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  Dr. med. Samuel Pfeifer und Hansjörg Bräumer– Die zerrissene Seele | Borderline und Seelsorge– SCM Hänssler

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1
Borderline-Störungen – eine Herausforderung an die Seelsorge

Samuel Pfeifer

Kapitel 2
Borderline-Störungen – eine Begriffsbestimmung

Samuel Pfeifer

Modebegriff oder echtes Leiden?

Die Geschichte des Borderline-Begriffs

Wechselhaft, unreif, frustriert

»Primitive« Abwehrmechanismen

Mangel an Identität

Vier Begriffe

Neun Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV

Begleitende Probleme

Verlauf

Genetische und neurobiologische Aspekte

Unterscheidung von anderen Störungen

Posttraumatische Belastungsstörung

Missbrauch der Diagnose »Borderline-Störung«

Kapitel 3
Wie erleben sich Borderline-Patienten?

Samuel Pfeifer

Borderline und Depression

Dissoziation als Bewältigungsversuch

Selbstverletzung (Autoaggression)

Selbstverletzung in früheren Zeiten

Andere Formen selbstschädigenden Verhaltens

Suizidalität (Selbstmordgefährdung)

Borderline und Sexualität

Schwarz-Weiß-Denken

Psychotische Durchbrüche

Erarbeiten der Symptommuster

Ursachen der Borderline-Störung

Kapitel 4
Marilyn Monroe – ein klassisches Beispiel

Samuel Pfeifer

Kapitel 5
Sexueller Missbrauch und Borderline-Syndrom

S. Pfeifer unter Mitarbeit von M. Schleising, K. Kaldewey und A. Jonckers Nieboer

Was ist eigentlich sexueller Missbrauch?

Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs

Direkte Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs

Langfristige Störungen und Symptome

Zusammenhang zwischen Inzest und Borderline-Syndrom

Diagnostisches Vorgehen

Hinweise für den therapeutischen bzw. seelsorglichen Umgang

Wie ist Vergebung möglich?

Anhang

Kapitel 6
Multiple Persönlichkeiten (Dissoziative Identitätsstörung)

Samuel Pfeifer

Was ist eine Multiple Persönlichkeit?

Entstehung neuer »Personen«

Ein wissenschaftliches Entstehungsmodell

Probleme der Diagnose einer »Multiplen Persönlichkeit«

Besessenheit und Multiple Persönlichkeit

Wie kann man »Multiplen« helfen?

Integration der »Personen«

Kapitel 7
Hilfen zur Gesprächsführung

Samuel Pfeifer

Therapeutische Ansätze bei Borderline-Störungen

Das Dilemma: Opfer oder Verantwortung?

Das »vierfache Ackerfeld« der Therapie von Borderline-Störungen

Gesunde Bedürfniserfüllung

Gesunde Grenzen setzen

Problematische Bedürfniserfüllung

Wiederholen von alten Mustern und Themen

Problematische Aspekte der alten Muster und Themen

Opfer oder Gewinner?

Aufarbeiten der alten Muster und Themen (Feld 3)

Zusammenfassung: Die Aufgabe des Therapeuten

Kapitel 8
Therapeutische Strategien bei schweren Krisen

S.Pfeifer unter Mitarbeit von A. Jonckers Nieboer und M. Schleising

Wann ist ein Klinikaufenthalt nötig?

Hauptthemen der Klinik-Behandlung

Was bringen Medikamente?

Therapieplanung und Erfolgsbewertung

Vom Umgang mit wiederholten Selbstmorddrohungen

Therapeutische Überlegungen bei Selbstverletzung

Gruppentherapie bei Borderline-Patienten

Therapeutisches oder medizinisches Modell?

Kapitel 9
Ein neues Konzept zur Behandlung – die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan

Samuel Pfeifer

Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie nach Linehan

Was bedeutet eigentlich »Dialektik«?

Ursachen: Biosoziale Grundlagen

Dialektische Strategien

Problembereiche in der ersten Therapiephase

Therapeutische Strategien

»Aus Zitronen Limonade machen« und andere Techniken

Wissenschaftliche Untersuchungen der DBT

Ausbildungsmöglichkeiten für Ärzte, Psychotherapeuten, Pflegende und Sozialpädagogen

Kapitel 10
Chancen und Probleme der Seelsorge aus ärztlicher Sicht

Samuel Pfeifer

Der Stachel der Schwachen

Mögliche Probleme der Seelsorge

Krankheit oder Besessenheit?

Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger

Der Seelsorger als Fels?

Borderline-Seelsorge als Grenzerfahrung

Kapitel 11
Seelische Instabilität – theologische und seelsorgerliche Aspekte

Hansjörg Bräumer

Support – Unterstützung, Ermutigung

Empathy – Einfühlung, Empathie

Truth – Wahrheit, Realität, Grenzen

Kapitel 12
Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge

Hansjörg Bräumer

Mitleben und Mitfeiern

Lebens- und Glaubenshilfe

Schweigen und Ruf in die Nachfolge

Literatur

Stichwort-Register

Vorwort

Der Begriff Borderline hat in den letzten vierzig Jahren eine steile Karriere gemacht.1 War er zuerst nur als Restkategorie für eine schwierige Patientengruppe gedacht, so merkten immer mehr Therapeuten, dass auch sie mit den schweren Leidenszuständen und therapeutischen Herausforderungen kämpften, die nun endlich einen Namen hatten: Borderline. Bald schon wurde der Begriff verbunden mit der Überzeugung: »Einmal Borderline – immer Borderline!« Borderliner – die neuen chronischen Patienten? Dieses Vorurteil hat Generationen von Therapeuten und Patienten entmutigt. Manche haben eine regelrechte Aversion gegen diese Problemkonstellation. Manchmal ist Borderline sogar zum neuen Schimpfwort geworden.

