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Aimee Laurent

Wilde Obsession

Erotischer Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Aimee Laurent

Aimee Laurent arbeitete viele Jahre in der Werbebranche, bevor sie sich in Hamburg als freie Autorin selbständig machte. Inzwischen liegt ihr Lebensmittelpunkt wieder in Berlin, wo sie sich vom Herzschlag der Hauptstadt zu ihren Geschichten inspirieren lässt. Neben »Wilde Obsession« ist von der Autorin außerdem der Kurzroman »Frühlingsstürme« erschienen.

Impressum

© 2011 neobooks.com

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG München.

Copyright © 2014 der eBook-Ausgabe by feelings – emotional eBooks
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Julia Feldbaum

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: © FinePic®, München

ISBN 978-3-426-43325-6

Kapitel 1

Der Wetterbericht hatte Sonne versprochen, aber momentan sah es nicht danach aus. Joana schlug den Kragen ihres Mantels hoch und zog die schwere eiserne Gartenpforte hinter sich zu. Es waren nur ein paar Schritte bis zu der steilen Treppe, die direkt hinunter zu den Landungsbrücken führte. Hier befand sich das kleine Café, in dem sie oft ihre Mittagspause verbrachte, wenn sie von der Agentur gebucht war. Auf der winzigen Terrasse, von der aus man einen wunderbaren freien Blick auf die Ladekräne und die großen Docks hatte, war trotz des bewölkten Himmels nur noch ein Tischchen frei. Joana schob den metallenen Klappstuhl in eine sichere Position und lächelte den Kellner an, der in der offenen Eingangstür lehnte und ihr freundlich zunickte. Sie hatten vor nicht allzu langer Zeit eine Nacht miteinander verbracht. Es war nicht bedeutsam gewesen, weder für sie noch für ihn, und sie hatten nicht einmal ihre Handynummern ausgetauscht. Ohne einen Blick in die Karte zu werfen, bestellte sie eine Orangina und einen großen Joghurt mit Honig und frischen Früchten. Sie hätte lieber etwas Herzhaftes gegessen, aber für den Nachmittag war eine Präsentation angesetzt, und da durfte sie weder müde sein noch nach Knoblauch riechen.

»Darf ich?«

Joana blickte erstaunt hoch. Sie war es nicht gewöhnt, dass man sie ansprach. Sie wusste, dass sie immer etwas kühl und abweisend wirkte, und sie wusste auch, dass sie diesen Schutzmantel brauchte seit der Beziehung zu Tim. Doch Tim war Vergangenheit, endgültig. Joana konzentrierte sich. Vor ihr stand ein Mann, etwa in ihrem Alter, vielleicht etwas älter. Er zeigte auf den Klappstuhl neben ihr, den einzigen, der noch frei war. Joana machte eine einladende Geste und nahm ihre Tasche vom Sitz.

»Danke.«

Wieder trafen sich ihre Blicke. Er setzte sich und begann, die Karte zu studieren. Nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, ließ er sich entspannt zurücksinken und betrachtete Joana ohne jede Scheu. Als sie seine Blicke spürte, fühlte sie Verlegenheit in sich aufsteigen. Sie mochte es nicht, wenn sie im Mittelpunkt stand, weder privat noch beruflich. Sie setzte das fast leere Glas hart auf dem Tisch ab und sah ihn an.

»Haben Sie noch nie eine Frau essen sehen?«

Es sollte kokett klingen, aber Joana wusste, es war schroff. Sie war sich ihrer Unsicherheit bewusst, aber sie konnte nichts dagegen tun. Der Mann neben ihr betrachtete sie weiter; es war ihm nicht anzumerken, ob ihm gefiel, was er sah, oder was ihm sonst so durch den Kopf ging. Joana konnte seinem Blick nicht lange standhalten. Sie schaute weg und versuchte, sich auf den Tanker zu konzentrieren, der viele Meter unter ihr in geradezu majestätischer Ruhe in das Hafenbecken einlief. Der Fremde bedankte sich bei dem Kellner für den doppelten Espresso und sah sie weiter an. Joana wurde unruhig. Sie griff in ihre Tasche und kramte nach ihrem Portemonnaie.

