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Über den Autor
Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, lebt als freier Schriftsteller in Walldorf bei Frankfurt am Main. Er veröffentlichte Lyrik, Erzählungen, Romane und Kinderbücher, wofür er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. U. a. erhielt er den Deutschen Bücherpreis und für sein kinderliterarisches Gesamtwerk den Sonderpreis zum Deutschen Jugendliteraturpreis.
Peter Härtlings Kinderbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und sind längst zu Klassikern der Kinderliteratur geworden. Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem Das war der Hirbel, Oma, Theo haut ab, Ben liebt Anna, Sofie macht Geschichten, Alter John, Jakob hinter der blauen Tür, Krücke, Fränze, Mit Clara sind wir sechs, Lena auf dem Dach, Jette, Tante Tilli macht Theater, Reise gegen den Wind, Paul, das Hauskind, Hallo Opa – Liebe Mirjam und Djadi, Flüchtlingsjunge.
Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.haertling.de
Impressum
Dieses Buch ist auch erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78218-2 Print
ISBN 978-3-407-74553-8 E-Book (EPUB)
© 1996 Gulliver
In der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
© 1973 Beltz & Gelberg
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandbild: Eva Muggenthaler
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

Das ist der Hirbel
Hirbels Hose
Hirbels Kampf mit den Schafen
Was um Hirbel herum ist und was in ihm sein könnte
Hirbels Kampf gegen Herrn Schoppenstecher
Hirbels Prüfungen
Hirbel entlarvt Edith
Hirbel hält die Orgel an
Hirbel stellt sich krank
Warum lernt Hirbel nichts oder was lernt er doch?
Hirbels letzte Flucht und sein Abschied
Nachwort
Kinder fragen den Autor

