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Michael Ende
Jörg Krichbaum

Die Archäologie der Dunkelheit

Gespräche über Kunst und das Werk
des Malers Edgar Ende

hockebooks

Dritter Tag

Krichbaum: Viele Kunsthistoriker sind erst dann zufrieden, wenn sie einer neuen oder bis dahin nicht rezipierten künstlerischen Ausdrucksform einen Namen gegeben haben, den andere dann nachbeten können. Wie Hockes Beispiel mit dem Manierismus zeigt, kann das in einigen Fällen auch tatsächlich zur Erhellung des Terrains führen. Nach alledem, was wir inzwischen besprochen haben, tue ich mich schwer damit, Ihren Vater noch länger einen surrealistischen Maler zu nennen. Phantastischer Maler, das passt auch nicht. Symbolistischer Maler, nur mit großem Vorbehalt. Also bliebe noch der mystische oder der magische Maler, obwohl mich bei beiden Begriffen auch der Beigeschmack stören würde.

Ende: Ja, Sie haben recht, es hat einen Beigeschmack, wie im Übrigen ja auch die Namen, die sich die Künstlergruppen gegeben haben, bei denen mein Vater mitmachte. Fantasmagie, beispielsweise, was hatte das nun mit Magie zu tun im alten Sinne? Es hatte nichts damit zu tun. Wenn man also Magie jetzt nicht im Sinne von Novalis interpretieren will, für den es ja letztlich nur seine romantisch-esoterische Weltsicht bedeutete. Ernsthafte Mystiker würden es sich im Übrigen, glaube ich, schwer verbitten, wenn man sie als Magier bezeichnete. Und umgekehrt natürlich. Es ist so, wie ich früher schon gesagt habe, dass unser modernes Vokabular für solche Differenzierungen gar keine Worte hat. In älteren Sprachen ist das viel leichter. Ich staune immer wieder darüber, wie viele Begriffe es noch bei den Griechen gibt für derartige Dinge, Begriffe, die bei uns nicht mehr vorhanden sind. Oder gar im alten Hebräisch. In der kabbalistischen Literatur gibt es da ein sehr präzises Vokabular, mit dem man gewisse Erlebnisse, gewisse Bewusstseinsinhalte ganz präzise beschreiben oder besser: bezeichnen kann. Für jede geistige Erfahrung haben die einen Begriff, ein Wort. Wenn man ein solches Wort erklären will in unserer Sprache, dann muss der arme Autor drei/vier Seiten schreiben, um einzukreisen, was das Wort alles meint. Dazu ein Beispiel aus dem Griechischen, das wohl jedem bekannt ist, das ist die Übersetzung des Wortes Logos. Was meint das alles: Es heißt auch Wort. Aber Wort ist eben nur eine Bedeutung, wenn man es im grammatikalischen Sinne versteht. Für den Griechen beinhaltet es zugleich noch viel, viel mehr. Der Grieche hört unendlich Vieles in dem Begriff Wort, was heute gar nicht mehr mitgehört wird, wenn man das Wort Wort ausspricht. Und so ist es eigentlich in allen alten Sprachen, dass die zugleich noch dieses Durchscheinende hatten für ganz bestimmte spirituelle Ereignisse und Erlebnisse. Und zugleich waren sie auch noch anwendbar auf Dinge und Vorgänge in der äußeren Welt. Das eine war eben vom anderen noch nicht getrennt.

Krichbaum: Ich möchte gern noch mal auf die Bilder Ihres Vaters zurückkommen, bzw. auf die Theorien, die er damit verband. Denn letztlich kommt das nur schwer zusammen: die mystischen Bilder, die er, wie ein Archäologe, in der Dunkelheit seines Ateliers findet, und zugleich seine Versuche, daraus eine, ja, gewissermaßen Theorie für das Verfertigen von Bildern abzuleiten, die in der Forderung nach dem totalen Bild gipfelte, das eine Synthese aller auseinandergefallenen Teile sein solle. Das lag aber eigentlich nicht in seiner Macht, denn die Bilder wurden quasi gefunden. Was in seiner Macht lag, war die Art der malerischen Umsetzung. Hätte der Satz »ein gut gemalter Kohlkopf ist besser als eine schlecht gemalte Madonna« nicht auch von ihm stammen können?

