünktlich sein! Entschuldige, Andreas, ich bin nicht schuld, dass ich zu spät komme.« Außer Atem ließ sich das Mädchen auf einen Stuhl fallen.

»Schon gut«, sagte Andreas. »Beruhige dich erst mal. Schau, das ist Aldos kleine Schwester Nina. Sie ist so alt wie Naomi und wird bei ihr im Zimmer wohnen.«

Sakiko nickte. »Herzlich willkommen«, sagte sie. »Es gefällt dir bestimmt bei uns.«

Nina lachte. »Na, hoffentlich! Du schaust anders aus. Kommst du aus Japan?«

Sakiko stutzte. »Bist du immer so direkt?«

»Ja«, antwortete Nina. »Bist du nun aus Japan oder nicht?«

»Meine Mutter ist Japanerin, mein Vater Deutscher«, antwortete Sakiko und schloss so entschieden den Mund, dass Nina nicht mehr weiterfragte.

»Wann kommt unser fünfter Mann?«, wollte Naomi wissen.

Andreas hob die Schultern. »Später. Die Einzelheiten erfahrt ihr heute Abend. Aber nun kommt, es gibt Essen.«

Sie polterten die Treppe hinunter, liefen über den Hof und fünf Stufen hinauf und hatten den Pavillon erreicht, in dem sich die Küche und die beiden Speiseräume befanden.

Leise ging es da nie zu.

Aber heute, am Abend der großen Anreise, herrschte Chaos. Die Neuen wussten nicht, wohin sie sich setzen konnten. Sie schauten sehnsüchtig auf die Körbe mit dicken Brotscheiben, die Teller mit sahnig weißer Butter, die Platten mit appetitlich ausgelegten Wurst- und Käsescheiben. Sie standen rum, ließen die Arme hängen und die Augen wandern und schluckten verzweifelt.

Die Großen aber ließen sich an den Tischen nieder, schoben sich Körbe, Schalen und Platten zu, luden ihre Teller bis zum Rand voll, drehten sich dann um und fragten höflich: »Sagt mal, habt ihr keinen Hunger?«

Nina schaute verständnislos auf ihren Bruder. »Sind die immer so fies?«

Aldo fasste sie am Arm und zog sie neben sich auf einen freien Stuhl.

»Nur am ersten Abend ist das so. Das gehört zur Tradition, mach dir nichts draus.«

»Warum? Das versteh ich nicht.«

»Kein Mensch versteht das, aber es gehört eben schon immer dazu. Man will den Neuen zeigen, dass sie sich einfügen müssen und sich nicht allzu wichtig nehmen dürfen. Die Großen sagen damit nur, wo's langgeht.«

Er schob ihr Brot und Butter hin.

»Hier, halt dich ran, du stehst sonst wirklich hungrig vom Tisch auf. Möchtest du Apfelsaft? Moment mal, der Krug ist leer, ich fülle ihn in der Küche auf.«

Einen Augenblick lang sah Nina ihrem großen Bruder nach, dann befolgte sie seinen Rat: Sie hielt sich ran.

Sie stopfte sich die Wurst ohne Brot in den Mund, kaute, schob ein Stück Käse nach, eine weitere Wurstscheibe und verschluckte sich heftig, als sie unsanft hochgezogen wurde.

»Hast wohl die Manieren zu Hause gelassen?«, fragte ein Großer und starrte sie grimmig an.

Eine Hand packte sie am Kinn und drehte ihren Kopf langsam nach rechts und links.

»Was siehst du da?«, fragte ein zweiter Großer.

Hilflos hob Nina die Schultern. Sie konnte ja nichts sagen, die Hand, die ihr Kinn umklammert hielt, hinderte sie am Sprechen.

»Du siehst also nichts. Dann sag ich dir, was du sehen solltest: Da sitzen jede Menge Leute, klar?«

Nina nickte.

»Du siehst die Leute«, fuhr der Große fort. »Das ist schon mal gut. O.k., du siehst auch, dass alle diese Leute Hunger haben, klar?«

Wieder nickte Nina.

Inzwischen war da so was Feuchtes, Wässriges in ihren Augen, Tränen mussten das sein. Mist noch mal! Sie blinkerte und trat nach dem Schienbein des Jungen, der sie so in der Zange hatte.

»Kick nicht«, sagte der. »Die Tricks kennen wir, klar? Jedenfalls – alle Leute wollen satt werden. Aber niemand möchte nur leeres Brot essen, jeder will Wurst und Käse, kapierst du das?«

Nina nickte.

