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Inhaltsverzeichnis

PROLOG
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
ERSTES BUCH - Der Regen
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
ZWEITES BUCH - Beth
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
DRITTES BUCH - Hundskopf
EPILOG
Copyright

EPILOG

Dunkel war die Nacht, und die Stadt Ukulore wand sich unter einem gnadenlosen Regen.

Doc Morrow kämpfte um ein Leben, während in seinem Büro fünf Frauen ängstlich auf Nachrichten von seinen Fortschritten warteten.

Die Tür ging auf, und, die müden Augen zu Boden gesenkt, kam aschfahl Philo Holfe herein.

»Nun?« wollte Wilma Eldridge wissen.

»Es könnte sein, daß er sich entscheiden muß«, erwiderte Philo Holfe.

»Er hat seine Anweisungen«, sagte die Krüppelin, drehte sich zum Fenster und sah in den Wolkenbruch hinaus. »Es gibt nur eine Möglichkeit.«

In der Praxis kämpfte der Arzt um ein Leben – um zwei Leben. Es war Beths Leben, um das der Arzt so ernstlich kämpfte – ihr Leben, und ein anderes.

»Sie ist ein kräftiges Kind«, sagte Hilda Baxter. »Was die schon alles überlebt hat.«

»Aber sie hat sich von dem Unfall nie richtig erholt«, sagte Witwe Roth.

»Unfall! Bei Gott, das war kein Unfall«, kläffte Wilma Eldridge.

»So wie das mit ihrem Vater kein Unfall war – oder hast du dich selbst davon überzeugt, daß er in den Sumpf gefallen ist?«

»Kannst du Sardus deswegen einen Vorwurf machen, Wilma? Er hat gedacht, Beth wäre tot.«

»Wir alle haben unser Kreuz zu tragen. Unser Leben ist eine Prüfung«, gab Wilma Eldridge erbarmungslos zurück.

Aber der Arzt konnte nicht beide Leben retten, und es blieb ihm auch keine Wahl. Er kam aus seiner Praxis, ein gebrochener Mann, bleich und grau und kaum fähig, das Bündel in seinen Armen zu tragen, und trat ins Büro.

»Das Kind lebt. Ein junge.« Und das Bündel von sich streckend, fügte er ausdruckslos hinzu: -Die Mutter ist in den Wehen gestorben.«

»Er ist geboren«, sagte Wilma Eldridge und nahm das Kind in Empfang. »Wie der Prophet es geweissagt hat: Er ist geboren.«

Die übrigen Frauen drängten sich um sie, und die Krüppelin schlug mit einem Finger das Wickeltuch von dem Baby in ihren Armen zurück. Ein Blitz zuckte vom tosenden Nachthimmel, und die hälsereckenden Schwestern gurrten und gluckten in das winzige Gesicht, das mit zitternden, blaßblauen Augen zu ihnen aufsah.

I

Es war sein Bruder, der an diesem Morgen, dem Morgen ihrer Geburt, das Netz zerriß, und als sollte dieser einzige Akt der Selbstbehauptung einen negativen Präzedenzfall für die Trägheit seines künftigen Lebens schaffen, packte Euchrid, noch namenlos, die Fersen seines Bruders, um mit der ganzen Herrlichkeit eines ungebetenen Gastes in die Welt zu plumpsen.

Der geschmolzene Blitz der Mittagssonne schwang am Himmel und hämmerte auf das Blechdach und die geteerten Bretterwände der Hütte nieder. Drinnen in der fürchterlichen Hitze saß Pa inmitten seiner raffinierten Gerätschaften aus Federn und Stahl schwitzend am Tisch und schmierte seine Fallen, wobei er sich vergebens mühte, die Ohren vor dem betrunkenen Gezeter seiner Frau abzuschotten, die keifend auf dem Rücksitz des alten ausgebrannten Chevys lag. Er war der Stolz des Schrotthaufens, dieser Wagen, und er stand, auf Ziegelsteine aufgebockt, draußen hinter der Hütte wie ein mächtiger Panzer, den irgendein allzu großes Kriechtier angewidert abgestreift hatte.

Dort wand seine trunksüchtige Gattin sich in den Wehen und kreischte gegen das Wunder an, das in ihr schwoll und um sich trat; sie lutschte an ihrer Flasche White Jesus, schaukelte den Chevy auf seinen Stelzen, stöhnte und schrie, schrie und stöhnte »Pa! Pa-a! Pa-a-a!«, bis sie hörte, wie die Tür der Hütte aufging und wie die Tür der Hütte zuging, woraufhin sie von dem Morgen Abschied nahm und das Bewußtsein verlor.

»Zu besoffen zum Pressen«, erzählte Pa Euchrid dann später.

Pa entwand die Schnapsflasche ihrem schmutzigen Griff, denn selbst in ihrer Ohnmacht wollte sie nicht davon lassen, und zerschlug sie bedächtig an der rostigen Heckflosse des Wagens.

