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JEAN PAUL

wurde 1763 in Wunsiedl geboren und starb 1825 in Bayreuth. Seine literaturgeschichtliche Einordnung fällt bis heute schwer. Er steht eher in der Tradition der englischen Satiriker wie Swift oder Sterne. Jean Pauls Werk war und ist extrem modern, seine Sprachbehandlung verspielt und luxuriös. Es wundert daher wenig, dass seine Zeitgenossen Goethe und Schiller nicht viel mit ihm anfangen konnten. Doch viele Romantiker - und vor allem die weibliche Leserschaft seiner Zeit - waren von seinen Schriften begeistert.

Jean Pauls‘ schwarzhumorige Gelehrtensatire liest sich, als wäre sie im 20. Jahrhundert entstanden: selbstreflexiv bis zum Geht-nicht-mehr, dadaistisch anmutender Sprachgebrauch und irrwitzige Wortneuschöpfungen. Jean Pauls Werke leben vor allem von seinem - beinahe verschwenderisch anmutenden - Umgang mit Sprache und Phantasie und seinem zwischen charmant-putzigem und skurril-grotesk changierendem Ton. Damit war der Autor schlicht zu modern für seine Zeit.

Zum Buch

Im Mittelpunkt dieser meisterhaften humoristischen Erzählung steht der verschrobene Professor Dr. Katzenberger mit seiner Faszination für in Spiritus eingelegte Missgeburten. Eine Badereise nach Bad Maulbronn dient dem Exzentriker als Vorwand, um den Verriss eines seiner kuriosen Bücher durch Prügel am Rezensenten zu rächen. Seine Tochter Theoda, die ihn begleitet, verliebt sich in den jungen Dichter Theodobach, der ein Geheimnis hat ...

Eine ironische Lovestory und als Hauptfigur einer der komischsten „Verrückten Professoren“ der Literaturgeschechte.

Mit einem Vorwort
von Ulrich Holbein

"Einer von den Zwanzig, für die ich mich mit der ganzen Welt prügeln würde." Arno Schmidt über Jean Paul

Jean Paul

Dr. Katzenbergers Badereise

Jean Paul

Dr. Katzenbergers
Badereise

Erzählung

Mit einem Vorwort von
Ulrich Holbein

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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
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nach der Ausgabe Breslau, 1823
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Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin/Peter Weiss
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0335-9

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INHALT

EIN VORWORT VON ULRICH HOLBEIN

ERSTES BÄNDCHEN

Vorrede

Vorrede zur zweiten Auflage

ERSTE ABTEILUNG

Anstalten zur Badreise

Reisezwecke

Ein Reisegefährte

Bona

Herr von Nieß

Fortsetzung der Abreise durch Fortsetzung des Abschieds

Fortgesetzte Fortsetzung der Abreise

Beschluss der Abreise

Halbtagfahrt nach St. Wolfgang

Mittags-Abenteuer

Wagen-Sieste

– die Avantüre –

Theodas ersten Tages Buch

Missgeburten-Adel

Hasenkrieg

Ankunft-Sitzung

Werkchen

ZWEITES BÄNDCHEN – ZWEITE ABTEILUNG

Bloße Station

Männikes Seegefecht

Mondbelustigungen

Zweiten Tages Buch

Hemmrad der Ankunft im Badeorte – Dr. Strykius

Nießiana

Ein Brief

Mittagtischreden

Musikalisches Deklamatorium

Neuer Gastrollenspieler

Nachtrag

Darum

Herr von Nieß

Tischgebet und Suppe

Aufdeckung und Sternbedeckung

Erkennszene

Abendtisch-Reden über Schauspiele

Brunnen-Beängstigungen

Theodas Brief an Bona

Herzens-Interim

Neue Mitarbeiter an allem – Bonas Brief an Theoda

Werkchen

DRITTES BÄNDCHEN – DRITTE ABTEILUNG

Wie Katzenberger seinen Gevatter und andere traktiert

Doktors Höhlen-Besuch

Theodas Höhlen-Besuch

Drei Abreisen

Theodas kürzeste Nacht der Reise

Präliminar-Frieden und Präliminar-Mord und Totschlag

Die Stuben-Treffen – der gebotene Finger zum Frieden

Ende der Reisen und Nöten

Werkchen

EIN VORWORT VON ULRICH HOLBEIN

Kotsasse... Hintersasse... Eingeweidewürmerkabinett... Fangkloben... Milchschwestern... Stockscheide... Schnepfendreck... Streitflegel... scheidekünstlen... triplizieren... blitzwunderlich... mausig... -- seltsame Worte läßt Jean Paul im ‚Dr. Katzenberger‘ und anderswo auf seine Nachgeborenen los, altertümliche Unförmlichkeiten wie „Schwanzstern“ statt Komet, oder Haarstern oder Blutzähre. Sodann: hemmungslose Fremdwörter wie Poetasterei, Haruspizien, Karyatiden, Incroyable, Sokkus, bisweilen sogar halbwegs verständliche wie homöpathisch, Gourmand oder Serenissimus, sehr gern anatomische Termini wie Bolus, melphigisches Schleimnetz oder Sphinkter, und stets a priori kuriose Eigen- und Ortsnamen: Mehlhorn, Strykius, Flex, Semmelmann, Fugnitz, Besau, Wampfe, Lumpelbach, Galgenbach, Potzneusiedl, Sterzel, Kratza und Huhl. Erwähnt wird – neben König Ninus – auch mal der heilige Stropinnus, über den selbst Wikipedia und Google noch nichts Genaueres weiß. Fast bleibt ‚Brehms Tierleben‘ zurück hinter den Tiernamen Jean Pauls nur allein im ‚Katzenberger‘, als da Säbelschnäbler, Dachsschliefer, Windfisch, Hasengeier aufzuzählen wären; mit Blutigel meint er Blutegel. Wunderliche Wortzusammenschiebungen wie Maschinen-Götter oder Stachelkomödien, süperbe Neologismen und Genitivmetaphern tummeln sich: Nettodreck und Bruttodreck, oder „das flüchtige Salz des Komischen“, „das Kindergärtchen des Verliebens“. Ergänzend zu Feindseligkeiten, Liebhaber und Edelknabe kreierte Jean Paul „Freundseligkeiten“, „Haßhaber“ und „Unedelknabe“, sowie auch nie gehörte Diminutive wie „föderative Staatkörperchen“, „Fürstchen“ (nicht mit Würstchen zu verwechseln), „Tyrannchen“, „Walfischchen“ oder „Wesenchen“ (offenbar kleine Wesen). Sein Plural von Korken lautet bevorzugt: „Körke“. Hinzu kommen schöne verrückte Adjektive: literarisches Schmiervieh, chaotische Anamorphosen, organischer Kolossus, nervöser Überzug, rinnende Blutkugeln, chemische Traktätchen, verpönter Knochendiebstahl, asiatischer Papst, womit er den Dalai Lama meint, kurzes Erwürgen, doppelte Unsterblichkeit, tröstender Himmel, trostloser Mensch, untergepflügter Dichter, durchwühlter Nachthimmel, zerstückte Gestalten, durchbohrte Bilder, zerschlagne Gebirge, eingefrorne Leichenheere, entseelte Masken, eingeäscherte Geschwister, eingedrückte Herzen, dicker Schlaf, wimmelnde Kugelschatten umlaufender Welten, dazu so anregend paradoxe Klöpse wie tödliche Freudenträne und angeborene Wunde. All diese Bausteine schießen zu wundersam absurden Satzfetzen zusammen: „schöne Natur, die schon dalag“, oder: „Die Einsamkeit der abwechselnden Wiedergeburt“, oder: „sein erstes Dagewesensein“, und zu Sätzen, Formulationen und Weisheiten wie: „Was sonst aus dem Nilschlamm halb lebendig aufwuchs, waren nur Leute“, oder: „Gott weiß, wo die Göttin jetzt ihre Ziegen melkt“, oder: „Eine Frau, die so lang ist als ein Mann, ist länger als ein Mann“ – alles Worte und Sätze, wie sie bei Dichterfürsten namens Goethe oder beliebig maßlosen Romantikern entweder nicht vorkommen oder undenkbar wären. Auch die vielen Ekel- und Trash-motive wie „das häßliche Stinken fauler Eier“ gingen vielen Normaldichtern gegen den guten Geschmack, oder gegen den ästhetischen Strich, und Goethe kanzelte literarische Produkte von Kollegen, die den Riß in der Schöpfung plus Weltschmerz überbetonten, ausfällig als „Lazarettpoesie“ ab, deren große Stunde dann erst viel später schlug, im 20. Jahrhundert, sobald Mann und Frau durch die Krebsbaracke gingen. Dinge, die Goethe selber recht kräftig ausdrückte wie „Auch so das Glück tappt unter die Menge, faßt bald des Knaben lockigte Unschuld, bald auch den kahlen schuldigen Scheitel“, drückte Jean Paul noch deutlich deftiger und saftiger aus und nannte den besagten Scheitel auch viel drastischer beim Namen: „Auf ihr sprang wohl der Todesblitz regellos unter den sorglosen Völkern umher, bald auf das heiße Mutterherz, bald auf die glatte runde Kinderstirn, bald auf die kalte Glatze oder auf die warme Rosenwange.“ Sie könnte romantischer Kitsch sein, wenn die kalte Glatze dies nicht a priori bombardierte.