»Habe ich Sie verärgert?«

Die Stimme klang freundlich, und der leicht britische Akzent, den sie nun wahrnahm, verlieh ihr etwas Besonderes.

»Ich mag es nicht, wenn ich angestarrt werde«, sagte Joana knapp und winkte dem Kellner.

»Also habe ich Sie verärgert. Das wollte ich nicht. Verzeihen Sie bitte … Erlauben Sie?«

Bevor Joana etwas erwidern konnte, hatte der Mann dem Kellner bereits einen Schein in die Hand gedrückt.

»Danke.«

Joana versuchte, entspannt zu klingen, aber sie fühlte sich irgendwie nicht wohl. Die intensive Art des Fremden hatte sie verstört. Sie nahm ihre Tasche und verließ das Café, ohne den Gruß des Mannes oder seinen Blick zu erwidern. Weiter unten bei Brücke 10 gab es eine Wurstbude, die bei ihren Kollegen sehr beliebt war. Vielleicht traf sie dort jemanden aus der Agentur. Sie wollte jetzt nicht allein sein.

Joana hatte die Begegnung mit dem Fremden bald vergessen. Die Arbeit in der Agentur war anspruchsvoll; sie war froh, in den Mittagspausen ein wenig an den Landungsbrücken entlangschlendern zu können und einfach mal an nichts denken zu müssen. Sie holte sich ein Eis und setzte sich auf die leere Bank, die vor dem Eiscafé stand.

»Darf ich mich zu Ihnen gesellen, oder muss ich zehn Meter Abstand halten?«

Joana ließ ihre Eiswaffel sinken und blinzelte ins Gegenlicht. Der Wetterbericht hatte endlich Wort gehalten, wenn auch mit ein paar Tagen Verspätung. Langsam wurde es Sommer. Es war wieder dieser Fremde. Er stand direkt vor ihr. Joana rutschte etwas zur Seite, was der Mann offensichtlich als Einladung verstand. Auch er hatte eine große Eistüte in der Hand.

»Sind Sie ein Beißer oder ein Lutscher?«, fragte er unvermittelt. Joana überlegte und grinste.

»Beißer, würde ich sagen.«

»Ich auch.«

Der Mann biss ein großes Stück von der oberen Eiskugel ab und lächelte sie offen an. Joana betrachtete ihn. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit einer schmalen Nase und hohen Wangenknochen. Er war dünn, nicht sonderlich muskulös und er trug seine braunen Haare streng nach hinten gekämmt. Überhaupt ging eine gewisse Strenge von ihm aus, aber sie konnte nicht ausmachen, was genau es war. Sein Blick hatte etwas Ernstes und Eindringliches, auch wenn er lächelte. Er zeigte mit der Eiswaffel auf ihre lang ausgestreckten Beine. Sie hatte sich am Morgen dazu durchgerungen, endlich mal wieder einen Rock anzuziehen und Luft an die Beine zu lassen, wie ihre Mutter immer sagte.

»Sie haben sehr schöne Beine, wenn ich mir das Kompliment erlauben darf, aber Sie sitzen hier so – wie soll ich sagen – so unweiblich.«

»Unweiblich?«

Joana schüttelte den Kopf. Dieser Typ war wirklich anmaßend. Sie griff nach ihrer Jacke.

»Bin ich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?«

Seine Stimme klang vorsichtig und leise. Joana stand auf und schaute auf ihn herab. Er biss an seinem Eis herum und sah sie mit großen Augen an. Fast musste Joana lachen. Irgendwie war das ein verrückter Typ. Aber dann gewann die verletzte Seite in ihr wieder die Oberhand. Sie wollte niemanden kennenlernen.

»Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten, und ich würde mich freuen, wenn Sie mich künftig in Ruhe lassen.«

»Schade.«

Die Eiswaffel des Mannes krachte in seinem Mund. Er grinste und kaute gleichzeitig, was ihn wie einen Clown aussehen ließ.

»Was muss ich tun, damit Sie sich wieder setzen?«

Er schaute Joana an, als hinge sein Leben von dieser Antwort ab. Sie seufzte und legte ihre Tasche wieder auf die Bank. Dann setzte sie sich und wandte ihm den Oberkörper zu. Jetzt hellte sich seine Miene auf.

»Sehen Sie, das meine ich«, sagte er mit weichem Timbre und zeigte auf ihre verschränkten Unterschenkel.

»So sehen Sie wirklich bezaubernd aus. Anmutig und – weiblich.«

Er warf den Rest seiner Waffel hinter sich auf das schmale Rasenstück und lehnte sich zurück, ohne den Blick von ihr zu lassen. Joana wusste nicht, was sie sagen sollte. Dieser Mann war wirklich ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich sogar. Jetzt beugte er sich zu ihr. Sie spürte seinen Atem an ihrer Wange und nahm den Duft eines holzigen Parfums wahr, der von seiner Haut zu ihr herüberwehte.

»Ich würde Sie sehr gern zum Essen einladen.«

Joana sagte nichts. Warum fiel Männern nie etwas anderes ein als essen gehen? Warum sagten sie nicht einfach: Du gefällst mir. Ich will Sex mit dir, und zwar möglichst bald. Der Fremde blickte auf seine Uhr und sprang mit einer federnden Bewegung von der Bank hoch. Er richtete seine Manschetten und strich sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Dann griff er in die Tasche seines Jacketts und zog eine Visitenkarte hervor.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie mögen.«

Joana nickte. Sie sah ihm nach, wie er schnell im Strom der flanierenden Touristen verschwand. Sie würde ihn nicht anrufen, sie hatte von Männern die Nase voll. Die Karte warf sie weg, ohne ein einziges Mal draufgeguckt zu haben. Sie ahnte nicht, dass sie den Fremden bereits am nächsten Tag wiedersehen würde.

»Sie haben mich nicht angerufen. Böses Mädchen.«

In der Stimme des Mannes lag ein gespielter Vorwurf. Joana nahm ihre Sonnenbrille ab und blieb stehen.

»Wie man sieht, hat das nichts genützt. Sie laufen mir schon wieder über den Weg.«

Der Mann lachte laut auf und zog sie zur Seite. Sein charmantes Lächeln war entwaffnend.

»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg zum Propheten, oder?«

»Und ich dachte schon, Sie hätten mir heimlich einen Chip eingesetzt. Mit Ortungssystem.«

Der Mann schüttelte den Kopf. Sein Blick war tief.

»So etwas würde ich nie tun, aber … wenn Sie noch einmal meine Visitenkarte wegwerfen, dann …«

Sein Gesicht war auf einmal ganz ernst. Joana schluckte. Diese Bestimmtheit war ihr ein wenig unheimlich. Sie setzte ihre Brille wieder auf und wollte ihren Weg fortsetzen, doch der Mann stellte sich ihr in den Weg.

»Bitte.«

Seine Stimme klang auf einmal ganz traurig. Joana war zunehmend irritiert und genervt. Vielleicht wurde sie ihn wirklich am besten wieder los, indem sie sich mit ihm traf und dafür sorgte, dass dieser Abend zu einem der langweiligsten seines Lebens werden würde. Der Mann seufzte und vergrub die Hände tief in den Taschen seines Jacketts.

»Sind Sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Sie etwas verpassen könnten, wenn Sie mir einen Korb geben?«

Seine großen hellen Augen glitzerten, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen. Dann drückte er ihr eine neue Visitenkarte in die Hand.

»Rufen Sie mich an. Bald.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ließ sich von der Menge der Fußgänger auf dem breiten Boulevard verschlucken.