Andere haben zum Glück eine besondere Liebe zu diesen Menschen entwickelt; ein Engagement, das sie nicht aufgeben ließ, trotz Rückschlägen, suizidalen Notfällen und blutigen Selbstverletzungen. Es ist eine Gnade, wenn es einem Therapeuten geschenkt wird, hinter die dornenreiche Maske zu blicken und das Leiden und die innere Schönheit einer Person wahrzunehmen, die doch letztlich heldenhaft kämpft gegen die seelische Unruhe und die zerstörerischen Impulse, die hungrig ist nach Leben trotz der fatalen Botschaft eines Suizidversuchs.

Borderline-Störungen sind auch eine Herausforderung für die Seelsorge. Dieses Buch ist aus Referaten entstanden, die an einem Seminar der Psychiatrischen Klinik Sonnenhalde gehalten wurden. Dabei wurden bewusst ganz unterschiedliche Perspektiven eingebracht, vom psychiatrischen bis zum theologischen Blickwinkel. Die Darstellung der Probleme von Borderlinepatienten ist nicht von einer einzigen therapeutischen Schule her geprägt. So finden sich in diesem Buch nicht in erster Linie tiefenpsychologisch-analytische Deutungen, sondern eine vielschichtig beschreibende Darlegung der Problematik; nicht nur eine psychologische Analyse, sondern auch eine theologische Standortbestimmung; nicht nur theoretische Aspekte, sondern auch praktische Hilfen für die Seelsorge und die Begleitung.

Das ist ja gerade unser Anliegen, nämlich den Graben zwischen Psychologie und Psychiatrie auf der einen Seite und Theologie und Seelsorge auf der anderen Seite zu überbrücken. An dieser Stelle möchte ich Pfr. Dr. theol. Hansjörg Bräumer dafür danken, dass er es gewagt hat, sich auf dieses Unterfangen einzulassen; dass er sich so intensiv in die Thematik eingearbeitet hat und dass er aus der Sicht der Theologie ganz neue und andere Aspekte für die Begleitung fruchtbar gemacht hat.

Auch wenn die Fachliteratur möglichst breit berücksichtigt wird, haben wir in erster Linie von den Menschen gelernt, die uns begegnet sind. An erster Stelle möchte ich den Patientinnen und Patienten danken, die uns an ihrem Erleben teilhaben ließen. In den Beispielen kommt etwas von ihrem direkten Erleben zum Ausdruck, auch wenn es nötig war, die Geschichten so zu verfremden, dass ein Wiedererkennen nicht möglich ist. Danken möchte ich auch Frau B.B. für die Genehmigung zum Abdruck ihrer Gedichte in Kapitel 3, die so eindringlich wiedergeben, wie sich Menschen in ihren Krisen erleben können.

Ein Problem beim Schreiben eines solchen Buches soll nicht verheimlicht werden: Wie kann man Frauen und Männer ansprechen, Therapeutinnen und Therapeuten, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Patientinnen und Patienten, ohne jeweils in komplizierte Wortwiederholungen zu verfallen, die den Sprachfluss hemmen? Wir haben uns die Freiheit genommen, die Formen abzuwechseln, ohne uns jedes Mal zu rechtfertigen. Die sprachlich sensibilisierten und politisch korrekten Leserinnen und Leser möchte ich bitten, sich sowohl von den männlichen als auch von den weiblichen Sprachformen ansprechen zu lassen.

Meine Arbeit an diesem Buch wäre unvollständig gewesen ohne die wesentlichen Impulse, die mir meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Klinik Sonnenhalde in Riehen gegeben haben.

Der therapeutische Alltag und die existenzielle Erfahrung in der Begleitung emotional instabiler Menschen haben uns als Team nachhaltig geprägt.

Zum ersten Mal kam dieses Buch im Jahre 1996 auf den Markt. Seither wurde es immer wieder neu aufgelegt. Wir werten dies als indirektes Zeichen für die anhaltende Aktualität der Thematik. Diese spiegelt sich auch in der aktuellen Literatur wider. »Die Borderline- Störung ist erwachsen geworden«, titelte ein Kommentar im renommierten American Journal of Psychiatry2.

Wir hoffen, dass dieses Buch nicht nur als Quelle für dramatische Fallbeispiele, psychopathologische Überlegungen und theologische Betrachtungen dient, sondern dass es zu einer echten Hilfe für Seelsorgerinnen und Seelsorger wird, die in der Einzelberatung und in therapeutischen Einrichtungen mit der Vielgestaltigkeit instabiler Menschen konfrontiert werden. Möge das Buch mithelfen, den Weg mit belasteten und verletzten Menschen zu gehen, der sich oft erst dann auftut, wenn wir den nächsten Schritt tun.

