Dominique Manotti

AUSBRUCH

Aus dem Französischen
von Andrea Stephani

Ariadne Krimi 1218
Argument Verlag

Dominique Manotti erzählt in Ausbruch vom Verführen und Verführtwerden, von der Verlockung des Mythos. Eingeflochten in den erzählerischen Zopf ist die Historie der italienischen Linken durch drei Dekaden. Und die Geschichte in der Geschichte führt vor Augen, wie schmal der Grat zwischen Erlebtem und Erträumtem sein kann. Ein doppelbödiger, raffinierter Roman noir.

Weiterführende Links zu realen historischen Bezügen:

www.deutschlandfunk.de/​mein-blut-komme-uebereuch.1170.de.html?dram:article_id=184015

www.spiegel.de/​spiegel/​print/​d-13530100.html

www.spiegel.de/​spiegel/​print/​d-40351644.html

www.heise.de/​tp/​artikel/​28/​28766/​1.html

http://jungle-world.com/​artikel/​2002/​32/​23508.html

www.sueddeutsche.de/​kultur/​fanny-ardant-veraergertitaliener-helden-und-terroristen-1.878600

Eine kleine Legende zu politischen Termini befindet sich am Ende des Buches.

Dominique Manotti, 1942 geboren, lehrte als Historikerin an verschiedenen Pariser Universitäten Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Sie kam erst mit fünfzig Jahren zum Schreiben und veröffentlichte seither neun zum Teil preisgekrönte Romane.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Vorwort

Impressum

Kapitel 1 - Februar / März 1987

Kapitel 2 - März 1987, Paris

Kapitel 3 - März 1987 bis Februar 1988 Paris, La Défense

Kapitel 4 - Februar / März 1988, Paris

Kapitel 5 - Mai 1988, Paris

Kapitel 6 - Juni 1988, Frankreich / Italien

Kapitel 7 - Ende Juni bis Juli 1988 Frankreich / Italien

Kapitel 8 - 27. bis 29. Juli 1988

Kleine Legende zu politischen Termini

Weitere Bücher

Dominique Manotti bei Ariadne

Merle Kröger

Charlotte Otter

Christine Lehmann

Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de

Titel der französischen Originalausgabe:

L’évasion

© Éditions Gallimard, Paris, 2013

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2014

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann

Fotomotiv: © Vitaly Krivosheev, Fotolia.com

Lektorat: Iris Konopik & Else Laudan

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549646

1. digitale Auflage 2014: Zeilenwert GmbH

Erste Auflage 2014

Kapitel 1
Februar / ​März 1987

8. Februar, Rom und Umland

Der Müllraum stinkt. Ein großer Container, der von schwarzen Säcken überquillt, Betonboden, keine Fenster, zwei trübe Neonröhren, ein eiserner Rollladen mit Metallgitter riegelt das Kabuff ab. Filippo ist wütend. Wenn er sonst zum Fegen und Schrubben kommt, war die Müllabfuhr schon da, die Container sind leer und es stinkt nicht so. Heute ist der Geruch fast unerträglich. Brechreiz, aber gut, er hat keine Wahl, macht sich an die Arbeit. Er fegt und schrubbt den Boden, kippt Desinfektionsmittel und große Eimer Wasser darüber. Sechs Monate Knast hinter ihm, noch 410 Tage abzusitzen, irrsinnige Lust zu türmen, aber wie? Und was dann? Erneuter Schwung Wasser, Blick auf die Uhr. In einer Viertelstunde ist die Plackerei geschafft, Stechuhr, wieder hoch in die Zelle ... 410 Tage, verdammt, noch 410 Tage ... Plötzlich springt draußen der Rollladenmotor an, der Rollladen vibriert. Panik. Das ist noch nie vorgekommen. Ich sollte gar nicht hier sein, wenn das Tor aufgeht. Was mache ich jetzt? Verwirrter Blick auf die Uhr, es ist doch aber meine Zeit. Ein Rumpeln im Müllschlucker, etwas knallt gegen die Wände, ein zur Kugel zusammengerollter Körper saust in den Container, faltet sich auseinander und taucht zwischen die Abfälle ab. Filippo hat gerade noch seinen Zellengenossen erkannt, Carlo, eine Flut krauser Reaktionen, mein einziger Freund haut ab ... und ohne mich ... Der Rollladen beginnt sich zu heben, ein Streifen Tageslicht auf dem Boden. Ich hier, während er abhaut, man wird mich beschuldigen, Komplize, ich fang mir noch ein Jahr ein, mindestens ... Einzelhaft. Ohne weiter nachzudenken, springt Filippo mit gestreckten Armen hoch, packt den Rand der Containerwand, Klimmzug, und taucht seinerseits in den Müllhaufen ein. Er hört Carlo sehr leise fluchen und sagen: »Grab dich runter, verdammt, und bedeck dein Gesicht«, dann verliert er den Kontakt zu ihm. Er zieht sich sein T-Shirt übers Gesicht, schließt die Augen und wühlt sich zwischen den Säcken zum Containergrund. Das Plastik lässt ihn gut gleiten, aber der Gestank, das Gewicht auf ihm, er kriegt keine Luft. Ein aufgerissener Sack, Arme und Kopf versinken in Klebrigem, Breiigem, Fauligem, Kratzigem, und dieser Gestank. Jäh erbricht er sich. Voll ins Gesicht. Tu was, verlier nicht die Nerven, sonst krepierst du, runter mit dem Shirt, schnäuz dich, atme ruhig, ganz flach, und halt dir dabei was vor Mund und Nase. Zusammengerollt und mit sehr langsamen Bewegungen versucht Filippo sich eine Luftblase zu schaffen. Er horcht auf die Geräusche draußen. Gerade hat der Mülllaster einen leeren Container abgesetzt. Er stellt sich vor, wie die Wärter im Hof einmal um ihn herumgehen. Jetzt lädt der Lkw ihren Container auf. Ein Schlag gegen die Wände, der Container hebt ab, wird hochgezogen, erneuter Schlag, er ist auf dem Lkw, ein Moment vergeht, bestimmt legen die Müllmänner jetzt die Plane drüber, der Motor wird lauter, sie fahren, ein Halt, Herzklopfen, bestimmt heben die Wärter jetzt die Plane an, kontrollieren den Containerinhalt, Filippo macht sich ganz klein, der Lkw fährt wieder an, rollt in gleichmäßigem Tempo. Er ist draußen. Filippo fasst es nicht. Was mache ich hier eigentlich? Er verliert kurz das Bewusstsein.

