Torsten Weigand

Katzenwesen

Roman

Natürlich für Mausi.
Aber auch für all jene Katzen, die noch auf der Suche nach
ihrem Menschen sind, manche ein Leben lang.

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Der Autor

Nachwort

Impressum

Prolog

Ein eisiger Hauch, der durch seinen Geist stob wie ein Wintersturm, riss Martin Haller aus dem Tiefschlaf. Um Atem ringend, fuhr er auf. Das Gefühl der Kälte schwand nur zögernd; Härchen, die sich aufgerichtet hatten, legten sich widerstrebend.

„Was ist passiert … Mausi?“

Er tastete nach dem Körper der Katze, wie er es ungezählte Male zuvor getan hatte, doch ihr Platz an seiner Seite war verwaist, seit beinahe drei Monaten. Mit einem Mal war sie wieder da, die Leere in seinem Herzen.

Mausi ist tot! Es war nur ein Traum …

Er tastete nach den Krücken, die am Nachttisch lehnten, und stellte sie sich zurecht. Tausend Nadeln stachen in sein linkes Bein, als er es aus dem Bett schob, von den Zehen bis zur Hüfte, dennoch stand er mit einer einzigen, hölzernen Bewegung auf. Er blinzelte die Tränen des Schmerzes aus den Augen, und aus den Schlieren schälte sich das vom Vollmond erleuchtete Rechteck der Balkontür. Drei qualvolle Schritte brachten Martin zu ihr. Er öffnete sie und trat auf den Balkon. Der Eindruck allumfassender Kälte kehrte zurück, doch diesmal kam sie nicht aus seinem Inneren, sondern aus der Nacht, in die er eingetaucht war wie in einen eisigen, kristallklaren See.

Die Stille, die den alten Mann umgab, war absolut. Die vielfältigen Geräusche der ländlichen Nacht, vertraute Begleiter seit anderthalb Jahrzehnten, schienen aufgesogen zu werden von etwas Unfassbarem; so, wie ein Schwarzes Loch alle Materie aufsaugt, die ihm zu nahe kommt. Manchmal, wenn der Wind ungünstig stand, konnte Martin das Brausen der schweren Lastwagen von der Autobahn hören, die einige Kilometer entfernt verlief, doch nicht in dieser Nacht. Es schien, als dürfe nichts den Schleier der Stille zerreißen.

Einer heiligen Stille.

Hoch über ihm blitzte etwas auf und Martin wandte den Kopf. Für einen Moment glaubte er, ein neuer Stern sei geboren worden, doch dann bewegte sich das Licht. Eine Sternschnuppe! Aber August und Dezember waren die Monate der Sternschnuppen, nicht der März. Sein Blick folgte dem Meteor auf seiner lautlosen Bahn von Nordwest über Nord nach Nordost, bis er am Horizont verschwand, scheinbar hinter einem Strauch wilder Rosen.

Martins Hand krampfte sich um die Balkonbrüstung, als sein Blick auf den Rosen zu ruhen kam, und das Gefühl, etwas Wichtiges sei geschehen, kehrte zurück. Der Strauch markierte nicht nur eine der Ecken des Grundstücks; unmittelbar davor ragte ein hölzerner Pfahl aus der Erde, an dem eine zerfranste gelbe Kordel wehte, wie Katzen sie gern als Spielzeug benutzen.

Der Pfahl markierte Mausis Grab. Und die Sternschnuppe war dahinter verschwunden, als wollte sie Martins Aufmerksamkeit darauf lenken. Zufall? Die Antwort gab er sich selbst: Was sollte es sonst sein, du alter Narr?

Er war bereits im Begriff, in die Wärme des Schlafzimmers zurückzukehren, als er mitten in der Bewegung verharrte. Es war nicht nur die vollkommene Stille der Nacht – da war noch etwas anderes. Er wandte sich um und musterte die schweren Äste der Tannen, die kahlen Zweige der Haselnuss- und Weißdornsträucher, die frostglitzernden Grashalme. Nichts regte sich. Eine unbegreifliche Macht schien nicht nur die Schallwellen, sondern auch jeglichen Lufthauch, ja die Zeit selbst angehalten zu haben. Sogar das Funkeln des lang gestreckten Teppichs der Milchstraße wirkte wie eingefroren. Nur die Kordel an Mausis Grab flatterte.

Kurz zuvor, in derselben Nacht:

Als sie fühlte, dass ihre Zeit gekommen war, schleppte sich die alte Mara über die Hühnerleiter auf den Boden oberhalb des Pferdestalls. Es war, nach langer Pause, Maras letzte Geburt, als hätte ein alter Maler sich noch einmal aufgerafft, ein Kunstwerk zu schaffen. Kein gewaltiges, das die Welt in Erstaunen versetzt, sondern ein bescheidenes, aber dennoch voller Tiefe, Farbe und Liebe. Ein intimes Gemälde als Apotheose und Vermächtnis eines Künstlerlebens.

Das erste in jener Nacht geborene Kätzchen, dem ein Menschenkind später den Namen Lucy geben würde, war das verkleinerte Abbild seiner Mutter: Rücken und Oberseite des Kopfes schwarz-grau getigert; Gesicht, Bauch und Beine weiß.