Ende: Ach, dieser Satz von Liebermann. Da hätte mein Vater drauf geantwortet, dass natürlich das, was gut gemalt ist, allemal besser ist als das, was schlecht gemalt ist. Aber wie verhält es sich mit einem gut gemalten Kohlkopf und einer gut gemalten Madonna? Mein Vater hat sehr großen Wert auf das Thema gelegt. Er sagte, ein Bild muss ein Thema haben. Es ist nicht gleichgültig, was ich male. Also darüber könnte man jetzt lange streiten, denn es gibt natürlich andere Maler, vor allem unter den Impressionisten, bei denen man wirklich sagen kann, dem oder dem kam es nicht so sehr darauf an, was er malte. Der konnte auch einen Sonntagsspaziergang malen oder Ballettschuhe usw. Da ging es mehr, wie bei Renoir, um Farbe und Licht und dergleichen, weil ihm das vielleicht wichtiger war als das Sujet. Aber für meinen Vater war das Sujet von großer Wichtigkeit, und er sagte eben, ja, wenn ich eine Kreuzigung malen will, dann ist das ein ganz anderer, viel größerer Anspruch, das malerisch zu bewältigen, als wenn ich einen Sonntagsspaziergang malen will. Beim Sonntagsspaziergang ist einfach der Anspruch des Darzustellenden geringer. Und wenn man keine Kreuzigung mehr malen kann, weil sie einem nichts bedeutet, dann hält man sich eben an den Kohlkopf, das heißt, nur an das Wie.

Krichbaum: Gut, das Sujet ist Ihrem Vater wichtig gewesen, zugleich war die Findung des Sujets auch ein bisschen vom Zufall abhängig. Die Darstellung eines Sonntagsspazierganges ist sehr leicht zu vermitteln. Aber ich bezweifle, dass diese zufällig in der Dunkelkammer gefundenen Themen so ohne Weiteres mitteilbar sind.

Ende: Und ich bezweifle, dass sie anderen nicht mitteilbar sein sollen. Sie sind sehr wohl mitteilbar. Gerade Sie selbst sind ja das beste Beispiel dafür, dass die Bilder etwas mitteilen.

Krichbaum: Bei mir herrscht aber eher das Bedürfnis vor, mich zu sträuben, angesichts der Eindrücke, angesichts der Möglichkeit oder der Düsternis vieler dieser Bilder …

Ende: Ja gut. Sie können sich ja auch gegen eine verbale Mitteilung sträuben. Das hat ja mit dem Verstehen nichts zu tun. Da ist eine Mitteilung, und diese Mitteilung empfangen Sie sehr wohl. Dass Sie sich dagegen sträuben, dass Sie das eine zulassen oder anderes nicht zulassen, dagegen ist ja gar nichts zu sagen. Die Mitteilung ist da. Die Bilder sprechen zu Ihnen. Schauen Sie, ich muss doch noch mal auf die Märchen zu sprechen kommen. Wenn ich heute so Untersuchungen über Märchen lese, von sogenannten Märchenforschern, dann wundere ich mich immer, dass die Leute meinen, die Bildersprache des Märchens, die ja eine ganz unmittelbare Sprache ist, die man eigentlich auf der Bilderebene unmittelbar versteht, dass die Leute also meinen, die verstehe niemand, wenn man sie nicht umsetzt in irgendwelche Begrifflichkeiten. Sie müssen das Märchen sozusagen ausdeuten. Und meinen, wenn sie es ausgedeutet haben, dann hätten sie es. Sie hätten nun den eigentlichen Inhalt des Märchens. Aber ich meine immer, dass sie genau damit den Inhalt des Märchens verloren haben. Denn das Märchen spricht in Bildern. Das Geheimnis des Märchens liegt in der Vieldeutigkeit der Bilder. Die Bilder selbst sind schon die Mitteilung. Wir haben nur verlernt, Bildersprache zu lesen. Wir meinen immer, wir hören sie nicht mehr direkt, wir nehmen sie nicht mehr direkt wahr, sondern wir glauben, wir müssen uns Bildersprache umsetzen in eindeutige Begriffssprache, dann erst hätten wir sie verstanden. Also wir müssten es übersetzen in eine andere Sprache. Das ist aber falsch. Wir träumen ja auch in Bildern und erleben unsere Träume ganz unmittelbar. Die Bildersprache ist also die ursprünglichere, lebendigere.