Joana stand vor ihrem Kleiderschrank und überlegte hin und her. Sollte sie nun das gemusterte Kleid nehmen oder das schwarze? Wie wollte sie auf ihn wirken? Nett? Reizvoll? Interessiert? Nein, nicht interessiert. Sie hatte sich nach dem letzten Desaster vorgenommen, überhaupt nie mehr an einem Mann interessiert zu sein, und mit dieser Einstellung ließ es sich ganz gut leben. Tim, der Mann, mit dem sie zusammenleben wollte, hatte sie betrogen. Ausgerechnet mit ihrer besten Freundin – eine Situation wie in einem schlechten Film. Joana atmete mit einem Schnaufen aus, als sie daran dachte. Sie hatte ihn hinausgeworfen und das Thema Männer bis auf Weiteres abgehakt. Und nun diese Verabredung …

Joana entschied sich für ein Kleid mit grafischem Muster, für offene Haare und mittelhohe Pumps. Victor – so stand es auf seiner Visitenkarte – sollte schnell merken, dass sie sich zwar dem Anlass entsprechend, aber nicht für ihn angezogen hatte. Sie hatte ihn angerufen, zwei Tage nach ihrer letzten Begegnung, und er hatte sich sehr gefreut. Komischerweise freute sie sich jetzt auch ein bisschen. Irgendwie war er so ganz anders als die Typen, denen sie sonst begegnet war. Während das Taxi durch die dämmerige Innenstadt fuhr, überlegte sie, wie lange es schon her war, dass sie eine richtige Verabredung gehabt hatte. Die Nacht mit dem Kellner aus ihrem Lieblingscafé zählte nicht. Ein Jahr? Eher länger. Er war ein netter Kerl gewesen, und die Beziehung hätte vielleicht auch eine Weile halten können, wenn er nicht auf die dumme Idee gekommen wäre, aus lauter Verliebtheit ein Jobangebot in Hamburg anzunehmen. Als er ihr davon erzählte, hatte sie die Liaison beendet. Das war ihre letzte Verabredung gewesen.

Als das Taxi vor dem Restaurant hielt, stand Victor bereits unten an der Treppe. Joana kannte diesen Laden nur aus einschlägigen Magazinen. Ein sogenannter Gourmettempel, sehr exklusiv und sehr teuer. Sie warf Victor einen kurzen Blick zu. Er schien keinen guten Tag gehabt zu haben, denn seine Miene war ernst; zwischen seinen schön geschwungenen Brauen zeigte sich eine steile Falte. Das Lächeln, das er bei ihrem Anblick aufsetzte, war gezwungen, das merkte Joana sofort. Er hauchte ihr zwei flüchtige Küsse auf die Wangen und begleitete sie wortlos die Treppe hinauf. Oben angekommen nahm sie der Restaurantchef in Empfang und begleitete sie zu ihrem Platz.

»Wie immer, der Herr.«

Victor schien hier ein bekannter Gast zu sein. Joana war beeindruckt. Nachdem der hinzugetretene Oberkellner wie ein Zeremonienmeister die üblichen Rituale eines Sternerestaurants zelebriert hatte, sah Victor sie prüfend an und sagte in sachlichem Ton: »Ich wusste gar nicht, dass Sie den Hang zur Matrone haben.«

Joana runzelte die Stirn und blickte ihn fragend an.

»Wenn Sie keine Lust haben, mit mir auszugehen, dann sagen Sie mir das. Aber beleidigen Sie mich nicht mit einer solchen Aufmachung. Mein Gott! Dagegen ist meine Großmutter ein Fashion Victim. Unbelievable!«

Die letzten Worte hatte er fast herausgeschrien. Joana schoss das Blut in den Kopf. Sie schnappte nach Luft. Gut, er hatte den kleinen Affront als solchen erkannt, aber sie in aller Öffentlichkeit dafür so zu maßregeln, das ging erheblich zu weit. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. Langsam stand sie auf und griff nach ihrer Handtasche. Die Gäste an den Nebentischen waren aufmerksam geworden; es war, als würde die Neugierde der anderen wie ein schlechter Geruch durch den Raum wabern.