Er nahm seine Intuition als Hebamme und eine große Glasscherbe als Schneidwerkzeug, spreizte seine schwangere Frau auseinander und begoß ihre Geschlechtsteile mit Kartoffelschalenschnaps. Und unter endlos aus seinem Mund strömenden Flüchen, unterm Gesumm der Sommerinsekten, unter der vom wolkenlosen Himmel strahlenden Sonne, unter höllischem Kreischen und einem Schwall von Ausfluß flutschten zwei glitschige Bündel ans Licht.

»Gott! Zwei!" schrie Pa, doch einer starb schon bald.

 

Auf dem Tisch in der Hütte standen Seite an Seite zwei mit Zeitungspapier ausgelegte Obstkisten. Die Tierfallen waren weggeräumt und hingen jetzt an den Wänden.

Zwei Kisten, und in jeder ein Baby. Pa starrte hinein.

Beide lagen vollkommen still und reglos auf dem Rücken, nackt wie der junge Tag und mit großen suchenden Augen. Pa zog einen zerkauten Bleistiftstummel aus der Hosentasche, beugte sich über die Kleinen und schrieb blinzelnd ans Fußende der Krippe des Erstgeborenen »Nr. 1«; leckte dann die Spitze und schrieb »Nr. 2« an die Krippe, in die er Euchrid gelegt hatte. Darauf trat er zurück und stierte vom einen zum andern, und der eine und der andere erwiderten seine Blicke voller Ernst.

Sie hatten seltsam mandelförmige Augen mit leicht geschwollenen, fast wimperlosen Lidern; blau, aber so blaß, daß es an Rosa grenzte; aufmerksam und gespannt, ruhten sie keinen Augenblick – eher schien es, als schwebten sie, diese unheimlich vibrierenden Augen, als schwebten sie zitternd in ihren brauenlosen Höhlen.

Der kleine Euchrid hustete kurz und heftig, wobei die winzige rosa Zunge über die Unterlippe flappte und sich dann wieder nach innen verzog. Und als habe er nur auf ein Zeichen gewartet und es in Euchrids zaghaftem Huster erkannt, schloß der tapfere kleine Erstgeborene die Augen und fiel in einen Schlummer, aus dem er nicht mehr aufwachte.

 

»Auf Wiedersehen, Bruder«, hab ich zu mir gesagt, als er sich fortschlich, und eine ganze Minute lang dachte ich, auch ich würde untergehen, so verdammt kalt war sein Sterben.

Und dann erscholl das heisere Gezeter von Dero Oberschlampe, meiner Mutter, durch die stille Nacht, ließ Ma rauhe Flüche aus dem Anus der Obszönität fahren, hämmerte an die Innenwand des Chevys und kreischte: »Wooo’s meine Flaasche!«

»Wooo’s meine Flaasche!!«

 

Pa hatte mir zwei behelfsmäßige Haltegurte um Brust und Knöchel gespannt, die mich in meiner Kiste – meinem Bettchen – in eine waagerechte Haltung zwangen, doch überwältigt von dem nagenden Bedürfnis, zu sehen, was mein Bruder jetzt machte, nachdem er so spontan in die Ewigkeit abgetreten war, hob und reckte ich mit aller Mühe meinen Kopf, in der Hoffnung, ihn wenigstens kurz einmal zu Gesicht zu bekommen.

Ohne Vorwarnung ins Leben befördert, ausgestoßen aus der schnapsgetränkten geronnenen Milch der Schwangerschaft – ach, diese trauliche Höhle, in der wir so lange schwammen! – und jetzt vom Trauma der Geburt erschüttert hier alleingelassen, hatte ich, wie ihr euch wohl denken könnt, eine peinlich unvollkommene Vorstellung von jenem allerletzten Rätsel. Ich mein, woher hätt ich wissen sollen, wie verflucht tot ein Toter wirklich war?

Jedenfalls, so sehr ich auch strampelte und mir den Hals verrenkte, die Gurte gaben einfach nicht nach – kein bißchen, und am Ende ließ ich alle Hoffnung fahren. Völlig erschöpft und außer Atem lag ich bloß noch da und dachte, ja, dachte an den seligen Bruder in der Obstkiste neben mir, dachte, wie zum Teufel soll er in den Himmel kommen, wenn er auch nur halb so viel Mühe hat wie ich, seine Fesseln abzustreifen?

Aber bei diesem ersten großen vergeblichen und letztendlich unheilvollen Kampf war es mir gelungen, einen kleinen Arm freizubekommen – und nun klopfte ich mit einem larvengroßen Knöchel eine Botschaft, wobei ich einen Kode aus Pochen und Klopfen und Pausen benutzte, den mein Bruder und ich uns ausgedacht hatten, als wir noch im murmelnden Schnurren des Mutterleibs schwammen.

Vergiß – Deinen – Bruder – Nicht – Antworte

Aber das tat mein Bruder nicht. Ich klopfte ein zweites Mal und fügte am Ende ein Bitte an, doch wieder kam keine Antwort. Unverzagt erzählte ich ihm dann, was ich vom Leben wußte, und fragte ihn, ob der Tod ihm irgendwelche besonderen Kräfte verliehen habe. Meine Signale wurden wirr und drängend. Das vergebliche Klopfen klang hohl und einsam, blieb unbeantwortet über meiner Kiste hängen.