Mara versorgte Lucy mit der gleichen Sorgfalt wie all die vielen Jungen, die sie im Lauf ihres Lebens zur Welt gebracht hatte. Sie riss behutsam die Embryonalhülle auf und leckte der Kleinen Mund und Nase frei, um ihr das Atmen zu ermöglichen. Dann biss sie die Nabelschnur durch und fraß sie auf, ebenso wie die Nachgeburt. Die erste Nahrung nach einem Tag des Fastens verlieh ihr neue Kräfte.

Noch während sie Lucys Fell sauberleckte, kündigte sich mit dem Ungestüm, das sein ganzes kurzes Leben kennzeichnen sollte, das nächste Junge an: ein rötliches Katerchen, das man bald Sonny nennen würde.

Ausgezehrt von der doppelten Anstrengung gönnte sich Mara eine Pause, in der Lucy und Sonny die Geborgenheit der Mutterbrust fanden und sich an ihr festsaugten.

Nach einiger Zeit setzten die Wehen abermals ein und es dauerte nicht lange, bis das dritte Kätzchen des Wurfes erschien, seiner Mutter und seiner Schwester stark ähnelnd, jedoch mit weniger weißem Fell. Der schwarz-graue Bereich erstreckte sich von der Schwanzspitze bis zur oberen Gesichtshälfte, nur unterbrochen durch ein vorwitziges weißes Haarbüschel an der linken Flanke. Beine, Bauch und der größte Teil des Gesichts leuchteten schneeweiß; lediglich an die linke Seite der rosigen Nasenspitze hatte sich ein Flecken dunkler Haut verirrt, der dem Kätzchen zeit seines Lebens als unverwechselbares Kennzeichen dienen würde.

Dieses weibliche Kätzchen blieb zunächst namenlos, doch bald schon würde es wissen, wie sein Name lautete, ohne sich an den Ursprung dieses Wissens zu erinnern.

Sein Name war Mausi.

1

Die Welt endete in einer steilen Böschung, an deren Fuß sich die mit Abstand größte Wasserfläche ausbreitete, die Mausi in den vier Monaten ihres Lebens gesehen hatte. Jenseits des Wassers, in unerreichbarer Ferne, gerade noch zu erkennen für die Augen der kleinen Katze, folgten Wiesen und Felder den Konturen eines Hügels, der von einem Wald bekrönt wurde. Auf einer Straße dahingleitende Autos blinkten im Sonnenlicht.

Erschöpft ließ Mausi sich ins Gras fallen. Ihre Füße schmerzten und die sommerliche Mittagshitze ließ sie hecheln. Noch niemals war sie so weit gelaufen, noch niemals hatte sie der Ruf so weit weggeführt von ihrem Zuhause, von ihrer Mutter und ihren Geschwistern.

Seit sie denken konnte, hatte der Ruf sie begleitet, ein ebenso starker wie unerklärlicher Drang, in Richtung des Sonnenaufgangs zu marschieren, um dort – ja, was zu finden? Sie hatte nur eine verschwommene Vorstellung davon. Manchmal, in der kurzen, halluzinativen Phase zwischen Schlaf und Erwachen, glaubte sie die Arme eines Menschen zu spüren, die ihr Geborgenheit vermittelten, eine noch größere Geborgenheit als der Leib ihrer Mutter, an den sie sich so gern kuschelte. Momente später, wenn sie die Augen öffnete, war das Gefühl verschwunden. Geblieben jedoch war der Drang, diese Geborgenheit wiederzufinden, und etwas sagte ihr, dass sie in der Richtung des Sonnenaufgangs suchen müsse.

Mehr als einmal hatte Mara sie östlich des Bauernhofs gefunden, erschöpft und verzweifelt, hatte sie mit der Fürsorge einer Mutter im Nacken gepackt und ins Nest zurückgeschleift, das mittlerweile in einem dichten Busch beheimatet war. Danach war Mausi stets für einige Zeit brav im Schoß ihrer Familie geblieben, bis sie der Ruf zum nächsten Ausflug verleitet hatte.

Doch so weit wie heute war sie noch nie gekommen. Im Morgengrauen war sie aufgebrochen, der Sonne entgegen, war durch Felder, Wiesen und Wälder gewandert und hatte mit einem einzigen, gewaltigen Satz einen Bach überquert. Aber hier endete ihr Ausflug. Diesen Bach würde sie niemals überqueren können.

Hunger und Durst lenkten sie ab. Ihre Nase führte sie zu einer Pfütze, die vom Landregen des Vorabends übrig geblieben war. Sie trank, dann setzte sie sich auf die Hinterbeine und begann sich zu putzen; dabei konnte sie am besten nachdenken. Sie schleckte die Vorderpfoten ab und rieb sich mit ihnen über den Kopf, säuberte Schultern und Vorderbeine und entfernte mit den Zähnen einige Kletten von den Flanken, die sich während ihres Marschs durchs Unterholz dort festgesetzt hatten.

So viel war klar: Hier ging es nicht weiter, an dieser unüberwindlichen Kluft, die die Welt in zwei Teile spaltete. Ihr Ziel, das spürte sie, lag jenseits davon. Doch wie sollte sie es erreichen?

Später, dachte sie, wenn ich groß bin …

Sie würde eine Möglichkeit finden, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Aber sie erkannte: Bis dahin würde sie noch viel lernen müssen.