»Warum packst du dir dann den Belag ohne Brot in den Mund, he? Wir sind eine Gemeinschaft. Niemand denkt nur an sich. Jeder denkt auch an die anderen.«

Der Junge ließ Nina los und sagte zu Aldo, der den Krug auf den Tisch stellte: »Ich musste deiner kleinen Schwester mal kurz das zwölfte Gebot beibringen.«

»Willi! Hoffentlich hast du sie nicht zu grob angefasst!« Aldo legte Nina den Arm um die Schultern.

»Keine Sorge«, antwortete der Große. »Ich bin ganz zart mit ihr umgegangen.«

Zart!, dachte Nina wütend. Wenn das zart war – was ist dann grob? Sie schluckte den Rest der Wurst hinunter und schielte nach dem Brot.

Willi hielt ihr den Korb unter die Nase. »Greif nur zu«, forderte er sie väterlich auf.

Nina nahm eine Scheibe heraus. Es war die letzte. Junge, da hab ich noch mal Glück gehabt!, dachte sie und legte die Scheibe auf ihren Teller. Dann klatschte sie ein Stückchen Butter darauf.

Noch immer hielt ihr Willi den Brotkorb unter die Nase.

Fragend schaute Nina hoch.

»Dreizehntes Gebot«, sagte Willi fröhlich. »Wer das letzte Stück oder die letzte Portion nimmt, holt Nachschub.«

»Komm, wir gehen gemeinsam«, schlug Aldo vor und griff nach dem Brotkorb.

»Sag mal«, meinte Nina. »Wenn man da alleine herkommt, so wie du vor ein paar Jahren, dann ist das ja verdammt schwer, oder?«

Aldo nickte. »Anfangs machst du alles falsch.«

»Mann, du tust mir jetzt noch Leid«, sagte Nina und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Ich mir aber auch ...«

Als der Korb randvoll gefüllt war und sie schon wieder auf dem Weg zum Tisch waren, blieb Nina plötzlich stehen.

»Welches Gebot haben die mir beigebracht? Das dreizehnte? Das ist das Nachschubgebot. Dann gab's noch das zwölfte. Das versteh ich alles nicht. Warum fangen die bei zwölf an?«

»Die ersten zehn kennst du doch«, sagte Aldo. »Nun komm schon, die anderen warten.«

»Moment mal!« Nina blieb stehen. »Klar kenne ich die Zehn Gebote, ich musste die sogar auswendig lernen. Aber das elfte fehlt. Wie heißt denn das?«

Aldo zerrte sie mit. »Das lernst du noch kennen, das ist das Wichtigste von allen, das kann ich dir sagen!«

2

Am Ende der Mahlzeit wirbelten in Ninas Kopf die vielen Eindrücke durcheinander: die Entschiedenheit, mit der man um seinen Teil des Essens kämpfen musste ... Die unnachahmlich selbstbewusste Art, mit der die Großen die Kleineren behandelten ... Die vergnügte Wendigkeit, mit der sich die Jüngeren den Älteren entzogen ... Die abenteuerlichen Haarschnitte und die Strähnchen in allen nur denkbaren Papageienfarben ...

Doch zwischen diesen bunten Vögeln hatte sie ein Mädchen bemerkt, das selbst hier völlig aus dem Rahmen fiel.

»Sag mal ...« Sie drehte sich um, doch Aldo war verschwunden. Also wieselte sie zwischen den anderen hindurch, bis sie neben dem auffällig gekleideten Mädchen stand und es genau betrachten konnte.

Der Gesamteindruck war Schwarz.

Schwarz die Haare, die wie Spikes vom Kopf abstanden; schwarz umrandet die Augen; schwarz das sackähnliche Gewand, das auf dem Boden schleifte; und schwarz die komischen Handschuhe, die zwar die Finger mit den rabenschwarz lackierten Nägeln ausließen, dafür aber bis zum Ellbogen hinaufreichten.

Im Kontrast dazu schien das Gesicht weiß, die Lippen jedoch waren blutrot geschminkt.

Nina schüttelte den Kopf. Die war cool!

»Wahnsinn«, sagte jemand neben ihr. »Total abgehoben!« Zwei Mädchen drängelten sich an ihr vorbei.

Plötzlich fühlte sich Nina einsam. Sie hätte gerne jemandem ihre Eindrücke mitgeteilt. Aber da war niemand, der auf sie wartete, niemand, der mit ihr redete, niemand, der ihr sagte, was sie jetzt zu tun hatte.