»Wenn du jetzt gehst, kannst du etwas erleben«, sagte er ruhig und nahm einen Schluck von seinem Aperitif. Seine Augen, groß und rund, blickten durch sie hindurch. Joana spürte die Stille um sich herum wie eine Mauer, die sie zu erdrücken drohte. Genauso langsam, wie sie sich erhoben hatte, setzte sie sich wieder hin. Dieser Mann war irre. Bei der ersten Gelegenheit würde sie sich ein Taxi rufen.

»Böses Mädchen. Erst meine Visitenkarte zerreißen und sich dann als Vogelscheuche verkleiden.«

Er hob sein Glas und prostete ihr zu, auf einmal bestens gelaunt. Joana nippte nur an ihrem Champagner und sagte nichts. Victor fuhr fort: »Du hast eine ganz nette Figur, aber diese grafischen Muster sind nur etwas für ganz schlanke Frauen, Darling.«

Joana glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Sie wusste, dass sie eine gute Figur hatte. Sie war kein Hungerhaken, aber sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Sie drückte den Rücken durch und sagte möglichst ruhig: »Ich denke, das reicht. Ich werde mir jetzt ein Taxi bestellen, und dann möchte ich nie wieder etwas von Ihnen hören oder sehen.«

»Ach. Meinst du, du entscheidest hier?«

Er zog eine Augenbraue hoch und lächelte süffisant. Joana ballte ihre Hände zu Fäusten. Dieser Typ machte sie aggressiv. Wenn du noch lange so dämlich grinst, dachte sie wütend, kippe ich dir meinen Schampus in die Fresse.

»Ein kleiner Gruß aus der Küche, die Dame.«

Lautlos war der Kellner neben sie getreten und hatte einen kleinen Teller mit liebevoll dekorierten Kleinigkeiten vor sie hingestellt. Nachdem er auch Victor bedient und in epischer Breite über die Köstlichkeiten referiert hatte, faltete ihr Begleiter seine Serviette auseinander und nickte ihr freundlich zu. Joana nahm einen kleinen Bissen, dann noch einen. Es war wirklich ausgezeichnet. Sie versuchte, sich auf den Geschmack der Speisen zu konzentrieren, und schloss für einen Moment genießerisch die Augen.

»Wie ich sehe, schmeckt es dir.«

Joana ließ ihr Besteck sinken und blickte Victor an.

»Und?« Es klang provokant. Victor sagte darauf nichts, sondern kicherte wie ein Schuljunge. Er leerte sein Glas in einem langen Zug. Joana fielen die gepflegten Hände auf; an der linken Hand trug er einen Ring, wie er bei amerikanischen Studenten beliebt ist. Sein Kichern klang irgendwie unkontrolliert. Joana ärgerte sich schon wieder. Victor grinste sie leutselig an. Vielleicht verträgt er keinen Alkohol, überlegte sie. Der Kellner erschien ein weiteres Mal lautlos und räumte ab. Victor schien sich beruhigt zu haben. Er saß ganz ruhig da und fixierte Joana.

»Beim nächsten Mal erwarte ich ein stilvolles Outfit, damit das klar ist.«

Victors helle Augen sprühten angriffslustig. Joana seufzte und sah auf die Uhr. Sie hatte keine Lust, noch eine einzige Minute länger mit diesem Mann an einem Tisch zu sitzen.

»Es gibt kein nächstes Mal«, sagte sie mit gelangweiltem Unterton, »wenn ich arme Irre sehen will, besuche ich meine Familie.«

Victor ließ sein Besteck sinken und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Er atmete tief ein und schien einen Moment lang zu überlegen, was er nun tun wollte. Endlich streckte er seine Hand über den Tisch und legte sie auf Joanas.

»Ich kann ein ziemlicher Idiot sein«, sagte er leise. Es klang erschöpft.

»Verzeih mir. Bitte. Ich lasse dir einen Wagen holen.«

Joana schüttelte ablehnend den Kopf und stand auf; irgendwie tat ihr Victor auf einmal leid, aber sie hatte genug. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort dem Ausgang zu. Der Kellner kam ihr gerade mit zwei großen Tellern entgegen; sein Blick war ein einziges Fragezeichen. Als ihr die frische Abendluft entgegenwehte, atmete sie tief ein und stieg langsam die Außentreppe hinunter. Das Metall der Stufen klapperte unter ihren Absätzen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich mit diesem Victor zu treffen? Er hatte sie tatsächlich in einem gut besetzten Restaurant beleidigt. Joana öffnete ihre Handtasche und suchte nach Zigaretten. Noch immer aufgewühlt zündete sie sich eine der letzten aus dem Softpack an und inhalierte. Victors Worte ärgerten sie, auch wenn sie genau wusste, dass sie hübsch war. Idioten, alles Idioten, dachte sie wütend. Sie klemmte die Tasche unter den Arm und ging langsam die Straße hinunter direkt auf den Fischmarkt zu. Hier wimmelte es gewöhnlich nur so von Taxis. In wenigen Minuten würde sie zu Hause sein.

Sie sah den Mann schon von weitem. Er stand regungslos im Lichtkegel der Haustür und schien auf jemanden zu warten. Die Arme hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. Als sie auf ihn zukam, musterte er sie genau. Joana bemerkte es und fluchte leise. Noch so ein Idiot, dachte sie und schaute weg. Es reichte ihr für heute.

»Entschuldigung – sind Sie Joana?«

Der Mann hatte einen Schritt auf sie zugemacht.

»Und wenn es so wäre?«, fragte sie, ohne stehen zu bleiben.

»Ich habe etwas für eine Joana abzugeben«, sagte der Mann. Es klang freundlich. Joana sah ihn an, gespannt darauf, was nun kommen würde. Der Mann lächelte. Er zog einen üppigen Strauß cremefarbener Rosen hinter seinem Rücken hervor. Er überreichte ihr den Strauß mit einer tiefen Verbeugung. Dann holte er aus seiner Manteltasche einen Umschlag hervor.

»Für Sie. Einen guten Abend.«

Nach einer weiteren Verbeugung drehte er sich um und ging schnellen Schrittes davon. Joana betrachtete die Blumen und roch daran. Der Duft war ganz zart, wie bei vielen überzüchteten Sorten, doch ihre Köpfe, kurz vor dem perfekten Moment der Blüte, waren so groß wie Orangen. Sie steckte den Umschlag zwischen die Stiele und kramte nach ihrem Schlüssel. Sie ahnte, wer der Rosenkavalier war, aber sie fragte sich, wie Victor es so schnell hinbekommen hatte, das alles zu arrangieren. Ihm schien sein Benehmen leidzutun, wenigstens etwas.

Joana nahm sich ein Glas Weißwein aus dem Kühlschrank und stellte die Vase mit den Rosen direkt vor sich auf dem Esstisch ab. Dann öffnete sie den Umschlag.

Meine Liebe,

wenn Du diesen Brief liest, ist unser Abend Vergangenheit. Schwer zu sagen, wie er war. Haben wir uns gut verstanden? Hast Du mir gefallen? Hat es vielleicht hässliche Szenen gegeben und Du bist im Streit gegangen? Wahrscheinlich Letzteres, so wie ich Dich einschätze. Ich denke, die Verabredung war Dir lästig und Du hast Dich nicht besonders schön gemacht für mich. Das war ein Fehler, denn so etwas macht mich wütend. Ich werde Dich beleidigt haben und Du bist gegangen, und nun sitzt Du da, betrachtest diese wunderbaren Rosen, und Du bist immer noch böse auf mich – habe ich recht? Ich mache es wieder gut … melde Dich bei mir und bedanke Dich für die Rosen. Und dann sehen wir weiter. Ein Kuss für Dich …

Dein Victor

PS: Ich bin nicht nachtragend. Aller Anfang ist schwer.

Joana las den Brief wieder und wieder. Ein wenig hatte er ja recht. Sie holte sich ein weiteres Glas Wein und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Er hatte ihr von vornherein unterstellt, dass sie ohne große Begeisterung seiner Einladung folgen würde. Aber wie konnte er wissen, dass sie sich so lieblos anziehen würde? Und dass der Abend diesen chaotischen Verlauf nehmen würde? Wahrscheinlich laufen alle seine Dates so ab, versuchte sie sich die Geschehnisse des Abends zu erklären. Aber für die Rosen werde ich mich nicht bedanken. Und was sollte das überhaupt bedeuten: Aller Anfang ist schwer?

Kapitel 2

Joana zog ihre Laufschuhe aus und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen. Sie hatte für ihre Runde um die Außenalster etwas mehr als eine Stunde gebraucht, das war ganz passabel. Zufriedenheit und Müdigkeit breiteten sich in ihr aus, und sie stand auf, um sich ein Bad einlaufen zu lassen. Als es klingelte, war sie für einen Moment irritiert. Wer sollte sie ohne Voranmeldung besuchen? Langsam ging sie zur Tür; es läutete wieder. Nach einem Blick durch den Spion öffnete sie. Es war Martin, ihr Nachbar. Er hielt ihr einen Umschlag hin und sagte lakonisch: »Lag heute bei mir im Kasten.«

Ohne ein Dankeschön abzuwarten, hatte er sich bereits umgedreht und sich der Treppe zugewandt. Das war Martin. Ein scheues Reh, aber zumindest ein hilfsbereites. Joana schloss die Tür und betrachtete das Kuvert. Der Brief war allem Anschein nach von Victor. Leicht genervt zog sie eine Karte heraus.

Wolltest du dich nicht bei mir bedanken? V.

Es war fast eine Woche seit ihrer peinlichen Begegnung vergangen, und die Rosen waren schon hinüber. Sie hatte sie bereits am Vortag weggeworfen. Joana legte die Karte auf den Tisch und zog sich aus. Also gut. Sie würde sich bedanken, posthum sozusagen. Aber erst einmal würde sie sich jetzt ein schönes heißes Bad gönnen. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm sie ihr Handy mit ins Badezimmer. Warum eigentlich nicht jetzt sofort, überlegte sie, als sie sich ein paar Minuten lang im warmen Wasser entspannt hatte. Sie tauchte unter und zählte die Sekunden, die sie bis zum nächsten Atemzug aushielt. Nicht einmal 40, wenn sie ihrem Handy glauben wollte. Sie schnappte nach Luft und wählte Victors Nummer. Er war bereits am Apparat, bevor es ein zweites Mal läutete.

»Danke für die schönen Rosen«, sagte sie schnell, noch immer außer Atem.

»Hallo? Ich sagte Dankeschön.«

Auf der anderen Seite war Stille.

»Na schön. Also, danke. Tschüss.«

Joana schüttelte den Kopf. So ein Idiot. Sie legte das Handy auf der Badematte ab und tauchte unter. 40 Sekunden, das war lächerlich. Da war mehr drin.

Der Klingelton war so laut, dass sie ihn auch unter Wasser hörte. Joana hatte nicht die geringste Lust, mit dem Anrufer zu sprechen. Sie wusste, bevor sie seine Nummer sah, dass es Victor war.

»Du brauchst für alles etwas länger, aber wir haben ja noch so viel Zeit zum Üben …«

Er lachte, als hätte er gerade einen großartigen Witz gemacht. Dann wurde seine Stimme wieder ernst.

»Wir gehen morgen Abend aus. Cocktails und wichtige Leute. Ein Freund von mir macht eine Housewarming-Party. Ich erwarte Erstklassigkeit von dir, verstanden? Das Taxi holt dich um halb acht ab.«

Joana starrte auf das Display. Er hatte einfach aufgelegt. Sie stieg aus der Wanne und schlüpfte in ihren Bademantel, dann griff sie nach ihrem Handy und wählte seine Nummer.