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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2015

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Gib ihm Sprache» Copyright © 1999 by Hans Joachim Schädlich

Der Text fußt auf der von Günter Poehlke stammenden deutschen Übersetzung des anonymen griechischen Äsop-Romans nach einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert (Dietrich'sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1974)

«Vorbei» Copyright © 2007 by Hans Joachim Schädlich

Lektorat Hans Georg Heepe

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26879-3 (Neuausgabe 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-53751-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53751-4

Gib ihm Sprache

Äsop war zahnlos, seine Rede kaum zu verstehen. Äsop schielte. Er reckte den Kopf vor. Seine Nase war platt, seine Haut schmutzfarben. Äsops Bauch quoll über den Gürtel. Äsop war krummbeinig. Sein linker Arm war kürzer als der rechte. Manche sagen: Sein rechter Arm war kürzer als der linke.

Äsop war ein Sklave. Für eine Arbeit in der Stadt war er unbrauchbar. Sein Herr bestimmte ihn für eine Arbeit auf dem Land.

 

Äsop sah einmal, daß sein Herr frische Feigen gebracht bekam. Der Bauer sagte: «Hier, Herr. Das erste Obst.»

Äsops Herr sagte: «Schön.» Zu einem seiner Diener sagte er: «Agathopus, ich bade und frühstücke jetzt. Danach gibst du mir diese herrlichen Feigen.»

Es war also Frühstückszeit. Äsop ließ die Arbeit ruhen und ging ins Haus. Der Diener Agathopus vergriff sich an einer Feige und aß sie. Zu einem anderen Diener sagte er: «Ich hätte Lust, mich an diesen Feigen satt zu essen, aber ich wage es nicht.»

Der andere sagte: «Wenn du mir einige Feigen abgibst, verrate ich dir, wie wir sie aufessen können, ohne bestraft zu werden.»

Agathopus sagte: «Ha, wie soll das gehen?»

«Wir zwei verspeisen die Feigen, und wenn der Herr nach den Feigen verlangt, dann sagst du ihm: ‹Äsop hat sie aufgegessen.›»

Agathopus und der andere setzten sich hin und aßen die Feigen auf.

Nachdem der Herr gebadet und gefrühstückt hatte, rief er nach Agathopus und sagte: «Jetzt gib mir die Feigen.»

Agathopus sagte niedergeschlagen: «Äsop hat sie aufgegessen.»

Da sagte der Herr: «Hol ihn her!»

Zu Äsop sagte der Herr: «Du unverschämter Kerl! Was erlaubst du dir! Einfach meine Feigen zu essen!»

Äsop brachte kein Wort heraus. Er fürchtete, geschlagen zu werden, fiel auf die Knie und stammelte: «Laß mir etwas Zeit!»

«Na schön», sagte der Herr.

Äsop nahm einen leeren Krug und bat den Koch, lauwarmes Wasser in den Krug zu füllen. Er stellte eine Schüssel vor seine Füße, trank von dem lauwarmen Wasser und steckte den Zeigefinger in den Hals. Er würgte, und er erbrach Wasser.

Der Herr war beeindruckt. Er sagte zu Agathopus und dem anderen: «Trinkt auch ihr von dem Wasser!»

Der andere flüsterte Agathopus zu: «Wir behalten das Wasser im Mund, stecken den Finger nur in den Mundwinkel und spucken das Wasser wieder aus.»

Aber von dem lauwarmen Wasser wurde den beiden sogleich übel; die Feigen kamen ihnen hoch, und sie erbrachen die gestohlenen Früchte.

Der Herr sagte: «Ihr Lügner!»

Agathopus und der andere bekamen eine Tracht Prügel.

 

Tags darauf kehrte der Herr in die Stadt zurück.

 

Äsop arbeitete gerade auf dem Feld, als eine Priesterin der Isis auftauchte. Sie sah Äsop bei der Arbeit und sagte: «Sklave, hast du Mitleid mit Sterblichen, so zeige mir, wie ich in die Stadt gelange. Ich habe mich verirrt.»

Äsop hob den Blick und erkannte in ihr die Göttin. Er warf sich auf die Erde und stammelte: «Wie bist du auf das Feld gekommen.»

Die Priesterin erkannte, daß Äsop sie verstanden hatte, aber nicht recht sprechen konnte. Sie sagte: «Ich bin fremd hier.»