Was tat man nach dem Abendessen? Unschlüssig blieb sie stehen. Einer trat ihr ans Schienbein, ein anderer rempelte sie an, ein Dritter sagte: »Du stehst im Weg, Kleine.«

Dabei müsste doch ihr Bruder sich um sie kümmern. Oder die anderen Leute aus ihrer Wohn- und Schlafgemeinschaft. Oder Andreas!

Nina schluckte schwer.

Sie wünschte sich, zu Hause vor dem Fernseher auf dem Boden zu liegen und zu hören, wie ihre Mutter in der Küche herumhantierte. Dabei hatte es sie immer furchtbar gestört, wenn ihre Mutter mit dem Geschirr klapperte und sie deshalb den Ton ganz laut stellen musste, bis ihre Mutter jedes Mal protestierte ...

Nina lächelte. jetzt musste ihre Mutter nicht mehr über den Lärm aus dem Fernseher schimpfen ... Ob sie ihre Tochter vielleicht auch ein wenig vermisste?

Sie lief in Gedanken versunken aus dem Speisesaal, die kleine Treppe hinunter, den Weg entlang, zum Hoftor hinaus und in den Wald.

Auf einmal hörte sie leise Stimmen und Gekicher, Zweige knackten, Blätter raschelten.

Sie verbarg sich hinter einem Busch, drückte behutsam das Geäst auseinander und lugte hindurch.

Zwei Jungen, beide etwas älter als sie, zerrten an einem Strick, der von einem Baum hing. Eine Tasche schwebte nach unten. Die beiden öffneten diese, holten eine Flasche heraus, schraubten den Verschluss ab, setzten sich ins Gras und nahmen nacheinander einen großen Schluck. Dann zündeten sie eine Zigarette an und ließen die hin und her gehen.

In dem Moment trat Nina auf einen Zweig.

Einer der beiden sprang auf. Noch bevor sie sich in Sicherheit bringen konnte, hatte der Junge sie gepackt. Er schüttelte sie grob.

»Was machst du denn hier? Bist wohl ein kleiner fieser Spion?«, fragte der eine.

»Die kenne ich nicht. Das ist eine Neue auf der Pirsch«, stellte der andere angewidert fest. »Die schnüffelt uns nach und will uns verpetzen. Nee, Kleine, so geht das nicht.«

Der andere drehte ihr den Arm auf den Rücken.

»Au!«, schrie Nina. »Ich hab euch nicht nachspioniert, ich bin ganz zufällig vorbeigekommen, ehrlich!«

Die beiden lachten nur.

Nina duckte sich und versuchte sich loszureißen.

»Nichts da«, sagte der eine und drehte ihren Arm noch ein wenig nach oben. »Versprich, dass du uns nicht verrätst.«

Nina nickte und biss die Zähne zusammen.

»Wenn du uns verpfeifst, geht's dir mächtig schlecht«, sagte der andere. »Kapiert?« Er schubste sie von sich.

Nina rannte, so schnell sie konnte. Sie erreichte das Haus, stolperte die Treppe hinauf, wollte sich nur noch aufs Bett werfen.

Aber sie lief Aldo und Andreas direkt in die Arme. Die beiden zogen sie zu den anderen in die Wunderbar, drückten sie auf einen Stuhl und lächelten mitleidig.

»Ich sehe, jemand hat dir bereits das elfte Gebot beigebracht«, stellte Andreas fest. »Man darf sich nie erwischen lassen, weder von Lehrern noch von Mitschülern!«

Naomi reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Hast du nicht gesagt, du bist in deiner alten Schule so ein richtig fieser Störfaktor gewesen? Bist du in den Ferien etwa brav geworden?«

Nina schüttelte den Kopf. »Aber die waren so gemein«, stieß sie hervor. »Ich hatte überhaupt keine Chance ...«

»Jetzt tut sie sich auch noch Leid«, stellte Naomi verächtlich fest.

»Nee, so geht das nicht. Ein Kämpfer musst du sein, nicht ein Opfer. Aber ich denke, du lernst das noch.«

Andreas lachte. »Ich erinnere mich daran, wie oft du in der ersten Woche hier gesessen hast, Naomi, und Rotz und Wasser geheult hast. Ich muss sagen, du hast eine Menge gelernt!«

Naomi nickte. »Lass dich nicht unterkriegen. Wenn du das elfte Gebot beachtest und dich nie erwischen lässt, überlebst du hier. Wenn nicht, geh lieber heute als morgen.«

»Davon hast du mir nichts gesagt«, meinte Nina und sah ihren großen Bruder kummervoll an. »Warum hast du mich nicht gewarnt?«

»Das hätte doch nichts genützt«, antwortete Aldo. »Aus der Ferne versteht man das nicht.«

Andreas sprang auf.