Riehen, im Frühjahr 2010

Dr. med. Samuel Pfeifer

Kapitel 1

Borderline-Störungen – eine Herausforderung an die Seelsorge

Samuel Pfeifer

Borderline – von diesem Wort geht eine eigene Faszination aus. Borderline, das bedeutet eigentlich Grenzlinie. Doch um welche Grenzen handelt es sich, wenn wir von Borderline-Störungen und von Borderline-Patienten sprechen? Dieses Buch beschäftigt sich mit diesen Grenzgängern besonderer Art. Verschiedene Autoren haben versucht, das Wesen von Borderline-Störungen in Metaphern zu fassen, etwa »Ich hasse dich, verlass mich nicht!«3 oder »Wenn Hass und Liebe sich umarmen«4. In Kommentaren und Essays wird die Borderline-Störung als typische Störung unserer Zeit beschrieben. Und in der Tat spiegelt sich in ihrer Zerrissenheit und Unbeständigkeit, in ihrer Zerrissenheit und Traumatisierung, in ihrer Vielgestaltigkeit und Unberechenbarkeit die Befindlichkeit des modernen Menschen wider. Bei Menschen mit einer Borderline-Störung begegnen uns höchst widersprüchliche Gefühle zwischen Anlehnungsbedürftigkeit und schroffer Zurückweisung, zwischen Eigensucht und Selbsthass, zwischen Verletzlichkeit und Selbstverletzung, Rückzug und Sehnsucht nach Gemeinschaft, Lebenshunger und Todeswunsch.

Borderline-Patienten sind eine besondere Herausforderung an die Seelsorge. Das folgende Beispiel, das bewusst verfremdet wurde, schildert etwas von den Spannungen, die in der Begleitung entstehen können.

Sie ist eine attraktive blonde Frau, zweimal geschieden, künstlerisch begabt und aktiv in einem kreativen Beruf. Seit Jahren ist sie bei verschiedenen Therapeuten in Behandlung gewesen. Hinter ihren Problemen steht eine fürchterliche Kindheit. Mehrfach wurde sie vom Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht. Vor zwei Jahren hat sie sich dem Glauben zugewandt und geht jetzt in Therapie zu einem christlichen Arzt, daneben auch zu einer therapeutischen Seelsorgerin. Im Vordergrund ihrer Beschwerden steht das Gefühl der Leere, der Sinnlosigkeit, der erdrückenden Depressivität. Sie hat unsägliche Angst davor, nicht mehr kreativ zu sein, und erlebt oft intensive Spannungen, bevor sie einem Kunden ihre neuesten Entwürfe vorstellt. Dennoch gelingt es dem Arzt und der Seelsorgerin, sie zu begleiten und ihr zu helfen, ihr Leben zu meistern. Manchmal entstehen aber auch Situationen, die etwas davon illustrieren, was ihre Begleitung so schwierig macht.

An einem Donnerstag erzählte sie ihrer Seelsorgerin, sie habe vor einer Woche einen sehr netten Mann kennengelernt. Sie hätten ein gemeinsames Wochenende vor, und sie fühle sich sehr zu ihm hingezogen. »Bitte geben Sie mir einen Rat. Ich bin ja jetzt gläubig und möchte auch so leben. Aber meine Gefühle sind so stark, dass ich gerne mit ihm schlafen möchte. Was meinen Sie dazu?« – In einem längeren Gespräch vermittelte die Seelsorgerin ihr, dass sie eher davon abraten würde. Die Patientin war offensichtlich unglücklich und ging schmollend heim. Am Freitagabend um 9 Uhr rief ein Mann bei der Seelsorgerin privat an und stellte sich als der neue Freund von Frau S. vor: »Meine Freundin hat mich gebeten, Sie anzurufen. Sie hat sich eben die Handgelenke aufgeschnitten. Sie sagt, Sie seien schuld, dass es ihr so schlecht geht. Unser gemeinsames Wochenende ist im Eimer! Was soll ich jetzt machen?« Nach kurzem Hin und Her tat die Seelsorgerin das einzig Richtige und riet dem Mann: »Bringen Sie sie in die Notfallstation, damit die Wunden genäht werden können!« – Am nächsten Montag kam die Patientin strahlend in die Sprechstunde des Arztes, mit einem kleinen Verband am linken Handgelenk. Als er sie nach dem Grund ihrer Freude fragte, antwortete sie: »Ich hatte ein wunderbares Wochenende mit meinem neuen Freund! Er hat sich so lieb um mich gekümmert …«

Noch eine zweite Situation: Nur einen Tag nach der letzten Konsultation schreibt Frau S. ihrem Arzt eine Karte, die ganz als ein appellativer Abschiedsbrief aufzufassen ist. Da finden sich Sätze wie: »Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Ich brauche Hilfe, aber Sie wollen doch nur Ihr ruhiges Wochenende mit Ihrer Familie! … Ich bin für alle nur eine Belastung, auch für Sie.« Der Arzt ist im Dilemma: Jetzt hatte er sie erst am Mittwoch gesehen und ihr am Montag wieder einen Termin angeboten. Er fragt sich: »Soll ich einen Notfalleinsatz machen? Bin ich schuld, wenn sie sich das Leben nimmt?« Immer wieder liest er den Text durch, der in seiner schreienden Not eigentümlich mit dem Bild auf der Vorderseite kontrastiert: Die von der Patientin selbst gemalte Karte zeigt eine sanfte, saftig grüne hügelige Landschaft. Schließlich wird er durch die friedliche Botschaft dieses Bildes etwas ruhiger und wartet ab, wenn auch mit unterschwelligen Schuldgefühlen.