Das – Leben – Ist – Böse – Ist – Die – Hölle – Kannst – Du – Fliegen – Höll – Hell – Hilfe

Schließlich nahm ich mich zusammen, und klopfte weinend und mit wundem Knöchel eine letzte Botschaft an die Innenwand meiner Kiste.

 

Die Nacht sank herab – jetzt weiß ich das –, doch als ich in meiner Einsamkeit so angeschirrt auf dem Rücken lag und mit wachsender Furcht beobachtete, wie das wehe Licht des Tages eindunkelte und von der wunderlichen Musik der Finsternis durchdrungen wurde – von Eulenrufen, unablässigem Schrillen, Trippeln, und Schreien, die das Blut stocken machten –, da dachte ich, das Ende der Welt sei nah.

Der Tag des Jüngsten Gerichts war gekommen, und ich konnte nichts tun als liegen – ja, und genau das hab ich vermutlich auch getan –, liegen und mich vom Zappenduster verschlingen lassen und warten, warten auf die Arche aus Seinem Testament, auf Blitz und Stimmen, Donner, Erdbeben und Hagelstürme.

Langsam erstickte meine Welt unter Leichentüchern aus Angst und schwarzen Schatten, und als ich dann gar nichts mehr sehen konnte, nur noch die allerschwärzeste Finsternis, hörte ich, bleiern und schwankend, drohende Schritte über die Veranda kommen und vor der Tür stehenbleiben.

Ich duckte mich in meiner Kiste.

Ein schauriges Aufquietschen der Fliegentür, ein Tasten am Türhaken, ein lautes »Scheißtür«, ein Schwall grellen Lichts, ein lautes Zukrachen der Tür, ein furchtbarer Rülpser – und meine Mutter kam kopflos ins Zimmer gestürzt, zockelte blind an mir vorbei und verschwand auf der anderen Seite wieder nach draußen.

Direkt über meiner Wiege hing eine einzige nackte Glühbirne von der Decke. Sie pulsierte heftig, schamlos und hypnotisch, und ich lag auf dem Rücken und beobachtete mit zunehmendem Verdruß, wie dieser surrende Polarstern von einer stetig wachsenden Zahl von Nachtinsekten umschwärmt wurde. Hilflos mußte ich zusehen, wie alle Augenblicke eine übereifrige Motte oder Mücke oder Fliege an die tödliche Birne stieß und sich dabei die kleinen Flügel und haarfeinen Gliedmaßen verbrannte. Und damit war ihr vergebliches Treiben beendet; kreischend stürzten sie ab und landeten alle nacheinander in meiner Obstkiste. Schwärme von amputierten Insekten kreiselten in meiner Wiege – starben gräßliche Tode, führten ihre Todeskämpfe mit aller grausigen Schaurigkeit direkt vor meinen Augen auf, bis sie endlich, des Lebens beraubt und vollkommen mausetot, ihr Dasein beschlossen.

Und da ging mir auf, warum mein seliger Bruder einen so gezähmten Eindruck machte. Es war kein Leben mehr in ihm. Nur noch Tod.

 

Schließlich wurde es wieder Tag. Die Sonne brach hervor, brüllte buttergelbes Licht über den Osthang und weckte mit ihrem goldenen Lärm das ganze Tal.

Am Himmel krächzten kichernd zwei Krähen. In den Hügeln heulte ein wilder Hund. Ich hörte hungrige Küken tschirpen. In der Nähe schrie verzweifelt ein Maultier. Ich hörte das idiotische Gezwitscher einer Lerche. Ernst summten Bienen.

Die ganze Welt um mich herum schien Aufmerksamkeit zu heischen.

Aus dem Bauch des Tals läuteten Glocken. Eine Rohrkröte quakte. Eine Fliege brummte. Ein Auto jagte mit lautem Hupen über die Maine Road.

Die ganze Welt um mich herum verlangte nach Beachtung. Es war Zeit, sich um all die Jungvögel und Küchlein zu kümmern, all die Welpen und Kätzchen, Lämmer, Ferkel und Babys.

Auch ich hatte es bitter nötig, daß jemand sich um mich kümmerte. Und wie. Ich brauchte unbedingt etwas zu essen. Mein Körper gierte nach Nahrung. Wie lange mußte ich noch warten? Wißt ihr das? Hab ich euch erzählt, daß ich gottverdammten Hunger hatte?

Ich hatte schon überlegt, ein paar von den gerösteten Insekten auf meinem Bauch zu verspeisen ... aber nein ...