Äsop stand auf, nahm die Priesterin bei der Hand und geleitete sie zu einem Waldstück. Er zog Brot aus seiner Rocktasche und gab es ihr. Sodann holte er ihr vom Feld frisches Gemüse. Als die Priesterin gegessen hatte, brachte er sie zu einer Quelle. Sie trank von dem klaren Wasser, bedankte sich und fragte ihn noch einmal nach dem Weg. Äsop führte die Priesterin zur Straße und wies ihr die Richtung.

Jetzt machte sich Äsop wieder an die Feldarbeit.

Die Priesterin auf ihrem Weg hob die Hände und sagte: «Krone des Erdkreises, Isis, erbarme dich dieses gutherzigen Sklaven! Belohne ihn! Du hast Macht, das Dunkel zu erhellen. Gib ihm Sprache!»

Weil es heiß war, sagte sich Äsop: «Ich will in der Mittagspause schlafen.» Er legte sich in den Schatten eines Baumes und schlief ein. Ringsumher erfrischendes Gras und allerlei Blumen. Von nahem das Plätschern des Flüßchens. In den Zweigen die Zikaden und Vögel.

Es erschien die Göttin Isis, begleitet von den Musen. Isis sagte: «Seht, meine Töchter, diesen häßlichen frommen Mann. Er hat meiner Priesterin den Weg gezeigt. Ich will, daß er sprechen kann.» Isis machte seine Zunge leicht. Die Musen aber begabten ihn mit der Kunst, Fabeln zu ersinnen.

Äsop erwachte und nannte plötzlich alles, was er sah, ohne Mühe beim Namen: «Hacke, Rock, Feld, Baum.» «Bei den Musen», sagte Äsop, «ich kann sprechen!» Er griff nach der Hacke und arbeitete weiter.

Es kam der Verwalter Zenas aufs Feld. Er war unzufrieden mit den Arbeitern und schlug einen von ihnen mit dem Stock auf den Rücken. Äsop konnte sich nicht beherrschen und sagte zu Zenas: «Warum schlägst du einen Unschuldigen? Ausgerechnet du? Die Niedertracht steht dir ins Gesicht geschrieben, aber du gehst stets straffrei aus!»

Zenas erschrak. Er sagte zu sich selbst: «Was ist los! Äsop spricht? Er hat immer den Mund gehalten, und jetzt beschimpft er mich. Wenn ich mich nicht vorsehe, bringt er mich noch um meinen Posten.»

Zenas ritt eilends in die Stadt und betrat aufgeregt das Haus seines Herrn. «Herr!», sagte er, aber der Herr unterbrach ihn: «Zenas, was soll das!»

Zenas faßte sich. Er sagte: «Etwas Erstaunliches hat sich zugetragen.»

«Tragen die Bäume vorzeitig Frucht? Oder hat ein Rind einen Menschen geboren?»

«Nein, Herr.»

«Was ist dann so erstaunlich. Heraus mit der Sprache!»

«Äsop, der Krummbeinige, der Dickbauch.»

«Hat er ein Kind gekriegt?»

«Nein. Er kann plötzlich fließend sprechen.»

«Na und? Ist das so aufregend?»

«Ja. Sehr.»

«Weshalb? Die Götter nehmen, die Götter geben.»

«Aber er hat dich und mich übel beschimpft.»

«So? Dann verkauf ihn.»

«Soll das ein Witz sein? Hast du vergessen, wie abstoßend er aussieht? Wer wird ihn schon kaufen wollen, diesen fetten Hund.»

«Verschenk ihn! Und wenn keiner ihn nehmen will, dann schlag ihn tot!»

Zenas stieg auf sein Pferd und ritt zurück. Er sagte sich: «Warum soll ich Äsop totschlagen. Ich werde ihn doch lieber verkaufen.»

Unterwegs, nicht weit vom Landgut, traf Zenas einen Sklavenhändler. Zenas sagte: «Ophelion, du größter aller Händler, sei mir gegrüßt.»

Ophelion erwiderte: «Zenas, größter aller Verwalter, ich grüße dich. Hast du nicht Lasttiere zu vermieten oder zu verkaufen?»

«Nein, aber du kannst für billiges Geld einen Sklaven haben.»

«Das sagst du mir? Ich habe selber Sklaven abzugeben.»

«Komm mit auf den Hof», sagte Zenas, «ganz in der Nähe.»