Am Freitagnachmittag, kurz vor Arbeitsschluss und einem freien Wochenende mit der Familie, erfolgt ein Anruf. Frau S. meldet sich mit schleppend-monotoner Stimme: »Heute ist ein schrecklicher Tag. Am Morgen wollte ich noch sterben. Dann ging ich doch arbeiten. Im Moment geht es mir grade gut. Aber vor dem Wochenende habe ich Horror: Jetzt weiß ich wieder nicht mehr, was tun: durch die Straßen irren oder vielleicht schlafen gehen. Ich weiß noch nicht, ob ich Sie am Montag wiedersehen werde.« Der Arzt wird erneut in Alarm versetzt. Soll er sie sofort aufsuchen? Sie zwangsweise in die psychiatrische Klinik einweisen? Doch dann würde sie ihm ewig Vorwürfe machen. Mehr noch: sie würde dort (wie schon früher) alles verharmlosen und sich so darstellen, als ob sie nur eine kleine Krise hatte. Und er wäre der trottelige Arzt, der die Spannung nicht ausgehalten hat. Wie oft hatte sie ihm schon vorgeworfen: »Statt mir ein Gespräch anzubieten, wollen Sie mich einfach in der Psychiatrie versenken!«

Schließlich ringt er sich nach längerem inneren Kampf dazu durch, keine Aktion zu unternehmen. Er versucht, sie bewusst bei Gott abzulegen, nicht als billiges Abschieben der Verantwortung, sondern als tiefe Gewissheit, dass er seine Hand auch in dieser Krise über ihr halten werde. »Gott befohlen!«, diesen Satz sagt er sich immer wieder, und doch: Es bleibt eine innere Spannung, ja auch Wut auf die Patientin: »Sie bringt es fertig, dass ich mich täglich mit ihr beschäftigen muss. Sie stört mein freies Wochenende, mein Familienleben. Wie kann ich damit umgehen?«

Nicht immer verläuft die Begleitung von Borderline-Patienten so dramatisch, und doch kennen alle, die in Seelsorge und Therapie stehen, Menschen, die solche Verhaltens- und Erlebensmuster zeigen. Sie sind in der Regel nicht so krank, dass man sie in eine Klinik einweisen müsste, und doch lösen sie enorme Spannungen aus, die den Umgang mit ihnen sehr erschweren.

Borderline-Persönlichkeiten kommen nicht nur selbst an ihre Grenzen, sie führen auch Seelsorger, Therapeuten, Betreuer und Angehörige an deren Grenzen. Sie befinden sich nicht nur selbst auf einer Achterbahn der Gefühle, sondern sie lösen auch beim Therapeuten eine breite Palette von Gefühlen aus:

• abgrundtiefe Erschütterung über schwere Lebensschicksale und kaum zu verhehlende Wut über ständige »Störaktionen«

• warmes Mitgefühl und Angst vor der immer stärker werdenden Anklammerung

• Beschützerinstinkte und Angst, ausgelaugt zu werden

• eine erotische Faszination und Abwehr gegen allzu große Nähe

• Bereitschaft zum Engagement und wiederholte Enttäuschung durch maßlose Forderungen

• Erfolgserlebnisse durch plötzliche Besserungen und hilflose Erschöpfung bei einem erneuten Rückfall

Erfahrene therapeutische Teams in Kliniken und Wohngemeinschaften sind sich bewusst, dass diese Muster der emotionalen Instabilität von Borderline-Persönlichkeiten die Atmosphäre in einer Abteilung oder einer Wohngruppe stark anspannen können. Oft erträgt man nicht mehr als drei solcher Personen auf eine Gruppe von zwölf, und auch dann nur, wenn ein tragfähiges Therapeutenteam vorhanden ist.

Wie schwer ist es dann erst für Ehepartner, Eltern und Kinder, die mit einem Menschen leben, der an Borderline-Zügen leidet! Sie können sich nicht nach acht Stunden therapeutischer Betreuung in ein Privatleben zurückziehen und, wie professionelle Betreuer, ihre freien Tage nehmen. Nicht selten kommt der therapeutische Seelsorger oder der Pfarrer in die Situation, Angehörige zu beraten, die nicht mehr weiterwissen. Auch das System »Gemeinde«5 kann in der Betreuung solcher Personen an seine Grenzen kommen. Wie kann man Menschen mit Borderline-Zügen ernst nehmen, ohne dass sie zum Zentrum der ganzen Aufmerksamkeit werden? Wie kann man ihnen Grenzen setzen, ohne sie auszugrenzen? Wie kann man sie auch vor dem Hintergrund des Glaubens ernst nehmen, ihre Instabilität verstehen, ohne sie zu verurteilen und abzustempeln? Oft tragen die Betroffenen selbst die Not an christliche Betreuer heran, dass sie anders sein wollen, aber dann doch keine Kraft haben, sich reif und stabil in Beziehungen einzubringen. Wovon werden sie denn bestimmt? Von ihrer Vergangenheit; von ihren seelischen Verletzungen; von ihren »Wünschen und Begierden« oder gar von destruktiven Kräften außerhalb ihres Einflusses? Wie soll man sie beraten, wie ihre Störungen erklären?

Es ist das Ziel dieses Buches, den Leserinnen und Lesern zu helfen, das Erleben und Funktionieren von Borderline-Persönlichkeiten besser zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um das äußerlich schwierige Verhalten und Agieren, sondern auch um eine Erhellung der Hintergründe dieses Verhaltens, um ein Mitleiden (nicht Mitleid) mit den Betroffenen, um Einfühlung ohne Verschlungenwerden, um Verständnis ohne konturlose und desillusionierte Beratung. Das Buch soll helfen, die Schwachheiten der Betroffenen zu tragen, ohne die Destruktivität ihres Verhaltens widerspruchslos hinzunehmen. Und es soll Hoffnung geben, auch in den Zeiten, wo die Begleitung schwierig erscheint.