Da beschloß ich doch lieber, ein bißchen Krach zu schlagen – die Aufmerksamkeit meiner Hüter so zu erregen, wie alle vernachlässigten hungrigen Kinder es tun –, und füllte daher meine Lungen mit Luft und heulte und heulte und schrie und tobte und knirschte und brüllte Sachen wie »Füttert mich!« und »Essen!« und »Brust!« und strampelte dabei die ganze Zeit in den unnachgiebigen Fesseln, die Pa – ein wahrer Meister des Fallenbaus – so sinnreich konstruiert hatte, daß sich mit jedem Tritt und jedem Aufbäumen meines kleinen Kinderkörpers die Bande ein wenig fester zusammenzogen und meine Bewegungen nur immer weiter beeinträchtigten, so daß ich meinen kleinen Aufstand schon nach einer Minute darauf beschränken mußte, schwächlich die Arschbacken zusammenzukneifen, hübsch wild mit den Augen zu rollen, die Zunge herauszustrecken und, natürlich, wirre Worte auszustoßen – O, wie sie mir von der Zunge flossen – O, wie sie meinem Mund entströmten – verdammt herrliche Wörter, die aus meinem tiefsten Bauch hervorstürzten – »Füttert mich!«, »Ach Tod! Muß ich verhungern?« und »Verdammt, gebt mir zu essen!« – und wißt ihr was? – ich meine, könnt ihr euch vorstellen? – soviel ich auch schrie und kreischte – soviel ich auch heulte und jaulte – soviel ich auch brüllte und zeterte und jammerte – ja, soll ich euch was sagen?

Keinen Piepser gab ich von mir – kein Laut drang aus meiner Kiste, aus meinem Bettchen.

Nein, nicht einen Piepser gab ich von mir.

Ich war verwirrt ob dieser Entdeckung. Fühlte mich betrogen. Angeschmiert.

Ich fühlte mich einsam.

Mit meiner einen freien Hand riß ich Stücke von dem Zeitungspapier, mit dem meine Kiste ausgelegt war. Die rollte ich zu kleinen Klümpchen und lutschte daran, bis sie ein weicher Brei waren, den ich dann schluckte.

Mit diesem frugalen Mahl gelang es mir nach und nach, meinen Hunger zu stillen, und als mein Bauch gefüllt war, gähnte ich herzhaft und wandte meine Gedanken wieder meinem Bruder zu, der in der summenden Kiste neben mir lag. Ich gähnte noch einmal, noch herzhafter diesmal, schloß die Augen und fragte mich, während ich schon einduselte – sollte mein Bruder etwa auch stumm sein?

»Schätze, das werd ich nie genau rausbekommen«, dachte ich noch, als der Schlaf sich um mich legte, »schätze, das werd ich nie erfahren.«

Ich träumte, mein Bruder und ich wären im Himmel vereint und lägen auf warmen Wattewolken. Er zupfte seine goldene Harfe, und silbrige Töne rieselten auf meinen Körper. Wir lächelten.

Mein Bruder hörte auf zu spielen und hob sich in die Luft. Seine Flügel waren schwarz und geädert und sonderten klebrigen Schleim ab. Er rieb die haarigen Beine aneinander und setzte sich die Harfe, die jetzt eine Krone war, auf den Kopf. Ich versuchte zu fliegen, hatte aber noch keine Flügel, nur einen unbehaarten weißen meuternden Madenleib – hilflos lag ich auf dem Rücken – auf dem Rücken. Mein Bruder zeigte auf mich und schrie »Räuber! Laß mich in Ruhe!! Laß mich in Ruhe!! Laß mich in Ruuuhe!!« Dann sah ich, daß der Himmel eine rote Waschküche geworden war, in der ich langsam kreisend herumschwebte, wozu es unablässig wupperte, »bumm-bumm ... bumm-bumm ... bumm-bumm ...«, wie ein Herz.

 

Ich wachte auf.

Mein Vater ragte über mir wie ein krummer Stock. In seinem ergrauten Gesicht glommen zwei kleine blasse Augen aus ihren Höhlen.

Eine Schüssel und ein Brot in den Händen, setzte Pa sich hin.

Ich lutschte an einem Stück milchgetränkten Brots, das er mir hinhielt, und es schmeckte warm und süß.

Pas Finger rochen nach Pech oder Schmieröl.

Mein Hunger schwand schnell, ich machte den Mund zu und drehte meinen Kopf weg. Ich konnte diesen beißenden chemischen Geruch nicht mehr ertragen.

Pa stand auf.

Sein Stuhl war eine hochkant gestellte Obstkiste!

Ich suchte meinen Bruder. Mein Bruder war weg! Und die Kiste auch! Statt dessen lag neben mir eine metallene Tierfalle, ganz mit schwarzem Öl eingeschmiert. Klaffender Rachen! Spiralfeder! Blutrünstige Hauer!

Ich sah weg, mir blutete das Hirn. Und wie.

Pa ging zur Tür. Auf der linken Schulter hatte er einen Spaten mit langem Stiel. Und jetzt erst fiel mir sein grauer Schädel auf, und das haarige Loch. Da fehlte ein Ohr.

In den Händen hielt er einen verschnürten Schuhkarton. Auf dem Deckel stand »Nr. 1«.

II

DER PROPHET

 

Die Stimme des Tals No. 38 Aug. 1932

 

Höret, ihr KINDER DES HERRN!

Am ZWEITEN FREITAG im AUGUST im Jahre des Herrn 1932
jährt sich zum 70sten Male das
»MARTYRIUM DES PROPHETEN UND HEILIGEN
JONAS UKULORE«
Am Nachmittag des Jahrestages dieses gesegnetsten und
blutigsten Tages
wird unser Tal in Trauer seines Propheten und Patriarchen
JONAS UKULORE
gedenken.