Querbezüge zu späteren Zeiten und zur Gegenwart hageln reichlich: Wer Katzenberger googelt, muß erst mal krempelüberkleckert hinwegsteigen über die millionenfach angefragte Kosmetik- und Gastronomieexpertin und Kult-Blondine Daniela Katzenberger. Allerlei Jean-Paul-Experten liegen sich in den Frisuren über der These, daß man Dr. Katzenberger durchaus mit des Dritten Reiches Dr. Mengele vergleichen könne, oder eher doch nicht mit der späten Extremform der Vivisektion, mit ihrer perversen Experimentierfreude und Hang zum Erschröcklichen, die dann Lampenschirme mit Menschenhaut bespannt und Schrumpfköpfe herstellt, derweilen Katzenberger noch arglos und stimmig beweist, daß Zerrgeburten, wie er Mißgeburten auch mal abwandelt, innerhalb der Natur nichts Widernatürliches seien. Gewagte Assoziationen kann keiner stoppen, doch auch hier mag gelten: Was ihr hinein nicht gelegt, ziehet ihr nimmer heraus, und wie es sich Richard Wagner und Oscar Wilde gefallen lassen müssen, von Antisemitismusjägern herbeigezerrt und von der Schwulenbewegung vereinnahmt zu werden, so hängen auf Wunsch und Knopfdruck auch die Doktoren Katzenberger und Mengele zusammen – reine Ansichtssache.

Daß Katzenberger gern über Details beim Einspeicheln von Speisebreibrocken extemporiert oder hemmungslos Insekten verzehrt wie archaische oder zukünftige Völker, also sich „reife Kanker auf die Semmelschnitte“ legt, da zeigen sich eher Tendenzen wie beim heutigen Survival-Mann Rüdiger Nehberg, der in Talkshows brave Hackfleischklöße-Verzehrer damit schockiert, daß er problemlos Würmer und Insekten vervespert, einfach nur zwecks lebenswichtiger Proteinzufuhr. Sodann: Heutige Medizinstudenten des zweiten Semesters, die beim Sezieren in der Pathologie auch nur das allergeringste Witzchen über daliegende Leichen sich erlauben, fliegen wegen Pietätlosigkeit sofort aus dem Studium raus und dürfen nimmermehr Arzt werden, obwohl: Wo sollen sie denn alle hin, die galgenhumorigen Ärztewitze und Medizinzynismen, wenn nicht hinein in die Internistenpraxen, Kreiskankenhäuser und OP-Säle, wo Herren und Damen über Leben und Tod auch Milliardäre nicht retten können und dann recht schnell selber drankommen; auch Ärzte müssen mal zum Arzt. Jean Paul schrieb sich Menschenliebe aufs Panier, entwarf von sich das Bild eines unendlich menschenfreundlichen, hundenärrischen, tierlieben, kinderlieben Dauereuphorikers und Philantrophen, der sogar übelwollende Rezensenten manierlich behandelt, hatte also trotz satirischer und satyrischer Tendenzen und immensen Wortkeulen und Sprachknüppeln eigentlich wenig bis keine Neigung zu beißendem Spott oder ewig unversöhnlichem Sarkasmus -- wieso aber vermag dann das humane Unschuldslamm im ‚Dr. Katzenberger‘ einen waschecht geborenen Zyniker so plausibel und von innen heraus zu schildern? Und später im ‚Luftschiffer Giannozzo‘ sah er auch nicht just äußerst gnädig und konziliant aufs ameisenhaft verkleinerte Menschengewimmel herab. Wohnte etwa auch in diesem ewigen Sonnyboy und Jasager ein heimlicher Misantroph? Sowohl Jean Paul wie Arthur Schopenhauer bevorzugten die altertümliche Form „etwan“ statt „etwa“.

By the way: Daß Schopenhauer in seinem Paralipomenon ‚Über Lerm und Geräusch‘ jene Fledermäuse erwähnt, die ihre Ohren mit einer Hautklappe schließen können, wird wohl, falls das damals nicht sowieso alle zoologischen Spatzen von den Dächern pfiffen, eine Reminiszenz an seine Katzenberger-Lektüre gewesen sein?! Apropos Lärmempfindlichkeit: Richard Wagner, der in Bayreuth als Platzhirsch gern Jean Paul in die Ecke drückt, schüttete Glasscherben vor seinem Fenster aus, damit Kinder ihn dort nicht beim Komponieren stören, was Jean Paul ihm nie verziehen hätte, der vor Hauslärm und Stadtlärm in die stille Rollwenzelei flüchtete, und siehe, bei seinen elf Ratgebertipps, wie man besser durchschlafen und einschlafen könne, nennt er einen zarten bescheidenen Lärm, der in kaum industrialisierten Zeiten aber doch sehr auffallen konnte und der dadurch entsteht, dass Hunde, die auf wackligen Stühlen schlummern, sich kratzen und den Stuhl damit zu rhythmischem Klappern bringen.

