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Margaret Millar

Ein Fremder
liegt in meinem Grab

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Elizabeth Gilbert

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1960 bei

Random House, Inc., New York,

erschienenen Originalausgabe:

›A Stranger in My Grave‹

Copyright © 1960 by Margaret Millar

Die deutsche Erstausgabe erschien

1969 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration

von Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20646 3 (13. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60470 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

I

Der Friedhof  [7]

II

Die Stadt  [155]

III

Der Fremde  [325]

[7] I

Der Friedhof

[9] 1

Meine geliebte Daisy, nun sind es schon so viele Jahre her, seit ich dich zuletzt gesehen habe…

Die Angstzustände überfielen sie nicht mitten in der Nacht, wo Stille und Dunkelheit die Angst als etwas Natürliches erscheinen ließen, sondern an einem strahlenden, geräuschvollen Morgen im Februar. Die Akazien, die in solcher Überfülle blühten, dass sie blätterlos wirkten, schüttelten den nächtlichen Nebel von ihren Blüten, wie zottige Hunde den Regen abschütteln, und die Eukalptusbäume raschelten und schäkerten mit Hunderten winziger grauer, nicht mehr als daumengroßer Vögel, deren Namen Daisy nicht kannte.

Sie hatte im Vogelbuch nachgeschlagen, das Jim ihr beim Einzug in das neue Haus geschenkt hatte, und herauszufinden versucht, zu welcher Gattung sie gehörten. Aber die kleinen, daumengroßen Vögel weigerten sich einfach, lange genug stillzusitzen und ihre Zugehörigkeit erkennen zu lassen, so dass Daisy es schließlich aufgab. Sie konnte Vögel sowieso nicht leiden. Das Missverhältnis zwischen ihrer fröhlichen Losgelöstheit im Flug und ihrer schrecklichen Verletzlichkeit, wenn sie sich auf die Erde niederließen, erinnerte sie zu sehr an sie selber.

[10] Über die bewaldete Schlucht hinweg konnte sie Teile des neuen Wohnungsbauprojektes sehen. Noch vor weniger als einem Jahr hatte es dort nur Zwergeichen und Rizinusstauden gegeben, die sich mühsam durch den zähen, widerspenstigen Lehmboden emporgearbeitet hatten. Jetzt waren die Hügel mit Ziegelschornsteinen und Fernsehantennen übersät, und mit dem frisch angepflanzten Eiskraut und Efeu wurde die Landschaft langsam wieder grün. An windstillen Tagen drangen Geräusche von dort trotz der Entfernung in unverminderter Lautstärke zu Daisys Haus herüber: Hundegebell, das Kreischen spielender Kinder, Bruchstücke von Musik, Babygeschrei, das Schimpfen einer ärgerlichen Mutter, das periodische Aufheulen einer Kreissäge.

Daisy genoss diese morgendlichen Geräusche, Zeichen des Lebens, des Lebendigseins. Lauschend saß sie am Frühstückstisch, eine hübsche, dunkelhaarige junge Frau in einem leuchtend blauen Morgenrock, der die Farbe ihrer Augen hatte, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Dieses Lächeln hatte nicht die geringste Bedeutung. Es war rein gewohnheitsmäßig da und gehörte zu ihrer Morgentoilette wie ihr Lippenstift. Und abends wischte sie es wieder weg, wenn sie sich das Gesicht wusch. Jim liebte Daisys Lächeln. Für ihn war es ein Zeichen, dass sie eine glückliche Frau war und dass ihm als ihrem Mann das Hauptverdienst dafür zukam, dass sie glücklich war und es blieb. Und so hatte dieses grundlose Lächeln doch immer einen Sinn: Es überzeugte Jim, dass ihm etwas gelungen war, woran er in der Vergangenheit oft gezweifelt hatte, nämlich Daisy glücklich zu machen.

[11] Er las die Zeitung. Manches las er still für sich, manches laut, wenn er auf etwas stieß, von dem er annahm, dass es sie interessieren könnte.

»Vor der Küste von Oregon zieht sich ein neues Unwetter zusammen. Vielleicht kommt es sogar bis zu uns herunter. Ich hoffe zu Gott, es kommt. Hast du gewusst, dass dieses Jahr das trockenste seit '48 war?«

»Hmm.« Es war weder eine Antwort noch sonst eine Äußerung, sondern nur eine Aufforderung für ihn, ihr weiter vorzulesen, damit sie nicht reden musste. Im Allgemeinen war sie beim Frühstück ziemlich gesprächig. Sie ließ den vorhergehenden Tag noch einmal Revue passieren und machte Pläne für den gegenwärtigen. Aber an diesem Morgen hatte sie das Bedürfnis, still zu sein, als läge ein Teil von ihr noch im Schlaf und träumte.

»Nur zwölfeinhalb Zentimeter Regen seit letztem Juli. Das sind acht Monate. Es ist doch erstaunlich, wie alle unsere Bäume das überstanden haben, findest du nicht auch?«

»Hm.«

»Du, ich bin überzeugt, die größeren sind mit ihren Wurzeln mittlerweile unten beim Bach angekommen. Trotzdem besteht eine ziemlich akute Feuergefahr. Sei bloß vorsichtig mit deinen Zigaretten, Daisy. Unsere Feuerversicherung würde die Kosten für ein neues Haus nicht decken. Du bist doch vorsichtig?«

»Womit?«

»Vorsichtig mit deinen Zigaretten und Streichhölzern?«

»Natürlich. Sehr.«

»Eigentlich ist es mehr deine Mutter, die mich beunruhigt.«

[12] Wenn er über Daisys linke Schulter hinweg durch das Erkerfenster ihrer Essnische blickte, konnte er den Schornstein aus gebrauchten Backsteinen auf dem Häuschen seiner Schwiegermutter, Mrs. Fielding, sehen, das er für sie gebaut hatte. Es lag ungefähr zweihundertfünfzig Meter von dem ihren entfernt. Manchmal kam es ihm näher vor, und manchmal vergaß er es völlig. »Ich weiß zwar, dass sie in solchen Dingen ungeheuer vorsichtig ist, aber es kann trotzdem was passieren. Angenommen, sie sitzt eines Abends da und raucht und bekommt wieder einen Herzanfall? Ich sollte vielleicht doch lieber mal mit ihr darüber sprechen.«

Es war zwar schon neun Jahre her, noch bevor Jim und Daisy sich kennengelernt hatten, seit Mrs. Fielding einen leichten Schlaganfall erlitten, ihr Konfektionshaus in Denver verkauft und sich nach San Felice an der kalifornischen Küste zurückgezogen hatte. Und doch beunruhigte Jim dieser Gedanke noch immer, als wäre der Schlaganfall gerade gestern gewesen und könnte sich morgen vielleicht wiederholen. Er selber war sein Leben lang immer sehr beweglich und gesund gewesen, und die Vorstellung, krank zu sein, ließ ihn schaudern. Seit er ein erfolgreicher Grundstücksspekulant geworden war, kam er gesellschaftlich viel mit Ärzten zusammen, aber ihre Anwesenheit war ihm unangenehm. Sie waren Unheilbringer, Kassandras, wie Leichenbestatter auf einer Hochzeit oder Polizisten bei einem Kinderfest.

»Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, Daisy?«

»Wogegen?«

»Dass ich mit deiner Mutter darüber spreche.«

[13] »O nein.«

Beruhigt wandte er sich wieder seiner Zeitung zu. Die Eier mit dem Speck, die Daisy für ihn gebraten hatte, weil die tägliche Bedienerin erst um neun Uhr erschien, lagen noch unberührt auf seinem Teller. Beim Frühstück lag Jim nicht viel am Essen. Was er verschlang, war die Zeitung, Absatz für Absatz. Er verschlang die Nachrichten und Zahlen, als könnte er nie genug davon bekommen. Mit sechzehn war er von der Schule abgegangen, um in ein Bauunternehmen einzutreten.

»Hier ist übrigens was ganz Interessantes, du. Forscher haben bewiesen, dass die Wale ein Echolot haben, ähnlich wie die Fledermäuse.«

»Hm.« Ein Teil von ihr schlief immer noch und träumte. Sie war einfach nicht imstande, etwas zu äußern. Und so saß sie eben nur da und starrte zum Fenster hinaus, während sie Jim zuhörte und auf die Morgengeräusche horchte. Da plötzlich, ohne Warnung und ohne jeden ersichtlichen Grund, packte sie die Angst.

Das ruhige, gleichmäßige Schlagen ihres Herzens verwandelte sich in ein schnelles, unruhiges Klopfen. Sie atmete plötzlich schwer und schnell wie ein Mensch, der eine ungeheuer schwere körperliche Kraftleistung vollbringt. Stirn und Wangen und ihre Ohrläppchen brannten plötzlich wie im Fieber, und wie aus geheimen Quellen waren ihre Handflächen mit Schweiß bedeckt. Die Schläferin war erwacht.

»Jim.«

»Ja?« Er blickte über den Rand der Zeitung zu ihr hinüber und dachte: ›Wie wohl Daisy heute früh aussieht. [14] Rosig wie ein junges Mädchen.‹ Sie schien aufgeregt, als hätte sie gerade einen neuen großen Plan ausgeheckt, und er fragte sich gottergeben, was es wohl diesmal sein mochte. Die Jahre waren angefüllt mit Daisys Plänen, beiseitegeschoben und halb vergessen, wie altes Spielzeug in einem Koffer, teils zerbrochen und teils kaum benutzt: Keramik, Astrologie, Knollenbegonien, spanische Konversation, Möbel beziehen, Vedanta* [* Das ›Ende‹ des Veda, des Wissens, eines der sechs Systeme der indischen orthodoxen Philosophie.], Psychotherapie, Mosaik, russische Literatur, alles Spielzeuge, mit denen Daisy gespielt und die sie wieder weggelegt hatte. »Wolltest du etwas, mein Schatz?«

»Einen Schluck Wasser, bitte.«

»Wenn's weiter nichts ist.« Er holte ein Glas Wasser aus der Küche. »Da, trink.«

Sie griff nach dem Glas, konnte es aber nicht hochheben. Der untere Teil ihres Körpers war eiskalt, der obere brannte im Fieber, und zwischen den beiden Teilen schien kein Zusammenhang zu bestehen. Das Wasser hatte sie haben wollen, um ihren ausgetrockneten Mund zu kühlen, doch die Hand am Glas reagierte nicht, als wäre die Verbindung zwischen Wunsch und Willen unterbrochen.

»Daisy? Was hast du?«

»Mir ist – Ich glaube, ich bin – krank.«

»Krank?« Er sah erstaunt und schmerzverzerrt drein, wie ein Boxer, der gerade einen Tiefschlag eingefangen hat. »Du siehst aber gar nicht krank aus. Vor einer Minute habe ich noch gedacht, was für eine wunderbare Farbe du heute früh hast – Um Gottes willen, Daisy, werde bloß nicht krank!«

[15] »Ich kann doch nichts dafür.«

»Hier. Trink das. Komm, ich trag dich hinüber aufs Sofa. Dann geh ich und hol deine Mutter.«

»Nein«, entgegnete sie gereizt. »Ich will nicht, dass sie –«

»Aber wir müssen doch etwas tun. Vielleicht sollte ich lieber gleich einen Arzt rufen.«

»Nein, lass das. Bis hier jemand herkommt, geht's mir längst wieder gut.«

»Woher weißt du das denn?«

»Es war schon mal so.«

»Wann denn?«

»Vorige Woche. Zweimal.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Das weiß ich nicht.« Sie hatte einen Grund gehabt, wusste aber nicht mehr, welchen. »Mir ist so – heiß.«

Er legte die rechte Hand leicht auf ihre Stirn. Sie war kalt und feucht. »Fieber scheinst du jedenfalls nicht zu haben«, sagte er erleichtert. »Du machst auch gar nicht den Eindruck, als seist du krank. Du hast nämlich noch immer diese schöne, gesunde Farbe.«

Die Röte der Angst kannte er nicht.

Daisy lehnte sich in ihrem Sessel vornüber. Der Zusammenhang ihrer beiden Körperhälften, der gefrorenen und der fiebrig heißen, stellte sich allmählich wieder ein. Mit großer Willensanstrengung gelang es ihr, das Glas vom Tisch zu nehmen und das Wasser zu trinken. Das Wasser hatte einen komischen Geschmack, und Jims Gesicht, das auf sie herunterstarrte, war unscharf, so dass er nicht wie Jim aussah, sondern wie ein netter Unbekannter, der unverhofft hereingekommen war, um ihr zu helfen.

[16] Zu helfen.

Wie war er hereingekommen? Hatte sie ihn gerufen, als er vorbeiging? Hatte sie »Hilfe!« geschrien?

»Daisy? Ist dir jetzt wieder gut?«

»Ja.«

»Na, Gott sei Dank. Du hast mich einen Moment lang schön erschreckt!«

Erschreckt.

»Du solltest täglich regelmäßige Spaziergänge machen«, sagte Jim. »Das wäre gut für deine Nerven. Außerdem hast du meiner Meinung nach zu wenig Schlaf.«

Schlaf. Erschreckt. Helfen. Die Worte kreisten wie Karussellpferde in ihrem Kopf herum. Wenn sie doch nur wüsste, auf welche Weise man das Karussell anhalten oder zumindest bremsen könnte – He, Karussellmechaniker! Sie da, am Triebwerk, netter Unbekannter, bremsen Sie doch! Halten Sie an, halten Sie an, halten Sie an.

»Vielleicht wäre es auch keine schlechte Idee, wenn du anfangen würdest, täglich Vitamine zu nehmen.«

»Hör doch auf«, sagte sie. »Hör auf.«

Jim hörte auf und mit ihm auch die Pferde. Doch war es nur für eine Sekunde. Gerade lange genug, um vom Karussell herunterzuspringen und in entgegengesetzter Richtung davonzugaloppieren, und Schlaf, Erschreckt und Helfen rannten reiterlos miteinander in einer Staubwolke herum. Sie blinzelte.

»Beruhige dich, mein Schatz. Ich habe nur das Richtige tun wollen.« Er lächelte sie nachsichtig an, wie eine nervöse Mutter es bei einem quengligen, leidenden Kind tut. Sie muss es tun, wenn es ihr auch nicht gefällt. »Hör zu. [17] Warum bleibst du nicht ein Weilchen ganz ruhig da sitzen, und ich gehe inzwischen hinaus und mache dir einen schönen heißen Tee?«

»Da ist noch Kaffee in der Kanne.«

»Tee wird besser für dich sein, wo du schon so aufgeregt bist.«

Ich bin gar nicht aufgeregt, mein Unbekannter. Ich bin ganz kühl und ruhig.

Kühl.

Sie schlotterte plötzlich, als hätte schon der bloße Gedanke an das Wort eine so feste Masse wie einen Eisblock herbeigezaubert.

Sie hörte Jim in der Küche herumhantieren, Schubladen und Schranktüren öffnen, um die Teebeutel und den Wasserkessel zu finden. Die Uhr im goldenen Sonnenrahmen über dem Kamin zeigte halb neun. Noch eine halbe Stunde, und Stella, die Bedienerin, musste da sein, und kurz darauf würde Daisys Mutter aus ihrem Häuschen herüberkommen, lebhaft und fröhlich, wie gewöhnlich am Morgen, und dazu neigend, jeden zu kritisieren, der es nicht war, besonders Daisy.

Noch eine halbe Stunde, um lebhaft und fröhlich zu werden. So wenig Zeit, und noch so viel zu tun und sich noch über so vieles klarzuwerden: Was ist mit mir geschehen? Warum ist es geschehen? Ich habe doch nur dagesessen, nichts weiter getan, an nichts gedacht, nur Jim zugehört und auf die Geräusche gehorcht, die von jenseits der Schlucht herübertönten, spielende Kinder, Hundegebell, das Aufheulen der Säge, Babygeschrei, in einer gewissen schläfrigen Weise war ich ganz glücklich. Und da weckte mich plötzlich [18] etwas, und dann überfiel mich diese Angst, diese Panik. Was hat sie nur ausgelöst, welches dieser Geräusche?

›Vielleicht war's der Hund?‹, dachte sie. Eine der neuen Familien jenseits der Schlucht hatte einen Airdale, der vorüberfliegende Flugzeuge anheulte. Ein heulender Hund bedeutete Tod, als sie noch ein Kind war. Jetzt war sie beinahe dreißig und wusste, dass es Hunde gab, die heulten, besonders die reinrassigen, und andere, die nicht heulten, und dass es nichts mit Tod zu tun hatte.

Tod. Kaum war ihr dieses Wort eingefallen, wusste sie, dass es das entscheidende Wort war. Die andern auf dem Karussell waren nur Hinweise gewesen.

»Jim?«

»Komme gleich. Ich warte nur, dass das Wasser kocht.«

»Lass doch den Tee.«

»Wie wär's dann wenigstens mit einem Glas Milch? Das tut dir bestimmt gut. Du musst in Zukunft besser auf dich achten.«

›Nein, dazu ist es schon zu spät‹, dachte sie. ›Alle Milch, alle Vitamine, Spaziergänge und frische Luft in der Welt sind kein Abwehrmittel gegen den Tod.‹

Jim kam mit einem Glas Milch herein. »Da, trink das aus.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mach keine Geschichten, Daisy.«

»Nein, ich will nicht. Es ist schon zu spät.«

»Was soll das heißen, es ist zu spät? Inwiefern ist es zu spät?« Er stellte das Glas so hart auf den Tisch, dass etwas Milch auf das Tischtuch schwappte. »Zum Donnerwetter, was redest du da?«

[19] »Schimpf nicht so mit mir.«

»Ich muss mit dir schimpfen. Du kannst einem nämlich verdammt auf die Nerven gehen.«

»An deiner Stelle würde ich jetzt lieber ins Büro gehen.«

»Und dich in diesem Zustand hier zurücklassen?«

»Mir fehlt ja nichts.«

»O. K., O. K., dir fehlt also nichts. Aber ich bleibe trotzdem hier.« Eigensinnig setzte er sich ihr gegenüber hin. »Also was ist denn nun diesmal wieder los, Daisy?«

»Das kann ich – das kann ich dir nicht sagen.«

»Du kannst nicht, oder du willst nicht. Welches von beiden?«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Es war ihr gar nicht bewusst, dass sie weinte, bis sie die Tränen zwischen ihren Fingern spürte.

»Was hast du denn, Daisy? Ist irgendetwas passiert, das du mir nicht sagen willst? Hast du dein Auto in Klump gefahren oder dein Bankkonto überzogen?«

»Nein.«

»Na, was ist es denn sonst?«

»Ich habe Angst.«

»Angst?« Das Wort missfiel ihm. Es war ihm unerträglich, dass die Menschen, die er liebte, Angst hatten oder krank waren. Es schien ein schlechtes Licht auf ihn zu werfen und seine Fähigkeit, sie zu schützen, in Frage zu stellen. »Wovor hast du denn Angst?«

Sie antwortete nicht.

»Du kannst doch keine Angst haben, ohne dass etwas da ist, wovor du Angst haben müsstest. Also was ist es?«

»Du wirst nur lachen.«

[20] »Mir war noch nie im Leben weniger zum Lachen zumute als jetzt, glaub mir das. Komm, stell mich auf die Probe.«

Sie trocknete sich mit dem Ärmel ihres Morgenrocks die Augen. »Ich hatte einen Traum.«

Er lachte zwar nicht, sah aber belustigt aus. »Und du weinst wegen eines Traums? Aber, aber. Du bist doch schon ein großes Mädchen, Daisy.«

Stumm und traurig starrte sie ihn über den Tisch hinweg an, und es wurde ihm klar, dass er das Falsche gesagt hatte; doch das Richtige fiel ihm einfach nicht ein. Wie behandelte man seine Frau, eine erwachsene Person, die weinte, weil sie einen Traum gehabt hatte?

»Verzeih, Daisy. Ich wollte dich nicht –«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte sie bissig. »Du hast durchaus das Recht, es komisch zu finden. Lassen wir das Thema jetzt, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ich habe etwas dagegen. Ich möchte mehr darüber hören.«

»Nein. Ich möchte nicht gern, dass du einen Lachanfall bekommst, es wird nämlich noch viel komischer.«

Er sah sie ernüchtert an. »Tatsächlich?«

»O ja. Es ist direkt zum Totlachen! Es gibt wirklich nichts Komischeres als den Tod, besonders wenn man einen ausgeprägten Sinn für Humor hat.« Sie wischte sich wieder die Augen, obwohl gar keine neuen Tränenspuren zu sehen waren. Die Hitze ihres Zorns hatte sie schon an ihrem Ursprung getrocknet. »Geh lieber in dein Büro.«

»Wieso bist du denn so wütend, zum Teufel noch mal?«

»Hör bitte auf, mich anzuschr–«

[21] »Ich höre auf, dich anzuschreien, wenn du aufhörst, kindisch zu sein.« Er griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. »Einverstanden?«

»Meinetwegen.«

»Dann erzähl mir jetzt den Traum.«

»Da ist nicht viel zu erzählen.« Sie versank in Schweigen, und ihre Hand zuckte unruhig in der seinen wie ein kleiner Vogel, der sich gern befreien möchte, aber zu scheu ist, einen energischen Versuch zu machen. »Ich habe geträumt, ich sei tot.«

»Na, das ist doch schließlich nicht so was Schreckliches. Menschen träumen oft, sie seien tot.«

»Nicht so. Es war kein Angsttraum in dem Sinn, wie du es meinst. Es waren keinerlei Gefühle damit verbunden. Es war ganz einfach ein Faktum.«

»Dieses Faktum muss sich doch aber in irgendeiner Form dargestellt haben. Wie?«

»Ich sah meinen Grabstein.«

Obgleich sie behauptet hatte, es seien bei dem Traum keine Gefühle im Spiel gewesen, ging ihr Atem plötzlich wieder schwer, und sie sprach mit erregter Stimme. »Ich ging mit Prinz unterhalb des Friedhofs am Strand entlang, und plötzlich rannte Prinz davon und an der Seite des Kliffs hinauf. Ich hörte ihn heulen, konnte ihn aber nicht sehen. Und als ich ihn zurückpfiff, kam er nicht. Da ging ich ihm den Pfad hinauf nach.«

Sie hielt wieder inne. Jim drängte sie nicht. ›Es tönt ganz authentisch‹, dachte er. ›Wie etwas, das wirklich geschehen ist. Nur dass es beim Kliff keinen Pfad hinauf gibt und dass Prinz niemals heult.‹

[22] »Oben fand ich Prinz. Er saß neben einem grauen Grabstein, hatte den Kopf zurückgelegt und heulte wie ein Wolf. Ich rief ihn, aber er kümmerte sich gar nicht um mich. Da ging ich zum Grabstein hinüber und sah, dass es mein Grabstein war. Er trug meinen Namen. Die Schrift war deutlich erkennbar, aber leicht verwittert, als hätte der Stein schon eine Zeitlang dort gestanden. Und so war es.«

»Woher weißt du das denn?«

»Weil die Daten eingraviert waren. Daisy Fielding Harker stand dort. Geboren am 13. November 1930. Gestorben am 2. Dezember 1955.« Sie sah ihn an, als erwartete sie, dass er lachte. Als er es nicht tat, hob sie ihr Kinn in halb herausfordernder Weise. »Was sagst du nun? Habe ich dir nicht gesagt, es sei komisch? Ich bin seit vier Jahren tot.«

»Nein, wirklich?« Er zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, dass er dahinter sein plötzliches Gefühl von Panik und Hilflosigkeit verbergen könnte. Es war nicht so sehr der Traum, der ihn bedrückte, sondern die Wirklichkeit, die darin zum Ausdruck kam: Daisy würde eines Tages sterben, und auf dem erwähnten Friedhof würde tatsächlich ein Grabstein stehen, auf dem ihr Name stünde. O Gott, Daisy, stirb bloß nicht! »Du siehst mir noch ganz frisch und munter aus«, sagte er. Aber die Worte, die leicht und fröhlich klingen sollten, kamen heraus wie Federn, die zu Stein erstarrt sind, und fielen schwer auf den Tisch. Er nahm sie auf und versuchte es von neuem. »Besser gesagt: Du siehst sogar bildschön aus.«

Ihre schnellen Stimmungswechsel narrten und verblüfften ihn immer wieder, und er hatte es noch nicht dahin gebracht, sie vorauszusehen. Deshalb war er auch jetzt auf ihr [23] plötzliches kurzes Auflachen nicht im mindesten vorbereitet. »Ich war ja auch beim besten Einbalsamierer.«

Ob ihr Stimmungsbarometer stieg oder fiel: Er war immer bereit mitzumachen. »Den hast du doch bestimmt im Branchentelefonbuch gefunden?«

»Klar. Ich finde doch alles im Branchentelefonbuch.«

Ihre erste Begegnung durch das Branchentelefonbuch war zu einem ständigen Witz zwischen ihnen geworden. Als Daisy und ihre Mutter aus Denver in San Felice ankamen und sich nach einem Haus umsahen, hatten sie das Telefonbuch nach einer Liste der Grundstücksmakler durchgesehen. Ihre Wahl war auf Jim gefallen, weil Ada Fielding sich seinerzeit für okkulte Zahlenkunde interessiert hatte und der Name James Harker dieselbe Anzahl Buchstaben enthielt wie ihr eigener.

In jener ersten Woche, als er Daisy und ihre Mutter herumgefahren und ihnen verschiedene Häuser gezeigt hatte, erfuhr er ziemlich viel über sie. Daisy hatte groß angegeben, als achte sie sehr genau auf alle Einzelheiten, wie Bauart, Installationsanlagen, Zinsraten und Steuern, wählte aber dann zum Schluss ein Haus, weil es einen Kamin hatte, in den sie sich verliebte. Das Grundstück war viel zu hoch im Preis, die Bedingungen unangemessen, es hatte keine Garantie, termitenfrei zu sein, und das Dach war undicht. Doch Daisy weigerte sich, noch irgendein anderes Haus in Betracht zu ziehen. »Es hat einen so bezaubernden Kamin«, sagte sie nur, und dabei blieb sie.

Jim, ein praktischer, unsentimentaler Mensch, der darin einen Beweis für Daisys impulsives und gefühlsmäßiges Naturell zu sehen glaubte, war unwillkürlich fasziniert [24] davon. Noch bevor die Woche vorüber war, hatte er sich verliebt. Er schob die Unterzeichnung des Kaufvertrages für das Haus immer wieder hinaus, indem er alle möglichen Ausflüchte erfand, die Ada Fielding, wie sie später gestand, von Anfang an durchschaut hatte. Daisy schöpfte keinen Verdacht. Innerhalb von zwei Monaten waren sie verheiratet, und das Haus, in das sie zogen – und zwar alle drei –, war nicht das mit dem bezaubernden Kamin, welches Daisy gewählt hatte, sondern Jims eigenes Haus in der Laurel Street. Es war Jim, der darauf bestanden hatte, dass Daisys Mutter das Haus mit ihnen teilte. Schon damals hatte er so ein vages Gefühl gehabt, dass Daisy gerade wegen dieser Eigenschaften, die er an ihr so bewunderte, zuweilen etwas schwierig zu behandeln wäre und dass Mrs. Fielding, die genauso praktisch war wie Jim, ihm vielleicht dabei helfen könnte. Das Arrangement erwies sich als zufriedenstellend, wenn nicht als durchaus erfolgreich. Später hatte Jim das Haus an der Schlucht gebaut, in dem sie jetzt lebten, mit einem eigenen Häuschen für seine Schwiegermutter. Ihr Leben war ruhig und wohlorganisiert. Für unvorgesehene Träume war kein Platz darin.

»Lass dich doch durch den Traum nicht so beunruhigen, Daisy«, sagte er leise.

»Ich kann mir nicht helfen. Er muss eine Bedeutung haben, denn alles darin ist so eigentümlich: mein Name, die Daten –«

»Hör auf, daran zu denken.«

»Das will ich ja auch. Nur beschäftigt mich der Gedanke, was wohl an jenem Tag, am 2. Dezember 1955, passiert sein mag.«

[25] »Wahrscheinlich vieles, so wie an jedem Tag in jedem Jahr.«

»Ach, ich meine doch, mir persönlich«, sagte sie ungeduldig. »Mir muss an diesem Tag etwas passiert sein, etwas sehr Wichtiges.«

»Wieso?«

»Sonst würde mein Unterbewusstsein nicht gerade dieses Datum gewählt haben, um es auf einen Grabstein zu setzen.«

»Wenn dein Unterbewusstsein genauso verrückt und unberechenbar ist wie dein Bewusstsein –«

»Nein, Jim, ich meine es ernst.«

»Das weiß ich, und ich wünschte ja gerade, du tätest es nicht. Im Grunde wünschte ich, du würdest aufhören, darüber nachzudenken.«

»Ich habe dir doch gesagt, ich werde nicht mehr daran denken.«

»Ehrenwort?«

»Meinetwegen.«

Dieses Versprechen war so hinfällig wie eine Seifenblase. Es zerplatzte, noch bevor Jims Wagen das Grundstück verlassen hatte.

Daisy stand auf und begann aufgeregt im Zimmer hin und her zu laufen. Ihr Gang war schwer und ihre Schultern gebeugt, als trüge sie das ganze Gewicht des Grabsteins auf ihnen.

[26] 2

Vielleicht sollte ich zu dieser für mich sehr späten Stunde nicht noch in dein Leben treten.

Da Daisy gar nicht auf das Wegfahren des Autos geachtet hatte, wusste sie auch nicht, dass Jim bei Mrs. Fielding gehalten hatte. Der Verdacht kam ihr erst, als ihre Mutter, die dauernd und genau auf die Zeit achtete, eine halbe Stunde vor ihrer gewohnten Zeit an der Hintertür auftauchte. Sie hatte Prinz, den Collie, bei sich an der Leine. Als die Leine abgenommen wurde, sprang Prinz in der Küche herum, als wäre er nach mindestens zwei Jahren von seinen Fußeisen befreit worden.

Seit Mrs. Fielding allein lebte, hielt man es in ihrem Interesse für angebracht, dass sie Prinz, einen eifrigen und unermüdlichen Beller, jede Nacht in ihrem Häuschen bei sich behielt. Wegen dieser Begabung für das Bellen genoss er den Ruf, ein ausgezeichneter Wachhund zu sein. Tatsache war, dass es mit dieser Begabung bei Prinz nicht weit her war. Er bellte nämlich mit derselben Begeisterung, wenn Eicheln aufs Dach fielen, wie er gebellt hätte, wenn Eindringlinge die Tür aufgebrochen hätten. Obgleich Prinz seine Begabung bisher noch nie hatte unter Beweis stellen müssen, herrschte allgemein das Gefühl, dass er sich zur [27] gegebenen Zeit aufraffen und seine Leute und ihr Eigentum mit wilder Treue verteidigen würde.

Daisy begrüßte den Hund liebevoll, weil er es erwartete. Die beiden Frauen sahen einander zu oft, um noch viel Aufhebens von der Morgenbegrüßung zu machen.

»Du bist ja heute schon früh da«, sagte Daisy.

»Tatsächlich?«

»Das weißt du auch ganz genau.«

»Ach, und wenn schon«, entgegnete Mrs. Fielding leichthin, »es wird Zeit, dass ich endlich aufhöre, nach der Uhr zu leben. Außerdem war es ein so herrlicher Morgen, und ich habe am Radio gehört, dass ein Gewitter im Anzug ist. Da wollte ich nichts von der Sonne versäumen, solange sie noch da ist –«

»Hör auf damit, Mutter!«

»Womit soll ich denn aufhören, um Gottes willen?«

»Jim war doch bei dir, stimmt's?«

»Ja, einen Augenblick.«

»Was hat er dir erzählt?«

»Ach, eigentlich nichts Besonderes.«

»Das ist keine Antwort«, sagte Daisy. »Ich wünschte, ihr zwei würdet endlich aufhören, mich wie ein idiotisches Kind zu behandeln.«

»Also gut. Jim hat eine Bemerkung gemacht, dass du vielleicht ein Aufbaupräparat für deine Nerven brauchtest. Nicht dass ich der Meinung wäre, deine Nerven seien schlecht oder nicht in Ordnung, aber ein Stärkungsmittel kann jedenfalls nie schaden, meinst du nicht auch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich werde mal den reizenden neuen Arzt in der Klinik [28] anrufen und ihn bitten, dir etwas mit vielen Vitaminen, Mineralien und dergleichen zu verschreiben. Oder vielleicht wären Proteine noch besser.«

»Ich will weder Proteine noch Vitamine, noch Minerale, noch sonst was.«

»Ach, wir sind wohl heute Morgen nur ein bisschen nervös, was?«, meinte Mrs. Fielding mit dem Anflug eines kühlen Lächelns. »Könnte ich vielleicht trotzdem eine Tasse Kaffee haben?«

»Bitte, bedien dich.«

»Möchtest du auch eine?«

»Nein.«

»Nein, danke, sagt man gewöhnlich. Persönliche Probleme sind noch lange keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen.« Sie goss sich aus der elektrischen Kaffeekanne eine Tasse Kaffee ein. »Wie ich annehme, handelt es sich hier doch wohl um ganz persönliche Probleme?«

»Jim wird dir ja wahrscheinlich alles erzählt haben, wie?«

»Er erzählte so beiläufig was von einem lächerlichen kleinen Traum, den du gehabt hättest, der dich aufgeregt habe. Der arme Jim war selber ganz außer sich. Mit solchen Kleinigkeiten solltest du ihn vielleicht gar nicht so ängstigen. Du hast ihn völlig eingewickelt, Daisy.«

»Eingewickelt.« Dieser Ausdruck beschwor nicht die beabsichtigte Vorstellung herauf. Das Einzige, was Daisy dabei in den Sinn kam, war eine Doppelmumie, zwei Menschen, die, schon lange tot, zusammen in ein Leintuch gewickelt waren. Schon wieder der Tod. Ganz gleich, in welche Richtung sie auch dachte, der Tod wartete um die Ecke oder gleich bei der nächsten Wegbiegung, wie ein Schatten, [29] der immer vor ihr herlief. »Es war kein lächerlicher kleiner Traum«, erklärte Daisy, »es war ein ganz konkreter und sehr wichtiger Traum.«

»Das mag dir vielleicht so vorkommen, solange du noch so aufgeregt bist. Warte, bis du ruhiger wirst und objektiv darüber nachdenken kannst.«

»Es ist ziemlich schwierig, angesichts seines eigenen Todes objektiv zu sein«, meinte Daisy trocken.

»Aber du bist ja nicht tot. Du bist hier, lebst, bist gesund und, wie ich annehme, glücklich… Du bist doch glücklich, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht.«

Mit dem feinen Instinkt seiner Rasse spürte Prinz die gespannte Atmosphäre. Er hatte den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt und beobachtete die beiden Frauen.

Sie sahen sich äußerlich sehr ähnlich und waren sich vielleicht auch einmal im Temperament sehr ähnlich gewesen. Aber Mrs. Fieldings Lebensumstände hatten sie gezwungen, einen ausgeprägten Sinn für das Praktische zu entwickeln. Mr. Fielding war ein äußerst charmanter Mann gewesen, hatte sich aber als ein schwacher und unzuverlässiger Ernährer erwiesen, und Daisys Mutter war viele Jahre lang die Hauptstütze der Familie. Mrs. Fielding erwähnte ihren Exmann selten und nur, wenn sie wütend war, und sie hatte nie mehr etwas von ihm gehört. Daisy hingegen bekam ab und zu eine Nachricht von ihm; immer von einer andern Adresse, aber immer mit demselben Inhalt: Daisybaby, ich hätte gern gewusst, ob du mir wohl mit etwas Geld aushelfen könntest. Ich bin im Augenblick etwas knapp, aber nur vorübergehend, denn ich erwarte jetzt jeden Tag eine ganz [30] große Sache… Daisy beantwortete alle diese Briefe, ohne ihrer Mutter etwas davon zu sagen.

»Hör mal zu, Daisy. In zehn Minuten wird die Bedienerin hier sein.« Mrs. Fielding nannte Stella nie mit Namen, weil sie sie nicht leiden konnte. »Das gibt uns die Möglichkeit, uns noch ein bisschen unter vier Augen zu unterhalten, wie wir's früher immer getan haben.«

Daisy wusste genau, dass dieses Gespräch unter vier Augen in einer ziemlich ausgedehnten Kritik ihrer eigenen Fehler bestehen würde, dass sie zu emotionell, zu energielos, zu egoistisch, das hieß im Grunde: zu sehr wie ihr Vater sei. Es endete unweigerlich damit, dass Daisys Schwächen der genaue Abklatsch der Schwächen ihres Vaters wären.

»Wir haben uns immer so gut verstanden, weil wir beide so viele Jahre allein miteinander gelebt haben.«

»Du sprichst, als hätte ich nie einen Vater gehabt.«

»Natürlich hattest du einen Vater. Aber –«

Sie brauchte gar nicht weiterzureden, Daisy wusste schon, was kam: Vater war nicht viel zu Hause, und wenn er zu Hause war, war er nicht viel wert.

Schweigend wandte Daisy sich ab, um ins andere Zimmer zu gehen. Prinz sah sie kommen, rührte sich aber nicht von der Türöffnung weg; und als sie über ihn hinwegstieg, ließ er ein leises Knurren hören, um sein Missfallen über ihre Laune und die Lage im Allgemeinen auszudrücken. Sie schalt mit ihm, doch ohne Überzeugung. Acht Jahre war sie schon verheiratet, und so lange hatte sie auch den Hund. Und manchmal war ihr, als kenne Prinz ihre wahren Gefühle besser als Jim oder ihre Mutter, ja sogar besser als sie [31] selber. Er folgte ihr ins Wohnzimmer, und als sie sich hinsetzte, setzte er sich auch und legte eine seiner Pfoten in ihren Schoß. Seine braunen Augen blickten eindringlich und ernst zu ihr auf, und seine Schnauze stand offen, als sei er im Begriff, zu ihr zu sagen: Mach keine Geschichten, liebes Kind, nimm dich zusammen. So schlecht ist die Welt nun auch wieder nicht. Denn immerhin bin ich ja noch da.

Und sogar als die Bedienerin am Hintereingang erschien, was gewöhnlich Anlass zu einem lauten und aufdringlichen Benehmen bot, rührte Prinz sich nicht von der Stelle.

Stella war eine Städterin und arbeitete gar nicht gern auf dem Land. Zwar hatte Daisy ihr schon oft und geduldig auseinandergesetzt, dass es mit dem Auto nur zehn Minuten bis zum nächsten Supermarkt sei, doch Stella war nicht zu überzeugen. Ihr brauchte man nicht zu erzählen, was das Land war, sie kannte es schon allein vom Sehen. Und hier war sie auf dem Land, und es gefiel ihr überhaupt nicht. Ringsherum nichts als Natur. Es machte sie ganz nervös. Wespen und Kolibris umschwirrten einen, Schnecken krochen herum, Bienen summten in den Eukalyptusbäumen, und im trockenen Sand brüteten Flöhe, die sich ab und zu auf Stellas Fesseln oder Handgelenke stürzten.

Stella und ihr gegenwärtiger Mann hatten eine Wohnung im zweiten Stock im Proletarierviertel der Stadt, wo sie nur die gewöhnliche Hausfliege belästigte und sonst nichts. Hier in der Stadt war alles zivilisiert, weder Wespen noch Schnecken, noch ein Vogel ließen sich blicken, nur Menschen: Käufer und Ladenbesitzer bei Tage, Betrunkene und Prostituierte bei Nacht. Manchmal wurden sie direkt unter [32] Stellas Vorderfenster verhaftet, und gelegentlich gab es auch zwischen den mexikanischen Nationalisten, die sich nach einem Tag des Zitronen- und Avocadopflückens ausruhten, sehr schnelle und lautlose Messerstechereien. Stella genoss diese Aufregungen. Sie gaben ihr das Gefühl, wirklich zu leben (durch das, was da alles so passierte) und anständig zu sein (denn das alles passierte nicht ihr. Nein, sie war weder eine Hure noch eine Säuferin, sie nicht; sie wettete nur jeden Morgen, bevor sie zur Arbeit kam, im Hinterzimmer des Café Siesta eine Kleinigkeit auf ein Pferd).

Als die Harkers noch in der Stadt gewohnt hatten, war Stella mit ihrer Stellung ganz zufrieden gewesen. Die Harkers waren nette Leute – so weit man das von Leuten, für die man arbeitete, sagen konnte – und nie herablassend oder gemein. Aber das Land konnte sie nun mal nicht leiden. In der frischen Luft musste sie husten, und die Stille machte sie ganz melancholisch. Keine Autos, die vorüberfuhren, oder fast keine, kein Radio, das auf volle Lautstärke eingestellt war, keine Leute, die sich laut unterhielten.

Bevor sie ins Haus ging, trat sie drei Ameisen tot und zertrat eine Schnecke. Es war das wenigste, das sie im Dienste der Zivilisation tun konnte. ›Diese Ameisen werden aber gemerkt haben, dass ich auf sie getreten bin‹, dachte sie und schob ihre zweihundert Pfund durch die Küchentür hinein. Da weder Mrs. Harker noch die alte Dame zu sehen war, begann Stella ihr Tagewerk damit, sich erst mal eine frische Kanne Kaffee zu kochen und fünf Scheiben Brot mit Konfitüre zu essen. Ein netter Zug von den Harkers war, dass sie nur die besten Lebensmittel und die auch noch reichlich kauften.

[33] »Sie isst schon wieder«, sagte Mrs. Fielding im Wohnzimmer zu Daisy. »Und jetzt schon. Sie tut überhaupt kaum noch etwas anderes.«

»Die Letzte war auch nicht gerade ein Prachtstück.«

»Aber die ist ganz unmöglich. Du solltest strenger mit ihr sein, Daisy. Zeig ihr, wer Herr im Hause ist.«

»Ich weiß selber nicht genau, wer Herr im Hause ist«, sagte Daisy mit einem leicht verwunderten Gesichtsausdruck.

»Natürlich weißt du's. Du bist es.«

»Ich habe gar nicht das Gefühl, als sei ich's, oder als wollte ich es sein.«

»Du bist es jedenfalls, ob du's sein willst oder nicht, und du hast einfach die Pflicht, deine Autorität geltend zu machen und nicht alles auf die leichte Schulter zu nehmen. Wenn du willst, dass sie etwas tut oder nicht tut, musst du ihr das sagen. Die Frau ist ja schließlich keine Gedankenleserin. Sie erwartet, dass man ihr Bescheid sagt und Anweisungen gibt.«

»Ich glaube kaum, dass das bei Stella etwas nützen würde.«

»Du könntest es doch wenigstens versuchen. Diese Gewohnheit von dir – und es ist eine Gewohnheit und keine Charaktereigenschaft, wie ich früher geglaubt habe –, diese Gewohnheit, die Dinge schlittern zu lassen, weil du zu bequem bist und deine Ruhe haben willst, das hast du nur von deinem –«

»Vater. Ich weiß schon. Hör doch endlich auf damit.«

»Das wäre mir auch am liebsten. Noch lieber wäre es mir gewesen, wenn ich gar nicht erst damit hätte anzufangen [34] brauchen. Aber wenn ich eine völlig unnötige Misswirtschaft sehe, habe ich das Gefühl, ich muss etwas dagegen tun.«

»Wieso? Stella ist noch nicht die Schlechteste. Sie wurstelt sich so durch, und mehr kann man schließlich von keinem Menschen verlangen.«

»Ich bin anderer Meinung«, entgegnete Mrs. Fielding gereizt. »Überhaupt scheinen wir uns heute früh über nichts einigen zu können. Ich verstehe gar nicht, woran das liegt. Ich fühle mich jedenfalls genauso wie immer – oder habe mich zumindest bis zu dem Augenblick so gefühlt, als diese verrückte Geschichte mit dem Traum aufs Tapet kam.«

»Die ist gar nicht verrückt.«

»Nein? Wie du meinst, ich will mich nicht streiten.« Mrs. Fielding lehnte sich gekränkt nach vorn und stellte ihre leere Kaffeetasse auf den Couchtisch. Jim hatte diesen Tisch aus Teakholz mit elfenbeinfarbigen Keramikkacheln selbst gemacht. »Ich verstehe nicht, warum du nicht mehr offen mit mir sprechen willst, Daisy.«

»Ich werde langsam erwachsen – vielleicht ist das der Grund.«

»Erwachsen? Oder entwächst du mir ganz einfach?«

»Beides gehört zusammen.«

»Ja, das wird wohl so sein, aber –«

»Du willst vielleicht gar nicht, dass ich erwachsen werde.«

»Was für ein Unsinn. Natürlich will ich das.«

»Manchmal glaube ich fast, du bist nicht einmal traurig darüber, dass ich keine Kinder haben kann. Denn wenn ich ein Kind hätte, würde das bedeuten, dass ich selber keins [35] mehr bin.« Daisy hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. »Nein, nein, ich meine es gar nicht so. Entschuldige, es ist mir nur so herausgerutscht. Ich habe es nicht so gemeint.«

Mrs. Fielding war bleich geworden, und ihre Hände lagen verkrampft in ihrem Schoß. »Ich kann deine Entschuldigung nicht annehmen. Deine Bemerkung war dumm und grausam. Aber wenigstens ist mir jetzt klargeworden, was mit dir los ist. Du hast wieder angefangen, darüber nachzugrübeln, vielleicht sogar zu hoffen.«

»Nein«, sagte Daisy, »zu hoffen nicht.«

»Wann wirst du endlich das Unabänderliche akzeptieren, Daisy? Ich dachte, du hättest dich damit abgefunden. Schließlich weißt du es doch jetzt schon seit fünf Jahren.«

»Ja.«

»Der Spezialist in Los Angeles hat es doch ganz unmissverständlich gesagt.«

»Ja.« Daisy erinnerte sich nicht, wie lange es her war, weder an den Monat noch an die Woche. Sie erinnerte sich nur an den Tag selber, ganz früh am Morgen, als ihr so schlecht war, dass sie sich übergeben musste. Danach hatte sie eine Freundin angerufen, die in einer Privatklinik der Stadt tätig war: »Eleonore? Hier spricht Daisy Harker. Du wirst es nie erraten, nie! Ich könnte vor Glück zerspringen! Ich glaube, ich bin in andern Umständen. Ja. Ich bin fast sicher! Ist das nicht wunderbar? Den ganzen Morgen war mir hundeelend, und doch war ich so glücklich, kannst du das verstehen? Hör zu, ich weiß, wir haben eine ganze Reihe von Frauenärzten in der Stadt, aber ich möchte gern, dass du mir den besten von ganz Amerika empfiehlst, den aller-, allerbesten Spezialisten…«

[36] Sie erinnerte sich an die Fahrt nach Los Angeles hinunter. Ihre Mutter chauffierte. Sie war so außer sich vor Freude gewesen, so voller Leben, alles erschien ihr in einem ganz neuen Licht. Sie beobachtete und nahm Dinge wahr, als bereite sie sich darauf vor, ihrem Kind alle Wunder der Welt zu zeigen. Später hatte dann der Spezialist ganz unumwunden zu ihr gesagt: »Es tut mir leid, Mrs. Harker, ich kann keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft bei Ihnen feststellen –«

Das war mehr gewesen, als Daisy ertragen konnte. Sie war zusammengebrochen und hatte geweint und so angegeben, dass der Arzt seinen übrigen Befund nur Mrs. Fielding mitgeteilt hatte, und sie hatte Daisy dann eröffnet, dass sie keine Kinder haben könne.

Mrs. Fielding redete auf der Heimfahrt fast ununterbrochen, während Daisy in die traurige Landschaft starrte (wo waren nur die grünen Hügel geblieben?) und auf das schiefergraue Meer (war es jemals blau gewesen?) und auf die unfruchtbaren Sanddünen (unfruchtbar, unfruchtbar, unfruchtbar). Schließlich bedeute das ja noch nicht das Ende der Welt, hatte Mrs. Fielding gesagt. »Vergiss nicht, wie gut es dir geht. Gib die Hoffnung nicht auf.« Dabei war Mrs. Fielding selber so erschüttert gewesen, dass sie nicht weiterfahren konnte. Sie war gezwungen, bei einem kleinen Café am Meer anzuhalten, und dort hatten die beiden Frauen lange Zeit gesessen und sich über einen schmutzigen, mit Krümeln übersäten Tisch angesehen. Mrs. Fielding hatte ununterbrochen, jedoch mit erhöhter Lautstärke, weitergeredet, um das Branden der Wellen auf den Steinen und das Tellergeklapper aus der Küche zu übertönen.

[37] Auch jetzt, nach fünf Jahren, benutzte sie zum Teil noch dieselben Worte wie damals. »Vergiss doch nicht, wie gut es dir geht, Daisy. Du hast ein gesichertes, angenehmes Leben, bist gesund und hast, weiß Gott, den nettesten Mann der Welt.«

»Ja«, sagte Daisy. »Ja.« Sie dachte an den Grabstein in ihrem Traum und an das Datum ihres Todestages: 2. Dezember 1955. Das war aber erst vier Jahre her, nicht fünf. Und die Fahrt zum Spezialisten musste im Frühling und nicht im Dezember stattgefunden haben, denn die Hügel waren grün gewesen. Es bestand keine Verbindung zwischen dem Tag dieser Fahrt und dem Tag, der jetzt in Daisys Bewusstsein eine so große Rolle spielte.

»Im Übrigen müsstest du bereits in den nächsten Tagen von einer der Vermittlungsstellen für Adoptivkinder hören, bei denen du schon so lange eingetragen bist«, fuhr Mrs. Fielding fort. »Vielleicht hättest du das Gesuch nicht erst im vorigen Jahr stellen sollen, sondern viel früher. Aber es hat keinen Sinn, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Gib die Hoffnung nicht auf. Bald wirst du ein Baby haben, und du wirst es so lieben, als wär's dein eigenes Kind. Und Jim auch. Manchmal vergegenwärtigst du dir gar nicht, was für ein Glück du hattest, einen Mann wie Jim zu bekommen. Wenn ich bedenke, was manche Frauen in ihrer Ehe auszustehen haben –«

›Damit meint sie sich selber‹, dachte Daisy.

»Du bist wirklich ein Glückspilz, Daisy.«

»Ja.«

»Meiner Meinung nach hast du ganz einfach zu wenig zu tun. In letzter Zeit hast du so viele deiner Beschäftigungen [38] vernachlässigt. Warum hast du denn deinen russischen Literaturkursus aufgegeben?«

»Ich konnte die Namen nicht auseinanderhalten.«

»Und das Mosaik, das du angefangen hattest –«

»Ich habe überhaupt kein Talent.«

Als wollte sie beweisen, dass es doch ein Talent im Hause gab, fing Stella plötzlich beim Abwaschen des Frühstücksgeschirrs laut an zu singen.

Mrs. Fielding ging zur Küchentür hinüber und machte sie nicht gerade sanft zu. »Es wird Zeit, dass du etwas Neues anfängst, eine Arbeit, die dich vollkommen in Anspruch nimmt. Warum kommst du zum Beispiel heute Mittag nicht mit mir zum Dramaklub-Essen? Vielleicht versuchst du sogar eines Tages, in einem unserer Stücke mitzuspielen.«

»Das möchte ich sehr bezwei–«

»Theaterspielen ist doch gar nichts. Man tut einfach, was der Regisseur einem sagt. Wir werden diesmal einen sehr interessanten Redner haben. Es wäre viel gescheiter von dir auszugehen, als hier zu hocken und trüben Gedanken nachzuhängen, nur weil dich im Traum jemand umgebracht hat.«

Daisy lehnte sich plötzlich in ihrem Stuhl vor, stieß die Pfote des Hundes von ihrem Schoß und stand auf. »Was hast du gesagt?«

»Hast du mich nicht gehört?«

»Sag es noch einmal.«

»Ich sehe nicht ein, wieso ich –« Rot vor Unmut hielt Mrs. Fielding inne. »Also meinetwegen. Nur um dich zu erheitern. Ich habe nur festgestellt, dass es gescheiter von dir wäre, mit mir zu diesem Essen zu gehen, als hier zu [39] sitzen und Trübsal zu blasen, nur weil du einen hässlichen Traum gehabt hast.«

»Ich glaube, du hast es etwas anders gesagt.«

»Soweit ich mich erinnere, war das ungefähr der Wortlaut.«

»Du hast gesagt, weil mich im Traum jemand umgebracht hat.« Es trat eine kurze Pause ein. »Das hast du doch gesagt, nicht wahr?«

»Möglich.« Mrs. Fieldings Unmut verwandelte sich in etwas Heftigeres. »Wozu sich über solche kleinen Unterschiede in der Ausdrucksweise aufhalten?«

›Keine kleinen Unterschiede‹, dachte Daisy. ›Ein ungeheurer Unterschied. Aus gestorben ist jemand hat mich umgebracht geworden.‹

Wieder lief sie aufgeregt im Zimmer hin und her, gefolgt von den vorwurfsvollen Blicken des Hundes und den strafenden ihrer Mutter. Zweiundzwanzig Schritte hin, zweiundzwanzig Schritte her. Kurz darauf begann der Hund sie zu begleiten. Er folgte ihr auf den Fersen, als wären sie draußen zusammen auf einem Spaziergang.

Ich ging mit Prinz unterhalb des Friedhofs am Strand entlang, und plötzlich rannte Prinz davon und an der Seite des Kliffs hinauf. Ich hörte ihn heulen. Ich pfiff nach ihm, aber er kam nicht. Da ging ich ihm den Pfad hinauf nach. Er saß neben einem Grabstein. Der trug meinen Namen: Daisy Fielding Harker. Geboren am 13. November 1930. Umgebracht am 2. Dezember 1955…

[40] 3

Doch ich kann nicht anders. Mein Blut fließt nun einmal in deinen Adern.

Um zwölf Uhr rief Jim an und bat sie, ihn zum Essen in der Stadt zu treffen.

In einem Café in der State Street aßen sie eine Suppe und eine Salatplatte. Das Lokal war überfüllt und lärmend, und Daisy war dankbar, dass Jim es gewählt hatte. So brauchte man sich wenigstens nicht zu zwingen, Konversation zu machen. Wo so viele andere Leute redeten, schien das Schweigen zwischen zwei einzelnen Menschen unbemerkt zu bleiben. Ja, Jim hatte sogar die Illusion, einen angeregten Lunch gehabt zu haben, und als sie sich vor dem Café trennten, sagte er: »Du fühlst dich wieder besser, nicht wahr?«

»Ja.«

»Auch keine Kämpfe mit deinem Unterbewussten mehr?«

»Nein, gar nicht.«

»Braves Kind.« Liebevoll drückte er ihre Schulter an sich. »Wir sehen uns beim Abendessen.«

Sie folgte ihm mit den Blicken, bis er um die Ecke zum Parkplatz ging. Dann setzte auch sie sich langsam in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter in Bewegung, [41] ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn zu haben. Sie hatte nur den einen Wunsch, so lange wie möglich von zu Hause fortzubleiben.

Als der Wind die Sturmwolken auf die Stadt zutrieb, wurde auf der Straße alles von der Unruhe vor dem zu erwartenden Unwetter erfasst. Alle beschleunigten ihre Schritte und sprachen lauter. Fremde Menschen redeten miteinander: »Was sagen Sie dazu? Seh'n Sie sich bloß diese Wolken da an…« – »Diesmal kriegen wir aber gehörig was ab…« – »Als ich heute Morgen die Wäsche aufhängte, war noch keine Wolke zu sehen…« – »Gerade im richtigen Augenblick für meine Zinerarien…«

»Regen!«, sagten sie und blickten erwartungsvoll zum Himmel auf, als erwarteten sie nicht nur Regen, sondern einen Schauer von Gold.

Es war ein Jahr ohne Winter gewesen. Die heißen sonnigen Tage, welche im Allgemeinen Ende November zu Ende gingen, hatten diesmal über Weihnachten hinaus bis nach Neujahr gedauert. Jetzt war Februar, und die Wasserreservoire leerten sich. Große Gebiete in den Bergen mit Picknick- und Campingplätzen waren wegen Feuergefahr für das Publikum gesperrt worden. Mechanische Regenverteiler standen bereit und warteten auf Wolken, wie Schauspieler mit ihren einstudierten Rollen auf das Erscheinen einer Bühne warteten.

Die Wolken zogen herauf. Ihr Schwarz und Grau war schöner als helle Farben des Spektrums. Und plötzlich verschwand die Sonne, und die Luft wurde kalt.

›Der Regen wird mich überraschen‹, dachte Daisy. ›Ich sollte machen, dass ich nach Hause komme.‹ Aber ihre Füße [42] setzten ihren Weg fort, als hätten sie einen eigenen Willen, als wollten sie sich nicht von einem verzagten Geschöpf leiten lassen, das fürchtete, ein wenig nass zu werden.

Hinter ihr rief jemand ihren Namen: »Daisy Harker!«