Seine sterblichen Überreste und Reliquien werden von
ihrem derzeitigen Ruheort im UKULORE VALLEY BETHAUS
zum Stadtplatz überführt und dort aufbewahrt werden.

Von diesem Tag an soll der Platz MEMORIAL SQUARE heißen.

Zur Feier dieses allerheiligsten Tages
soll ein DES PROPHETEN würdiges Denkmal
enthüllt werden.

Gläubige Ukuliten,
um 3 Uhr nachmittag dieses Freitags, des 2. August 1932,
ziehen die Kinder Israels, ihr Gläubigen Ukuliten,
vom Bethaus zum Memorial Square,
wo der Leichnam des Propheten und Märtyrers
zur ewigen Ruhe gebettet werden soll.

Die Andacht hält Sardus Swift.

Simon Bolsom, Historiker und Biograph,
liest aus seiner demnächst erscheinenden Biographie
Jonas Ukulore: Prophet und Verkünder, Mensch und Märtyrer
im Großen Saal.

Eliza Snow singt in Begleitung von Alice Pritchard.
Nach dem Gottesdienst gibt es im Kleinen Saal ein Essen.
Bringen Sie nichts mit, meine Damen. Die Speisen
werden von Valley Functions geliefert.

– ALLE SOLLEN TEILNEHMEN –

 

Es war in eine gewaltige Leinwandplane gehüllt, die unten von einem durch Messing-Ösen gezogenen Seil zusammengehalten wurde. Unter der Plane sah es aus wie eine große graue Sphinx, vom Sand der Zeit zur Unkenntlichkeit geschmirgelt.

Um es drängte sich in tiefer Ehrfurcht die Gemeinde der Ukuliten. Am Morgen zuvor war ein riesiger Sattelschlepper mit dem Denkmal in die Stadt gekommen, grau und verhüllt hatte es auf der Ladefläche gestanden und genauso ausgesehen wie jetzt. Sardus Swift, der das Tal um fünf Uhr an diesem Morgen verlassen hatte, um mit einem Zuckerrohr-Transporter nach Davenport und von dort mit dem Zug nach Orkney zu fahren – »für den Fall von Komplikationen« hatte er die Lieferanten unbedingt auf der 380 Meilen langen Fahrt zurück ins Tal begleiten wollen –, saß, den Hut auf dem Schoß, ernst und gerade, das Gesicht jedoch gerötet vor Stolz, den nicht einmal er zu unterdrücken vermochte.

Die beiden Lieferanten des Denkmals, ein fetter Mr. Godbelly und ein noch fetterer Mr. Pry, machten einen erschöpften aber gutgelaunten Eindruck. Ein Dutzend Männer war erforderlich gewesen, das Monument, das an Ketten von dem Wagen herabgelassen wurde, an die ihm zugedachte Position auf dem Platz zu wuchten.

Selbst einige der Zuckerarbeiter hatten mitgeholfen, obwohl die Teilnahme an der eigentlichen Zeremonie ihnen verwehrt war – denn wer nicht reinen Glaubens war, durfte an diesem für die Ukuliten Heiligen Tag, dem Tag zum Gedenken an »Das Martyrium des Propheten«, nicht mitfeiern. Die Bewohner des Tals tolerierten, wie sie es schon seit vielen Jahren taten, die unorthodoxen Bräuche der Ukuliten, die zwar nur ein knappes Fünftel der rund zweitausend Einwohner ausmachten, dafür aber die Raffinerie, den größten Teil des Zuckeranbaulandes und die überwältigende Mehrheit der Geschäfts- und Wohngebäude in ihrem Besitz hatten. Natürlich war dies der Hauptgrund dafür, daß man die kleine Sektenkolonie in dem Tal wirken (und praktisch herrschen) ließ; doch war diese Vorherrschaft nicht ungefährdet, und die Ukuliten hatten im fortwährenden Kampf um ihre beneidenswerte, aber nicht unangreifbare Position manches Ungemach erdulden müssen.

Seit Jonas Ukulore in den letzten Tagen des Winters 1862 seine kleine Anhängerschar in das damals noch unbebaute und so gut wie unbewohnte Tal geführt hat, kämpfen die Ukuliten für ihren Glauben mit standhaftem Verteidigungswillen und kompromißloser Härte. Dies unerschütterliche Festhalten an einer strengen Lehre, die ihr Prophet 1861 in einem Testament schriftlich niederlegte, hat im Verein mit den aggressiven Geschäftsmethoden des Joseph Ukulore, Jonas’ Bruder, die Langlebigkeit der Ukulitenkolonie sichergestellt. War Jonas der Prophet, sorgte Joseph für den Profit.

1859 hatte Jonas Ukulore, aus Wales gebürtiger Konvertit zum baptistischen Glauben, seine ersten Offenbarungen. Zu gegebener Zeit gab er der baptistischen Obrigkeit seine Offenbarung bekannt, er sei der im Buche Daniel prophezeite »Siebente Engel«, und die Vorsehung erblicke in ihm »einen mächtigen Mann, ja, einen Propheten in Israel«.