Jean Pauls pausenloser Faible für Absonderlichkeiten wie den doppelten Hasen findet sich auch in anderen Nebenwerken wie des ‚Geburtshelfers Vierneissels Fötusidealen‘, wo es sehr katzenbergerisch heißt: „Ein solcher Doppelhase (mehr wollt‘ ich oben nicht sagen ohne Bild) ist nun der gute Jetzo-Mensch von Bildung: immer kehrt er vier Läufe und zwei Löffel nach oben, um seinen Wandel im Himmel zu führen, indes er mit den entgegenstehenden auf der Erde umhersetzt und satt wird.“ Goethe hat das etwas unkurioser ausgedrückt: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen, die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen, die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den den Gefilden hoher Ahnen.“

Peter Handkes aktuellen Meditationen über den stillen Ort (Jean Paul koppelt auch gern mal „Ort“ und „Örtchen“) kommen eigentlich bereits im ‚Katzenberger‘ vor, wo darüber nachgedacht wird, was für Gefühle man beim Sitzen auf einer Klobrille gebären würde, bei der Vergegenwärtigung, daß eine VIP, alias: „ein großer Mann“ wie die Dichter Kotzebue, Schiller oder Theudobach auf diesem Lokus gesessen hätte.

Arno Schmidts Terminus „Halbtrauer“ steht bereits im ‚Katzenberger‘.

Auch im ‚Katzenberger‘ weicht Jean Paul wie immer sehr ab von dem Bild, das man sich später und jederzeit von ihm machte. Seit Heinrich Heine und vorher besteht die Übereinkunft, daß Jean Paul über Gebühr prüde sei, und wenn man bedenkt, was frühere und spätere Schriftsteller von Marquis de Sade bis Henry Miller so alles über Feuchtgebiete und Schoßgebete losließen, können die Klassiker tatsächlich vergleichsweise als etwas betreten und verklemmt erscheinen, sodaß man dann selber der Ansicht zuneigt, daß Jean Paul an verfrühtem Puritanismus gelitten habe. Wieso aber mokiert er sich dann in der Vorrede zum ‚Katzenberger‘ über die „keuschen Deutschen“ und verwendet auch mehrmals das Wort „Geschlecht“, zu welchem dazumal noch keiner „Sex“ sagte? Da England und Frankreich etwas freizügiger mit solcher schönen Materie umgingen, fordert er das frivole Welschland förmlich dazu auf, die keuschen Deutschen etwas aufzulockern in diesen Dingen: „Man bessre uns.“

Jean Paul konnte sich so ungeheuer in Frauenseelen hineinversetzen, daß er sich bemüßigt fühlte, aus angeblich weiblicher Sicht einen ziemlich göttlichen Gedankengang hervorzugebären, den eine Frau vielleicht dann doch nicht so formuliert hätte: „Ich wollt‘, es gäbe gar keine Männer, sondern die göttlichsten Sachen würden bloß von Weibern geschrieben; warum müssen gerade jene einfältigen Geschöpfe so viel Genie haben, und wir nichts?“

Geschwürhaft eingekapselt in den ‚Katzenberger‘ liegt dann noch das unübersehbare, tiefgreifende Intermezzo ‚Die Vernichtung‘, wie ein unverdaulicher Albtraum mitten in einer kuriosen Erzählung. Die ganze Vernichtungsmaschinerie der Natur kommt vollrohr zum Zug, Leichenberge, Verwesungsschauder, Lazarettpoesie, eingesargte Säuglinge, aus denen sich eine Wesenheit hervorhebt, die dies alles verursacht und also Gott sein muß, ehe dann die Schleier auffliegen und ein angehängtes Quasi-Paradies für Pseudo-Aufhellung sorgt.

Zur Rezeptionsgeschichte: ‚Katzenberger‘ und ‚Rheingold‘ wurden öfter und lieber gesendet, nachgedruckt, eingespielt als ‚Götterdämmerung‘ und ‚Der Titan‘, weil sie besser auf eine CD oder in ein kleines Buch passen.

Ulrich Holbein

im Januar 2013

ERSTES BÄNDCHEN

VORREDE

zum ersten und zweiten Bändchen der ersten Auflage

Mit den Taschenkalendern und Zeitschriften müssen die kleinen vermischten Werkchen so zunehmen – weil die Schriftsteller jene mit den besten Beiträgen zu unterstützen haben –, dass man am Ende kaum ein großes mehr schreibt. Selber der Verfasser dieses Werks (obwohl noch manches großen) ist in acht Zeitschriften und fünf Kalendern ansässig mit kleinen Niederlassungen und liegenden Gründen.

Dies frischte im Jahre 1804 in Jena die Voigtische Buchhandlung an, »kleine Schriften von Jean Paul Friedrich Richter«, ohne mich und ihr Gewissen zu fragen, in den zweiten Druck zu geben.

Sie frischt wieder mich an, ihre kleinen Schriften von J. P., gleichfalls ohne zu fragen, hier ans Licht zu stellen. Gelassen lass‘ ich hier die Handlung über Nachdruck des Nachdrucks, über Nachverlag des Nachverlags schreien und mache mit diesem Sünden-Bekenntnis gern das Publikum zum heiligen Stroppinus, welcher der Beichtvater Christi ist.1 Denn will Voigt klagen, dass ich ihm seinen Verlagartikel unbrauchbar gemacht und verdorben hätte durch völlige Verbesserung und Umarbeitung desselben: so versetz‘ ich, dass nur ein Sechstel dieses Buchs aus jenem genommen ist. Das zweite Sechstel sammelte ich aus Zeitschriften, woraus er noch nichts von mir gesammelt.

Das zweite und das dritte Drittel dieses Buchs sind ganz neu, nämlich Dr. Katzenbergers Badreise und Geschichte, so wie die Schluss-Polymeter; aber hierüber sei ein Beichtwort an den Leser vergönnt, würd‘ es ihm auch schwerer, zum zweiten Male der heilige Stroppinus zu sein. Und doch sind über das Folgende leichter vergebende Beichtväter zu haben als Beichtmütter. Es betrifft den Zynismus des Doktors Katzenberger.

Es gibt aber viererlei Zynismen. Der erste ist der rohe in Betreff des Geschlechts, wie ihn Aristophanes, Rabelais, Fischart, überhaupt die alten, obwohl keuschen Deutschen und die Ärzte haben. Dieser ist nicht sowohl gegen Sittlichkeit als gegen Geschmack und Zeit.

Der zweite Zynismus, den die Vernunftlehre annimmt, ist der subtile der Franzosen, der, ähnlich dem subtilen Totschlag und Diebstahl der alten Gottesgelehrten, einen zarten subtilen Ehebruch abgibt; dieser glatte nattergiftige Zynismus, der schwarze Laster zu glänzenden Sünden ausmalt und welcher, die Sünde verdeckend und erweckend, nicht als Satiriker die spanischen Fliegen etwan zu Ableitschmerzen auflegt, sondern welcher als Verführer die Kanthariden zu Untergangs-Reizen innerlich eingibt; dieser zweite Zynismus nimmt freilich, wie Kupfer, bei der Ausstellung ins Freie bloß die Farbe des Grüns an, das aber vergiftet, indes der erste schwere, gleich Blei, zur schwarzen verwittert.

Von dem zweiten Zynismus unterscheidet sich überhaupt der erste so vorteilhaft-sittlich, wie etwan (um undeutlicher zu sprechen) Epikurs Stall von der Sterkoranisten Stuhl, worin das Gottgewordne nicht Mensch wird; oder auch so wie boue de Paris (Lutetiae) oder caca du Dauphin von des griechischen Diogenes offizinellem album graecum verschieden ist.

– Beinahe macht die Rechtfertigung sich selber nötig; ich eile daher zum

dritten Zynismus, welcher bloß über natürliche, aber geschlechtlose Dinge natürlich spricht, wie jeder Arzt ebenfalls. Was kann aber hier die jetzt-deutsche Prüderie und Phrasen-Kleinstädterei erwidern, wenn ich sage: dass ich bei den besten Franzosen (z. B. Voltaire) häufig den cul, derrière und das pisser angetroffen, nicht zu gedenken der filles-à-douleur? In der Tat, ein Franzose sagt manches, ein Engländer gar noch mehr. Dennoch wollen wir Deutsche das an uns Deutschen nicht leiden, was wir an solchen Briten verzeihen und genießen, als hier hintereinander gehen: Butler, Shakespeare, Swift, Pope, Sterne, Smollet, der kleinern wie Donne, Peter Pindars und anderer zu geschweigen. Aber nicht einmal noch hat ein Deutscher so viel gewagt als die sonst in Sitten, Sprechen, Geschlecht- und Gesellschaft-Punkten und in weißer Wäsche so zart-bedenklichen Briten. Der reinliche, so wie keusche Swift drückte eben aus Liebe für diese geistige und leibliche Reinheit die Patienten recht tief in sein satirisches Schlammbad. Seine Zweideutigkeiten gleichen unsern Kaffeebohnen, die nie aufgehen können, weil wir nur halbe haben. Aber wir altjüngferlichen Deutschen bleiben die seltsamste Verschmelzung von Kleinstädterei und Weltbürgerschaft, die wir nur kennen. Man bessere uns! Nur ists schwer; wir vergeben leichter ausländische Sonnenflecken als inländische Sonnenfackeln. Unser salvo titulo und unser salva venia halten wir stets als die zu- und abtreibenden Rede-Pole den Leuten entgegen.

Der vierte (vielleicht der beste) Zynismus ist der meinige, zumal in der Katzenberger‘schen Badgeschichte. Dies schließ‘ ich daraus, weil er bloß in der reinlichsten Ferne sich in die gedachten britischen Fußstapfen begibt und sich wenig erlaubt oder nichts, sondern immer den Grundsatz festhält, dass das Komische jene Annäherung an die Zensur-Freiheiten der Arzneikunde verstatte, verlange, verziere, welche hier, wie natürlich, in der Badgeschichte eines Arztes nicht fehlen konnte. Schon Lessing hat in seinem Laokoon das Komisch-Ekle (das Ekel-Komische ist freilich etwas anderes) in Schutz genommen durch Gründe und durch Beispiele, z. B. aus des feinen Lord Chesterfield Stall- und Küchenstück einer hottentottischen Toilette.

Genug davon! Damit mir aber der gute Leser nicht so sehr glaube: so versichere ich ausdrücklich, dass ich ihn mit der ganzen Einteilung von vier Zynismen gleichsam wie mit heilendem Vierräuberessig bloß vorausbesprenge, um viel größere Befürchtungen vor Katzenberger zu erregen, als wirklich eintreffen, weil man damit am besten die eingetroffnen entschuldigt und verkleinert.

Gebe der Himmel, dass ich mit diesen zwei Bändchen das Publikum ermuntere, mich zu recht vielen zu ermuntern.

Bayreuth, den 28. Mai 1808

Jean Paul Fr. Richter

VORREDE ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Die Badreise wurde 1807 und 1808 schon geschrieben und 1809 zuerst gelesen, in Jahren, wo das alte Deutschland das Blutbad seiner Kinder zu seiner stärkenden Verjüngung gebrauchte; indes wurde das Buch mitten in der schwülen Kurzeit heiter ausgedacht und heiter aufgenommen.

Die neue Auflage bringt unter andern Zusätzen mehre neue Auftritte des guten Katzenbergers mit, welche ich eigentlich schon in der alten nicht hätte vergessen sollen, weil ich durch diese Vergesslichkeit seinem Charakter manchen liebenswürdigen Zug benommen. Was hingegen die Malerei des Ekels anlangt, an der einige keinen besondern Geschmack finden wollten, so ist sie ganz unverändert geblieben.

Denn wo sollte man aufhören wegzulassen? Die Ärzte – und folglich starke Leser derselben wie ich – schauen im wissenschaftlichen Ätherreich herab und unterscheiden durch ihre Vogelperspektive des untern Unrats sich ungemein von Hofdamen, die alles zu nahe nehmen. Und zweitens kommen denn nicht alle die verschiedenen Leser mit allen ihren verschiedenen Antipathien zum Bücherschreiber, so dass er ringsum von Leuten umstanden ist, deren jedem er etwas nicht schildern soll, dem Einen nicht das Schneiden in Kork, dem Andern nicht Abrauschen auf Atlas oder Glasklirren, dem Dritten nicht (z. B. mir selber) das Abbeißen vom Papier, dem Vierten vollends am wenigsten etwa Kreuzspinnen und so fort? – Wenn nun der Vierte, wie z. B. der freundliche Tieck im »Phantasus«, mit einem wahren Abscheu gegen die Figur der Kanker dasteht, so muss ihm freilich erbärmlich werden, wenn er dem Dr. Katzenberger zusehen soll, wie dieser die Spinnen vor Liebe gar so leicht verschluckt als ein anderer Fliegen. Und doch könnte der Doktor immer die Seespinnen, die Krebse und die Austern und andere tafelfähige Missgestalten für sich sprechen lassen und überhaupt nebenher die naturhistorische Bemerkung machen, dass die Tiere desto ungestalter ausfallen, je näher am Erdboden sie leben – so die chaotischen Anamorphosen und Kalibane des Meers und die Erdbohrer des Wurmreichs und die kriechende Insektenwelt – und dass hingegen – wie z. B. die letzte als fliegende und das schwebende Vogelreich und die hochaufgerichteten Tiere bis zum erhabnen Menschen hinauf beweisen – sich im Freien alles verschönere und veredle.

Der Hauptpunkt aber ist wohl dieser, dass das flüchtige Salz des Komischen manche Gegenstände, die wie ketzerische Meinungen in übelm Geruche stehen, so schnell zersetzt und verflüchtigt, dass der Empfindung gar keine Zeit zur Bekanntschaft mit ihnen gelassen wird. Da das Lachen alles in das kalte Reich des Verstandes hinüberspielt: so ist es (weit mehr noch als selber die Wissenschaft) das große Menstruum (Zersetz- und Niederschlagmittel) aller Empfindungen, sogar der wärmsten; folglich auch der ekeln.

– Freilich etwas ganz anderes wär‘ es gewesen, wenn ich im Punkte des Ekels den zarten Wieland zum Muster genommen hätte und, wie er2 auf einer Vignette, statt unseres Katzenbergers, dem über nichts übel wird, einen Leser hätte aufgestellt, der sich über den Doktor und das Gelesene öffentlich erbricht. Aber zum Glücke ist im ganzen Werke von allen Lesern kein einziger in Kupfer gestochen und kann also die andern auf dem Stuhle sesshaften nicht anstecken.

Bayreuth, den 16. Oktober 1822

Jean Paul Fr. Richter

1Kotzebues Reise nach Italien, B. II.

2In der ersten Ausgabe seiner Beiträge zur geheimen Geschichte der Menschheit wurde eine Rede über den moralischen Anstoß, den der Leser an gewissen Behauptungen nehmen würde, mit einer Vignette beschlossen, die ihn mit der letzten Wirkung eines Brechpulvers darstellt.

ERSTE ABTEILUNG

ANSTALTEN ZUR BADREISE

»Ein Gelehrter, der den ersten Juli mit seiner Tochter in seinem Wagen mit eignen Pferden ins Bad Maulbronn abreiset, wünscht einige oder mehre Reisegesellschafter.« – Dieses ließ der verwittibte ausübende Arzt und anatomische Professor Katzenberger ins Wochenblatt setzen. Aber kein Mensch auf der ganzen Universität Pira (im Fürstentume Zäckingen) wollte mit ihm gern ein paar Tage unter einem Kutschenhimmel leben; jeder hatte seine Gründe – und diese bestanden alle darin, dass niemand mit ihm wohlfeil fuhr als zuweilen ein hinten aufgesprungener Gassenjunge; gleichsam als wäre der Doktor ein ansässiger Posträuber von innen, so sehr kelterte er muntere Reisegefährten durch Zu- und Vor- und Nachschüsse gewöhnlich dermaßen aus, dass sie nachher als lebhafte Köpfe schwuren, auf einem Eilboten-Pferde wollten sie wohlfeiler angekommen sein und auf einer Krüppelfuhre geschwinder.

Dass sich niemand als Wagen-Mitbelehnter meldete, war ihm als Mittelmanne herzlich einerlei, da er mit der Anzeige schon genug dadurch erreichte, dass mit ihm kein Bekannter von Rang umsonst mitfahren konnte. Er hatte nämlich eine besondere Kälte gegen Leute von höherem oder seinem Range und lud sie deshalb höchst ungern zu Diners, Goûters, Soupers ein und gab lieber keine; leichter besucht‘ er die ihrigen zur Strafe und ironisch; – denn er denke (sagte er) wohl von nichts gleichgültiger als von Ehren-Gastereien, und er wolle ebenso gern à la Fourchette des Bajonetts gespeiset sein, als feurig wetteifern mit den Großen seiner Stadt im Gastieren, und er lege das Tischtuch lieber auf den Katzentisch. Nur einmal – und dies aus halbem Scherz – gab er ein Goûter oder Dégoûter, indem er um 5 Uhr einer Gesellschaft seiner verstorbnen Frau seinen Tee einnötigte, der Kamillen-Tee war. Man gebe ihm aber, sagte er, Lumpenpack, Aschenbrödel, Kotsassen, Soldaten auf Stelzfüßen: so wüsst‘ er, wem er gern zu geben habe; denn die Niedrigkeit und Armut sei eine hartnäckige Krankheit, zu deren Heilung Jahre gehören, eine Töpfer- oder Topf-Kolik, ein nachlassender Puls, eine fallende und galoppierende Schwindsucht, ein tägliches Fieber; – venienti aber, sage man, currite morbo, d. h., man gehe doch dem herkommenden Lumpen entgegen und schenk‘ ihm einen Heller, das treueste Geld, das kein Fürst sehr herabsetzen könne.

Bloß seine einzige Tochter Theoda, in der er ihres Feuers wegen als Vater und Witwer die vernachlässigte Mutter nachliebte, regte er häufig an, dass sie – um etwas Angenehmeres zu sehen als Professoren und Prosektoren – Teegesellschaften, und zwar die größten, einlud. Er drang ihr aber nicht eher diese Freude auf, als bis er durch Wetterglas, Wetterfisch und Fußreisen sich völlig gewiss gemacht, dass es gegen Abend stürme und gieße, so dass nachher nur die wenigen warmen Seelen kamen, die fahren konnten. Daher war Katzenbergers Einwilligen und Eingehen in einen Tee eine so untrügliche Prophezeiung des elenden Wetters als das Hinuntergehen des Laubfrosches ins Wasser. Auf diese Weise aber füllte er das liebende Herz der Tochter aus; denn diese musste nun, nach dem närrischen Kontrapunkt und Marschreglement der weiblichen Visitenwelt, von jeder Einzelnen, die nicht gekommen war, zum Gutmachen wieder eingeladen werden; und so konnte sie oft ganz umsonst um sieben verschiedne Teetische herum sitzen, mit dem Strumpf in der Hand. Indes erriet die Tochter den Vater bald und machte daher ihr Herz lieber bloß mit ihrer innersten einzigen Freundin Bona satt.

Auch für seine Person war Katzenberger kein Liebhaber von persönlichem Umgang mit Gästen: »Ich sehe eigentlich«, sagte er, »niemand gern bei mir, und meine besten Freunde wissen es und können es bezeugen, dass wir uns oft in Jahren nicht sehen; denn wer hat Zeit? – Ich gewiss nicht.« Wie wenig er gleichwohl geizig war, erhellt daraus, dass er sich für zu freigebig ansah. Das wissenschaftliche Licht verkalkte nämlich seine edeln Metalle und äscherte sie zu Papiergeld ein; denn in die Bücherschränke der Ärzte, besonders der Zergliederer, mit ihren Foliobänden und Kupferwerken leeren sich die Silberschränke aus, und er fragte einmal ärgerlich: »Warum kann das Pfarrer- und Poetenvolk allein für ein Lumpengeld sich sein gedrucktes Lumpenpapier einkaufen, das ich freilich kaum umsonst haben möchte?« – Wenn er vollends in schönen Phantasien sich des Pastors Göze Eingeweidewürmerkabinett ausmalte – und den himmlischen Abrahams-Schoß, auf dem er darin sitzen würde, wenn er ihn bezahlen könnte – und das ganze wissenschaftliche Arkadien in solchem Wurmkollegium, wovon er der Präsident wäre –, so kannte er, nach dem Verzichtleisten auf eine solche zu teuere Brautkammer physio- und pathologischer Schlüsse, nur ein noch schmerzlicheres und entschiedeneres, nämlich das Verzichtleisten auf des Berliner Walters Präparaten-Kabinett, für ihn ein kostbarer himmlischer Abrahams-Tisch, worauf Seife, Pech, Quecksilber, Öl und Terpentin und Weingeist in den feinsten Gefäßen von Gliedern aufgetragen wurden samt den besten trockensten Knochen dazu; was aber half dem anatomischen Manne alles träumerische Denken an ein solches Feld der Auferstehung (klopstockisch zu singen), das doch nur ein König kaufen konnte? –

Der Doktor hielt sich daher mit Recht für freigebig, da er, was er seinem Munde und fremdem Munde abdarbte, nicht bloß einem teuern Menschen-Kadaver und lebendigen Hunde zum Zerschneiden zuwandte, sondern sogar auch seiner eignen Tochter zum Erfreuen, soweit es ging.

Dieses Mal ging es nun mit ihr nach dem Badorte Maulbronn, wohin er aber reisete, nicht um sich – oder sie – zu baden, oder um da sich zu belustigen, sondern sein Reisezweck war die ...

REISEZWECKE.

Katzenberger machte statt einer Lustreise eigentlich eine Geschäftreise ins Bad, um da nämlich seinen Rezensenten beträchtlich auszuprügeln und ihn dabei mit Schmähungen an der Ehre anzugreifen, nämlich den Brunnen-Arzt Strykius, der seine drei bekannten Meisterwerke – den Thesaurus Haematologiae, die de monstris epistola, den fasciculus exercitationum in rabiem caninam anatomico-medico-curiosarum3, – nicht nur in sieben Zeitungen, sondern auch in sieben Antworten oder Metakritiken auf seine Antikritiken überaus heruntergesetzt hatte.

Indes trieb ihn nicht bloß die Herausgabe und kritische Rezension, die er von dem Rezensenten selber durch neue Lesarten und Verbesserung der falschen vermittelst des Ausprügelns veranstalten wollte, nach Maulbronn, sondern er wollte auch auf seinen vier Rädern einer Gevatterschaft entkommen, deren bloße Verheißung ihm schon Drohung war. Es stand die Niederkunft einer Freundin seiner Tochter vor der Türe. Bisher hatte er hin und her versucht, sich mit dem Vater des Droh-Patchens (einem gewissen Mehlhorn) etwas zu überwerfen und zu zerfallen, ja sogar dessen guten Namen ein bisschen anzufechten, eben um nicht den seinigen am Taufsteine herleihen zu müssen. Allein es hatte ihm das Erbittern des gutmütigen Zollers und Umgelders4 Mehlhorn nicht besonders glücken wollen, und er machte sich jede Minute auf eine warme Umhalsung gefasst, worin er die Gevatterarme nicht sehr von Fangkloben und Hummerscheren unterscheiden konnte. Man verüble dem Doktor aber doch nicht alles; erstlich hegte er einen wahren Abscheu vor allen Gevatterschaften überhaupt, nicht bloß der Ausgaben halber – was für ihn das Wenigste war, weil er das Wenigste gab –, sondern wegen der geldsüchtigen Willkür, welche ja in einem Tage zwanzig Mann stark von Kreißenden alles Standes ihn anpacken und aderlassend anzapfen konnte am Taufbecken. Zweitens konnt‘ er den einfältigen Aberglauben des Umgelders Mehlhorn nicht ertragen, geschweige bestärken, welcher zu Theoda, da unter dem Abendmahl-Genuss gerade bei ihr der Kelch frisch eingefüllt wurde5, mehrmal listig-gut gesagt hatte: »So wollen wir doch sehen, geliebts Gott, meine Mademoiselle, ob die Sache eintrifft und Sie noch dieses Jahr zu Gevatter stehen; ich sage aber nicht, bei wem.« – Und drittens wollte Katzenberger seine Tochter, deren Liebe er fast niemand gönnte als sich, im Wagen den Tagopfern und Nachtwachen am künftigen Kindbette entfahren, von welchen die Freundin selber sie sonst, wie er wusste, nicht abbringen konnte. »Bin ich und sie aber abgeflogen«, dacht‘ er, »so ists doch etwas, und die Frau mag kreißen.«

EIN REISEGEFÄHRTE.

Wider alle Erwartung meldete sich am Vorabend der Abreise ein Fremder zur Mitbelehnschaft des Wagens.

Während der Doktor in seinem Missgeburten-Kabinette einiges abstaubte von ausgestopften Tierleichen, durch Räuchern die Motten (die Teufel derselben) vertrieb und den Embryonen in ihren Gläschen Spiritus zu trinken gab: trat ein fremder feingekleideter und feingesitteter Herr in die Wohnstube ein, nannte sich Herr von Nieß und überreichte der Tochter des Doktors, nach der Frage, ob sie Theoda heiße, ein blau eingeschlagenes Briefchen an sie; es sei von seinem Freunde, dem Bühnen-Dichter Theudobach, sagte er. Das Mädchen entglühte hochrot und riss zitternd mit dem Umschlag in den Brief hinein (die Liebe und der Hass zerreißen den Brief, so wie beide den Menschen verschlingen wollen) und durchlas hastig die Buchstaben, ohne ein anderes Wort daraus zu verstehen und zu behalten als den Namen Theudobach. Herr von Nieß schaute unter ihrem Lesen scharf und ruhig auf ihrem geistreichen beweglichen Gesicht und in ihren braunen Feuer-Augen dem Entzücken zu, das wie ein weinendes Lächeln aussah; einige Pockengruben legten dem beseelten und wie Frühling-Büsche zart- und glänzend-durchsichtigen Angesicht noch einige Reize zu, um welche der Doktor Jenner die künftigen Schönen bringt. »Ich reise«, sagte der Edelmann darauf, »eben nach dem Badeorte, um da mit einer kleinen deklamierenden und musikalischen Akademie von einigen Schauspielen meines Freundes auf seine Ankunft selber vorzubereiten.« Sie blieb unter der schweren Freude kaum aufrecht; den zarten, nur an leichte Blüten gewohnten Zweig wollte fast das Fruchtgehänge niederbrechen. Sie zuckte mit einer Bewegung nach Nießens Hand, als wollte sie die Überbringerin solcher Schätze küssen, streckte ihre aber – heiß und rot über ihren, wie sie hoffte, unerratenen Fehlgriff – schnell nach der entfernten Türe des Missgeburten-Kabinettes aus und sagte: »Da drin ist mein Vater, der sich freuen wird.«

Er fuhr fort: er wünsche eben ihn mehr kennen zu lernen, da er dessen treffliche Werke, wiewohl als Laie, gelesen. Sie sprang nach der Türe. »Sie hörten mich nicht aus« – sagte er lächelnd. – »Da ich nun im Wochenblatte die schöne Möglichkeit gelesen, zugleich mit einer Freundin meines Freundes und mit einem großen Gelehrten zu reisen:« – Hier aber setzte sie ins Kabinett hinein und zog den räuchernden Katzenberger mit einem ausgestopften Säbelschnäbler in der Hand ins Zimmer. Sie selber entlief ohne Schal über die Gasse, um ihrer schwangern Freundin Bona die schönste Neuigkeit und den Abschied zu sagen.

Sie musste aber jubeln und stürmen. Denn sie hatte vor einiger Zeit an den großen Bühnendichter Theudobach – der bekanntlich mit Schiller und Kotzebue die drei deutschen Horatier ausmacht, die wir den drei tragischen Curiatiern Frankreichs und Griechenlands entgegensetzen – in der Kühnheit des langen geistigen Liebetrankes der Jugendzeit unter ihrem Namen geschrieben, ohne Vater und Freundin zu fragen, und hatte ihm gleichsam in einem warmen Gewitterregen ihres Herzens alle Tränen und Blitze gezeigt, die er wie ein Sonnengott in ihr geschaffen und gesammelt hatte. Selig, wer bewundert und den unbekannten Gott schon auf der Erde als bekannten antrifft! – Im Briefchen hatte sie noch über ein umlaufendes Gerücht seiner Badreise nach Maulbronn gefragt und die seinige unter die Antriebe der ihrigen gesetzt. Alle ihre schönsten Wünsche hatte nun sein Blatt erfüllt.

BONA.

Bona – die Frau des Umgelders Mehlhorn – und Theoda blieben zwei Milchschwestern der Freundschaft, welche Katzenberger nicht auseinandertreiben konnte, er mochte an ihnen so viel scheidekünsteln, als er wollte. Theoda nun trug ihr brausendes Saitenspiel der Freude in die Abschiedsstunde zur Freundin; und reichte ihr Theudobachs Brief, zwang sie aber, zu gleicher Zeit dessen Inhalt durchzusehen und von ihr anzuhören. Bona suchte es zu vereinigen und blickte mehrmals zuhorchend zu ihr auf, sobald sie einige Zeilen gelesen: »So nimmst du gewiss einen recht frohen Abschied von hier?«, sagte sie. »Den frohesten«, versetzte Theoda. – »Sei nur deine Ankunft auch so, du springfedriges Wesen! Bringe uns besonders dein beschnittenes aufgeworfnes Näschen wieder zurück und dein Backenrot! Aber dein deutsches Herz wird ewig französisches Blut umtreiben«, sagte Bona. Theoda hatte eine Elsasserin zur Mutter gehabt. – »Schneie noch dicker in mein Wesenchen hinein!«, sagte Theoda. »Ich tu es schon, denn ich kenne dich«, fuhr jene fort. »Schon ein Mann ist im Ganzen ein halber Schelm, ein abgefeinerter Mann vollends, ein Theaterschreiber aber ist gar ein Fünfviertels-Dieb; dennoch wirst du, fürchte ich, in Maulbronn vor deinem teuern Dichter mit deinem ganzen Herzen herausbrausen und -platzen und hundert ungestüme Dinge tun, nach denen freilich dein Vater nichts fragt, aber wohl ich.«

»Wie, Bona, fürcht‘ ich denn den großen Dichter nicht? Kaum ihn anzusehen, geschweige anzureden wag‘ ich!«, sagte sie. »Vor Kotzebue wolltest du dich auch scheuen; und tatest doch dann keck und mausig«, sagte Bona. – »Ach, innerlich nicht«, versetzte sie.

Allerdings nähern die Weiber sich hohen Häuptern und großen Köpfen – was keine Tautologie ist – mit einer weniger blöden Verworrenheit als die Männer; indes ist hier Schein in allen Ecken; ihre Blödigkeit vor dem Gegenstande verkleidet sich in die gewöhnliche vor dem Geschlecht; – der Gegenstand der Verehrung findet selber etwas zu verehren vor sich – und muss sich zu zeigen suchen, wie die Frau sich zu decken; – und endlich bauet jede auf ihr Gesicht; »man küsst manchem heiligen Vater den Pantoffel, unter den man ihn zuletzt selber bekommt«, kann die jede denken.

»Und was wäre es denn«, fuhr Theoda fort, »wenn ein dichtertolles Mädchen einem Herder oder Goethe öffentlich auf einem Tanzsaale um den Hals fiele?« –

»Tu es nur deinem Theudobach«, sagte Bona, »so weiß man endlich, wen du heiraten willst!« – »Jeden – versprech‘ ich dir –, der nachkommt; hab‘ ich nur einmal meinen männlichen Gott gesehen und ein wenig angebetet: dann spring‘ ich gern nach Hause und verlobe mich in der Kirche mit seinem ersten besten Küster oder Balgtreter und behalte jenen im Herzen, diesen am Halse.«

Bona riet ihr, wenigstens den Herrn von Nieß, wenn er mitfahre, unterwegs recht über seinen Freund Theudobach auszuhorchen, und bat sie noch einmal um weibliche Schleichtritte. Sie versprachs ihr und deshalb noch einen täglichen Bericht ihrer Badreise dazu. Sie schien nach Hause zu trachten, um zu sehen, ob ihr Vater den Edelmann in seine Adoptionloge der Kutsche aufgenommen. Unter dem langen festen Kusse, wo Tränen aus den Augen beider Freundinnen drangen, fragte Bona: »Wann kommst du wieder?« – »Wenn du niederkommst. – Meine Kundschafter sind bestellt. – Dann laufe ich im Notfalle meinem Vater zu Fuße davon, um dich zu pflegen und zu warten. O, wie wollt‘ ich noch zehnmal froher reisen, wär‘ alles mit dir vorüber.« – »Dies ist leicht möglich«, dachte Bona im andern Sinne und zwang sich sehr, die wehmütigen Empfindungen einer Schwangern, die vielleicht zwei Todespforten entgegengeht, und die Gedanken: dies ist vielleicht der Abschied von allen Abschieden, hinter weinende Wünsche zurückzustecken, um ihr das schöne Abendrot ihrer Freude nicht zu verfinstern.

HERR VON NIESS

Wer war dieser ziemlich unbekannte Herr von Nieß? Ich habe vor, noch vor dem Ende dieses Perioden den Leser zu überraschen durch die Nachricht, dass zwischen ihm und dem Dichter Theudobach, von welchem er das Briefchen mitgebracht, eine so innige Freundschaft bestand, dass sie beide nicht bloß eine Seele in zwei Körpern, sondern gar nur in einem Körper ausmachten, kurz eine Person. Nämlich Nieß hieß Nieß, hatte aber als auftretender Bühnen-Dichter um seinen dünnen Alltagnamen den Festnamen Theudobach wie einen Königmantel umgeworfen und war daher in vielen Gegenden Deutschlands weit mehr unter dem angenommenen Namen als unter dem eignen bekannt, so wie von dem hier schreibenden Verfasser vielleicht ganze Städte, wenn nicht Weltteile, es nicht wissen, dass er sich Richter schreibt, obgleich es freilich auch andre gibt, die wieder seinen Parade-Namen nicht kennen. Gleichwohl gelangten alle Mädchenbriefe leicht unter der Aufschrift Theudobach an den Dichter Nieß – bloß durch die Oberzeremonienmeister oder Hofmarschälle der Autoren; man macht nämlich einen Umschlag an die Verleger.

Nun hatte Nieß als ein überall berühmter Bühnen-Dichter sich längst vorgesetzt, einen Badeort zu besuchen, als den schicklichsten Ort, den ein Autor voll Lorbeeren, der gern ein lebendiges Pantheon um sich aufführte, zu erwählen hat, besonders wegen des vornehmen Morgen-Trinkgelags und der Maskenfreiheiten und des Kongresses des Reichtums und der Bildung solcher Örter. Er erteilte dem Bade Maulbronn, das seine Stücke jeden Sommer spielte, den Preis jenes Besuches; nur aber wollt‘ er, um seine Abenteuer pikanter und scherzhafter zu haben, allda inkognito unter seinem eignen Namen Nieß anlangen, den Badegästen eine musikalische deklamatorische Akademie von Theudobachs Stücken geben; und dann gerade, wenn der sämtliche Hörzirkel am Angelhaken der Bewunderung zappelte und schnalzte, sich unversehens langsam in die Höhe richten und mit Rührung und Schamröte sagen: Endlich muss mein Herz überfließen und verraten, um zu danken; denn ich bin selbst der weit überschätzte Theater-Dichter Theudobach, der es für unsittlich hält, so aufrichtige Äußerungen, statt sie zu erwidern, an der Türe der Anonymität bloß zu behorchen. Dies war sein leichter dramatischer Entwurf. In einigen Zeitungen veranlasste er deshalb noch den Artikel: der bekannte Theater-Dichter Theudobach werde, wie man vernehme, dieses Jahr das Bad Maulbronn gebrauchen.

Da es gegen meine Absicht wäre, wenn ich durch das Vorige ein zweideutiges Streiflicht auf den Dichter würfe: so verspreche ich hier förmlich, weiter unten den Lauf der Geschichte aufzuhalten, um auseinanderzusetzen, warum ein großer Theater-Dichter viel leichter und gerechter ein großer Narr wird als ein andrer Autor von Gewicht; wozu schon meine Beweise seines größern Beifalls, hoff‘ ich, ausreichen sollen.

Nieß wusste also recht gut, was er war, nämlich eine Bravour-Arie in der dichterischen Sphärenmusik, ein geistiger Kaisertee, wenn andere (z. B. viele unschuldige Leser dieses) nur braunen Tee vorstellen. Es ist überhaupt ein eignes Gefühl, ein großer Mann zu sein – ich berufe mich auf der Leser eignes – und den ganzen Tag in einem angebornen geistigen Cour- und Kuranzuge umherzulaufen; aber Nieß hatte dieses Gefühl noch stärker und feiner als einer. – Er konnte sein Haar nicht auskämmen, ohne daran zu denken, welchen feurigen Kopf der Kamm (seinen Anbeterinnen vielleicht so kostbar als ein Gold-Kamm) regle, lichte, egge und beherrsche, und wie eben so manches Gold-Haar, um welches sich die Anbeterinnen für Haar-Ringe raufen würden, ganz gleichgültig dem Kamm in Zähnen stecken bleibe als sonst dem Mexiko das Gold. – Er konnte durch kein Stadttor einfahren, ohne es heimlich zu einem Triumphtor seiner selber und der Einwohner unter dem Schwibbogen auszubauen, weil er aus eigner jugendlicher Erfahrung noch gut wusste, wie sehr ein großer Mann labe – und sah daher zuweilen dem Namen-Registrator des Tors stark ins Gesicht, wenn er gesagt: Theudobach, um zu merken, ob der Tropf jetzt außer sich komme oder nicht. – Ja er konnte zuletzt in Hotels voll Gäste schwer auf einem gewissen einsitzigen Orte sitzen, ohne zu bedenken, welches Eden vielleicht mancher mit ihm zugleich im Gasthofe übernachtenden Jünglingseele, die noch jugendlich die Autor-Achtung übertreibt, zuzuwenden wäre, wenn sie sich darauf setzte und erführe, wer früher da gewesen. »O, so gern will ich jeden Winkel heiligen zum Gelobten Lande für Seelen, die etwas aus meiner machen – und mit jedem Stiefelabsatze auf dem schlimmsten Wege wie ein Heiliger verehrte Fußstapfen ausprägen auf meiner Lebensbahn, sobald ich nur weiß, dass ich Freude errege.« Sobald Nieß Theodas Brief erhalten – worin die zufällige Hochzeit der Namen Theoda und Theudobach ihn auf beiden Fußsohlen kitzelte –, so nahm er ohne weiteres mit einer Hand voll Extrapostgeld den Umweg über Pira, um der Anbeterin, wie ein homerischer Gott, in der anonymen Wolke zu erscheinen; und sobald er vollends in der vorletzten Station im Piraner Wochenblatte die Anzeige des Doktors gelesen: so war er noch mehr entschieden; dazu nämlich, dass sein Bedienter reiten und sein Wagen heimlich nachkommen sollte.

In diesen weniger geld- als abgabenreichen Zeiten mag es vielleicht Nießen empfehlen, wenn ich drucken lasse, dass er Geld hatte und darnach nichts fragte, und dass er für seinen Kopf und für seine Köpfe ein Herz suchte, das durch Liebe und Wert ihn für alle jene bezahlte und belohnte.

Mit dem ersten Blick hatte er den ganzen Doktor ausgegründet, der mit schlauen grauen Blitz-Augen vor ihn trat, den Säbelschnäbler streichelnd; Nieß legte – nach einer kurzen Anzeige seiner Person und seines Gesuchs – ein Röllchen Gold auf den Nähtisch mit dem Schwure: »Nur unter dieser Bedingung aller Auslagen nehm‘ er das Glück an, einem der größten Zergliederer gegenüber zu sein.« – »Fiat! Es gefällt mir ganz, dass Sie rückwärts