Nach einer Pause im Schatten einer Trauerweide machte Mausi sich auf den Heimweg. Es war nun spät am Nachmittag und der Hunger begann sie zu quälen. Sie wünschte, sie hätte sich mehr Mühe gegeben, als ihre Mutter lebende Mäuse ins Nest gebracht hatte, damit die Kinder lernten, sich ihre Nahrung selbst zu beschaffen. Gewiss, Mausi war flink und behände, doch wenn es um den entschlossenen Zugriff ging, überwältigte sie regelmäßig ihr Spieltrieb. Anstatt die Maus zu packen und die Schnurrhaare eng um ihren Körper zu legen, um so die richtige Stelle für den tödlichen Biss zu ertasten, warf sie die Beute lieber in die Luft, fing sie dann entweder auf oder ließ sie entkommen für das nächste Spiel. Oft jedoch war da schon Sonny heran, ein rötlicher Blitz, und stibitzte die Maus im Sprung. Das war in der Regel das Ende des Spiels, denn Sonny ließ nichts anbrennen. Wenn er eine Beute einmal gepackt hatte, war sie schon so gut wie verspeist, und Mausi musste sich mit dem zufriedengeben, was er übrig ließ oder was ihre Mutter für sie herbeitrug. Ja, Sonny wusste sich stets zu helfen, er hatte auch schon einige Male selbst eine Maus gefangen und mit stolz erhobenem Kopf angeschleppt. Mausi nahm sich fest vor, beim nächsten Jagdunterricht besser aufzupassen.

Bald erreichte sie den Rand des großen Waldes, den sie am Vormittag durchquert hatte. Hier fand sie ein Rinnsal, das wenigstens ihren Durst stillte. Doch sie gönnte sich nur eine kurze Pause. Sie wollte nach Hause. Obwohl sie den gleichen Weg nahm, auf dem sie gekommen war, schien sich der Wald seither ausgedehnt zu haben, ganz im Gegensatz zu ihrem Magen, der sich anfühlte, als sei er auf die Größe einer Nuss geschrumpft. Ihre Füße schmerzten wieder und sie fragte sich, ob sie es jemals bis nach Hause schaffen würde.

Und dann, als sie gerade eine Lichtung überquerte, drang ein Geruch in ihre Nase, wie sie ihn noch niemals wahrgenommen hatte. Eine absolut fremdartige Ausdünstung, mit der eine unausgesprochene Drohung einherging, als ob vor kurzer Zeit etwas unsäglich Gefährliches, etwas Böses diesen Weg gekreuzt hätte. Sie blieb mit zitternden Flanken stehen. Ihr Schwanz peitschte hin und her, ihre Ohrmuscheln drehten sich sondierend nach außen und ihre Krallen wurden sichtbar. Aber außer diesem Geruch war da nichts, nicht der kleinste Laut, und das in einem Wald, der normalerweise von Geräuschen erfüllt war: vom Rascheln des Laubs und der Zweige über das Scharren von Eichhörnchenkrallen oder Käferbeinen bis hin zum Gesang oder manchmal auch Gekreische der Vögel.

Die Stille des Todes.

Dann ertönte ein scharfes Knacken schräg hinter Mausi und gleichzeitig schoss ihr eine Wolke von jener fremdartigen Witterung in die Nase, so intensiv, dass sie ihr den Atem raubte. Sie preschte los. Hinter ihr splitterten Zweige unter schweren Füßen, Pfoten oder Pranken. Die Furcht, die Mausi nun beherrschte, war im wahrsten Sinne des Wortes namenlos und deshalb umso größer. Es war die Furcht vor etwas Unbekanntem, etwas gänzlich Fremdem. Jene Kreatur, die sie jetzt verfolgte und die der Geruch von Tod und Verwesung umschwebte wie eine weit gespannte Aura, war etwas, das nicht hierher gehörte, nicht in diesen friedlichen Wald, den Mausi nur Stunden zuvor unbekümmert durchquert hatte.

Da blitzte die mittlerweile tief stehende Sonne durch die Bäume: Mausi hatte den jenseitigen Waldrand erreicht. Obwohl völlig außer Atem und am Rande des Zusammenbruchs, hielt sie nicht an, sondern rannte weiter, über einen kleinen Weg in ein Weizenfeld, dessen eng stehende Halme sie nicht aufzuhalten vermochten. Immer noch hörte sie das Prasseln von Zweigen und Unterholz hinter sich. Doch dann verstummte es abrupt, als bildete der Rand des Waldes eine Barriere, die das Fremde nicht überschreiten konnte oder wollte.

Mausi hielt nicht an. Kopflos hetzte sie weiter, verließ das Feld und drang in die Ausläufer eines anderen Wäldchens ein; ein Wäldchen, in dem nicht alle Geräusche von etwas Unsagbarem verschlungen wurden. Trotz ihrer Erschöpfung sprang sie mit traumhafter Sicherheit über herausragende Wurzeln, abgebrochene Äste und Bächlein.

Und prallte gegen etwas Weiches, Warmes. In Panik machte sie einen Satz zur Seite, fauchte und streckte die krallenbewehrten Vorderpfoten vor. Dann erst erkannte sie den vertrauten Geruch ihres Gegenübers. Es war Mara, ihre Mutter.

Mausi war wieder zu Hause.