Kapitel 2

Borderline-Störungen – eine Begriffsbestimmung

Samuel Pfeifer

Borderline-Störungen sind nicht neu. Die Psychotherapeuten unserer Zeit haben lediglich einen neuen Namen für die massive seelische Instabilität eines Menschen geschaffen. Dramatische »Borderliner« hat es in der Geschichte wohl immer gegeben:

• Opern-Divas und launische Prinzessinnen

• Flagellanten und Stigmatisierte6

• sogenannte »Hexen«, Seherinnen und »Besessene«

• Hysterikerinnen und Hypnotisierte im Paris der Jahrhundertwende

Es wäre ein Irrtum zu meinen, diese Frauen und Männer hätten nur versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während launische Prinzessinnen ein verwöhntes Leben im Prunk führten, waren sie eben doch nur Puppen im großen Theater eines Königshofs, in dem es keine persönliche Freiheit gab. Andere flüchteten vor den unsäglichen Verletzungen und Konflikten ihrer Kindheit in die Einsamkeit oder in die Askese, die weit hinausging über den Wunsch, Gott zu dienen. Wer durch die Pest alles verloren hatte, wer beinahe irrwitzig wurde am Grabe seiner Lieben, dem gab die öffentliche Zurschaustellung seiner Schmerzen durch blutende Geißelstriemen vielleicht noch eine letzte Lebensaufgabe. Manche dieser emotional so sensiblen und instabilen Menschen haben ihren »sechsten Sinn« in einer manipulativen und geschäftsorientierten Weise eingesetzt, der sie zu Wahrsagerinnen werden ließ.7 Diese Phänomene an der Grenzlinie zum Okkulten sollen in einem späteren Kapitel noch besprochen werden. Im 19. Jahrhundert erweckten hysterische Frauen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und wurden zu vielbeachteten Demonstrationsobjekten von Ärzten und Hypnotiseuren.8 Eines war all diesen Menschen gemeinsam: Sie waren in ihrem auffälligen Verhalten immer auch Leidende, zutiefst unerfüllte, deprimierte und oft auch von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen, die mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen.

Modebegriff oder echtes Leiden?

Der Begriff der Borderline-Störungen ist nicht unumstritten.9 Kritiker wenden ein, es handle sich um einen modischen Jargon-Begriff, der nicht ausreichend scharf von anderen Zustandsbildern abzugrenzen sei. So wie die Hysterie die klassische Neurose zur Zeit Sigmund Freuds gewesen sei, so sei Borderline das typische Problem unserer Zeit. Darin steckt sicher viel Wahrheit, zumal die farbigen Zustandsbilder hysterischer Patienten denen von heutigen Borderline-Persönlichkeiten sehr ähnlich sind. Warum verwenden wir dann hier den Begriff »Borderline«? Ganz einfach: es geht nicht in erster Linie um den Namen, sondern um die Zustandsbilder, die damit umschrieben werden. Wir streiten nicht um Etiketten, sondern versuchen eine Verständnishilfe zu geben, instabile Persönlichkeiten besser zu verstehen und sie therapeutisch und seelsorglich zu begleiten. Mehr noch, der Begriff hat sich mittlerweile derart eingebürgert, dass er seinen festen Platz in den international gebräuchlichen diagnostischen Handbüchern10 gefunden hat. Mittlerweile wird diskutiert, die Borderline-Störung auf die Stufe einer ernsten psychischen Störung zu stellen, ähnlich wie eine Depression oder eine Angststörung (zumal ausreichende Belege für eine genetische und eine hirnbiologische Grundlage bestehen, die zur dramatischen Instabilität dieser Menschen führen)11. Ein Blick in die Geschichte der Entstehung des Begriffs führt hinein in die heutige Sicht dieser Störungen.

Die Geschichte des Borderline-Begriffs

Instabile Persönlichkeiten waren immer eine Herausforderung für die helfenden Berufe. Sigmund Freud sah die Ursachen schwerer Neurosen in dem Konflikt zwischen primitiven, unbewussten Impulsen und den Bemühungen des Bewusstseins, diese verabscheuungswürdigen, unannehmbaren Gedanken ins Bewusstsein eindringen zu lassen. Man geht davon aus, dass manche seiner Fallgeschichten, wie z. B. der Rattenmann oder Anna O., eigentlich Borderline-Patienten waren. Der Begriff »Borderline« wurde zum ersten Mal von Adolph Stern 1938 geprägt, um eine Gruppe von Patienten zu beschreiben, die nicht in die diagnostischen Kategorien der klassischen Neurosen und der primären Psychosen zu passen schienen. Diese Patienten waren zwar offenbar kränker als andere neurotische Patienten, aber dennoch zeigten sie keine verzerrte, wahnhafte Deutung der Umwelt wie etwa schizophrene Menschen. Obwohl sie wie neurotische Menschen unter einer großen Auswahl an Angstsymptomen litten, fehlte es ihnen an der bei anderen neurotischen Patienten beobachteten relativen Stabilität. Im Gegensatz zu Borderline-Patienten zeigen »durchschnittlich neurotische« Menschen meist ein solideres, beständigeres Identitätsgefühl, und sie wenden reifere Bewältigungs- und Abwehrmechanismen an, um mit ihren Konflikten umzugehen.