Krichbaum: Es bleibt problematisch. Nehmen wir ein Beispiel, die Zeichnung Der Leuchtturm. Eine Frau pflügt zusammen mit zwei Pferden das Meer um einen Leuchtturm herum. Auf mich wirkt das gewissermaßen wie ein Symbol für Vergeblichkeit. Also alle Signale, alle Elemente dieses Bildes sagen mir, hier wird Vergeblichkeit bildnerisch dargestellt …

Ende: Obwohl die Dame doch ganz zufrieden scheint dabei. Sie hat ein Sonnenschirmchen aufgespannt und hat ein hübsches Kleid an. Also sie wirkt eigentlich nicht irgendwie sisyphusartig. Sondern sie tut ja etwas, was ihr offenbar Vergnügen macht …

Krichbaum: Ich sage: Es ist tragisch, denn sie ist sich der Vergeblichkeit ihres Tuns nicht bewusst. Das ist es, was das Bild mir mitteilt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es auch andere Leute gibt, die das aus diesem Bild herauslesen würden und eine gewisse Scheu hätten, den Künstler zu fragen, ob das so ist, und der würde sagen, ja schön, ist eine der Deutungen. Und die nächste Frage wäre, ist das auch Ihre Deutung? Und dann käme die Antwort: das, mein Herr, steht hier nicht zur Debatte. Das macht nachdenklich: Vom Künstler gewissermaßen keine Rückversicherung zu bekommen, und das, was man ins Bild hineinliest, wird beliebig.

Ende: Aber hören Sie, das ist doch bei aller Kunst und bei aller Poesie so. Und erst recht in der Musik.

Krichbaum: Bei Malern religiöser Themen und vor allem bei Historienmalern ist das nicht der Fall.

Ende: Ja, beim Historienmaler. Allerdings wird es schon fragwürdig, wenn wir, was weiß ich, zum Beispiel einen Goya nehmen, der ja auch Kriegsszenen malte. Aber nicht die Kenntnis der historischen Situation ist es, die wichtig ist. Sondern das, was dahinter steht an Höllenerlebnis. Und das geht weit über die historische Deutung hinaus, also über das Konkrete dort.

Krichbaum: Bei Goya vielleicht, der für mich jetzt kein Historienmaler wie, na wer, zum Beispiel David gewesen ist. Also dann eben die Stilllebenmaler, Landschaftsmaler, Vedutenmaler, Maler also, wo das Bild nicht sehr viel mehr mitteilt als das, was es dort vorzeigt. Und das schafft natürlich im Betrachter eine gewisse Sicherheit und natürlich auch eine gewisse Genugtuung, dass er versteht, was da geschildert wird …