Als seine Offenbarungen sich nicht mehr mit der orthodoxen Lehre vereinbaren ließen, wurden Jonas und einige seiner Anhänger im Jahr darauf von der Kirchenobrigkeit exkommuniziert.

Zweimal entging er nur knapp dem Tod, als aufgebrachte Orthodoxe ihn lynchen wollten, und angesichts der zunehmenden Feindseligkeit, sowohl gegen die Baptisten insgesamt als auch gegen andere Sekten, ergriffen Jonas und seine Anhänger vor weiteren Schwierigkeiten die Flucht und begaben sich auf die Suche nach einem passenden Stück Erde, wo sie ihre »Neue Gemeinde« etablieren konnten. Nachdem sie in einem »Zustand göttlichen Schwebens« das abgeschiedene Tal entdeckt hatten, legten sie ihren ganzen Besitz zusammen und ließen sich dort nieder.

Der Prophet verbrachte die meiste Zeit in einsamem Gebet, um sich auf »die zweite Ankunft« vorzubereiten, die ihm bei einer seiner etwa dreitausend Offenbarungen, über die er gewissenhaft Buch führte, verkündet worden war. Unterdessen kümmerte sich sein Bruder Joseph, ehemaliger Landwirt und Geschäftsmann, um die finanziellen Interessen des Tals und legte Zuckerrohrpflanzungen an.

Der Zucker gedieh prächtig in dem feuchten Tal; bald konnten die Ernteüberschüsse mit kräftigem Profit an die Zuckerfabrik von Davenport verkauft werden.

Das Tal blühte auf. Der Zucker wuchs ebenso wie die Profite. Die Entwicklung des Tales schien tatsächlich unter Gottes großzügiger Lenkung zu stehen, und der künftige Wohlstand der Kolonie schien gesichert.

In weißem Gewand und goldener Krone und mit einem vergoldeten Szepter in der Hand verkündete der Prophet Anfang August 1862 seinen Schülern, »die Stunde sei nah« – die Zweite Ankunft stehe bevor, und jedermann müsse sich für den baldigen Kreuzzug des Tals bereitmachen.

Als eine Woche später etwa fünfzig Männer und Frauen unter Hosiannarufen und Lobgesängen hinter ihrem weißgewandeten Führer hermarschierten, wurde Jonas Ukulore von einem unbekannten Heckenschützen erschossen – die Kugel traf ihn am Kopf und tötete ihn auf der Stelle. Der Attentäter wurde nie gefaßt, doch wurde selbstverständlich angenommen, daß er von außerhalb gekommen war. Die Ukuliten sahen darin einen weiteren Beweis für die Niedertracht der Ungläubigen außerhalb des Tals, gaben ihren Kreuzzug auf und blieben zu Hause; und da dieser Kurs ihnen reichen Lohn erbrachte, gelangten sie im Lauf der Zeit dazu, in jenerTragödie eine dramatische Rechtfertigung ihres Glaubens zu erblicken.

Unter Leitung des immer einfallsreichen Joseph Ukulore florierte das Tal auch weiterhin. Schließlich bauten die Bewohner eine Schienenstrecke nach Davenport und warben nach und nach »Außenstehende« für die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern an.

Im Jahre 1904 übernahm Joseph die gewaltige Aufgabe, den Bau der Zuckerraffinerie zu organisieren, wobei er sich voll der Tatsache bewußt war, daß er als Dreiundachtzigjähriger weder ihre Fertigstellung erleben noch etwas von den ungeheuren Gewinnen haben würde, die sein Fleiß unfehlbar einbringen mußte. Es waren eben erst die Fundamente der Raffinerie gelegt, als Joseph Ukulore nur ein Jahr später starb und dem Tal das Vermächtnis eines sicheren künftigen Wohlstands hinterließ.

Aus: Vargus, Geschichte der Region (Stadtverwaltung Vargustone, 1922) Und so kam es, daß die Ukuliten an diesem Tag um ihren Propheten trauerten.

»Heil dem Propheten, der jetzt im Himmel wohnt

Verräter und Tyrannen bekämpfen ihn nun vergebens

Seine Brüder er schützt, neben Gott er thront

Und ist teilhaftig des ewigen Lebens«,

sang Eliza Snow.

Und Sardus Swift zog die Plane weg.

III

Als Baby hab ich nie geschrien. Soll heißen, in meiner ganzen Zeit als Baby hab ich nicht einen einzigen Schrei ausgestoßen – keinen einzigen Piepser. Auch als Kind hab ich nicht rumgebrüllt, und als Jugendlicher behielt ich alle meine Gefühle für mich und ließ kein einziges Schluchzen lautwerden – denn alles andere hätte einen doch bloß allen möglichen Beschimpfungen ausgesetzt. Und jetzt, da ich die letzten Sekunden meines Erwachsenseins herunterzähle – da ich zum Toten werde – will ich nicht damit anfangen. Nein. In meinem ganzen Leben hab ich nicht geschrien. Keinen Ton. Nein, keinen Ton.