Die Grenzlinie zeigte sich in drei Bereichen:

• Vordergründig leichter neurotische Patienten, die zuerst nur wenig neurotische Symptome und ein paar Lebensprobleme zu haben schienen, dann aber in der Therapie rasch schwere Symptome wie akute Suizidalität, selbstschädigendes Verhalten oder ausgeprägte Identitätsstörungen entwickelten.

• Vordergründig psychotische Patienten, die zwar mit deutlichen wahnhaften Symptomen, Schlaflosigkeit, Ängsten oder bizarrem Verhalten in die Klinik kamen, sich dann (entgegen dem klassischen Verlauf schizophrener Störungen) aber erstaunlich rasch erholten und dann eher ein Muster von Instabilität und neurotischen Symptomen zeigten. Hier wurde manchmal der Begriff der »pseudoneurotischen Schizophrenie« verwendet12.

• Vordergründig depressive Patienten, die aber im Gegensatz zur tiefen Traurigkeit und Apathie des durchschnittlich Depressiven rasche Stimmungsschwankungen, einschießende Suizidalität und ausgeprägt wechselhafte Beziehungsmuster zeigten, die Angehörige und Betreuer in Atem hielten.

Alle drei beschriebenen Verläufe passen also nicht ins herkömmliche Bild dieser Störungen und machten es nötig, eine neue gemeinsame Beschreibung zu suchen. In der Literatur setzte sich zunehmend der Begriff »Borderline« durch. 1968 beschrieb Grinker13 vier Untertypen des Borderline-Syndroms:

1. eine schwer leidende Gruppe, die an der Grenze zur Psychose lag,

2. eine »Kern-Borderline«-Gruppe mit stürmischen zwischenmenschlichen Beziehungen, intensiven Gemütszuständen und einem Gefühl chronischer Leere,

3. eine »Als-ob«-Gruppe, die sich leicht von andern beeinflussen ließ und der es an einer stabilen Identität fehlte,

4. eine leicht beeinträchtigte Gruppe mit geringem Selbstvertrauen, die an das neurotische Ende des Spektrums grenzte.

Im Jahre 1980 wurde die Diagnose in die Amerikanische Klassifikation Psychischer Störungen (DSM-III) übernommen14 und erhielt damit die breite Anerkennung der Fachwelt. Der Psychoanalytiker Otto Kernberg15 stellt die Borderline-Persönlichkeit genau zwischen die neurotische und die psychotische Persönlichkeitsorganisation. Ein Patient mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist zwar weniger beeinträchtigt als ein Psychotiker, bei dem die Wahrnehmung der Realität stark verzerrt ist, sodass ein normales Funktionieren unmöglich gemacht wird. Andererseits ist ein Mensch mit einer Borderline-Störung stärker behindert als ein Mensch mit einer neurotischen Persönlichkeit, dessen Ängste sich als Resultat emotionaler Konflikte deuten lassen. Die Identitätswahrnehmung des neurotischen Menschen und seine Bewältigungs- und Abwehrmechanismen sind meist anpassungsfähiger als die des Borderline-Patienten. Borderline-Patienten zeigen zudem oft eine Vielfalt an zusätzlichen Persönlichkeitsstörungen (paranoide, schizoide, narzisstische, histrionische16, antisoziale, zwanghafte oder phobische Züge sowie sexuelle Störungen und dissoziative Reaktionen), die sehr wechselhaft ausgeprägt sein können. Die ständig wechselnde Befindlichkeit von Borderline-Patienten wurde mit einem Kaleidoskop verglichen, das bei jeder noch so kleinen Drehung immer neue Farb- und Kristallmuster vor dem staunenden Betrachter erstehen lässt.

Wechselhaft, unreif, frustriert

Für Kernberg waren folgende Eigenschaften wichtig:

• ein brüchiger und wechselnder Wirklichkeitsbezug

• Schwierigkeiten im Umgang mit Frustrationen und Enttäuschungen

• unreifes Denken17

• unreife Abwehrmechanismen

• verzerrte Selbstauffassung

• verzerrte Auffassung von anderen

Wechselnder Wirklichkeitsbezug: Die meiste Zeit über haben Borderline-Patienten einen angepassten Bezug zur Wirklichkeit. Unter Stress kann der Betroffene jedoch kurzzeitig in eine psychotische Verzerrung der Realitätswahrnehmung geraten. Borderline-Persönlichkeiten haben große Schwierigkeiten, Frustrationen und Enttäuschungen zu ertragen und mit Angst zurechtzukommen. Impulsives Verhalten ist der Versuch, diese Spannung abzubauen. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten mit der Sublimation. Sie sind also nicht in der Lage, Frustrationen und Unbehagen auf sozial angepasste Art zu kanalisieren. Oft zeigen sie starke Wechsel in den Gefühlen. Eine Borderline- Persönlichkeit kann sich so verhalten, als ob sie einen dramatischen Ausbruch, der Augenblicke vorher stattgefunden hat, völlig vergessen hat, ähnlich wie ein Kind, das nach einem Trotzanfall plötzlich wieder lacht. Diese Ähnlichkeit mit dem impulsiven Verhalten von Kindern ist auch der Grund für die Bezeichnung »unreif« oder »infantil« für solches Verhalten.