Der Container wird rücksichtslos geleert, die beiden Körper rutschen heraus und rollen zwischen die Müllsäcke und losen Abfälle. Carlo steht schon, er packt den halb bewusstlosen Filippo am Arm und zwingt ihn auf die Füße. Sie stehen knietief in einem hohen Müllberg. Filippo blickt sich benommen um, sieht rechts ein Fabrikgebäude und einen Backsteinschlot, links eine sehr hohe, sehr glatte Mauer, an der die Abfälle gerade ausgekippt wurden. Der Geruch, der Geschmack von Freiheit? Nicht wirklich. Carlo gönnt ihm keine Verschnaufpause, er zieht, schiebt, schubst ihn, treibt ihn den Müllberg hinab, zerrt ihn dann zur Umfassungsmauer. Vor ihm eine Leiter. »Rauf da«, befiehlt Carlo und stößt ihn ins Kreuz, »mach schon.« Er klettert hoch, wie ein Automat, wuchtet sich über die Mauer, rutscht ab, fällt. Carlo landet mit einem geschmeidigen Sprung hinter ihm und hilft ihm hoch. Ein Wagen erwartet sie, laufender Motor, offene Tür, sie werfen sich auf die Rückbank. Der Gestank ist unerträglich. Der Fahrer, Sonnenbrille, hochgeklappter Mantelkragen, der den unteren Teil seines Gesichts verbirgt, öffnet das Fenster und fährt mit durchdrehenden Rädern los. Neben ihm eine junge Frau, Blick starr geradeaus, Gesicht hinter einem Tuch versteckt. Ohne sich umzudrehen, sagt sie: »Wer ist der da?«

Filippo hört Carlo nervös sagen: »Fahr, fahr, darüber reden wir, wenn wir halten können.«

Sie liegen Seite an Seite im Fond auf dem Boden. Stöße, Kurven, offenbar rasen sie über eine Landstraße. Filippo fühlt, wie sich sämtliche Muskeln verkrampfen und schmerzen, er bemüht sich zu atmen, seinen Kopf zu schützen und an nichts zu denken.

Plötzlich stoppt der Wagen, der Motor wird abgestellt, die Tür geöffnet, Carlo klopft Filippo auf die Schulter, der hochschreckt, und zeigt auf eine rund hundert Meter entfernte Baumgruppe.