Und als tapsendes Kleinkind hab ich mich immer sehr bemüht, Mummy nicht zwischen die Füße zu geraten. Sehr. Auch meinem Vater bin ich nie zur Last gefallen, wenn er am Arbeiten war – hab ihm keinen Schwall von dummen Fragen gestellt, auf die er ohnehin keine Antwort wußte.

Ja, alles in allem genommen, war ich, wie man es auch betrachtet, in jeder Hinsicht ein vorbildliches Kind. Ja, das war ich.

Auch war ich das einsamste Kind in der Geschichte der ganzen Welt. Und das ist kein eitles Gerede. Sondern eine Tatsache. Gott hat es mir gesagt.

Mummy war eine Sau – eine dreckfotzige, versoffene, hirnamputierte Sau. Faul und träge und schmutzig und streitsüchtig und böse von Grund auf. Ma war ein Saufbold – eine Trinkerin –, eine verschnapste Höllenvettel mit einer Vorliebe für Selbstgebrannten.

Mas Räusche verliefen zyklisch, Bewußtheit und Bewußtlosigkeit verfolgten einander wie zwei greuliche Schweine, die sich gegenseitig am Schwanz fraßen – schwarz, fett und unglaublich obszön das eine, grau und lärmend, mit kleinen, eng zusammenstehenden blutroten Augen das andere – und an diesem Kreislauf hielt sie mit aller Strenge fest.

Wenn Ma bei Bewußtsein war, krümmte sich unsere kleine Hütte auf dem Hügel vor Entsetzen, denn – gewöhnlich am vierten Tag – unmittelbar bevor sie wieder in Bewußtlosigkeit versank – kam es unausweichlich zu einem Anfall von Zerstörungswut.

Einmal aufgewacht, sprach Ma immer häufiger und ausgiebiger ihrer steinernen Flasche zu – nur aus diesem Gefäß nahm sie ihren Schnaps zu sich –, bis sie mit schwerer Schlagseite in der Hütte oder um den Schrotthaufen herumtorkelte oder, die Steinflasche an den mächtigen Busen gepreßt, in ihrem Sessel lümmelte. Hier soff und schwärmte und phantasierte sie von den Tagen ihrer Jugend, in denen die schmutzigen Hände von Schnaps und Männern sie noch nicht verdorben hätten. Und aus Tagen wurden Nächte und aus Nächten Tage.

Wenn sie schließlich genug Fusel intus hatte, um eine ganze Armee aus den Latschen zu hauen, begann – und es kommt mir hoch, wenn ich nur daran denke – begann sie – diese gottverdammte widerliche Drecksau – begann sie mit immer wüsterem Gebell »Ten Green Bottles« zu singen. Bei der Stelle» ... und geht eine grüne Flasche zu Bruch, gibt’s keine grünen Flaschen mehr ...« lief sie schlichtweg Amok – ja, bekam einen derart hemmungslosen Tobsuchtsanfall, daß man in Reichweite ihres Prügels nicht mehr seines Lebens sicher war.

Sobald Pa die ersten Töne von »Ten Green Bottles« hörte, ließ er alles stehn und liegen und stürzte aus der Tür, und ich wackelte ihm nach und versteckte mich in einem umgekippten Gurkenfaß draußen hinter der Hütte. Wie sicher man sich darin fühlte, zusammengekauert, die Knie an die Brust gezogen; dazu der Essiggeruch, der noch in den Dauben hing, und die kuschlige Größe – manchmal, müßt ihr wissen, bin ich nur in dieses Faß gekrochen, um mich mal für eine Weile sicher zu fühlen. Im Innern des Fasses hörte ich sehr seltsame, konfuse Sachen – nicht von außerhalb, sondern von innen.

Bis zum heutigen Tag ist es mir ein Rätsel, wie ich es geschafft hab, mein Dasein in jener Obstkiste zu überleben. Denn zu behaupten, ich sei ein geprügeltes Baby gewesen, wäre mehr als bloß ein bißchen richtig – es wäre vollkommen richtig! Ja! Ich war ein verdammt geprügeltes Baby!

IV

Anfang 1940 wurden zwei Körperschaften zu einer Versammlung ins Rathaus einberufen – die Ukulore Valley Zuckerkommission und die Führung der Ukuliten.

Die behördlichen Vertreter der Zuckerarbeiter und ihrer Familien hatten einen Antrag eingebracht, in dem unter anderem der Vorschlag gemacht wurde, ein unitarisches Gotteshaus zu errichten, das den Bedürfnissen der nicht dem ukulitischen Glauben anhängenden Bewohner des Tals gerecht werden sollte, wobei darauf hingewiesen wurde, daß volle 80% der annähernd 2100 Einwohner zur Zeit keinerlei kirchlichen Beistand hätten. Man gehe davon aus, daß die Versammlung der beiden Parteien im Interesse von »Gleichheit« und »guten Beziehungen« und als »Geste fortgesetzten Einvernehmens« zwischen den beiden Gruppen diesem Vorschlag ohne weiteres zustimmen werde. Obwohl das Ergebnis von vornherein feststand, konnten die Arbeiter es als Triumph verbuchen.