2

Manchmal war Sonny der lustigste aller Spielkameraden, der ritterlichste aller Gefährten oder der fesselndste aller Lehrmeister, manchmal jedoch war er eine ausgesprochene Pest.

So wie jetzt.

Er hatte einen umgekippten Blecheimer erobert und verhinderte spielend alle Versuche seiner Schwester, diesen Feldherrnhügel zu stürmen. Mal stand er wie ein Wachposten in Habtachtstellung, alle vier Beine durchgedrückt, und blinzelte Mausi höhnisch an, mal saß er lässig auf dem Eimerrand und ließ seinen Schwanz wie eine Angelleine hinunterhängen. Doch stets wenn Mausi hochsprang, war Sonny bereits wieder auf den Beinen und wehrte sie ab. Nach jedem dieser kleinen Siege stolzierte er mit hoch gerecktem Schwanz und trommelnden Füßen einmal rund um den Eimer, als wollte er sagen: Ich bin der Größte! Keiner kann mir was!

Danach begann das Spiel von vorn.

Doch irgendwann hatte Mausi genug von diesem einseitigen Vergnügen und wandte sich ab. Wo war gleich noch dieser Papierball, den neulich eines der Menschenkinder gebastelt hatte? Der so weit flog, wenn man nach ihm schlug? Sie blickte sich um. Er musste ganz in der Nähe sein; der Geruch nach Mensch, der ihm immer noch anhaftete, würde ihn verraten.

Etwas prallte gegen ihren Rücken. Mausi quiekte auf, warf sich herum — und Sonny platschte in eine Pfütze. Sofort raffte er sich wieder auf und schüttelte sich. Mausi fauchte vor Ekel, als ein paar Wassertropfen sie trafen. Sie machte einen Satz rückwärts und dabei entdeckte sie den Ball, der in der Nähe eines der Garagentore lag. Noch in der Bewegung änderte sie die Richtung, jagte darauf zu und versetzte ihm mit der rechten Vorderpfote einen Hieb, der ihn weit in Richtung der Hofmitte trieb. Sie setzte ihm nach, doch da stob ein rötliches Fellbündel an ihr vorbei. Sonny erreichte das Spielzeug eine halbe Katzenkindlänge vor seiner Schwester, gab ihm einen weiteren Stoß und im Nu war die Jagd wieder im Gang – von links nach rechts, von vorn nach hinten, quer über den Hof.

Mara lag auf der sonnendurchwärmten Mauer, die den Hof von der Pferdekoppel trennte. Es war ihr Lieblingsplatz, den ihr nicht einmal der in jeder Beziehung finstere Zorro streitig zu machen wagte; ein abgezehrter, aber sehniger schwarz-brauner Kater mit zerfransten Ohren und einem ausgefallenen Eckzahn, der mit unfehlbarem Geruchssinn stets dann aufkreuzte, wenn eine der auf dem Hof lebenden Katzen rollig wurde.

Von hier hatte Mara einen Überblick über das ganze Gehöft: Links das lang gestreckte, ungezählte Katzengenerationen alte Bauernhaus mit dem angrenzenden Schweinestall, den man vor vier oder fünf Wintern, als dem Bauern die Last der Versorgung von zweihundert Borstentieren zu drückend wurde, zur Pferdehaltung umgebaut hatte. Daran angrenzend und Maras Stammplatz genau gegenüber eine Reihe von Garagen und eine jetzt verschlossene Werkstatt, vor der Teile eines Sulkys ruhten. Rechts davon die hohe, gelb gestrichene Front eines neueren Hauses; Heimstatt der Enkelin des Bauern, die nun zusammen mit ihrem Mann den Pferdehof betrieb. Und schließlich der von rissigem Teer bedeckte Zufahrtsweg, der ein paar hundert Meter weiter in eine kleine Distriktstraße mündete.

Mara blinzelte in die Sommersonne. Es war das Ende einer Woche – Mara konnte Werktage von Wochenenden anhand der sich dann entfaltenden Aktivitäten unterscheiden – und der große Hof war leer bis auf zwei geparkte Autos sowie Sonny und Mausi, die wieder einmal nur Unsinn im Kopf hatten.

Lucy beteiligte sich nicht an dem Spiel. Sie lag mit aufgerichteten Ohrmuscheln neben dem Eingang zum neuen Haus und wartete wohl bloß darauf, dass sich die Tür öffnete, um dann hineinzuflitzen. Einer der Mieter fütterte sie manchmal, und wann immer eine Tür oder ein Fenster auch nur einen Spaltbreit offen stand, huschte, kletterte oder hopste sie ins Haus und blieb dort so lange, bis sie mit mehr oder minder sanfter Gewalt wieder hinausbefördert wurde. Lucy suchte die Nähe der Menschen und der Leckereien, die sie manchmal anboten, ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, der sich nichts aus diesen, wie Mara fand, klobigen, unbeholfenen und oft genug auch unfreundlichen Wesen machte.

Doch was Mara stets Rätsel aufgab, war Mausis Verhalten Menschen gegenüber: Sie pflegte einem Unbekannten zunächst mit aufgestelltem Schwanz entgegenzueilen, um dann, wenn seine Witterung sie erreichte, abrupt stehen zu bleiben. Sie schnupperte ein paarmal, wandte sich offensichtlich enttäuscht ab, trottete davon und verkroch sich. Nicht einmal dem temperamentvollen Sonny gelang es in solchen Augenblicken, seine Schwester zum Spiel zu bewegen.

Maras Schwanz zuckte, als sie an ihre jüngste Tochter dachte. Mausi machte ihr Sorgen. Von dem gestrigen Abenteuer hatte sie sich rasch erholt, aber es war ja nicht das erste Mal gewesen, dass sie ausgebüxt war. Stets marschierte sie in Richtung des Frühlingssonnenaufgangs, wo nichts war als Felder, Wälder und der Fluss. Und die Wälder waren gefährlich, nicht nur für kleine Katzen. Nach spätestens einem Tag pflegte sie von selbst zurückzukommen, mit verfilztem Fell und am Ende ihrer Kräfte, aber wenn sie sich diese Ausflüge nicht abgewöhnte, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr dabei etwas zustieß.

Außerdem passte Mausi nicht auf, wenn ihre Mutter ihr etwas erklärte: wie man sich vor einem Mauseloch postiert, wie man sich an ahnungslose Vögel anschleicht, wie man den geeignetsten Moment zum Zupacken abpasst. Sie schien stets auf eine seltsame Weise geistesabwesend zu sein, in einer anderen Welt gefangen. Wie sollte dieses Kind eines Tages in der Lage sein, sich selbst zu ernähren, geschweige denn seinen eigenen Nachwuchs zu versorgen?

Sonny dagegen würde bestimmt ein guter Jäger werden. Er war ein aufmerksamer Schüler, der eifrig alles ausprobierte, was Mara ihm vormachte. Sein Problem war lediglich, dass er zu überschwänglich war, nicht warten konnte auf den richtigen Augenblick. Doch das würde sich mit zunehmendem Alter legen, wusste Mara. Sie war zu alt, um sich an ihre eigene Kindheit zu erinnern, doch sie hatte viele Katzenjunge aufwachsen sehen – und mehr noch im Kindesalter sterben.

Ein lautes Fauchen ihres Sohnes ließ Mara herumfahren.

Mausi hatte den Ball wieder erbeutet und versucht, sich damit aus dem Staub zu machen, war jedoch von Sonny, der sich ihr wie ein Torwart in den Weg warf, zu Fall gebracht worden. Dann, inmitten der leidenschaftlichsten Keilerei, fauchte Sonny und machte einen Satz zur Seite. Mausi, deren Sinne auf nichts anderes als das Spielzeug gerichtet waren, stürzte sich darauf. Mit beiden Vorderpfoten umkrallte sie den Ball, wild entschlossen, ihn diesmal nicht mehr preiszugeben.

Plötzlich erstarrte Mausi und Dunkelheit schob sich über sie. Das Ding aus dem Wald – hatte es sie wiedergefunden? Dann erst vernahm sie, was sie im Eifer des Gefechts mit ihrem Bruder überhört hatte: das Tuckern eines dieser blitzenden Riesendinger, die darauf abgerichtet waren, die Menschen von einem Ort zum anderen zu bringen; ähnlich wie Pferde, aber größer und viel gefährlicher.

Mit aufgerissenen Augen und zu keiner Regung fähig, beobachtete Mausi, wie die runden, schwarzen Füße des Dings links und rechts an ihr vorbeiglitten. Es befand sich nun genau über ihr; sie hörte sein wütendes Schnauben und roch seinen stinkenden Atem. Gleich würde es sein Maul aufreißen und sie verschlingen, mit einem einzigen Biss; so, wie ihre Mutter ein junges, zartes Mäuslein zu verschlingen pflegte.

In der festen Überzeugung, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, schloss sie ihre Augen und übergangslos tauchten Bilder in ihr auf, glitten empor aus den dunklen Tiefen des Unbewussten. Bilder vergessener Träume, die Ruhe, Geborgenheit und Liebe ausstrahlten. Bilder, in denen stets ein Mensch vorkam, ihr Mensch, welchen sie in all jenen Menschen, denen sie bislang begegnet war, vergeblich gesucht hatte.

Dann wurde es wieder hell um sie, das Tuckern entfernte sich. Mausi blinzelte und riss im nächsten Moment die Augen weit auf. Das große Ding war weg; sie hörte es noch in der Ferne schnauben. Es hatte sie nicht gefressen! Aber warum nicht? Mochte es vielleicht keine Katzen? Oder hatte es einen vollen Magen?

Ungläubig und immer noch zitternd, sah sie sich um. Schon stand Sonny neben ihr, Mara kam angelaufen und sogar Lucy eilte herbei. Alle drei leckten ihr das Fell. Langsam, sehr langsam, beruhigte Mausi sich wieder. Sie richtete sich auf und machte zwei, drei wacklige Schritte. Sie konnte kaum glauben, dass sie diesen Angriff nicht nur lebend, sondern anscheinend sogar unverletzt überstanden hatte.

Um das zweite Auto, das in trügerischer Ruhe auf dem Hof stand und wahrscheinlich gerade einen Hinterhalt ausbrütete, machte die Katzenfamilie einen weiten Bogen, bevor sie sich in ihr Heim, den Busch hinter dem alten Haus, zurückzog.

Nur der Wind spielte noch mit dem Papierbällchen.