Auf dem Hof befahl Zenas einem Sklaven: «Geh aufs Feld und hole Äsop.»

Der Sklave lief zu Äsop und sagte: «Äsop, wirf die Hacke fort und komm mit, der Herr ruft dich.»

Äsop stützte sich auf seine Hacke und sagte: «Mein wirklicher Herr oder der Verwalter?»

«Was redest du», sagte der Bote. «Komm jetzt!»

Äsop warf die Hacke fort und sagte: «Ach, verdammt sei die Knechtschaft! ‹Äsop, mach dies, Äsop, mach das.› Jede Dreckarbeit muß ich machen. Aber wenn erst mein Herr hierher kommt, dann werde ich ihm sagen, wie gemein der Verwalter ist, und der Herr wird ihn entlassen. Also gut, gehen wir. Noch muß ich dem Verwalter gehorchen.»

Auf dem Hof angekommen, sagte der Bote zu Zenas: «Hier ist Äsop, Herr!»

Zenas sagte zu dem Sklavenhändler: «Sieh ihn dir an, Ophelion.»

Ophelion starrte Äsop an, der wie ein Lumpenhaufen aussah, und sagte: «Soll das ein Mensch sein? Zenas, hast du mich hierher geschleppt, damit ich deinen Abfall sehe?» Er wandte sich ab und wollte gehen.

Doch Äsop hielt Ophelion fest und sagte: «Hör mich an!»

«Was willst du!», sagte Ophelion. «Laß los und verschwinde!»

«Warum bist du auf den Hof gekommen?», sagte Äsop.

«Ich wollte dich kaufen.»

«Und warum kaufst du mich nicht?»

«Laß mich in Ruhe. Ich will dich nicht kaufen.»

«Kauf mich! Ich werde dir sehr nützlich sein.»

«Wie kannst du mir nützen!»

«Sind unter deinen Sklaven nicht auch Kinder, die eine Aufsicht brauchen? Mach mich zu ihrem Lehrer. Die Kinder werden sich vor mir fürchten und auf mich hören.»

«Ist dir doch noch was eingefallen», sagte Ophelion. Er fragte Zenas: «Was willst du für diesen Kerl haben?»

Zenas sagte: «Gib, was du denkst.»

Der Sklavenhändler gab Zenas eine lächerliche Summe, und der Kauf war perfekt.

 

Der Sklavenhändler ging mit Äsop in die Stadt. Im Hause Ophelions trafen sie zuerst auf zwei Sklavenkinder. Als die Kinder Äsop sahen, stießen sie Schreckensschreie aus und krochen in eine Ecke. Äsop sagte zu Ophelion: «Da siehst du, daß ich recht hatte.»

Ophelion wies auf einen Raum und sagte: «Dort drin sitzen deine Gefährten. Geh und begrüße sie.»

Äsop ging hin und erblickte ausgesucht schöne Sklaven. Er sagte: «Seid gegrüßt. Ich bin häßlich, aber ich bin einer von euch.»

Einer der Sklaven sagte: «Bei Nemesis, was ist nur in den Herrn gefahren, daß er ein Scheusal gekauft hat.»

Ein anderer sagte: «Ich weiß es.»

Ein dritter sagte: «Was?»

Der zweite antwortete: «Damit es was zu lachen gibt.»

Jetzt kam Ophelion und sagte: «Leute, fügt euch in euer Schicksal. Ich habe keine Lasttiere bekommen. Bereitet alles vor, wir brechen auf nach Asien.»

Die Sklaven machten sich daran, das Reisegepäck zusammenzutragen. Äsop sagte: «Ich bin neu, und ich bin schwach. Bitte, gebt mir nur wenig zu tragen.»

Einer der Sklaven sagte: «Du brauchst überhaupt nichts zu tragen.»

Äsop sagte: «Es ist schlecht für mich, wenn ich dem Herrn nutzlos vorkomme, und alle anderen strengen sich an.»

Ein anderer Sklave sagte: «Was für ein Schwätzer!»

Der erste sagte: «Trage, was du tragen kannst.»

Äsop sah sich um. Da eine Kiste, dort Säcke. Da Schilfmatten, dort Krüge. Und da ein Korb voller Brot, den vier Sklaven tragen sollten. Äsop sagte: «Hebt mir den Brotkorb auf den Rücken.»