Sardus Swift, der genau wußte, daß er unter Druck gesetzt wurde, hatte dem Vorschlag zugestimmt und dann mit einer ebenso unausweichlichen wie großmütigen Geste hinzugefügt: »Gemäß meinem Glauben, daß ein wohlhabender Geist sich stets in einem Geist des Wohlstandes bekundet, und als Führer der Ukulitenkolonie und Vertreter der Landbesitzer, übernehme ich hiermit die Verantwortung für die Zuweisung eines geeigneten Stück Landes und werde darüberhinaus für sämtliche Baukosten persönlich aufkommen.«

Die Zuckerkommission (oder UVZK) erbot sich unter Hinweis darauf, daß etliche Bauunternehmen in Vargustone derzeit ihrer Aufsicht unterlägen, die Ausführung der Bauarbeiten in die Hand zu nehmen. Demgemäß wurden – zu einem Bruchteil der Kosten, die den im Kleinen sparsamen, im Großen verschwenderischen Ukuliten angegeben worden waren – die Dienste einer berüchtigten Baufirma in Anspruch genommen, die durch eine Reihe von Prozessen und unablässige wüste Beschimpfungen seitens der lokalen Presse dazu gezwungen worden war, ihre Werbestrategie von »Kreativer Architektur« in »Bauen zu Schleuderpreisen« umzuändern.

Ende 1937 wurde auf einer vier Morgen großen Anhöhe (die paradoxerweise als Ruhmes-Ebene bekannt wurde) von der Vargus Baufirma und einer Handvoll Arbeiter das Fundament dessen gelegt, was, wie sie verhießen, vom Schicksal dazu ausersehen sei, als himmelhoher Sprung in der Systematisierung des Gottesdienstes in die Geschichte einzugehen.

Doch himmelhoch war die Kirche auf der Ruhmes-Ebene keineswegs. Das Schicksal wollte sich eben nicht so einfach weissagen lassen.

Denn die Kirche auf der Ruhmes-Ebene wurde niemals fertig, und die Jahre des Unheils rückten näher.

Sardus Swift war müde und wortkarg aus dem Rathaus gekommen, bedrängt von Schuldgefühlen und Abscheu vor seiner Schwäche; denn er wußte so sicher, als befände er sich im Krieg, daß er sein Königreich den Eroberem ausgeliefert hatte. Und mochte man auch seine Ankündigung schweigend hingenommen haben, mochte auch unter seinen Leuten kein Mann und keine Frau ihn mit Schmähungen oder gar Vorwürfen bedacht haben, so wußte Sardus doch, daß er seinen Gott, seinen Propheten und seine Leute verraten hatte und nur ein Akt der Buße sein Schamgefühl darüber lindern konnte, das Gelobte Land in einem Augenblick unverzeihlicher Nachlässigkeit an die erstbesten Götzendiener, die mit einem fadenscheinigen Anspruch daherkamen, ausgeliefert zu haben.

Bruder Whilom, übriggebliebener Anführer der Erstsiedler, Verfasser von Kirchenliedern und angeblich über hundert Jahre alt, sagte nicht unfreundlich zu Sardus: »Gott verzeih uns. Wir haben das Neue Zion den Götzendienern und Ungläubigen preisgegeben. Sie werden das Königreich zerstückeln wie ein Stück Rindfleisch und es den Parteien vorwerfen. Und wenn das irdische Königreich Gottes in die Zeit der Teilung und Unterteilung tritt, wird die Rute Seines Zornes blühen. All unsre Gebete werden wie Staub sein, Sardus.« Womit der alte Mann seine Bibel nahm und sich ins Bett legte, um nie mehr aufzustehen.

V

Also, ich war sechs Jahre alt, weiß noch, wie ich auf den Stufen der Veranda saß und über die Zuckerrohrfelder hinsah, dorthin, wo die Maine Road sie wie eine Sense zerschneidet, und wie da aus dem weit entfernten Vargustone in einer Wolke roten Staubs der allererste Lastwagen mit Bauholz und Rohmaterial angerollt kam – und während ich ihn beobachtete, spitzte ich die Ohren und hörte, wie die Gänge erst runter und dann wieder raufgeschaltet wurden, als der Wagen in den Weg – Ruhmes-Pfad haben sie ihn genannt – einbog, der genau gegenüber der Abzweigung der praktisch stillgelegten, nach Westen am Nordwestrand der Felder verlaufenden Strecke und etwa hundert Meter von der Vorderveranda meiner Hütte entfernt in östlicher Richtung von der Maine Road abgeht. Ich frag mich, wie sie den nennen werden, meinen Weg, nachdem er in letzter Zeit zu solcher Berühmtheit gelangt ist?

Ich sah die Laster den Hang hinaufkriechen und oben auf dem Plateau des Hügels, den sie nun den Ruhmes-Hügel nannten, stehenbleiben. Und was ist mit meinem Hügel? Wie werden sie meinen Hügel nennen?

»Diese Karren sind nicht aus unserer Gegend, niemals. Die bringen das Holz aus irgendeinem großen Ort. Vargustone, möcht ich wetten. Genau wie alles andere, die Arbeiter, die Planer, alles. Das sieht man.«

Ungefähr so hab ich gedacht, dort auf den Stufen im Sommer ’40.