3

Die Brise, die an diesem Morgen von den Bergen herunterglitt, war angenehm kühl. Doch sie war nicht stark genug, um die gelbe Kordel zum Schwingen zu bringen. Schlaff hingen ihre zerfransten Enden an dem Stock, der das Grab markierte. Und es herrschte auch keine unirdische Stille wie in jener Frühlingsnacht. Im Gegenteil: Die Luft war erfüllt von den gewohnt vielfältigen Geräuschen eines beginnenden Tages auf dem Land. Und in das übermütige Zwitschern junger Vögel, in das insistierende Tackern eines Spechts auf Nahrungssuche mischte sich das rasch näher kommende Brausen eines Autos auf dem schmalen Weg, der das alte Bauernhaus mit der Zivilisation verband.

Auf seine Krücken gestützt, starrte Martin Haller auf das Grab. Er konnte nicht vergessen, was er in jener Nacht gefühlt hatte. Nein, korrigierte er sich, es war kein Gefühl gewesen, das ihn in jenem unauslöschlichen Moment überkommen hatte, sondern ein unbegreifliches Wissen: dass etwas geschehen war, was ihn betraf.

Ihn und Mausi.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er war der Gegenwart so weit entrückt, dass er nicht einmal zusammenzuckte, obwohl das Gras das Geräusch der Schritte verschluckt hatte.

„Mausi ist tot. Vergangenheit. Du solltest nach vorn blicken.“

Es dauerte eine Weile, bis sich die Gefühlsstürme, die die Worte seiner Nichte in ihm ausgelöst hatten, so weit legten, dass er antworten konnte.

„Ich habe von ihr geträumt heute Nacht.“ Er richtete seinen Oberkörper auf und atmete tief durch. „In letzter Zeit träume ich oft von ihr. Es ist, als ob sie … mir etwas sagen wollte.“

Der Druck der Hand auf seiner Schulter verstärkte sich. Er wandte den Kopf und sah Irene an. Sie nahm zwei offensichtlich schwere Einkaufstaschen auf, die sie im Gras abgestellt hatte.

„Ich habe dir Zeitungen mitgebracht“, sagte sie. „Und ein Brathuhn. Wie lange ist deine Mikrowelle schon arbeitslos?“

Martin lächelte schwach und wies auf das Haus. Irene wandte sich um und wie stets tanzten dabei ihre schwarzen Haare um ihren Kopf, als seien sie schwerelos. Doch bereits nach wenigen Schritten blieb sie wieder stehen. Ein Blick aus wahrhaft jadegrünen Augen traf den seinen, als sie mit dem Kopf zu einem toten Baum deutete, der sich links neben dem Bauernhaus erhob: Verkohlt und aller Äste beraubt, gabelte sich sein Stamm in etwa vier Metern Höhe und wies in der Form eines großen „V“ gen Himmel, wie ein toter Krieger, dessen Finger sich im Sterben zum Zeichen des Sieges verkrampft hatten.

„Wie ist das passiert?“, fragte sie.

Manchmal war sie leicht zu durchschauen, dachte Martin. Dennoch ging er bereitwillig auf ihren Versuch ein, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Ihm war bewusst, dass er auf seine Nichte den Eindruck eines verknöcherten, wenn nicht gar verbitterten alten Mannes machen musste, und das tat ihm leid. Er schätzte sie sehr; von der Hilfe und auch dem Halt, den sie ihm gab, ganz zu schweigen. Doch er musste sich erst daran gewöhnen, dass es auf dieser Welt wieder einen Menschen gab, der mehr für ihn empfand als Gleichgültigkeit oder bestenfalls geschäftliche Beflissenheit.

„Der Baum?“ Er blinzelte gegen die Morgensonne. „Der Blitz muss ihn lange vor meiner Zeit getroffen haben. Ich nehme an, er hat einst das Haus gerettet.“

Gemeinsam gingen sie hinein.

„Du isst zu wenig.“ Irene, die soeben die Mikrowelle gesäubert hatte, wischte sich die Hände an einer Stoffserviette ab und griff nach dem immer noch halb vollen Teller. Ihr Onkel schloss seine Hand, die nur aus Knochen, Sehnen und fleckiger Haut zu bestehen schien, um die ihre. Es war ein fester Griff, der Zuversicht vermitteln sollte. Eine Zuversicht, die, wie Irene ahnte, nur gespielt war.

„Es tut mir leid“, sagte er mit seiner rauen Stimme. „Du gibst dir so viel Mühe, damit ich wenigstens einmal in der Woche etwas Warmes zu essen habe, und ich lasse die Hälfte stehen. Vielleicht nächsten Sonntag …“

Sie musterte ihn. Bis vor ein paar Monaten, als die Nachricht von seinem Unfall sie erreichte – ein kurzer Anruf der Polizei: „Sie sind die einzige Verwandte“, „Nein, Lebensgefahr besteht keine“ –, war er ihr ein Fremder gewesen, nicht mehr als ein Name in einem Familienbuch, ohne Gestalt, ohne Gesicht, ohne Bedeutung. Sie musste ihn als Kind einige Male gesehen haben, natürlich, als ihr Vater – sein Bruder – noch gelebt hatte. Aber diese Erinnerung war verschwunden, weggespült durch die Stürme des Lebens. Sie hatte ihn neu kennenlernen müssen und dieser Prozess, erkannte sie in diesem Moment, war noch lange nicht abgeschlossen und würde es vielleicht niemals sein.

Ihr Blick traf die am Tisch lehnenden Krücken, dann wieder das von schlohweißem Haar umrahmte Gesicht ihres Onkels.

„Du hast nie über den Unfall gesprochen. Alles, was ich weiß, habe ich von den Ärzten.“

Er zuckte mit den Schultern. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es war Mitte Januar, kurz nachdem … kurz nach Mausis Tod. Ich habe einen Spaziergang gemacht, da vorne die Straße entlang, ein Auto kam auf dem gefrorenen Schnee ins Schleudern und hat mich von hinten erwischt.“ Jetzt erst erwiderte er Irenes Blick aus matten, braunen Augen. „Nehme ich jedenfalls an. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, in einem Meer aus Schmerzen. Das linke Bein war mehrfach gebrochen, ein Oberschenkelhalsbruch am rechten Bein, und eine lange Woche wusste ich nicht, ob ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen muss.“

Irene nickte. Ihr Onkel war schlank und deutlich größer als sie, doch er saß in so eingesunkener Haltung auf seinem Stuhl, dass sich ihre Köpfe auf gleicher Höhe befanden. Sie ahnte, dass sein Rücken sich unter einem Druck krümmte, der auf seiner Seele lastete. An seinem Gesicht konnte man noch die Spuren einstiger Bronzetönung erkennen; Kennzeichen eines arbeitsreichen Lebens, das lange Zeit unter einer tropischen Sonne stattgefunden hatte. Nun jedoch sah dieses Gesicht hohl aus, aschfarben und gezeichnet von jener Art tiefer Müdigkeit, die nicht durch Schlaf vertrieben werden kann.

„Du solltest nicht so viel nachdenken – am wenigsten über mich.“

Er drückte ihre Hand, dann ließ er sie los und Irene stand auf. Sie stellte den Teller neben das Spülbecken und wuchtete eine der mitgebrachten Einkaufstaschen auf den Tisch der geräumigen Wohnküche.

„Ich mache mir Sorgen“, sagte sie. „Die Ärzte meinen, du solltest dich mehr bewegen.“

„Den Ärzten tut nichts weh.“

Irene setzte zu der Bemerkung an, das Problem sei wohl nicht so sehr in den Schmerzen in seinem Bein, sondern in denjenigen in seinem Herzen zu suchen, doch sie überlegte es sich rechtzeitig anders. Sie breitete den Inhalt der Einkaufstasche vor ihm aus.

„Die Zeitungen der letzten Woche, die du bestellt hast.“ Sie suchte die Freitagsausgabe heraus und legte sie obenauf. „Das sollte dich interessieren: Ein Artikel über Luchse im Nationalpark. Sie haben einen großen Aktionsradius.“ Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne eines freien Stuhls. „Wir haben schon mal über das Thema geredet. Ich finde immer noch, du solltest nicht allein hierbleiben. Wenn du wenigstens einen Hund …“

Lächelnd schüttelte ihr Onkel den Kopf. „Katzen tun mir nichts, weder kleine noch große. In den beinahe sechzig Jahren meines Lebens habe ich eines gelernt, meine Liebe: Die Menschen sind es, vor denen man sich hüten muss, nicht die Tiere!“

Irene hatte nicht wirklich erwartet, ihn überreden zu können.

„Wenn du nicht aufpasst“, antwortete sie bestimmt, aber ohne Ärger, „wird noch ein bärbeißiger alter Menschenverächter aus dir!“

Sie wandte sich der Spüle zu. Dabei fiel ihr Blick auf den grünen Kachelofen, der den Raum beherrschte, und das auf der Ofenbank stehende Körbchen. Nur ein nacktes Weidenkörbchen ohne Decke. Ihr kam ein Gedanke – ein sehr guter Gedanke, wie sie in diesem Augenblick fand.

„Wenn schon keinen Hund, warum nimmst du dir nicht wieder eine Katze? Hier draußen kommen bestimmt oft welche vorbei, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind. Ich könnte dich auch ins Tierheim fahren, die sind froh um jede Katze, die sie vermitteln. Und dir würde es guttun, wieder jemanden zu haben, der dich braucht – und den du brauchst.“

Er wandte seinen Kopf dem Körbchen zu und Irene bemerkte, dass er noch weiter in sich zusammensank.

„Keine ist wie Mausi …“

4

Anderthalb weitgehend ereignislose Monate verstrichen. Lucy, Sonny und Mausi waren deutlich gewachsen und allmählich hörte die Welt auf, ein einziger riesiger Spielplatz zu sein.

Mausi hatte ihre Exkursionen nicht mehr aufgenommen; zu tief saß immer noch der Schreck über die Begegnung mit jenem Fremden, das sie quer durch den Wald gehetzt hatte – was auch immer es gewesen war. Aber das, was sie mangels besseren Verständnisses den Ruf nannte, war nicht verstummt. Manchmal, in besonders dunklen und einsamen Nächten, fand sie sich, einer Schlafwandlerin gleich, auf dem Weg in Richtung Frühlingssonnenaufgang wieder. Doch immer jagte sie in weiten Sätzen zurück in den Schutz des Nestes, sobald sie sich ihrer Umgebung bewusst wurde.

In Bezug auf die Jagd hatte sie nur geringe Fortschritte erzielt, schlug sich jedoch einigermaßen erfolgreich durch, indem sie mal bei Mäusejäger Sonny den Mitesser spielte und mal bei Lucy, die sich weitgehend von den Menschen ernähren ließ, weil das weniger Mühe machte und besser schmeckte. Nach wie vor zeigte Mausi sich sehr interessiert, wenn ein neuer Besucher auf dem Hof eintraf, aber stets verkroch sie sich nach kurzer Kennenlernzeremonie enttäuscht, beinahe verzweifelt, in eines ihrer bevorzugten Verstecke: ein vergessener Pappkarton unter der Bank vor dem alten Haus; eine vorgefundene und eigenkrallig weiter ausgebaggerte Höhlung zwischen den Wurzeln des Nussbaums hinter den Garagen; meist aber die dunkelste Ecke des Bodens über dem Pferdestall, wo sie sich am ungestörtesten einsam fühlen konnte und an der Stätte ihrer Geburt gleichsam eine Rückkehr in die Geborgenheit des Mutterleibs vollzog.

Eines Morgens im Spätsommer schließlich, als Mara sie dabei ertappte, sich an einer von Sonny erlegten, dann jedoch achtlos liegen gelassenen Maus gütlich zu tun, platzte ihr der Kragen. Sie packte Mausi am Nacken und schleifte sie unter Aufbietung aller Kräfte zu Sonny, der sich gerade einem Verdauungsschläfchen im Schatten des Nussbaums hingab.

„Du bringst deiner Schwester sofort das Jagen bei!“, fauchte sie den Verdutzten an. „Heute noch will ich ihre erste Maus sehen – oder wenigstens ein Mäuslein!“

Sonny gähnte und kratzte sich mit der Hinterpfote am linken Ohr. „Na gut“, sagte er schließlich und warf Mausi, die Maras Ausbruch als zusammengesunkenes Häuflein Elend verfolgt hatte, einen ungnädigen Blick zu. „Am besten, wir gehen auf die Pferdekoppel neben der Zufahrt, da war ich schon ein Weilchen nicht mehr. Vielleicht haben mich die Nager ja vergessen …“

Diese Koppel wurde derzeit nicht benutzt, sodass die beiden ungestört waren. Das Gras, nur gelegentlich unterbrochen durch Pferdekraut, reichte den Katzenkindern bis zur Schulter. Mausi, die sich fest vorgenommen hatte, die Erwartungen ihrer Mutter endlich zu erfüllen, schnüffelte ausgiebig und fand auch bald eine Spur, der zu folgen sich ihrer Meinung nach gelohnt hätte, doch Sonny hielt sie zurück. Er setzte sich auf die Hinterpfoten und warf sich in die Brust, sich seiner Wichtigkeit mehr denn je bewusst.

„Bevor wir zur Praxis schreiten“, dozierte er, auf seine Schwester herabblickend, die sich hingelegt hatte und andächtig an seinen Lippen hing, „ist, wie ich dich kenne, ein bisschen Theorie vonnöten. Beginnen wir ganz einfach: Was ist die erste Frage, die sich eine Katze stellt, wenn sie etwas hört, spürt oder sieht, das sich bewegt?“

Mausi ringelte ihren Schwanz ein und streckte ihn wieder aus. „Das ist einfach. Die erste Frage ist: Kann ich damit spielen?“

„Schmonzes!“ Sonny hieb mit der rechten Pfote nach seiner Schwester, die dem Schlag durch eine blitzschnelle Drehung auswich.

„Sonny!“ Entrüstet richtete sie sich auf. „Woher hast du solche Wörter?“

„Ähem.“ Sonny schaute sich nach allen Seiten um, doch von Mara war weit und breit nichts zu sehen oder wittern. „Versprichst du mir, es Mama nicht zu sagen?“

„Klar, Ehrenwort!“

Trotzdem senkte Sonny seine Stimme zu einem Flüstern.

„Von Zorro!“

Nun schaute auch Mausi sich erschrocken um. „Aber Mama hat doch ausdrücklich verboten …“

„Frauen haben überhaupt keine Ahnung! Zorro ist ein Kater von Welt. Was der alles gesehen hat und wo er überall gewesen ist! Von dem kann man viel lernen.“ Sonny streckte sich. „Aber wir sind hier, damit du etwas lernst! Also, wo war ich …“

„Immer noch bei der ersten Frage.“ Mausi gähnte und machte es sich wieder bequem. „Wenn die Theorie noch lange dauert, wird es heute nichts mehr mit der ersten Maus.“

„Richtig, die erste Frage.“ Sonny verfiel wieder in seinen dozierenden Tonfall. „Die erste Frage, die eine Katze sich stellen muss, wenn sie etwas bemerkt, das sich bewegt, lautet natürlich: Kann es mir was tun?“

„Das verstehe ich. Und wenn ich zu dem Schluss komme, dass die Antwort ‚ja‘ lautet …“

„ … oder auch nur ‚vielleicht‘ …“

„ … dann laufe ich schnell weg und verstecke mich!“

Ihr Bruder blinzelte zustimmend. „Und nun zur zweiten Frage, die sich unweigerlich stellt, falls die erste Frage mit ‚nein‘ beantwortet wurde.“