Das ist der Hirbel

Der Hirbel ist der Schlimmste von allen, sagten die Kinder im Heim. Das war nicht wahr. Doch die Kinder verstanden den Hirbel nicht. Sie hielten sich ohnehin nie lange auf in dem Heim, einem Haus am Rande der Stadt, in das Kinder gebracht wurden, die herumstreunten, Kinder, mit denen ihre Eltern nicht mehr zurechtkamen, die von ihren Müttern verstoßen wurden, die bei Pflegeeltern waren und nicht ›guttaten‹ – es war ein Durchgangsheim. Von dort wurde man in andere Heime geschickt.
Den Hirbel wollte niemand, deshalb war er schon Stammgast in dem Haus am Rande der Stadt. Er war neun Jahre alt und so groß wie ein Sechsjähriger. Er hatte einen dicken Kopf mit dünnen blonden Haaren, die er nie kämmte, und einen mageren Leib. Trotzdem fürchteten alle seine Kraft. Beim Raufen siegte er immer.
Der Hirbel hatte eine Krankheit, die niemand richtig verstand. Als er geboren wurde, musste der Arzt ihn mit einer Zange aus dem Leib der Mutter holen und er hatte ihn dabei verletzt. Von da an hatte er Kopfschmerzen, und die Großen behaupteten, er sei nicht bei Vernunft. Seine Mutter wollte ihn nicht haben. Seinen Vater hatte er nie gesehen. Erst ist er bei Pflegeeltern gewesen, die ihn, das sagte er selber, sehr gernhatten. Aber bei denen konnte er nicht bleiben, weil die Nachbarn seine Streiche fürchteten. Er ist auch immer kränker geworden; sein Kopf tat ihm entsetzlich weh, und dann überfiel ihn eine große Wut, in der er sich nicht mehr kannte. Die Pflegeeltern brachten ihn in ein Krankenhaus, dort lag er eine Weile, bekam eine Menge Spritzen und Tabletten und wurde dann bei neuen Pflegeeltern untergebracht, die ihn nicht mochten und im Heim ablieferten.
Manchmal wurde er von seiner Mutter besucht, die auf die anderen Kinder einen ungeheuren Eindruck machte. Sie war fett, ihr Gesicht war phantastisch bemalt, sie trug bei jedem Besuch einen hohen Hut, an dem funkelnde Steine steckten und den das älteste Mädchen, Edith, einen Turban nannte. Hirbel wurde jedes Mal zornig, wenn sie den Turban ›Turban‹ nannte. Er fand das Wort gemein und mit dem Wort beleidigte Edith seine Mutter.
Die Mutter brachte ihm riesige Tüten mit Bonbons und Schokolade, umarmte ihn unaufhörlich, schnaufte und weinte und verließ ihn nach einer Viertelstunde, beteuernd, dass sie bald wiederkomme. Aber erst nach einem Vierteljahr war sie wieder da, mit Bonbons und Schokolade. Der Hirbel wartete die ganze Zeit ungeduldig auf sie.
Die Ärzte, die ihn untersucht hatten, behaupteten, der Hirbel ist unheilbar. Seine Kopfschmerzen würden immer ärger werden. Er wird, wenn er größer ist, für immer in ein Krankenhaus müssen. So weit war es noch nicht. Dem Hirbel war es auch egal. Er glaubte nicht daran.
In dem Heim arbeiteten Fräulein Maier und Fräulein Müller. Die Kinder riefen beide Müller-Maier. Das war einfacher und eine von den beiden war immer zur Stelle. Fräulein Müller war schon ziemlich alt, grauhaarig und sehr streng. Fräulein Maier arbeitete nur eine Weile im Heim. Sie war sehr jung und versuchte, mit den Kindern zu reden. Aber die Kinder misstrauten ihr. Vielleicht war ihre Freundlichkeit nur Tücke.
Fräulein Maier hatte den Hirbel besonders gern. Der Hirbel mochte sie lange Zeit nicht. Er konnte gar nicht einsehen, warum sie so freundlich zu ihm war. Sie hatte entdeckt, dass er schön singen konnte, und wenn sie im Chor sangen, durfte er manchmal vor den anderen allein singen. Das ärgerte ihn auch wieder, weil die Jungen sagten, er habe eine Stimme wie ein Mädchen. Seine Stimme war hoch, ganz rein. Er konnte nicht lesen und nicht schreiben, aber wenn man ihm eine Melodie vorsang, merkte er sich die Melodie schon beim ersten Mal.
Müller-Maier erklärten: Das ist wirklich eine tolle Begabung! Was die Begabung nannten, war ihm wurst. Er weigerte sich oft zu singen. Eigentlich sang er nur, wenn er Lust dazu hatte. Dann saß er auf dem höchsten Ast des Apfelbaumes im Garten, unter ihm jammerten Müller-Maier: Du wirst dir das Genick brechen!, und er ließ den Ast gewaltig wippen, damit sie noch mehr jammerten, und sang alle Lieder, die er kannte.
Das ist noch keine Geschichte. Die erste Geschichte von Hirbel berichtet, wie Fräulein Maier, die noch nie in einem solchen Heim gewesen war, den Hirbel kennen lernte, so kennen lernte, dass sie am liebsten wieder davongelaufen wäre.

Hirbels Hose

Die Jungen zwischen sechs und zehn schliefen in einem Saal, der so groß war wie ein Wartesaal in einem kleinen Bahnhof. Die Betten standen eng nebeneinander. Es war nicht viel Platz zum Hin-und-Herrennen, darum tobten die Jungen auf den Betten, sprangen über die kleinen Gräben, hüllten sich in die Leintücher, warfen mit den Kissen. Jeden Abend war das so. Am Morgen nicht, denn da mussten sie früh aufstehen, sich waschen und waren alle noch müde. Am Abend war der Krach im Schlafsaal unglaublich. Jeder brüllte, was seine Kehle hergab.
Fräulein Müller sagte zu Fräulein Maier, ehe diese zum ersten Mal in den Schlafsaal der Jungen ging: Es ist am besten, Sie versuchen gar nicht erst, etwas zu sagen, bei dem Lärm hört doch keiner was. Geben Sie mit den Händen Zeichen.