Die Sklaven machten sich lustig über Äsop. Einer sagte: «Ein Idiot! Er bittet um ein leichtes Gepäckstück, und jetzt nimmt er das schwerste.»

Ein anderer sagte: «Der ist gar nicht blöd. Er will mehr Brot essen als wir. Los, geben wir ihm den Korb.»

Vier Sklaven hoben Äsop den Korb auf den Rücken. Niedergedrückt von dem unerträglichen Gewicht wankte Äsop los. Der Sklavenhändler Ophelion war erstaunt. Er sagte: «Da seht, wie Äsop sich abquält. Er schleppt die Last für ein Lasttier. Es hat sich gelohnt, daß ich ihn gekauft habe.»

Die anderen Sklaven trugen immer zu zweit ein einziges Gepäckstück. Sie spotteten über Äsop. Auf der Straße versuchte der, den richtigen Schritt zu finden. Erschöpft erreichten die Sklaven ein Gasthaus.

Der Sklavenhändler sagte: «Äsop, gib den anderen Brot. Immer ein Brot für zwei Leute.»

Der Korb wurde halb leer. Nach der Mahlzeit ging der Marsch sogleich weiter. Die anderen schleppten sich mit ihren Lasten ab, aber Äsop ging leichteren Schrittes. Nach einer Stunde gelangten sie zu einem zweiten Gasthaus. Wieder mußte Äsop Brot verteilen, immer für zwei Leute ein Brot. Der Brotkorb wurde leer. Äsop nahm den leeren Korb auf die Schulter und lief voraus. Ein Sklave fragte einen anderen: «Wer geht da vorn? Ist das ein Fremder?»

Der andere sagte: «Ich weiß nicht recht. Ich glaube, das ist der Neue.»

Der erste sagte: «Ein schlauer Kerl.»

«Ja», sagte der andere, «die Häßlichen besitzen Verstand.»

«Ein Fuchs ist das», sagte der erste.

Der Zug der Sklaven zog weiter und kam nach Ephesos. In Ephesos verkaufte der Sklavenhändler Ophelion seine Sklaven, aber drei behielt er übrig: einen Sprachlehrer, einen Lautenspieler und Äsop. Sie erzielten nicht den Preis, den Ophelion gefordert hatte.

Ein Freund des Sklavenhändlers sagte: «Ophelion, wenn du diese drei Kerle für einen guten Preis verkaufen willst, mußt du nach Samos hinüberfahren. Dort gibt es reiche Leute. Es lebt da der Philosoph Xanthos, der viele Schüler hat. Einer dort nimmt dir bestimmt den Sprachlehrer ab. Ein anderer den Lautenspieler. Und Äsop kauft einer, der einen Türhüter oder einen Koch braucht.»

 

Ophelion schiffte sich mit den drei übriggebliebenen Sklaven nach Samos ein. Nach der Ankunft mußte der Lautenspieler ein weißes Gewand und einen feinen Umhang anlegen; Ophelion kämmte ihm das Haar. Schließlich legte er ihm noch ein Tuch um. Der Sprachlehrer bekam ein luftiges Kleid, das bis zu den Knöcheln reichte, damit seine häßlichen Waden verborgen blieben. Auch ihm kämmte Ophelion das Haar. Äsop mußte ein sackartiges Gewand anziehen und sich mit einem Stoffetzen gürten. Schließlich stellte Ophelion alle drei zum Verkauf aus, Äsop zwischen die beiden hochgewachsenen Attraktiven. Der Ausrufer pries die drei Sklaven an, und viele Interessierte kamen herbei. Einer sagte: «Schaut mal, die zwei Hübschen. Aber der Kleine in der Mitte verschandelt alles. Weg mit dem!» Jedoch Äsop blieb stehen.

Zufällig oder nicht wurde die Frau des Philosophen Xanthos in ihrer Sänfte vorübergetragen. Sie hörte dem Ausrufer zu und ließ sich sogleich nach Hause bringen.

«Mann», sagte sie zu Xanthos, «immer wirst du von meinen Mägden bedient. Wir brauchen für dich einen männlichen Sklaven. Auf dem Markt werden gerade Sklaven angeboten. Kauf einen.»

Xanthos sagte: «Wenn du es willst, will ich es auch.»

Er ging zu seinen versammelten Schülern und verwickelte sie in einen gelehrten Disput. Schließlich beendete er die Übung und machte sich mit ihnen auf den Weg zum Markt.

Als Xanthos der zwei ansehnlichen und des häßlichen Sklaven ansichtig wurde, sagte er: «Ein scharfsinniger Kaufmann, dieser Sklavenhändler.»

Ein Schüler sagte: «Warum lobst du den Händler?»

«Der Händler hat den häßlichen Sklaven zwischen zwei schöne Sklaven gestellt, weil das Abstoßende des Häßlichen die Schönheit der Schönen hervorhebt. Ohne das Häßliche wäre das Schöne nicht so deutlich vor Augen getreten.»

Die Schüler waren von Xanthos’ Erklärung hingerissen.

«Treten wir näher», sagte Xanthos, «ich will einen Sklaven als meinen Diener kaufen.»

Xanthos trat vor den Lautenspieler und sagte: «Woher kommst du?»

«Ich bin Kappadokier.»

«Wie heißt du?»

«Ligyris.»

«Was kannst du?»

«Ich? Kann alles.»

Äsop lachte auf.

Einer von Xanthos’ Schülern zeigte auf Äsop und sagte: «Sieht der nicht wie ein Ungeheuer aus?»

Ein anderer Schüler sagte: «Warum hat der gelacht?»

Ein dritter Schüler sagte: «Der hat sich vor Kälte geschüttelt.»

Der zweite Schüler ging zu Äsop hin, zupfte ihn am Gewand und sagte: «Mein Verehrtester, warum hast du gelacht?»

Äsop sagte: «Verschwinde, du Meerschaf!»

Der Schüler begriff das Wort ‹Meerschaf› nicht und trat zurück.

Xanthos fragte jetzt Ophelion: «Was soll dieser Ligyris kosten?»

«Tausend Denare.»

Das war Xanthos zu teuer, und er sagte zu dem Sprachlehrer: «Woher stammst du?»

«Aus Lydien.»

«Wie heißt du?»

«Philokalos.»

«Und was kannst du?»

«Alles.»

Wieder lachte Äsop.

Der zweite Schüler sagte: «Über alles lacht der. Warum? Wenn ich wieder ein Meerschaf sein will, frage ich ihn noch einmal.»

Xanthos fragte Ophelion: «Und wieviel verlangst du für den Philokalos?»

«Dreitausend Denare.»

Xanthos wandte sich ab und wollte gehen. Einer seiner Schüler sagte: «Meister, gefallen dir die schönen Sklaven nicht?»

«Doch, aber sie sind mir zu teuer. Ich suche einen einfachen Diener.»

Der Schüler sagte: «So nimm doch den Häßlichen. Wir legen das Geld zusammen. Er wird seine Arbeit machen.»

«Witzig», sagte Xanthos. «Ich kaufe einen Sklaven, und ihr bezahlt ihn. Aber Spaß beiseite. Meine Frau achtet sehr auf Sauberkeit. Einen schmutzigen Sklaven würde sie nicht mögen.»

«Aber Meister», sagte der Schüler, «du hast uns doch gelehrt, daß man einer Frau nicht gehorchen soll.»

«Also gut», sagte Xanthos, «ich will hören, ob der Häßliche etwas kann. Wir dürfen doch unser Geld nicht zum Fenster hinauswerfen.»

Xanthos wandte sich Äsop zu und sagte: «Sei nicht traurig.»

«Warum sollte ich traurig sein.»

Einer der Schüler sagte: «Brillant! Warum sollte er auch traurig sein.»

Xanthos sagte zu Äsop: «Was bist du für einer?»

«Einer aus Fleisch.»

«Danach habe ich nicht gefragt. Wo bist du geboren?»

«Im Schoß meiner Mutter.»

«Wortspalter! Ich meine: an welchem Ort?»

«Meine Mutter hat mir nicht gesagt, ob es im Schlafzimmer oder im Eßzimmer war.»

Jetzt wurde Xanthos ein wenig ärgerlich. Er sagte: «Welcher Abstammung?»

«Ich bin Phryger.»

«Was kannst du?»

«Ich? Ich kann nichts.»

«Warum ‹nichts›?»

«Weil die beiden Schönen schon alles können.»

Einer der Schüler sagte: «Glänzend!»

«Soll ich dich kaufen?», sagte Xanthos zu Äsop.