Ende: Immer vorausgesetzt, dass er die historische Situation auch tatsächlich kennt, sonst wundert er sich natürlich höchlichst. Es gibt vielleicht Darstellungen aus dem Leben von Heiligen, deren Bedeutung ich nun gerade im Moment nicht kenne, wo ich dann sage, was machen die denn da für merkwürdige Gesten, was haben die da für eigentümliche Geräte? Es ist also ein höchst geheimnisvolles Bild. Und die Erklärung, die ich dann bekomme, macht die Sache oft eher ein bisschen banal. Es war eigentlich schöner vorher, als ich noch nicht wusste, was das alles bedeutet. Oder nehmen Sie eine Historie aus einem anderen Kulturkreis, aus dem chinesischen Kulturkreis. Sie sehen irgendeine Darstellung aus einem chinesischen Feldzug, von dem Sie keine Ahnung haben, und da ist nun etwas Merkwürdiges passiert, und Sie haben nur das Bild vor sich. Also, was heißt in der Kunst überhaupt verstehen? Da müssten wir uns vielleicht mal einen Moment drüber unterhalten. Was heißt verstehen? Bin ich deswegen tiefer eingedrungen in das Erleben eines Musikstückes, der Eroica etwa, weil ich weiß, welche historische Situation der Komponist seiner Musik unterlegt hat? Gut, das kann alles wichtig sein, das alles kann mir etwas beibringen. Es kann mich aber auch am eigentlichen, direkten Hören der Musik hindern, dieses Wissen. Das, was sich in der Musik selber abspielt, ist eine Sprache, die autonom ist. Die spricht direkt zu Ihnen. Wenn Sie mir jetzt sagen, ja, dann weiß ich aber nie, ob ich die überhaupt richtig verstehe, sage ich, das kann man auch nicht wissen. Denn jedes Kunsterlebnis ist ein Evidenzerlebnis. Und was Evidenz ist, kann niemand einem erklären, kein Philosoph der Welt wird Ihnen erklären, was Evidenz ist. Dieses Erlebnis, dass etwas so sein muss und gar nicht anders sein kann. Das setzt unser ganzes Denken eigentlich immerfort voraus. Die Tatsache, dass ich sagen kann, eins und eins ist zwei, setzt ein Evidenzerlebnis voraus. Ich kann es nicht weiter erklären. Das kann man nicht mehr weiter zurückführen. Doch in der ganzen Kunst, auch in der Poesie, vertreten manche die Meinung, man müsse aus Hölderlins Oden ungeheuer viel herausinterpretieren, um sie zu »verstehen«. Ich halte das alles für falsch. Nicht das ist es, worum es sich handelt in den Hölderlinschen Oden, was ich herausinterpretieren kann. Sonst hätte Hölderlin ja gleich die Interpretation schreiben können. Dann wäre uns viel Mühe erspart worden. Er wollte aber offenbar die Vieldeutigkeit, die geträumte Sprache, das, was man nur ahnen kann, das Geheimnis. Das muss man so stehen lassen. Stattdessen werden endlose Untersuchungen angestellt, und das Gedicht, das Erlebnis des Gedichtes wird einem nicht nähergebracht, es wird einem ferner gerückt oder ganz zerstört.

Krichbaum: Ich weiß, wovon Sie sprechen. Aber ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl dabei, dass wir so zu einer Betrachtung dieser Welt kommen, in der eigentlich nichts mehr erklärbar und begründbar ist, und dass es dann auch keine Rechenschaften mehr gibt. Und mir graut …

Ende: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie gleich hier unterbreche, aber da gibt es nun ausnahmsweise wirklich einmal eine Parallele der Kunst zum Leben. Denken Sie nur, wenn Sie nur das erleben könnten, was Sie auch verstehen! Das wäre herzlich wenig. In der Lebensrealität gibt es keine Erklärung dafür, warum Sie sich zum Beispiel in die eine Frau verlieben und nicht in die andere. Sie fragen auch nicht danach, Sie tun es eben.