»Ihr Lieben, morgen beginnt wieder der Ernst des Lebens. Beseitigt also heute noch das Chaos in euren Zimmern. In einer Stunde will ich die perfekte Ordnung vorfinden.«

Naomi verzog das Gesicht und sagte zu Nina: »Ich hab schon Platz gemacht im Zimmer, der linke Schrank, die rote Kommode und das Regal daneben gehören dir.« Sie wandte sich an Andreas. »Wo ist eigentlich Sakiko?«

Er ging über den Flur, riss eine Tür auf. Der Raum war in tadelloser Ordnung. Das Bett gemacht, kein einziges Kleidungsstück lag herum, die Schuhe standen ordentlich aufgereiht an einer Wand, die Bücher im Regal.

»Die muss es mir doch sagen, wenn sie weggeht«, knurrte Andreas. »Eine Stunde geb ich ihr. Aber dann! Jedenfalls mache ich jetzt Ordnung bei mir.«

»Der und Ordnung machen«, spottete Aldo. »Von uns allen ist Andreas der größte Chaot. Aber wenn er mal den Anfall bekommt und überall Sauberkeit sehen will, kannst du dich nur noch in Sicherheit bringen. Soll ich dir helfen, Nina? Du kannst schon mal das Bett beziehen.«

»Himmel! Wie macht man denn das?«

»Hallo!« Sakiko stand mit einem Mal in der Tür.

»Wo warst du?«, fragte Aldo. »Andreas hat dich vermisst.«

Sakiko lächelte. »Tatsächlich?«

Sie nickte Nina zu und verschwand.

»Seid ihr fertig?«, rief Andreas etwa eine Stunde später. »Kommt in die Küche!«

Sie zogen die Stühle an den Tisch und machten es sich bequem.

Andreas schenkte dampfenden Tee aus einer großen blau gepunkteten Kanne ein, reichte Kekse in die Runde und besah sich seine Mannschaft.

Jeder Lehrer – Lehrerinnen gab es nur sehr wenige – lebte mit fünf bis acht Schülerinnen und Schülern zusammen. Sie wohnten auf einem Stock und hatten gemeinsam eine kleine Kochnische und einen Aufenthaltsraum.

Gleich nebenan lag die Wohnung von Andreas, die aus einem Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, einem Bad und einer eigenen Küche bestand. Die benutzte er aber nur zum Tee- oder Kaffeekochen.

Andreas gab nicht nur Unterricht, er war auch zuständig für alle Arten von Schulproblemen, er tröstete bei Heimwehanfällen und Liebeskummer, er hatte dafür zu sorgen, dass das Zusammenleben in seiner Gruppe reibungslos funktionierte.

Aldo war der Älteste und ging in die zehnte Klasse. Nun war seine Schwester Nina neu hinzugekommen und bewohnte mit Naomi, der Irin, ein Zimmer. Das war vernünftig, da sie in dieselbe Klasse gehen würden. Sakiko war dreizehn und besuchte die siebte Klasse.

In wenigen Wochen würde Curt als Fünfter die Wohngemeinschaft komplett machen. Warum er es zu Schuljahresbeginn nicht schaffte, wusste der Himmel, es war jedenfalls mehr als ungewöhnlich.

3

Andreas hieß Nina nun erst richtig in der Wunderbar-Gemeinschaft willkommen. »Ich denke, dein großer Bruder wird dir das meiste zeigen.«

»Was ist, wenn er nicht da ist? Oder wenn ich mit ihm streite?«

»Dann kommst du zu mir.«

»Auch nachts?«

»Auch nachts. Aber lieber ist mir natürlich, wenn du tagsüber kommst.«

Nina nickte.

»Am besten lässt du dir von Naomi sagen, was hier im Internat erlaubt ist und was nicht. Zum Beispiel werden hier überhaupt keine Haustiere geduldet.« Andreas überlegte. »Ach ja, Naomi: Du hast doch hoffentlich kein Tier mitgebracht, so wie letztes Mal. Oder hast du ein Pfötchen gebendes, garantiert nicht spuckendes fünfhöckriges Kamel dabei? Ein ringelgeschwänztes lila Löwenkrokodil? Ich bin auf alles gefasst.«

»Das ist gut.« Naomi grinste. »Es ist nur eine süße, winzig kleine, ganz normale Schildkröte. Sie heißt Piccolo.«

»Was?«

»Picco schläft in einem Stiefelkarton und ernährt sich in der Hauptsache von Salatblättern. Oder Bananen. Oder Apfelstückchen. Alles kein Problem.«