Unreifes Denken: Obwohl Borderline-Menschen vordergründig an einem strukturierten Arbeitsplatz ihre Aufgaben gut erfüllen können, bestehen unter der Oberfläche schwere Selbstzweifel, Ängste und Argwohn weiter fort. Dieses Denken wird auch als »primitiv« bezeichnet, weil es dem angstbeherrschten Denken bei Kindern oder bei animistischen Urstammvölkern ähnlich ist. Jeder Umstand, der die schützende Struktur des Betroffenen durchbricht (Stress, Kritik, Frustration), kann eine Flut chaotischer Gefühlsregungen, die im Innern versteckt sind, freisetzen.

»Primitive« Abwehrmechanismen

Unter Abwehrmechanismen versteht man heute ganz allgemein den Umgang eines Menschen mit schwierigen Situationen oder Gefühlserfahrungen. Dabei unterscheidet man unreife (neurotische) Abwehrmechanismen und reife Abwehrformen, die auch als Bewältigungsmechanismen bezeichnet werden. Psychisch gesunde Menschen gehen mit Konflikten realitätsgerecht (reif) um.

Borderline-Patienten hingegen nehmen die Welt in Extremen wahr. Die Menschen um sie herum sind entweder gut oder böse, freundlich oder feindlich, geliebt oder gehasst. Zwischentöne gibt es nicht, weil diese zu viel Unsicherheit auslösen würden. Diese Spaltung führt oft zu magischem Denken: Aberglaube, Phobien, Zwangsgedanken (Obsessionen) oder zwanghaftes Verhalten werden wie ein Zaubermittel eingesetzt, um unbewusste Ängste abzuwehren. Daraus entstehen die sogenannten sekundären Abwehrmechanismen:

Primitive Idealisierung: Ein Mensch (oder »Objekt«) wird einseitig als gut und lieb ohne Wenn und Aber erlebt. Die Binsenwahrheit, dass jeder Mensch auch Fehler haben kann, wird völlig verdrängt, so wie ein Kind seine Welt nur in Gut und Böse ohne Zwischentöne einteilt. Eine Patientin lernt einen neuen Seelsorger kennen und fühlt sich von ihm ernst genommen. Sie schwärmt: »Er ist der verständnisvollste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Und er blickt durch! Er hat wirklich den Geist Gottes! Mit seiner Hilfe werde ich alle meine Probleme überwinden!«

Abwertung: Das Gegenteil von Idealisierung ist die unerbittlich negative Sichtweise eines Menschen. Damit vermeidet die Borderline- Persönlichkeit Schuldgefühle bezüglich ihres Zorns – der »böse« Mensch verdient ihn voll und ganz. Ein Beispiel: Nachdem ein Seelsorger durch äußere Umstände gezwungen war, einer Patientin zu empfehlen, sich nach drei Jahren intensiver Betreuung eine andere Begleitung zu suchen, verwandelte sich ihr früheres Vertrauen in abgrundtiefen Hass. Sie redete überall negativ über ihn und drohte ihm sogar einen Prozess um Schmerzensgeld an, weil er ihr durch die Beendigung der Begleitung seelischen Schmerz zugefügt habe.

Omnipotenz: Das Gefühl von grenzenloser Macht. Der Betroffene meint (zumindest in gewissen Momenten unrealistischer Selbstüberschätzung), allen anderen überlegen zu sein, alles schaffen und nicht versagen zu können. Man spricht bei dieser Eigenschaft auch von Narzissmus, dem Fachbegriff für eine allzu starke Bezogenheit auf sich selbst. Oft fehlt es in diesen Momenten der Selbstüberschätzung auch an der nötigen Selbstkritik, an den nötigen »sozialen Antennen« für die Reaktionen der anderen. Ein junger Mann mit einer Borderline-Störung meinte z. B., er sei für Frauen unwiderstehlich, und drängte sich einer jungen Frau regelrecht auf. Sie fühlte sich zuerst geschmeichelt, musste sich dann aber zunehmend abgrenzen. Dies führte bei ihm wieder zu einer depressiven Reaktion, in der er versuchte, sich das Leben zu nehmen.

Projektion: Bestimmte Züge werden als inakzeptabel für das eigene Ich verleugnet und anderen zugeschrieben. »Mein Mann ist oft so gereizt und zornig!«, klagt eine Frau. Erst mit der Zeit wird klar, dass sie selbst intensive Aggressionen in sich hat, die sich manchmal sehr heftig entladen. Ihre eigenen Zornesausbrüche verharmlost sie und hat immer gute Gründe, dass sie »etwas ungehalten« sei.

Projizierende Identifikation: Diese Form des Umgangs mit Konflikten ist wohl am schwersten zu verstehen. Da wird die Beziehung zu einer Person fortgesetzt, die eigentlich alle negativen Eigenschaften hat, die man ablehnt. Der Vorteil: Der andere »trägt« diese unangenehmen Eigenschaften für den Projizierenden, der wiederum daran arbeitet, sie weiter fortbestehen zu lassen (»Ich hasse dich – verlass mich nicht!«). Ein Mann mit Borderline-Zügen erlebt seine Frau als zornig, aber er provoziert immer wieder Situationen, die den Zorn seiner Frau herausfordern. Damit bestätigt sich seine negative Bewertung der Frau, ohne dass er sich selbst seinen eigenen Zorn eingesteht.