»Warte dort auf mich, ich komme gleich.«

Filippo richtet sich auf, steigt aus, geht ein paar Schritte, zunächst steif, unter Schmerzen, verwirrt, bleibt dann stehen, überwältigt, geblendet von dem, was er sieht. Er befindet sich auf einem Plateau über einem Steilhang, neben einer verfallenen Bruchsteinhütte. Unterhalb von ihm ein blau-grüner See, ihm gegenüber knallt eine weiße Felswand gegen einen endlosen blauen Himmel. Schwindel erfasst ihn, er breitet die Arme aus, atmet tief durch. Die Luft ist schneidend klar, er fühlt, wie sie in seine Lungen dringt, den Müll- und Kotzegeruch wegbrennt. Diese Ruhe, diese Stille, diese Schönheit, das ist das Wort, das ihm dazu einfällt. Ein überraschendes Wort. Mit diesen Augen hat er, der römische Vorstadtbengel, noch nie eine Landschaft gesehen. Er setzt sich langsam wieder in Bewegung, leicht schwankend, vor Kälte zitternd, erstaunt darüber, heil, frei und mitten im Gebirge zu sein. Ohne nachzudenken dreht er sich um, vielleicht, um mit Carlo zu reden oder um sich zu vergewissern, dass er da ist und gleich zu ihm kommen wird. Carlo ist tatsächlich da, er hat ihm den Rücken zugewandt. Vor ihm steht die junge Frau aus dem Auto, nicht sehr groß, ihr vollkommen ovales Gesicht zu ihm emporgewandt, im vollen Licht, sie spricht ernst, vielleicht wütend zu ihm. Das Tuch ist ihr auf die Schultern gerutscht und hat eine blonde Mähne freigegeben, in der Sonne kupfern, vom Wind zerzaust. Das Bild setzt sich in Filippos Gedächtnis fest. Das Mädchen mit dem Kupferhaar und das Gebirge, die Schönheit der Freiheit. Carlo umarmt sie, beugt sich langsam zu ihrem Mund und küsst sie, hält sie umschlungen. Hinter ihnen, ebenfalls stehend, etwas abseits, der Fahrer, er hat den Mantelkragen heruntergeklappt, die Sonnenbrille abgenommen und fixiert das Paar. Filippo ist beeindruckt von dem Aussehen des Mannes: kantiger Kiefer, tief in den Höhlen liegende Augen unter einem durchgehenden pechschwarzen Brauenbalken, eine Narbe auf der linken Wange, die das Lid nach unten zieht. Das Gesamtbild wirkt äußerst rabiat. Als der Fahrer bemerkt, dass Filippo sich umgedreht hat und sie beobachtet, sieht er plötzlich wütend aus, er hebt die Hand, Filippo bekommt Angst, wendet sich rasch ab, ohne das Ende der Geste abzuwarten, und marschiert zu der ihm von Carlo zugewiesenen Baumgruppe mit dem Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben, auch wenn er nicht weiß, welchen. In so einem Fall ist seine Strategie, den Fehler in Schweigen und Vergessen zu begraben, ohne verstehen zu wollen.

Er setzt sich mit dem Rücken zu den Bäumen, Blick ins Tal, und lässt sich von der Landschaft in den Bann schlagen.

Carlo kommt zu ihm, reicht ihm einen Pullover, den er sofort anzieht, hockt sich neben ihn.

»Deine Anwesenheit im Müllraum war nicht geplant ...«

»Das habe ich mir nicht ausgesucht. Um die Zeit bin ich immer dort. Die Müllabfuhr hatte Verspätung, sie kam, während ich Dienst hatte. Ich war baff, das gab’s noch nie.«

» ... und dass du in diesen Container springst, noch weniger.«

»Ich hab nicht nachgedacht, ich hab dich gesehen, ich bin dir hinterher.«

»Was wirst du jetzt tun?«

»Na ja, mit dir weiterziehen. Geht das nicht?«

»Nein.«

»Tja, dann weiß ich auch nicht.«

»Wir trennen uns hier.« Er stellt Filippo einen Stoffrucksack vor die Füße. »Ich habe dir da reingetan, was ich in den Autos finden konnte. Kleidung, zwei Sandwiches und Geld.« Carlo hält kurz inne, Filippo zeigt keine Reaktion. »Ich denke, man wird viel über meine Flucht reden. Und man wird nach dir fahnden, weil du mit mir geflohen bist. Du musst dich eine Zeitlang verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Ein Moment vergeht, immer noch keine Reaktion. »Verstehst du, was ich dir sage?«

Nicken. Filippo schaut weiter auf die Berge.

»Falls es dir in Italien zu heiß wird, geh nach Frankreich. Hier, auf diesem Umschlag habe ich dir die Adresse von Lisa Biaggi in Paris aufgeschrieben. Geh zu ihr, sag, dass ich dich schicke, berichte ihr, sie wird dir helfen.«

Ohne Carlo anzusehen, nimmt Filippo den Umschlag, steckt ihn in den Rucksack. Carlo steht wieder auf.

»Ciao, Filippo. Pass auf dich auf.«

Dann geht er mit schnellen Schritten davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wenig später ein Motorengeräusch hinter der verfallenen Hütte. Filippo sitzt lange Minuten reglos da. Dann sieht er ein Auto unten am See entlangfahren, winzig klein, in dieser Einöde fehl am Platz. Da ist bestimmt Carlo drin. Es verschwindet hinter der Felswand. Tiefer Schmerz. Hinter Filippo geht die Sonne unter, ihm gegenüber wird der Fels rosa, dann grau. Das ist die Nacht. Filippo ist am Boden zerstört. Gefühl von Leere, Verlust, Verlorenheit. Sich selbst überlassen. Zu keinem zusammenhängenden Gedanken fähig, lässt er einfach die Zeit verstreichen. Als er vor Kälte zittert, steht er auf, geht zurück zur Hütte, findet den Wagen, der sie hergebracht hat, unter dem halb eingestürzten Dach versteckt. Er öffnet die Motorhaube, die Zündkerzen wurden entfernt, Kabel herausgerissen. Er kriecht auf die Rückbank, wickelt sich in eine Decke, die dort liegt, und schläft mit dem Kopf auf dem Rucksack ein.

Als er erwacht, ist die Sonne gerade hinter dem weißen Felsen emporgestiegen, das Licht ist unbarmherzig, schroff. Filippo zieht sich um. Saubere Kleidung, Entspannung. Er setzt sich mit dem Gesicht zur Sonne, isst langsam ein Sandwich, trinkt kühles Wasser. Wo bist du hier, Mann? Verirrt. Der Sprung in diesen Container hat dich aufs falsche Gleis gesetzt. Geschieht dir recht. Du dachtest, dein Zellengenosse, ein Prolet und stolz darauf, politischer Gefangener, gebildet, guter Redner und großer Leser, wäre dein Freund geworden, der Freund eines Kleinkriminellen, der kaum lesen kann und keine drei Sätze am Stück rausbringt. So ein Schwachsinn. Solche Dinge passieren nie. Sitzengelassen wie eine Tussi. Bitterkeit und Groll. Na gut, du weißt nicht, wo du bist, aber weißt du, wo jetzt hin? Bild von dem Wagen, wie er am Vorabend am Seeufer davonfährt. Ich weiß, wohin, dort lang geht’s hier raus. Und dann? Rom? Meine Familie? Die Tür hab ich zugeschlagen, ich geh nicht als Besiegter nach Hause zurück. Und die Bullen werden vor mir da sein. Zurück zu meiner Bande am Hauptbahnhof, wieder anfangen, Touristen auszurauben und Schmuggelzigaretten zu verticken? Der ständige Kampf jeder gegen jeden, um einen Lappen, ein Mädchen, eine Stange Fluppen, die Bullen, die sich jeden kaufen, den die Kumpels gerade verpfeifen wollen, mich neben den setzen, der mich vielleicht verpfiffen hat, und ihm die Hand drücken. Der Dreck, die Gewalt, ständig zugekifft. Keinen Bock mehr. Im Knast hab ich mir was anderes erträumt.

Wenn sie dicht nebeneinander auf der schmalen unteren Pritsche saßen und sich einen in der Hand verborgenen Joint hin und her reichten, redete Carlo ohne Unterlass, mit sehr leiser Stimme, in der hier und da von trostlosen Schreien, dumpfen Schlägen in den Wänden, patrouillierenden Wärtern zerrissenen Nacht. Er erzählte seine Erinnerungen, düstere zunächst, von seinen Anfängen als ganz junger Mann in den Mailänder Fabriken, wo er sich im brutalen Arbeitsleben verloren fühlte. Nach kurzer Zeit begannen die Arbeiteraufstände der späten Sechzigerjahre. Carlo erzählte von den bald schon täglichen Versammlungen in seiner Fertigungshalle, in seiner Fabrik, wo jedermann das Wort ergriff und wo jedermanns Wort gleich viel wog, wo man tastend ein kollektives Denken, einen kollektiven Willen entwickelte.

Dann flammte Begeisterung in Carlo auf, wenn er beschrieb, wie sie fasziniert die Macht von Menschen entdeckten, die gemeinsam handeln, und die alle gleich sind, wie die Arbeitertrupps, die sich bei Versammlungsende spontan bildeten, von Halle zu Halle zogen und sich auf Entdeckungsreise begaben durch eine Fabrik, die bis dahin eine unbekannte und bedrohliche Welt gewesen war, in der sie sich nicht frei bewegen durften. Im Überschwang von Freude, Solidarität und Hoffnung glaubten sie, die Fabrik gehöre ihnen, sie werde zu ihrem Territorium. Wie so viele andere banden er und seine Genossen sich das rote Halstuch um, um ihren Stolz und ihre Entschlossenheit zur Schau zu tragen. Sie verjagten die verhassten Werkmeister und begannen Arbeit und Produktion neu zu organisieren. Carlo erzählte auch von wilden Jubelausbrüchen wie in jener Nacht in Mailand, in der er und seine Freunde zeitgleich sämtliche Wagen der Werkmeister in Brand gesteckt hatten. Ein betörendes pyrotechnisches Freudenfest, eine Art Machtübernahme über die Stadt, eine verdammt gute Rache, die zwar nicht von langer Dauer war, aber das zu erleben, wenigstens ein Mal in seinem Leben ... Filippo hörte atemlos zu. Er fühlte jedes Wort in seinen Muskeln vibrieren. In die Fabrik hatte er nie gewollt, die Arbeiter, die Sklavenschinderei, nein danke. Aber die zusammengeschweißte Gruppe, auf Gedeih und Verderb solidarisch, Aufstand und kollektive Gewalt als Lebensform, die Aussicht, eines Tages alles plattzumachen, davon hat er immer geträumt, doch in den Banden von Rom stets nur ein sehr fernes und verzerrtes Echo seiner Träume gefunden, den Überlebenskampf jeder gegen jeden und die Verzweiflung, ohne sie je in Worte fassen zu können.

Heute erinnert er sich genau: Er hat Carlo und die Mailänder Arbeiter beneidet.

Carlo erzählte weiter: »Die alte Welt geriet durch unsere Aktionen aus den Fugen, wir erlebten den Anbruch einer neuen Zeit, aber wir fanden nicht die richtigen Worte und Sätze, um die Welt, die wir erdachten, zu beschreiben und ein ganzes Volk in dieses Abenteuer mitzureißen. Wir sprachen eine verknöcherte, überholte Sprache, jene Sprache, die wir geerbt hatten, jene der alten Welt, die wir doch zu Grabe tragen wollten. Deshalb verstand man uns zwangsläufig nicht, und ich glaube, wir verstanden uns auch selbst nicht. Hätte es in unseren Fabriken einen Victor Hugo gegeben, um von unseren Heldentaten zu erzählen, stell dir das nur mal vor ... unser Schicksal wäre vielleicht ein anderes gewesen. Man weiß es nicht. Es gibt solche Momente, wo Welten ins Wanken geraten können.« Und an dem Punkt verstummte er, versank in seine Erinnerungen und Träume. Filippo, im Dunkel neben ihm, Carlos Wärme direkt an seiner, lauschte nunmehr seinem Schweigen, zu Tränen gerührt, ohne sich zu fragen, warum. Victor Hugo, nein, das stellte er sich nicht vor, er wusste nicht, wer das war. Aber damals sagte er sich, eines Tages würde er es vielleicht wissen.

In bedrückterem, verzweifeltem Ton fuhr Carlo fort: »Die Sache wurde sehr bald zu groß für uns, das haben wir wohl nicht richtig und wohl auch zu spät kapiert. Die Bosse organisierten die Wirtschaftskreisläufe neu. Das Schlüsselwort hieß jetzt Globalisierung der Märkte. Wir merkten, wie die Fabrik, unsere Welt, die einzige, die wir kannten, der Ort all unserer Kämpfe, unseres Stolzes und unseres Lebens überhaupt, uns entglitt. Produktionszweige wanderten ab, niemand wusste, wohin, es kamen andere Maschinen und mit ihnen eine andere Arbeitsorganisation, die Planungsabteilungen übernahmen die Macht, die Belegschaften zerfielen, wir spürten die Notwendigkeit, die Kampfzone auszuweiten, raus aus der Fabrik, um dort nicht unterdrückt zugrunde zu gehen. Und im Dezember ’69 zündeten die Handlanger der extremen Rechten, die italienischen Geheimdienste und die CIA in einer Mailänder Bank an der Piazza Fontana eine Bombe, siebzehn Tote, Dutzende Verletzte. Sagt dir das was, Filippo?«

»Entfernt, es hat mich nicht interessiert. Das war in Mailand, sehr weit weg im Norden.«

»Danach explodierten weitere Bomben. Brescia, der Italicus-Express. Die italienischen Geheimdienste ermordeten ihr eigenes Volk. Im Kampf gegen uns stifteten sie Chaos und Terror, um eine neue breite Front gegen die Kommunisten und die Roten zu schaffen. Bei unseren Demonstrationen waren wir zu Zehntausenden auf der Straße. Wir dachten, das Volk sind wir. Wir hielten uns für stark genug, es ihnen gleichzutun und sie außerhalb der Fabrik auf dem von ihnen gewählten Terrain mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen. Schließlich waren wir die Söhne der Russischen Revolution von 1917, der Turiner Arbeiterräte, der Kommunistischen Partei Italiens und des italienischen Widerstands. Die Erinnerung an die brutalen Kämpfe war in unseren Familien, in den Fabriken noch so lebendig, so nah.« Nach langem Schweigen sagte Carlo: »Ich werde dir eine Kindheitserinnerung erzählen.« Filippo war überrascht, Kindheitserinnerungen gehörten nicht zu Carlos üblichem Repertoire, aber er wartete schweigend ab. »Als kleiner Junge verbrachte ich die Ferien bei meinen Großeltern, Bauern in der Gegend von Bologna. Einmal im Jahr, immer am 5. August, vermutlich ein Jahrestag, nahm mich mein Großvater mit nach hinten in den Gemüsegarten, hinter eine Hecke. Wir gruben eine Metallkiste aus. Er öffnete sie. Sie enthielt zwei in Tücher gewickelte Pistolen. Jedes Jahr sagte er in feierlichem Ton: ›Walther P38-Pistolen, den Deutschen abgenommen.‹ Er nahm sie auf einer Decke auseinander, er fettete sie sehr sorgfältig, er hieß mich den Stahl berühren, den Fettgeruch einatmen, dann baute er sie wieder zusammen, packte sie wieder ein, und wir vergruben die Kiste wieder, immer an derselben Stelle. ›Damit man nicht an der falschen Stelle buddelt, wenn man sie mal braucht, manchmal muss es schnell gehen‹, sagte er. ›Meine Waffen aus meiner Zeit als Widerstandskämpfer. Man weiß ja nie.‹ Als ich sie Jahre später holen wollte, mein Großvater war lange tot, fand ich sie nicht mehr.« Carlo hatte einen Kloß im Hals. Er schwieg einen Moment. Dann fuhr er mit rauer Stimme fort: »Wir griffen also zu den Waffen, wir setzten jeden Tag unser Leben aufs Spiel, aber das ist nicht das Schlimme, das Schlimme ist das Töten. Und wir haben getötet. Ich habe getötet. Und unsere Väter haben uns verflucht.« Es folgte ein langes Schweigen. In Carlos Leben hatte die Vehemenz der Überzeugun- gen, das Ungestüm der Hoffnung alles fortgerissen, alles zerstört. Und Filippo betrachtete fasziniert die Trümmer.

Dann sagte Carlo: »Das war eine andere Zeit. Mein Großvater hat all das nicht erlebt. Zum Glück. Dass er mich verflucht, hätte ich nicht ertragen. Schlaf, Filippo, morgen sind wir auch noch hier, dann können wir weiterreden.«

Daraufhin kletterte Filippo auf die obere Pritsche und schlief glücklich ein, den Kopf voll unzusammenhängender Träume.

Ich habe sechs Monate lang jeden Abend, jede Nacht zugehört. Heute, allein im Gebirge, im Stich gelassen, verraten, klingt das sonderbar.

Vergiss das alles, sonst gehst du kaputt. Filippo steht auf, streckt sich, schnappt sich den Rucksack, schultert ihn und macht sich an den Abstieg zum See. Sein Entschluss steht fest, er geht nach Mailand.

10. Februar, Paris

Lisa Biaggi führt ein sehr geregeltes Leben. Sie verlässt frühmorgens ihre kleine Wohnung in der Rue de Belleville, nimmt an der Station Belleville die Métro, um nach La Défense zu gelangen, wo sie in einem Zentrum für Arbeitsmedizin als Sprechstundenhilfe arbeitet, und unterbricht die Fahrt an der Station Étoile, um an einem international gut sortierten Kiosk – Tourismus verpflichtet – die italienischen Zeitungen vom Vortag zu kaufen. Sie schlägt sie nicht gleich auf, sie nimmt sich Zeit zum Schlendern und lässt die Gedanken schweifen. Heute ist es sonnig und kühl, wie ein Vorgeschmack des Frühlings, sie setzt sich mit dem Gesicht zur Sonne auf eine Caféterrasse ganz am Anfang der Champs-Élysées und bestellt einen Cappuccino und Croissants. Dieser Zwischenstopp ist der beste Moment des Tages. Sie kostet ihn aus. Seit 1980 ist sie politischer Flüchtling in Frankreich, sie hat hier eine feste Arbeit gefunden, die ihr eine relativ komfortable Existenz ermöglicht, kann sich aber nicht dazu durchringen, hier tatsächlich ihr Leben zu leben. Sie ist über vierzig. Sie spürt, wie sich ihr Körper, ihr Gesicht, ihr Geist verhärten beim Warten auf die Rückkehr, aber es hilft nichts, und die Lektüre der Nachrichten aus der Heimat entfacht den Schmerz des Exils jeden Tag neu. Sie betrachtet den immer dichter werdenden Menschenstrom auf dem Gehweg, seufzt, der Cappuccino ist getrunken, die Pause ist zu Ende, sie schlägt den Corriere della Sera auf, beginnt gedankenverloren darin zu blättern. Schock. Im Innenteil Carlos Foto. Carlo, ihr Gefährte, der Mann ihres Lebens. Überschrift: Spektakuläre Flucht ... Mit Herzklopfen und verschwommenem Blick springt sie von Zeile zu Zeile.

In einem Müllwagen ... mit seinem Mithäftling, Filippo Zuliani, einem Kleinkriminellen ... Komplizen unter den Müllfahrern. Nach den beiden Flüchtigen wird gefahndet ... Fotos der beiden Flüchtigen. Der kleine Gauner sieht auch aus wie einer. Worauf hat sich Carlo in dessen Gesellschaft bloß eingelassen? Nicht sehr beruhigend.

Sie faltet die Zeitung zusammen, versucht sich einzureden, dass Carlo es schon schaffen wird, dass er noch nicht tot ist, aber vergeblich, sie sieht ihn tot. Sie sammelt ihre Sachen ein und macht sich auf in Richtung Métro, nach La Défense ins Büro. Zum Weinen ist es zu früh oder zu spät.

Im Vielleuse, Rue de Belleville, spielt Lisa Billard, augenscheinlich ganz ins Spiel vertieft, ihre schmale, hohe Gestalt über das grüne Tuch gebeugt, das Gesicht von ihren halblangen braunen Locken verdeckt, jede Bewegung präzise. Eine Gepflogenheit, die über acht Jahre zurückreicht, in die Zeit ihrer ersten geheimen Missionen in Paris, als Carlo ihr Kontaktmann zur Organisation in Mailand war. Billard beschäftigt Kopf und Hände, wenn man Abend für Abend zu festen Zeiten auf einen Anruf wartet. Lisa kam auf den Geschmack, und nach Carlos Verhaftung, als das Warten sich erübrigt hatte, machte sie weiter. Bei der Handvoll Stammgäste des Bistros gilt sie als gute Spielerin und wird sehr von ihnen geschätzt, passabel spielende Frauen gibt’s nicht so oft. Heute jedoch spielt sie wie früher, um sich das Warten zu verkürzen. Carlo ist wieder frei ... die alten Gewohnheiten aus der Untergrundzeit, warum nicht? Telefonklingeln, das dritte an diesem Abend. Jedes Mal zuckt sie zusammen, wie früher. Der Wirt nimmt ab, sieht sie an, winkt ihr zu, diesmal ist es für sie, sie eilt zu der alten Telefonkabine, verschließbar, diskret, ganz hinten im Raum, wie früher.

»Lisa, ich bin’s.«

Obwohl es sie sehr aufwühlt, zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder persönlich seine Stimme zu hören, ist ihr zum Lachen zumute, wer sonst sollte es denn sein? Ein seit sieben Jahren auf Eis liegendes telefonisches Stelldichein ...

»Ich weiß.«

»Ich wusste, ich würde dich erreichen. Ich liebe dich.«

»Ich habe Angst, Carlo.«

»Ganz ruhig. Ich habe wenig Zeit. Hör mir gut zu. Die Führungsspitze unserer Organisation hat erklärt, dass sie den bewaffneten Kampf einstellt und ihre Niederlage anerkennt.«

»Ich weiß, ich lese immer noch Zeitung.«

»Sie hat das Richtige getan, ich bin einverstanden, auch wenn ich gern gefragt worden wäre. Aber dadurch ändert sich die Lage. Ich habe den Kampf sieben Jahre lang im Knast fortgesetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe alle Weisungen befolgt. Doch jetzt legen wir die Waffen nieder, es ergibt keinen Sinn mehr, im Knast zu bleiben. Für den Heldentod habe ich nichts übrig.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ich gehe fort.«

»Einfach so?«

»Ja, einfach so. Du erinnerst dich? Damals nannten wir das ›Politik der Ziele‹. Hält man ein Ziel für richtig und notwendig, nimmt man es in Angriff, man verwirklicht es, man wartet nicht, bis man darauf angesetzt wird. Ich habe mir meine Freiheit genommen.«

»Das ist idiotisch, jetzt, wo die Roten Brigaden angekündigt haben, dass sie die Waffen niederlegen, wird man euch in den kommenden Monaten freilassen. Und wir können vielleicht in die Heimat zurück.«

»Niemals. Du redest, als würdest du sie nicht kennen. Sie hassen uns, weil wir ihre erbärmlichen Machenschaften haben auffliegen lassen, und weil wir ihnen Angst gemacht haben, richtig Angst. Sie haben entdeckt, dass sie womöglich sterblich sind. Jetzt, wo sie gewonnen haben, werden sie uns dafür bezahlen lassen, sie rächen sich und werden sich weiterhin rächen, es wird niemals eine Amnestie geben, sie lassen uns bis in alle Ewigkeit im Knast oder im Exil vergammeln.«

»Das kann nicht sein, Carlo, es gibt noch Demokraten in diesem Land ...«

»Du bist naiv. Kennst du den Berg von Sondergesetzen, wie viele von uns sitzen im Knast? Fünftausend? Mehr? Du hast doch das neue Aussteiger-Gesetz gelesen? Erst die Reumütigen, jetzt die Aussteiger, du wirst sehen, was für verheerende Folgen das hat, wir werden an der Wurzel verfaulen. Wir werden in alle Richtungen auseinandergesprengt, sie werden alles daransetzen, uns zu vernichten, einen nach dem andern. Unsere Politiker, Pseudo-Demokraten inbegriffen, sind unfähige und rachgierige Versager.«

»Nehmen wir an, es wäre so. Erhöht das deine Chancen, davonzukommen?«

»Zumindest werde ich es versucht haben. Den Gefallen, im Gefängnis zu verrecken, tue ich ihnen nicht. Ich bereue nicht, ich steige nicht aus, ich leugne nichts, und die, die es tun, widern mich an. Denen aber, die gewonnen haben, sage ich, ihr könnt mich mal, ich beschaffe mir mit kleinstmöglichem Risiko Geld und Papiere und haue ab, ich werde anderswo leben, wo ich frei atmen kann.«

»Seit sie dich vor einem halben Jahr zu den gewöhnlichen Strafgefangenen verlegt haben, habe ich Angst. Ich fand das nicht normal. Ich habe Angst, dass das eine Falle ist. Und jetzt noch dieser Mithäftling ...«

»Keine Paranoia, Lisa.«

»Was jetzt, bin ich naiv oder paranoid?«

»Beides. Mach dir keine Sorgen. Mein Mithäftling und ich haben uns schon getrennt.«

»Und die Komplizen, von denen in den Zeitungen die Rede ist?«

»Die Müllfahrer. Das sind keine Politischen, sondern kleine Ganoven. Sie wurden bezahlt, sie sind untergetaucht und sie wissen nichts. Meine beiden derzeitigen Begleiter sind auch keine Politischen, und ich traue ihnen. Lisa, gib mir Zeit, dieses Geld und diese Papiere zu beschaffen, alles ist geplant und organisiert, das wird nicht schwierig, ich werde mich nicht in Gefahr begeben, und danach verschwinde ich ins Ausland. Von dort rufe ich dich an, und du kommst zu mir. Mein nächster Anruf wird der Beginn unseres neuen Lebens sein. Ich liebe dich, Lisa ...«

»Hör auf. Sei still. Das verkrafte ich nicht. Ich erwarte deinen nächsten Anruf.«

Sie legt auf. Die Angst ist unvermindert stark. Die Müllmänner sind keine Politischen, sind sie deshalb schon vertrauenswürdig? Kein Risiko, das glaubt sie nicht. Der Tod lauert überall. Sie lehnt sich gegen die Scheibe der Telefonkabine, atmet tief durch.

Februar/​März, Mittelitalien, im Gebirge

Filippo läuft in Richtung Nord-Nord-Ost. Es ist sehr schönes Wetter bei klarer Spätwintersonne. Er läuft frühmorgens, in den kältesten Stunden des Tages, um sich aufzuwärmen, macht in der prallen Mittagssonne ein Nickerchen, wäscht sich gelegentlich, nicht oft, in eiskalten Flüssen und sucht nachts Unterschlupf in verfallenen Hütten, unter Büschen, um zu schlafen so gut es eben geht. Er hält sich am Hang, ohne sich allzu weit von der Ebene zu entfernen. In den Dörfern, durch die er kommt, kauft er Brot und Käse. Pro Tag legt er gut zwanzig Kilometer zurück. Die Wege sind steil, das Laufen ist beschwerlich, zumal für ihn, der nie einen anderen Sport getrieben hat als den hektischen Sprint durch die Straßen von Rom, um den Bullen zu entwischen, aber es macht ihm ganz unerwartet Freude. Nach dem Lärm, in dem er die ganzen letzten Jahre gelebt hat, erst in den besetzten Häusern Roms, dann im Gefängnis, entdeckt er jetzt die Stille des Mittelgebirges, gewöhnt sich nach und nach daran, empfindet sie als schützenden Kokon, in den er sich schmiegt, horcht darauf, was sein Körper ihm sagt, seine sich ausbildenden, kräftiger werdenden Muskeln, seine sich tief mit Luft füllende Lunge. Er horcht auf die Wörter und Sätze, die in seinem Kopf Gestalt annehmen, ohne Ordnung und ohne Ziel, und frohlockt darüber, sich frei zu fühlen, ohne Bindungen und ohne Zukunft.

Eines Tages, er ist schon über eine Woche unterwegs, erblickt er hinter einer Wegbiegung am Übergang zwischen Ebene und Gebirge, gestochen scharf in der Sonne, wie ein zum Greifen nahes Spielzeug die strenge Silhouette einer ganz aus Stein erbauten Stadt, ein von Mauern umringter Wald aus Türmen, ein steinernes Universum in Gelb- und Weißtönen, aus dieser Entfernung keine Spuren menschlichen Lebens.

Ein Gefühl großer Vertrautheit. Er hat diese Stadt, oder ihren Zwilling, schon einmal gesehen, auf einem großen gerahmten Foto. In der Kneipe Guidoriccio da Fogliano, wo seine Mutter ihn regelmäßig hinschickte, seinen Vater holen, wenn der zu voll war, um allein nach Hause zu finden, hing es hinter der Kasse an der Wand. Auf dem Foto bildeten die steinernen Städte den Gegenpart zu einem Eroberer in Rüstung und seidenem Waffenrock, aufrecht auf seinem Ross, das einzige menschliche Wesen weit und breit in einer mit Befestigungsbauten und Lanzen gespickten weißen Felsenlandschaft vor schwarzem Himmel, im Krieg gegen die ganze Erde und gegen alle Götter, eine bewusste Pose für die Ewigkeit. Die Einsamkeit war sein Reich. Dieser Eroberer menschenleerer Landstriche und verlassener Städte hatte lange Zeit die Tagträume des nach einer Identität suchenden Kindes Filippo bewohnt. Maßlos bewunderte er den großartigen siegreichen Krieger und zugleich Todesengel, der jede Form von Leben um sich herum auslöschte. Wenn er ihn neben sich heraufbeschwor, empfand er eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, die ihn wohlig erschauern ließ. Seine besten Kindheitserinnerungen.

Jetzt, am Ende der Welt auf einer unglaublichen Flucht, holen ihn diese Erinnerungen ein, und auch wenn heute die Angst vor den verlassenen Städten den Ruhm des Eroberers überstrahlt – eine Frage des Standpunkts –, macht dieses vertraute Bild Filippo Mut, gibt ihm das eigentümliche Gefühl, nicht ganz verloren zu sein. Er grüßt die Stadt von fern und setzt seinen Weg fort.

4. März, Bologna