«Du glaubst wohl, du hättest mich schon als Ratgeber in deinem Besitz, daß du mich so etwas fragst. Willst du mich kaufen, so kauf mich. Wenn nicht, so laß es sein. Mir ist es gleichgültig. Hör auf, dich über mich lustig zu machen.»

«Der hat es unserem Meister ganz schön gegeben», tuschelte ein Schüler.

Xanthos sagte: «Ich möchte dich kaufen, aber wirst du mir auch nicht weglaufen?»

«Wer ist denn schuld, wenn ich weglaufe? Du oder ich!»

«Du.»

«Nein», sagte Äsop, «du.»

«Ich?»

«Ja, denn wenn du gut zu mir bist, werde ich bei dir bleiben. Bist du aber schlecht, dann bleibe ich keinen Tag, keine halbe Stunde, keinen Augenblick.»

«Was du sagst, klingt vernünftig. Aber du siehst häßlich aus.»

«Was bedeutet schon mein Körper. Interessiere dich lieber für meinen Geist.»

«Was ist eigentlich der Körper», fragte Xanthos.

«Der Körper ist ein Etwas, das in die Kneipe geht und mit Wein gefüllt wird. Es gibt auch häßliche Gefäße mit vorzüglichem Inhalt.»

Xanthos wandte sich an Ophelion: «Was verlangst du für ihn?»

Der Sklavenhändler sagte: «Verspottest du meine Ware?»

«Wie kommst du darauf.»

«Die schönen Sklaven verschmähst du, aber diesen Abschaum willst du kaufen. Kauf einen von den Schönen, dann kriegst du den da obendrauf.»

Xanthos sagte noch einmal: «Was verlangst du für den da.»

Ophelion sagte: «Sechzig Denare, dazu fünfzehn, die mich sein Unterhalt gekostet hat.»

Weil die Steuereintreiber gehört hatten, daß Sklaven verkauft würden, kamen sie herbeigeeilt und fragten, wer der Verkäufer sei und wer der Käufer. Ophelion schwieg, und Xanthos scheute sich zu sagen, daß er für lediglich fünfundsiebzig Denare einen Sklaven gekauft habe. Da rief Äsop: «Ich bin verkauft und gekauft worden! Wenn das keiner sagt, dann bin ich vermutlich frei!»

Xanthos sagte jetzt: «Ich habe diesen Sklaven für fünfundsiebzig Denare gekauft.»

Die Steuereintreiber lachten über den Preis und erließen Xanthos die Steuer.

Äsop ging mit dem Philosophen Xanthos und dessen Schülern vom Markt.

Die Sonne stand im Zenit, die Hitze war groß, der Weg zu Xanthos’ Haus war weit. Plötzlich hob Xanthos sein Gewand und schlug im Gehen sein Wasser ab. Äsop hielt ihn am Ärmel fest und sagte: «Verkauf mich wieder, sonst laufe ich weg.»

«Äsop, was ist los mit dir!»

«Verkaufe mich. Dir kann ich nicht dienen.»

«Hat mich jemand bei dir verleumdet? Hat mich jemand einen Sklavenschinder genannt? Achte nicht auf solche Verleumdungen. Sie bringen nur Ärger. Die Leute reden nun einmal gerne schlecht über mich.»

«Dich hat deine Pisse verleumdet. Du bist ein Herr, ein freier Mann, du hättest dir bis zu Hause Zeit lassen können. Aber was hast du getan? Im Gehen gepißt! Was soll da ich tun, wenn ich einmal einen eiligen Auftrag zu erfüllen habe? Soll ich im Fluge pissen?»

Xanthos sagte: «Deswegen ereiferst du dich?»

«Ja, sehr!»

«Die Sonne brennt vom Himmel. Pinkle ich jetzt im Stehen, versengt mir der heiße Boden die Sohlen, der Urin sticht mir in die Nase und die Sonnenstrahlen erhitzen meinen Kopf.»

«Das überzeugt mich», sagte Äsop, «du kannst weitergehen.»

«Ich wußte noch gar nicht, daß ich mir einen Herrn gekauft habe», sagte Xanthos.

Als sie schließlich angekommen waren, sagte Xanthos: «Meine Frau ist sehr auf Sauberkeit bedacht. Warte vor dem Haus, bis ich dich angekündigt habe. Sonst verlangt sie bei deinem Anblick ihre Aussteuer zurück und sucht das Weite.»

«Wenn du von einer Frau beherrscht wirst …», sagte Äsop.

Xanthos ging ins Haus und sagte zu seiner Frau: «Du brauchst dich nicht mehr darüber zu beklagen, daß ich mich von deinen Mägden bedienen lasse. Ich habe einen Sklaven gekauft.»

«Während der Mittagsruhe habe ich geträumt, daß du einen sehr schönen Sklaven kaufst. Dank sei Aphrodite, sie hat meinen Traum erfüllt.»

«Warte, Frau, du sollst eine Schönheit erblicken, wie sie dir noch nie vor Augen gekommen ist.»

Die Mägde fingen sogleich zu schwatzen an. Die eine sagte: «Das ist ein Mann für mich.»

Eine zweite sagte: «Nein, für mich!»

Die dritte sagte: «Eine hübschere als du wird ihn bekommen.»

Darauf die zweite: «Bist du hübscher als ich?»

Und wieder die dritte: «Bist du etwa hübsch?»

Xanthos’ Frau sagte: «Wo ist er?»

«Vor der Tür», sagte Xanthos. «Ein wohlerzogener Mensch betritt ein fremdes Haus nicht ungebeten. Er wartet darauf, gerufen zu werden.»

«Man rufe ihn herein», sagte Xanthos’ Frau.

Die klügste unter den Mägden sagte sich: «Ich gehe hinaus und nehme ihn mir.»

Sie ging hinaus und rief: «Wo ist der Neue?»

Äsop sagte: «Hier!»

«Du bist der Neue? Wo hast du denn deinen Schwanz?»

Da Äsop verstand, daß sie ihn einem Hund gleichsetzte, sagte er: «Du glaubst es vielleicht nicht, aber bei mir ist der Schwanz vorn.»

«Warte hier!»

Die Magd ging ins Haus und sagte zu den Mägden: «Ehe ihr euch länger um den Neuen streitet, seht euch dieses Prachtexemplar an.»

Eine der Mägde ging hinaus und sagte: «Wo ist denn der Neue, mein Schöner?»

«Hier!» sagte Äsop.

«Du Scheusal», sagte die Magd. «Los, geh ins Haus. Aber komm mir nicht zu nahe.»

Äsop betrat das Haus. Xanthos’ Frau sah Äsops schmutziges Gesicht, kehrte sich um und schrie Xanthos an: «Fein ausgedacht! Weil du dir eine andere nehmen willst, bringst du mir diesen Dreck, damit ich zu meinen Eltern zurückkehre. Du weißt doch, daß ich Sauberkeit über alles liebe. Ich kann es nicht ertragen, solch ein Lumpenbündel im Haus zu haben. Gib mir meine Aussteuer zurück, ich gehe fort.»

Xanthos sagte zu Äsop: «Du hast mir unterwegs Vorhaltungen gemacht, aber jetzt schweigst du.»

Äsop sagte: «Soll sie sich doch zum Teufel scheren.»

«Schweig!», sagte Xanthos, «ich liebe sie.»

«Liebst du sie wirklich?»

«Ja!»

«Du willst, daß sie bleibt?»

«Na sicher, du Narr!»

Äsop stampfte mit dem Fuß auf und sagte: «Du willst, daß ich rede. Also gut. Wenn der Philosoph Xanthos von seiner Frau beherrscht wird, zeige ich im Hörsaal auf ihn und sage: ‹Seht ihn euch an. So sieht ein Kehrichthaufen aus.›»

«Schön, Äsop», sagte Xanthos.

«Und du, Frau», sagte Äsop zu seiner neuen Herrin, «du willst, daß dich dein Mann mit einem hübschen Sklaven erfreut.»

«Warum denn nicht?»

«Der hübsche Sklave soll dir ins Bad nachgehen, er soll dir das Kleid abnehmen, er soll sich nach dem Bad zu dir setzen, er soll dich anstarren, als bewundere er ein kostbares Geschmeide. Du möchtest ihn anlächeln und in dein Schlafgemach rufen. Er soll dir die Füße streicheln, und du willst ihn küssen und mit ihm anstellen, was dir Spaß macht zur Schande des Philosophen Xanthos. Ach, Euripides, man hätte deinen Mund vergolden sollen für die Worte:

Furchtbar ist die Wucht der Meereswogen,

Furchtbar Flusses oder Feuers Macht,

Furchtbar Armut, andere Gewalten,

Nichts so furchtbar wie ein böses Weib.

Du bist die Frau eines Philosophen und solltest eigentlich klug sein, aber du willst dich von Schönlingen bedienen lassen und bringst deinen Mann in Verruf. Du scheinst sehr auf Beischlaf zu sinnen und hast nichts anderes im Kopf als einen neuen Mann, du Dirne!»

Xanthos’ Frau sagte: «Wie kannst du es wagen, mir so etwas an den Kopf zu werfen!»

Xanthos sagte zu seiner Frau: «Er hat nicht unrecht. Und achte darauf, daß er dich nicht sieht, wenn du deine Notdurft verrichtest, denn dann wirst du ihn erst richtig kennenlernen.»

«Bei allen Musen», sagte Xanthos’ Frau, «dieser Mann ist gefährlich. Ich will Frieden mit ihm machen.»

Xanthos sagte zu Äsop: «Die Herrin hat sich mit dir versöhnt.»

«Das ist doch etwas», sagte Äsop, «wenn es mir gelingt, eine Frau mit Schelte zu zähmen.»

Xanthos sagte mit einem Blick auf seine Frau: «Aber jetzt ist es damit auch genug.»

Xanthos’ Frau sagte zu Äsop: «Ich weiß jetzt, daß du nicht auf den Kopf gefallen bist. Aber ich bin durch einen Traum verleitet worden. Mir schwebte ein schöner Sklave vor. Du jedoch bist häßlich.»

«Rede kein albernes Zeug», erwiderte Äsop, «nicht alle Träume sind wahr. Deshalb verlieh Zeus dem Apollon die Fähigkeit der Weissagung. Bewundert von jedem, verstieg er sich zu dem Glauben, er dürfe alle anderen verachten. Ein großer Aufschneider war er. Er machte sich größer als Zeus. Aber Zeus wollte nicht, daß Apollon so einflußreich wäre. Da ließ Zeus die Träume einiger Leute in Erfüllung gehen. Apollon mußte hinnehmen, daß seine Weissagungen nicht mehr gefragt waren. Er bat Zeus, ihm zu vergeben. Zeus versöhnte sich mit Apollon und gab den Menschen wieder Träume ein, die sie irreführen. Erst dank der Weissagungen finden sie heraus, was wahr ist. Dein Traum hat dir scheinbar etwas Wirkliches vorgegaukelt. Aber das Traumbild war falsch.»

Xanthos gab Äsop recht und lobte dessen Scharfsinn und Schlagfertigkeit. Dann sagte er: «Äsop, nimm das Tragetuch, wir wollen Gemüse einkaufen.»

Äsop nahm das Tragetuch und folgte Xanthos zum Gärtner. Xanthos sagte zum Gärtner: «Gib mir Gemüse.»

Der Gärtner stach einige Stangen Spargel und schnitt einen Kohlkopf, etwas Mangold und verschiedene Küchenkräuter ab. Das alles gab er Äsop. Xanthos wollte bezahlen, aber der Gärtner fragte: «Wofür, Herr?»

«Für das Gemüse!»

«Und der Garten? Und die Pflanzen? Siehst du sie dir gar nicht an? Ist dir meine Arbeit kein einziges Wort wert?»

«Behalte das Geld oder behalte das Gemüse, aber sage mir, was einem Gärtner an meinen Worten liegt. Ich bin kein Handwerker, der dir eine Hacke oder eine Schere machen könnte. Ich bin Philosoph.»

«Du könntest mir sehr helfen. Ich kann nachts nicht schlafen, weil mich die Frage quält, warum die Pflanzen, die ich setze, hacke und gieße, langsamer wachsen als die wilden Kräuter.»

Xanthos wußte auf diese philosophische Frage nicht sogleich Antwort und sagte beiläufig: «Die göttliche Vorsehung.»

Da mußte Äsop lachen.

Xanthos sagte: «Lachst du mich aus oder lachst du einfach so.»

«Nicht dich lache ich aus.»

«Wen sonst?»

«Deinen Lehrer.»

«Du verdammter Kerl! Setzt du die Lehren der Griechen herab? Ich bin in Athen zu Philosophen in die Schule gegangen, zu Lehrern der Rhetorik und zu Sprachlehrern. Bildest du dir ein, du könntest in den Helikon der Musen eindringen?»

«Wenn du nicht weiterweißt, dann gehörst du ausgelacht, Xanthos.»