Mangel an Identität

Schließlich beschrieb Kernberg zwei weitere Eigenschaften, die einer Borderline-Persönlichkeit das Leben schwer machen: eine verzerrte Selbstwahrnehmung und eine pathologische Auffassung von anderen. Kernberg beschreibt die verzerrte Selbstwahrnehmung als »Identitätsdiffusion«. Es fehlt die Gewissheit: »Das bin ich – mit meinen Eigenschaften, meinen Gaben, meinem Körper.« Analytisch gesprochen fehlt ein Kernidentitätsgefühl. Die Persönlichkeit habe die Konsistenz von Wackelpudding: Dieser kann in jede beliebige Form gebracht werden, aber er rinnt durch die Finger, wenn man versucht, ihn festzuhalten. Dieses Fehlen von Substanz führt zu Identitätsstörungen und höchst wechselhaften Reaktionen im Umgang mit anderen Menschen.

Pathologische Auffassung von anderen: Wer selbst keine innere Stabilität hat, erlebt auch die Beziehung zu anderen als sehr unsicher und angsterzeugend. So wie die eigene Selbstachtung von den aktuellen Umständen abhängt, stützt sich die Borderline-Persönlichkeit in ihrer Haltung anderen gegenüber auf die letzte Begegnung – und nicht auf eine stabilere und anhaltendere Wahrnehmung, die in einer beständigen, zusammenhängenden Serie von Erfahrungen begründet ist. Wie ein Kind, das nicht mehr sicher ist, ob seine Mutter da ist, wenn es sie nicht sieht, haben auch Borderline-Menschen Mühe mit der Abwesenheit einer für sie wichtigen Person. Ist eine Trennung dennoch nötig, so brauchen sie ein sogenanntes »Übergangsobjekt«, ähnlich einem Kind, das eine Schmusedecke, eine Puppe oder einen Teddybär braucht, um einzuschlafen. So werden Bilder, Kleidungsstücke und andere persönliche Objekte mitgenommen, um beruhigende Erinnerungen an zu Hause oder einen lieben Menschen18 zu haben. Kuscheltiere begleiten sie ins Bett, Fotos der Familie werden sorgfältig im Zimmer verteilt. Trennung oder drohende Trennung von einem geliebten Menschen löst bei den Betroffenen quälende Angst aus. Um dem panikartigen Gefühl von Verlassenwerden und Einsamkeit zu entgehen, versuchen die Betroffenen verzweifelt, sich anzuklammern – sie rufen an, schreiben Briefe und setzen viele Mittel ein, um den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Vier Begriffe

Wenn man von Borderline spricht, so trifft man vier verschiedene Begriffe an: Die Borderline-Struktur (Borderline Personality Organization) umschreibt die oben genannten pathologischen Eigenschaften einer Persönlichkeit, die sich durch ihr ganzes Dasein ziehen.

Das Borderline-Syndrom kann als Oberbegriff für alle Borderline- Störungen aufgefasst werden, bei denen die Symptome sich konkret beobachten lassen. Es bezeichnet das Zusammentreffen von verschiedenen Symptomen wie Impulsivität, selbstschädigendes oder manipulatives Verhalten, ohne dass eine Aussage über eine tiefere durchgehende (»ich-strukturelle«) Störung oder ein episodisches Auftreten gemacht wird.

Borderline-Zustände (»Borderline States«) stellen eine kurzfristige Entgleisung von ansonsten gut strukturierten Patienten dar, die in charakteristischen Situationen einer besonderen Nähe zum innerpsychischen »traumatischen Bereich« auftritt. Ein Beispiel:

Eine junge Frau sitzt im Zug, als ein offensichtlich alkoholisierter Mann durch den Gang torkelt. Irgendetwas an seinem Gesicht weckt eine Erinnerung, die sie längst vergraben hat: diese Alkoholfahne, die Bartstoppeln, die buschigen Augenbrauen … Vor ihr taucht schemenhaft ein Erlebnis im Keller auf, als sie als kleines Mädchen von einem Nachbarn sexuell missbraucht wurde. Sie kann nicht mehr abgrenzen: Ich bin jetzt erwachsen und kann mich wehren, ich sitze hier im sicheren Zug und andere sind um mich herum. Nein, sie fühlt das lähmende Gefühl der Angst, des Ausgeliefertseins. Bei der nächsten Station stürzt sie hinaus an die frische Luft und findet sich erst zwei Stunden später in einer Notfallstation des Krankenhauses einer Stadt, die doch gar nicht ihr Ziel gewesen war, wieder.

Das Gesicht des Mannes hatte den »traumatischen Bereich« aktiviert und eine tiefsitzende Lava der Erinnerung zur Eruption gebracht, die den Verstand lawinenartig verschüttete und Todesangst und Identitätsverlust über die Frau brachte.

Der vierte Begriff wurde im Rahmen der Diagnostik nach DSM19 geschaffen: die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Anhand der neun Kriterien lässt sich bei den Betroffenen eine Persönlichkeitsstörung beschreiben, die von anderen Störungen klar abgrenzbar und zeitlich überdauernd ist, indem sie ein immer wieder auftretendes Muster darstellt.

Neun Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen ein durchgängiges Muster von

• Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen

• Instabilität des Selbstbildes

• Instabilität im Bereich der Stimmung

• ausgeprägter Impulsivität mit Beginn in der frühen Erwachsenenzeit

Dabei sollten mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein:

1. Verzweifeltes Bemühen, ein reales Alleinsein oder nur schon die Vorstellung des Alleinseins zu verhindern.

2. Ein Muster von instabilen, aber intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen den beiden Extremen der Überidealisierung und Abwertung auszeichnet.

3. Ausgeprägte und andauernde Identitätsstörung, die sich in Form von Unsicherheit in mindestens zwei der folgenden Lebensbereiche manifestiert: