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Aus dem Englischen von

Paul Fleischmann

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Für meine Famile

Impressum

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Face the Music. A Life Exposed bei Harper-One (an imprint of Harper Collins Publishers, New York).

Soweit nicht anders angegeben, entstammen die Fotos der persönlichen Sammlung des Autors.

Copyright © 2014 by Paul Stanley

Deutsche Erstausgabe

© 2014 by Hannibal

Hannibal ist ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

Übersetzung: Paul Fleischmann

Redaktion: Rainer Schöttle

Foto Buchvorderseite: © Brian Lowe

Design Buchvorderseite: © Faceout Studio, Charles Brock

Foto Buchrückseite: © Ash Newell

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Alle Texte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-85445-456-4

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-455-7

Inhalt

Prolog

Teil 1

Keine Zuflucht, kein Entrinnen

Teil 2

Kampf ums Überleben in der City

Teil 3

Durch das Auf und Ab des Lebens

Bildstrecke

Teil 4

Unter Druck

Teil 5

Auf dem Highway zum Herzschmerz

Teil 6

Auf ewig

Über den Autor

Über den Mitautor

Danksagungen

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Ich setze mich und blicke in den Spiegel. Einen Augenblick lang starre ich in die Augen meines Gegenübers. Der Spiegel ist umrahmt von hell strahlenden Glühbirnen und auf dem Tisch davor liegt ein kleines schwarzes Schminkset. In drei Stunden müssen wir auf die Bühne –Zeit also für das Ritual, das seit 40 Jahren mein Berufsleben bestimmt.

Zuerst trage ich ein Gesichtswasser auf, damit sich die Poren schließen. Dann schnappe ich mir eine dicke, weiße Grundierungscreme. Ich tunke meine Finger in die Pampe und beginne, sie auf meinem Gesicht zu verteilen, wobei ich um mein rechtes Auge genügend Platz freilasse, um dort anschließend die Umrisse des Sterns aufzuzeichnen.

Es gab Zeiten, in denen das Make-up eine Maske war, hinter der sich das Kind verbarg, das bis dahin einsam und unglücklich gewesen war. Ich wurde ohne rechtes Ohr geboren und bin auf dieser Seite auch taub. Eine meiner schlimmsten Kindheitserinnerungen ist mein Spitzname „Stanley, das einohrige Monster“. Oft kannte ich die Kinder, die mich so riefen, gar nicht. Dafür kannten sie mich, denn ich war das Kind mit dem verkümmerten Ohr. Wenn ich unter Leuten war, fühlte ich mich nackt. Ich war mir auf schmerzhafte Weise bewusst, dass ich ständig unter die Lupe genommen wurde. Und meine Familie zu Hause war zu zerrüttet, um mich auch nur irgendwie zu unterstützen.

Sobald das Weiß aufgetragen ist, zeichne ich um mein rechtes Auge mit freier Hand die Umrisse des Sterns, wobei sich die Linie stellenweise mit der weißen Grundierung überschneidet. Deshalb reinige ich im Anschluss das Innere des Sterns mit einem Ohrenstäbchen und säubere außerdem noch meine Lippen.

Die Figur, die sich auf meinem Gesicht abzuzeichnen beginnt, entstand ursprünglich als Tarnung, die verbergen sollte, wer ich wirklich war. Viele Jahre lang fühlte es sich so an, als würde eine andere Persönlichkeit zum Vorschein kommen. Das unsichere, unvollkommene Kind mitsamt seinen Selbstzweifeln und seiner inneren Zerrissenheit wurde überschminkt und dieser andere Typ kam ans Tageslicht. Ein Typ, den ich erschaffen hatte, um allen zu verdeutlichen, dass sie netter zu mir hätten sein sollen, denn ich war etwas Besonderes. Ich erschuf einen Kerl, der tatsächlich die Herzen der Mädchen eroberte. Leute, die ich aus meiner Kindheit kannte, wunderten sich über meinen Erfolg mit KISS. Und ich kann sie verstehen. Sie hatten ja keine Ahnung, wie es in mir aussah. Sie wussten nicht, warum ich so war, wie ich eben war, und welche Ziele ich mir gesetzt hatte. Über nichts von alldem wussten sie Bescheid. Für sie war ich nur irgendein verkorkster Freak – oder eben ein Monster.

Als Nächstes stehe ich auf und gehe in einen anderen Raum. Üblicherweise schließt ein Badezimmer an die Garderobe an. Ich halte die Luft an und pudere mein ganzes Gesicht mit weißem Pulver. Das ermöglicht mir, während der Show zu schwitzen, ohne dass dabei die Schminke verläuft. Ich kann die weiße Farbe in meinem Gesicht nun berühren, ohne dass sie an meinem Finger haften bleibt. Ich bin beim Herumprobieren auf diese Technik gestoßen. Anfangs konnte ich nämlich nichts mehr sehen, sobald das Make-up in meine Augen rann.

Als kleiner Junge träumte ich hin und wieder, dass ich als Erwachsener ein maskierter Verbrechensbekämpfer sein würde. Ich wollte der Lone Ranger oder Zorro sein. Ich wollte der Typ sein, der auf einem Pferd saß und eine Maske trug – so, wie ich das aus Filmen und dem Fernsehen kannte. Dieser einsame Junge wollte genau das tun – und dieser einsame Junge würde genau das tun. Ich erschuf meine eigene Realität. Die Figur, die ich erschuf – Starchild – würde auf die Bühne gehen und dieser Typ sein, der Superheld, der im Gegensatz zur Person stand, die ich eigentlich war. Ich genoss es, dieser Typ zu sein.

Aber über kurz oder lang musste ich wieder runter von der Bühne, und wenn ich diese Stufen hinabstieg, wartete bereits wieder die Totalität des Lebens auf mich. Jahrelang war Was nun? das Einzige, das mir dann in den Sinn kam. Damals war mein Zuhause eine Art Fegefeuer. Während der kurzen Phasen, in denen KISS gerade nicht auf Tour waren, saß ich in meiner New Yorker Wohnung auf dem Sofa und dachte darüber nach, dass mir niemand glauben würde, dass ich das beschissene Gefühl hatte, nirgendwo dazuzugehören. Die Band war mein Lebenserhaltungssystem, hielt aber auch die Art von Beziehungen, die zu einem echten Leben gehören, von mir fern. Zu Hause nagte etwas an mir – ein wichtiges Bedürfnis blieb unerfüllt. Einerseits war ich immer allein und unnahbar, aber andererseits hielt ich es nicht aus, auf mich allein gestellt zu sein.

Im Verlauf der Zeit verschwammen die Grenzen zwischen der Kunstfigur und dem Menschen, der ich war. Dieser Typ fing an, mich auch abseits der Bühne zu begleiten. Die Girls wollten ihn, diesen Typen. Die Leute nahmen einfach an, ich wäre dieser Typ. Ich konnte die Wirklichkeit von der Bühne verbannen, aber nicht dauerhaft aussperren. Einen ganzen Tag als Starchild zu bestreiten war keine einfache Angelegenheit, da ich es mir selbst nicht abkaufte. Ich kannte die Wahrheit. Ich wusste, wer ich wirklich war. Außerdem war ich sehr defensiv. Während sich Leute um mich herum über einander lustig machten, konnte ich zwar gut austeilen, war aber nicht bereit einzustecken. Mir war klar, dass es viel lustiger sein müsste, über sich selbst, seine Macken und Defizite lachen zu können, doch gelang es mir nicht, mich zu überwinden. Ich konnte einfach nicht locker lassen. Es war eine instinktive Reaktion darauf, als Kind ständig angestarrt und ausgelacht worden zu sein.

Ich war immer noch zu unsicher. Obwohl ich es selbst nicht ganz verstand (genauso wenig wie alle anderen, da ich mich ja nie zu meinem Ohr äußerte), wurde ich weiterhin von meiner bitteren Vergangenheit angetrieben. Meine Witze waren unterlegt mit einem boshaften Unterton und gingen allesamt auf Kosten anderer.

Schlägst du mich, schlag ich doppelt zurück.

Es lebt sich leicht, wenn man die Hand zur Faust geballt hat. Aber einer geschlossenen Hand kann man auch nichts geben, wohingegen eine offene Hand in der Lage ist, sehr viel entgegenzunehmen. Leider blieb mir diese Erkenntnis sehr, sehr lange verborgen. Während dieser Zeit spürte ich einen inneren Konflikt, der wiederum in ein Gefühl der Unzufriedenheit, Unzulänglichkeit und tiefen Einsamkeit eingebettet zu sein schien.

Nachdem ich die Schminke mit dem Puder präpariert habe, gehe ich zurück in die Garderobe, setze mich wieder vor den Spiegel und entferne Puderkörner, die sich in den sternförmigen Umriss um mein Auge verirrt haben. Nun fahre ich diesen Umriss mit einem schwarzen Augenbrauenstift nach. Anschließend nehme ich schwarze Schmierfarbe, die etwas zäher ist als die weiße Clownfarbe, und einen Pinsel, um den Stern aufzumalen. Dann wechsle ich wieder ins andere Zimmer und fixiere das schwarze Make-up mit Talkumpuder, das weniger matt als das andere Puder auf meinem restlichen Gesicht ist. Ich kehre erneut in die Garderobe zurück und umrande mein linkes Auge mit schwarzem, wasserfestem Eyeliner. Während das Ganze trocknet, betrachte ich mich im Spiegel.

In früheren Lebensabschnitten mochte ich die Person, die ich im Spiegel sah, nicht immer. Aber ich gab mir stets Mühe, nicht gleichgültig zu bleiben und der Mensch zu werden, der ich gerne sein wollte. Das Problem war, dass – egal, was ich tat – nichts mich meinem Ziel näher zu bringen schien. Während KISS einige Wellentäler durchfuhren, begriff ich, dass vieles, von dem ich annahm, dass es mich glücklich machen oder mir etwas Selbstsicherheit schenken würde, nichts brachte. Ich dachte, dass es mir helfen würde, berühmt zu sein. Ich dachte, dass Reichtum der Schlüssel wäre. Ich dachte, es ging darum, begehrenswert zu sein. 1976 gelang uns schließlich mit dem Album KISS Alive! der Durchbruch. Jedoch fühlte ich mich nicht im Geringsten besser, wenn ich Leuten meinen Ruhm unter die Nase rieb. Bis Ende der Siebzigerjahre hatten wir Millionen von Dollars eingenommen, doch realisierte ich, dass das Geld – und die Kleidung, die Autos und die seltenen Gitarren, die ich damit kaufte – mich auch nicht glücklich machen konnte. Und was das Stichwort „begehrenswert“ angeht, so war Sex ab der Veröffentlichung unserer ersten Schallplatte andauernd und überall verfügbar. Allerdings musste ich einsehen, dass es möglich war, mit jemandem zusammen zu sein und sich trotzdem einsam zu fühlen. Ich habe einmal gehört, dass man sich nie einsamer fühlen wird, als wenn man mit der falschen Person schläft. Das ist die Wahrheit. Auch wenn es schlimmere Formen des Leids gibt, als zwischen Penthouse-Pets und Playboy-Häschen zu nächtigen, so erwies sich die Glückseligkeit dieser Erfahrungen doch als flüchtig. Durchaus anregend, ja, aber vorübergehend. Ich machte die Erfahrung, dass nichts davon die Leere in mir auszufüllen vermochte.

Als KISS sich 1983 schließlich das Make-up aus den Gesichtern wischten, wurde ich noch mehr zum Starchild – oder eher noch: Die Kunstfigur wurde zu mir. Mein eigenes Gesicht wurde zu dem des Starchilds. Ich hatte bis zu einem gewissen Grad das schüchterne, defensive und unbeliebte Kind aus mir verbannt, doch hatte ich es weder ersetzt noch neu zusammengebaut. Ich war eine Art Hülle, ein leeres Gefäß. Ich befand mich noch immer auf der Suche nach der Person, die ich werden wollte, und Starchild – auch ohne den sichtbaren Stern – blieb weiterhin die Maske, die ich trug, um mit der Welt in Kontakt zu treten. Doch dachte ich – oder zumindest glaubte ich –, dass es leichter wäre, Leute auf Distanz zu halten, als ihnen auf einer persönlicheren Ebene zu begegnen. Letzten Endes muss man erst einmal mit sich selbst klarkommen, bevor man sich auf andere Menschen einlassen kann. Und das war noch immer nicht der Fall bei mir. Daher schien mein Leben keinen rechten Sinn zu ergeben. Wo war denn die Familie? Wo die Freunde? Wo war das „Zuhause“?

Es gab einfach kein Entkommen aus der fundamentalen Erkenntnis, dass ich mich immer noch nicht wohl in meiner Haut fühlte. Wenn man vor der Wahrheit nicht fliehen kann, muss man sie entweder verdrängen oder die Dinge in Ordnung bringen. So einfach ist das. Mir entspricht es eher, Dinge in Ordnung zu bringen, anstelle mich zu betäuben und sie dadurch zu verdrängen. Sogar in den schmerzvollsten Augenblicken meines Lebens – als etwa meine Band auseinanderzufallen schien, die Menschen um mich den Drogen zum Opfer fielen oder als ich wegen der Scheidung von meiner ersten Frau am Boden war – überwanden mein Selbsterhaltungstrieb und mein Drang, besser zu werden, alle anderen Impulse.

Manchen Menschen beschert eine Nahtoderfahrung die Art von Erleuchtung, die die Richtung ihres Lebens entscheidend verändert. Tatsächlich muss man nur ein paar Autobiografien von unterschiedlichen Rock ’n’ Rollern durchblättern, um zu dem Schluss zu kommen, dass jeder Musiker wohl schon einmal mit Ach und Krach dem Sensenmann entkommen ist, was in der Folge zum ultimativen Meilenstein seines oder ihres Lebens hochstilisiert wird.

Allerdings habe ich nie probiert, mich umzubringen. Auch habe ich mich nie so intensiv mit Drogen und Alkohol beschäftigt, dass ich irgendwann einmal im Krankenhaus aufgewacht wäre, nachdem ich wiederbelebt werden musste. Trotzdem kam auch ich schon mit dem Tod in Berührung. Und der Ernst der jeweiligen Lage führte mit Sicherheit dazu, dass auch ich in mich ging. Aber ehrlicherweise muss ich betonen, dass keines meiner Nahtoderlebnisse einen so starken Einfluss auf mich ausübte wie etwas anderes, das sich nicht so nach Rock ’n’ Roll anhört. Mein Erweckungserlebnis hatte ich nicht, als ich mit dem Lauf einer Pistole im Mund zum Höhepunkt kam, und auch nicht, als ein Defibrillator Stromstöße durch meine Brust jagte – nein, ich wurde am Set eines Broadway-Musicals erleuchtet.

1999 ergatterte ich die Titelrolle in einer Inszenierung von Andrew Lloyd Webbers Das Phantom der Oper in Toronto. Die Hauptfigur ist ein Komponist, der sich hinter einer Maske versteckt, um die schreckliche Entstellung seines Gesichts zu verbergen. Und hier kam nun ich ins Spiel, der Junge mit nur einem Ohr, Stanley das Monster, der sein Leben damit verbracht hatte, Musik zu machen und sein Gesicht mit Make-up zu verfremden und nun dieses Phantom verkörpern sollte. Besonders eine Szene traf einen Nerv bei mir. Mit seinem Umhang und seiner Maske hat das Phantom eine gefährliche, aber nichtsdestotrotz elegant anmutende Ausstrahlung. Kurz bevor er das Objekt seiner Begierde, Christine, in sein Versteck entführt, nähert er sich ihr und sie entreißt ihm seine Maske, womit sie sein abscheuliches Gesicht enthüllt. Dieser intime Augenblick, als das Phantom demaskiert war und von Christine berührt wurde, traf offenbar auf einen ganz besonders wunden Punkt in mir.

Während meiner Theaterzeit als Phantom erhielt ich eines Tages einen Brief, der von einer Frau stammte, die unlängst eine Aufführung besucht hatte. „Sie schienen sich mit ihrer Figur auf eine Weise zu identifizieren, die ich noch bei keinem anderen Schauspieler beobachtet habe“, schrieb sie mir. Sie teilte mir dann mit, dass sie für eine Organisation namens AboutFace arbeitete. Dort widmete man sich Kindern, deren Gesichter von der Norm abwichen. „Wären sie eventuell daran interessiert, sich bei uns zu engagieren?“, fragte sie mich abschließend.

Wow. Wie war ihr das denn aufgefallen?

Ich hatte zuvor noch nie über mein Ohr gesprochen. Sobald ich dazu in der Lage gewesen war, hatte ich mir die Haare lang wachsen lassen und mich nie mit meiner Taubheit auseinandergesetzt. Es war etwas, das ich für mich behielt. Ein Geheimnis. Es war einfach zu persönlich und schmerzhaft. Trotzdem beschloss ich, die Frau anzurufen. Ich war mir nicht sicher, was mich erwarten würde. Aber ich öffnete mich ihr und es fühlte sich gut an. Bald schon arbeitete ich für ihre Organisation und sprach mit Kindern und ihren Eltern über meinen Geburtsfehler sowie meine Erfahrungen und hörte mir auch ihre Geschichten an. Die Auswirkungen auf mich waren unglaublich.

Es befreite mich, über etwas zu sprechen, das stets so delikat, persönlich und schmerzvoll für mich gewesen war. Die Wahrheit hatte mich frei gemacht – die Wahrheit und Das Phantom der Oper. Irgendwie hatte die Maske des Phantoms mir erlaubt, meinen Käfig zu verlassen. Im Jahr 2000 wurde ich dann zum Sprecher von AboutFace. Ich fand heraus, dass mein eigener Heilungsprozess durch den Austausch mit anderen unterstützt wurde. Es kehrte eine Ruhe in mein Leben ein, die ich nie zuvor gekannt hatte. Ich war immer auf der Suche nach äußeren Faktoren gewesen, mit deren Hilfe ich mich aus der Dunkelheit hatte befreien wollen, während das Problem die ganze Zeit in mir selbst lag.

Du kannst niemandem die Hand halten, wenn du deine eigene zu einer Faust geballt hast.

Die Schönheit um dich herum bleibt dir verborgen, wenn du sie nicht in dir selbst findest.

Du kannst andere nicht entsprechend schätzen, wenn du dich deinem eigenen Unglück ergibst.

Ich begriff, dass nicht jene Menschen schwach waren, die ihre Emotionen zeigten, sondern die, die ihre Gefühle versteckten. Ich musste neu definieren, was es hieß, stark zu sein. Ein „echter Mann“ hatte stark zu sein. Ja, auch stark genug, um zu weinen, freundlich und mitfühlend zu sein. Stark genug, um die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen. Stark genug, Angst zu haben und trotzdem einen Ausweg zu finden. Stark genug, um zu vergeben und um Vergebung zu bitten.

Je besser ich mit mir selbst klarkam, desto mehr konnte ich anderen Menschen geben. Und je mehr ich anderen von mir gab, desto mehr fand ich, das ich geben konnte.

Kurz nach dieser Verwandlung traf ich Erin Sutton, eine smarte, selbstbewusste Rechtsanwältin. Von Anfang an waren wir total offen und ehrlich zueinander. Da war kein Platz für Schauspielerei. Sie war verständnisvoll, fürsorglich, anregend und – vor allem und am wichtigsten – konsequent und selbstsicher. Eine wie sie hatte ich noch nie getroffen. Wir stürzten uns nicht kopfüber in eine Beziehung, aber nach ein paar Jahren stellten wir fest, dass wir ohne einander gar nicht mehr sein konnten.

„Ich hatte noch nie eine solche Beziehung“, sagte ich zu ihr. „Ich hatte gar nicht gewusst, dass so etwas wie das hier überhaupt existiert.“

Das ist das Leben, nach dem ich gesucht habe.

Das ist der Lohn.

So ist es, wenn man sich … erfüllt fühlt.

Es war wie eine nie enden wollende Suche nach etwas, von dem ich meinte, es haben zu sollen. Dieses Verlangen bezog sich nicht ausschließlich auf materielle Dinge, sondern auch darauf, wer ich sein wollte. Dieser Antrieb befähigte mich, an diesem Punkt anzukommen. Das erste Ziel meiner Mission hatte darin bestanden, ein Rockstar zu werden, aber führte letztlich ganz woanders hin.

Und darum geht es eigentlich in diesem Buch. Deshalb wünsche ich mir auch, dass meine vier Kinder dieses Buch eines Tages lesen werden, obwohl der Pfad, für den ich mich entschied, lang und unwegsam war und mich mitunter durch ziemlich wilde Gegenden und Zeiten geführt hat. Ich möchte, dass sie verstehen, wie mein Leben war, ungeschönt und ehrlich. Ich möchte, dass sie verstehen, dass es in unseren eigenen Händen liegt, ein wunderschönes Leben zu haben. Es mag nicht immer einfach sein, und manchmal braucht man länger, um seine Ziele zu erreichen – aber es ist möglich. Für jeden von uns.

Ich sammle meine Gedanken und schaue erneut in den Spiegel. Von dort starrt mich das vertraute weiß geschminkte Gesicht mit dem schwarzen Stern ums Auge an. Nun muss ich bloß noch eine oder zwei Dosen Haarspray in meine Haare sprühen, um sie anschließend bis unter die Decke aufwölben zu können. Der rote Lippenstift muss natürlich auch noch drauf. Heutzutage ist es schwer für mich, nicht zu lächeln, wenn ich diese Maske trage. Ich merke, dass ich über das ganze Gesicht grinsen muss und bereit bin, mit dem Starchild abzufeiern, denn mittlerweile ist es eher zu einem guten, alten Freund geworden – und nicht länger ein Alter Ego, hinter dem ich mich zusammenkauere.

Draußen warten 45.000 Menschen. Ich stelle mir vor, wie wir die Bühne erstürmen. You wanted the best, you got the best, the hottest band in the world … Ich zähle „Detroit Rock City“ ein und ab geht die Post. Gene Simmons, Thommy Thayer und ich schweben aus zwölf Metern Höhe auf die Bühne, während ein riesiger schwarzer Vorhang fällt und Eric Singer unter uns das Schlagzeug bearbeitet. Feuerwerk! Flammen! Das nach Fassung ringende Publikum wirkt auf uns wie eine Naturgewalt. Kaawwuumm! Es ist der größte Rausch, den man sich nur vorstellen kann. Wenn ich auf der Bühne stehe, liebe ich es, die Menschen beim Springen, Tanzen, Küssen und Feiern zu beobachten. Sie verfallen in reinste Ekstase und ich genieße das. Es ist wie ein Stammesfest.

KISS sind mittlerweile Tradition, ein Ritual, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es ist ein fantastisches Geschenk, mit so vielen Menschen auf dieser Ebene kommunizieren zu können – so viele Jahre nach unseren Anfängen. Ich werde wieder das ganze Konzert lang lächeln müssen.

Das Beste ist, dass ich auch nach dem Konzert, wenn ich wieder auf die bereits erwähnte Totalität des Lebens treffe, lächeln werde.

Es gibt Leute, die gar nicht mehr heimgehen wollen – nein, sie würden am liebsten nie mehr heimgehen. Und immer wieder mal wollte ich das auch nicht. Aber mittlerweile liebe ich es, nach Hause zu kommen, weil ich mir inzwischen ein Heim – ein echtes Zuhause – geschaffen habe, in dem ich mich von ganzem Herzen wohlfühle.