Krichbaum: Einverstanden. Nur denke ich auch an unsere Vergangenheit. Eine Zeit, die Ihr Vater ja hautnah miterlebt hat. Eine Zeit, in der vieles dem rationalen Zugriff entzogen wurde. Ich habe eine regelrechte Reserve diesen Dingen gegenüber, die angeblich nicht erklärbar sind. Natürlich auch wissend, dass es gleichwohl viele Dinge gibt, die nicht erklärbar sind. Aber …

Ende: Ich könnte Ihnen antworten, dass der pure, losgelöste wissenschaftliche Rationalismus uns ein ebenso großes, wenn nicht noch größeres Desaster beschert hat, nämlich die Atombombe, die Möglichkeit des globalen Selbstmords. Die reine Rationalität hat zum irrationalsten Ergebnis geführt. Aber das rechtfertigt natürlich nicht den Nazismus. Jede Kraft, jede Fähigkeit kann eben missbraucht werden, und das umso mehr, je größer die Kräfte und Fähigkeiten sind. Wenn wir diese Gefahr vermeiden wollen, dann dürfen wir nur noch das Kraftlose und Unfähige zulassen, weil es ja wirkungslos bleibt. Nach dem Motto: Besser keine Wirkung als eine schlimme. Aber ich rede ja auch gar nicht gegen den Rationalismus. Das ist ein altes, immer wiederkehrendes Missverständnis. Ich rede nur gegen seine falsche Anwendung. Man muss genügend Rationalist sein, um die Grenzen des Rationalismus zu kennen. Wo das Geheimnis, die Vieldeutigkeit, der Traum, die Lebenssubstanz ist, wie in der Kunst und der Poesie, wirkt er nur ertötend. Es gibt keinen Universalschlüssel für alle Lebensgebiete. Was auf einem maßstabgebend ist, an grundsätzlichen Kriterien, soll und darf noch lange nicht gelten für alle anderen Lebensgebiete. Also, ich will es mal ganz überspitzt ausdrücken: Kunst ist gerade das, was man nicht versteht …

Krichbaum: Damit habe ich gerechnet, und ich finde, es geht etwas zu weit.

Ende: Also in Anführungsstriche gesetzt und weniger überspitzt: Kunst ist gerade das, was ich wahrnehme, was über die direkte Wahrnehmung der Sinne zu mir spricht, in einem geistigen Sinn. Es ist etwas, was gerade nicht über den puren Intellekt geht, sondern über die sinnliche Wahrnehmung. Nicht wahr, wir haben ja im Deutschen diese merkwürdige Doppeldeutigkeit des Wortes Sinn. Die Sinne und der Sinn. Und der Sinn, der durch die Sinne spricht, das ist Kunst. Das heißt, es ist genau die entgegengesetzte Gebärde, die der Erkenntnis entgegengesetzte Lebensgebärde. Also die der Erkenntnisgebärde entgegengesetzte Gebärde ist die künstlerische. Der Künstler ist kein Erkennender. Kunst hat hier jetzt, im weitesten Sinn, viel mehr zu tun mit dem erotischen Prinzip. Das erotische Prinzip ist kein Erkenntnisprinzip. Sondern es ist ein Inkarnations- und Verwirklichungsprinzip. Etwas was verkörpert.

Krichbaum: Was auch unabhängig von uns funktioniert. Aber die Erkenntnis funktioniert nur durch uns.

Ende: Erkenntnis ist sozusagen immer etwas, was vergeistigt. Aber das Umgekehrte tut der Künstler, er verkörpert.

Krichbaum: Also die Erkenntnis, die haben wir in der Hand. Während wir das Erotische nicht in der Hand haben, so wie wir die Müdigkeit und den Hunger nicht in der Hand haben.

Ende: Deswegen wird man auch niemals in der Hand haben, was Kunst ist. Es wird immer einige wenige geben, die es können, aufgrund ihrer gesamten menschlichen …

Krichbaum: Aber schreckt das nicht, wenn man den Kreis so eng zieht?

Ende: Nein, es schreckt mich so wenig wie die Tatsache, dass es einige Menschen gibt, die erotische Begabung haben und andere nicht. Andere haben’s einfach nicht. Die können das einfach nicht. Ich meine jetzt nicht hier die Zimmergymnastik, wie das so in den letzten Jahren der Sex-Aufklärung verbreitet wurde, das meine ich nicht mit erotischer Begabung, sondern einfach das Vermögen, schöpferisch zu sein auf diesem Gebiet. Etwas Großartiges zu erleben auf diesem Gebiet. Dazu sind nicht alle Menschen gleichermaßen geschaffen.

Krichbaum: Dann heißt das, dass diese Menschen, die dieses künstlerische, dem Eros ähnliche Vermögen in sich haben, es nicht durch eigene Leistung in sich haben, sondern sie haben es gewissermaßen durch Geburt in sich.

Ende: Das ist mir schon wieder etwas zu genetisch gedacht. Wenn Sie für einen Moment mal rüberkommen in die andere Weltanschauung, dass dort der Mensch nämlich vor seiner Geburt schon existiert, dass er das, was man im Indischen Karma nennt, schon mitbringt …

Krichbaum: Vor der Geburt heißt jetzt für Sie vor der Befruchtung des Eis?

Ende: Natürlich. Das heißt, dass der Mensch nicht nur nach seinem Tod in einer anderen Form weiterexistiert, sondern dass er natürlich entsprechend auch vor seiner Geburt schon existiert hat, ehe er in diese physische Form hineingekommen ist, in dieses Leben: nämlich im Sinne der Reinkarnation, die ja in allen alten Religionen eine Selbstverständlichkeit war, inklusive der Bibel, die ja von der Reinkarnation wie von einer Selbstverständlichkeit spricht. Das haben nun inzwischen die Theologen uns auszureden versucht und verschweigen es immer. Aber es gibt ja die ganz deutliche Frage, zum Beispiel der Jünger beim Jesus, wer war denn in seinem vorigen Leben dieser Johannes der Täufer. Und Jesus antwortet und sagt, das war Elias. Also die Reinkarnation wurde überhaupt nicht diskutiert, sondern das war ganz selbstverständlich, dass sie existierte, und sie existiert im Buddhismus, und sie existiert in der Kabbala, in der jüdischen Esoterik, da heißt sie Gilgul. Sie existiert überall. Das war zu allen Zeiten eine bekannte Tatsache.

Krichbaum: Für mich, der ich nicht an dergleichen glaube, tut sich da ein Mengenproblem auf …

Ende: Ich wollte damit jetzt nur sagen, dass, wenn wir es sofort auf das genetische Feld abdrängen, man dann nur noch sagen kann, aha, dann ist das also nur eine Erbmasse, die jemand mitbringt. Dagegen wollte ich mich nur wehren und wollte sagen, lassen Sie doch zumindest die Möglichkeit offen, dass der Mensch sich diese Fähigkeiten von woanders her mitbringt.

Krichbaum: Dieses Reinkarnationsmodell hat ja auch einige Faszination. Nur sollte sich dann die Menschheit nicht permanent vermehren. Zum Schluss könnten einige da sein, die ohne diese Reinkarnation auf die Welt gekommen sind.

Ende: Diese Sache mit der Vermehrung ist ja relativ jüngeren Datums, und wir wollen das mal abwarten, ob das tatsächlich einfach so weitergeht, wie Hochrechner das ausgerechnet haben, oder ob nicht auch wieder Zeiten kommen, in denen die Menschheit sich plötzlich wieder verringert. Wie viele Menschen es nun sozusagen im ganzen Diesseits und Jenseits gibt, das weiß ich natürlich auch nicht. Aber ich halte das für ein bisschen vorschnell, wenn man einfach so hochrechnet. Also weil sich in den letzten hundert Jahren die Menschheit um soundso viel vermehrt hat, wird’s jetzt einfach hochgerechnet und man sagt, spätestens im Jahr 3000 werden es 50 Milliarden Menschen auf der Erde sein. Oder dergleichen. Diese Hochrechnungen, die scheinen mir immer etwas vorschnell.

Krichbaum: Gut, dass der Mensch vor der Geburt in irgendeiner Form existiert haben könnte, ist für mich noch vorstellbar, allerdings mit einigem Unbehagen. Auf der einen Seite gibt es in der Medizin die Erkenntnis, wie sich zum Beispiel Schnupfen oder Grippe oder dergleichen übertragen: Bazillen oder Viren, die durch die Luft schwirren, über die Schleimhäute in unsere Körper eindringen und dort die Zellen zur Produktion fremder DNS anregen. DNS, das sind Erbinformationen. Also kommen Erbinformationen in uns hinein, die vielleicht vorher in anderen Körpern gewesen sind. Und so kann ich natürlich eine Kette herstellen, die bis weit vor unsere Zeitrechnung geht. Die bis zur Entstehung der Weltgeschichte bzw. zur Entstehung des Lebens zurückreicht.

Ende: So habe ich es natürlich nicht gemeint.

Krichbaum: Es ist der Versuch, das etwas konkreter zu fassen und es, in diesem Sinne, akzeptierbarer zu machen. Aber da gibt es schon Bedenken. Denn damit öffnet sich eine so große Tür, und ich weiß nicht, ob man unbedingt da durchgehen sollte …

Ende: Ich bin überzeugt, dass die Vorstellung der Reinkarnation sehr bald wieder Allgemeingut sein wird. Es wird sogar eine der ersten sein, die wieder begriffen werden wird. Einfach als eine Notwendigkeit, um das Leben sinnvoll zu verstehen. Weil es die einzige ist. Das können wir jetzt mal so stehen lassen.

Krichbaum: Warum haben Sie das, was Sie hier so deutlich formulieren, so deutlich nie in Ihren Büchern gesagt?

Ende: Kommt vielleicht noch. Ich bin ja noch nicht tot. Das kann vielleicht noch kommen. Wissen Sie, weil es mir sehr darum zu tun ist, nur das in meinen Büchern erscheinen zu lassen, was an eigener Erfahrung sich umsetzt ins Bild. Es ist aber durchaus möglich, dass, in einem der nächsten Bücher beispielsweise, genau dieses Thema der Ungeborenheit und der Unsterblichkeit auftauchen wird, das ist sehr gut möglich. Ich will aber immer etwas vermeiden: Ich will Erklärungen vermeiden. Ich will in meinen Büchern nichts erklären. Es gibt so gewisse esoterische Romane, in denen ständig Esoterik erklärt wird. Und davor graut mir. Genau das will ich nicht machen, sondern ich sage, wenn es mir nicht gelingt, es umzusetzen in ein Bild, das der Leser annehmen kann oder stehen lassen kann, einfach als Bildgeschichte, dann will ich es lieber gar nicht schreiben. Es geht mir nicht darum, das wie meinetwegen Gustav Meyrink zu machen, bei dem besteht die Hälfte seiner Bücher aus esoterischen Erklärungen. Und genau das finde ich falsch, denn da kommen wir wieder ins Argumentieren hinein und in das, was eben nicht poetisches Umsetzen heißt, sondern Didaktik. Dann sollte man lieber gleich einen esoterischen Vortrag halten, oder man schreibt ein Essay über die Reinkarnation. Aber ich sagte ja schon: Erklären ist für mich immer etwas Unkünstlerisches. Kunst darf sich nie erklären. Auch Poesie nicht. Poesie darf sich nie selbst erklären. In dem Moment hört sie auf, Poesie zu sein. Wie Hölderlin sagt: »Lehrt und beschreibet nicht, und wenn der Meister euch ängstigt, fragt die große Natur um Rat.« Poesie darf nicht lehren und sie darf nicht beschreiben, sondern sie muss realisieren. Sie muss …

Krichbaum: Und die bildende Kunst darf das auch nicht.

Ende: Bildende Kunst darf erst recht nicht lehren und beschreiben, sondern sie muss etwas hinstellen. Ein Bild soll nichts erklären, es soll etwas sein.

Krichbaum: Dann könnte man die Musik noch mit einschließen und das dann zum allgemeinen Postulat machen.

Ende: Das tue ich auch! Sie haben mich ja nach meinem Kunstkonzept gefragt. Und für mich ist es nur das, was Kunst sein kann. Denn wenn ich sie erklären könnte, dann könnte ich eigentlich die Erklärung anstelle der Kunst nehmen. Und damit wäre sie überflüssig. Im Gegenteil, dann wäre die Erklärung sogar klarer, eindeutiger vielleicht. Aber das kann man eben nicht. Man kann Kunst nicht erklären. Darin liegt sogar ihre Notwendigkeit, ihr Grund. Ich hab’s mal so ausgedrückt: Für Kunst gibt es überhaupt keine andere Rechtfertigung als eben ihr Dasein. Alle Versuche, sie durch etwas anderes zu rechtfertigen als dadurch, dass man sie macht, sind unnütz. Aber es gibt sie ja nun mal, Gott sei Dank, auf dieser Welt, bis jetzt. Und noch zerbrechen wir uns den Kopf darüber, weil wir immer versuchen, sie durch etwas zu erklären, was nicht Kunst ist. Und damit verlieren wir sie im Grunde schon wieder aus dem Auge. Also, ich würde sagen, den Zugang zur Kunst findet der Mensch eigentlich nur, indem er mit ihr umgeht. Er muss mit ihr umgehen. Man kann nicht von außen in die Kunst einsteigen. Man nannte das früher mal Bildung. Da hatte jeder im gewissen Sinn Anteil daran, auf die eine oder andere Art, weil zum Beispiel in den Kirchen, die damals noch Lebenszentrum waren, die Bilder einfach hingen, und da sah man sie eben.

Krichbaum: Aber heute ist es für die, die es nicht gelernt haben, recht schwierig, mit der Kunst umzugehen. Womit wir wieder bei unserem anfänglichen Problem wären …

Ende: Weil sie ja auch, bis zu einem gewissen Grad, keinen essenziellen Anteil an unserem Leben mehr hat. Wir gehen in Ausstellungen und schauen uns dort Kunst an. Das ist eine Ausnahmesituation. Aber das war in früheren Zeiten ja anders. In früheren Zeiten gab’s überhaupt keine Ausstellungen, da gab’s eben die Kirchen oder die geistigen Zentren. Und dort wurde die Kunst im Zusammenhang mit allem anderen aufgenommen und wirkte dadurch auch gesellschaftsbildend.

Krichbaum: Und heute kommt der Aspekt hinzu, dass die Kunst spezifischen Verwertungsmechanismen unterworfen ist. Was früher nicht der Fall war. Aber wo etwas verwertet wird, muss es natürlich Rechtfertigung für die Verwertung geben. Und insofern ist ein Rechtfertigungs- und Argumentationszwang entstanden, der eigentlich durch unsere Zeit und nicht durch die Kunst entstanden ist …

Ende: Ganz richtig. Und damit stoßen wir wiederum auf das Kulturproblem, was ich am Anfang unseres Gesprächs anklingen lassen wollte, dass Kunst als selbstständiges Moment ohne eine dazugehörige Kultur eigentlich sinnlos ist.

Krichbaum: Bezogen auf die Kunst Ihres Vaters heißt das, dass die Gemälde und Zeichnungen nur vor diesem ganzen Hintergrund aus Mythologie und Mystik verstanden oder besser »nachempfunden« werden können. Aber ich fürchte, dass man sich eher über die Verschiedenartigkeit von Grafik, Zeichnung und Gemälde auslassen wird, weil man da gewissermaßen etwas Konkretes in den Händen hat. Andererseits muss ich gestehen, dass auch mir nach Durchsicht des zeichnerischen Œuvres die Gemälde tatsächlich etwas weniger brillant und überzeugend vorkamen. Mit anderen Worten: Wenn das Werk dereinst wahrgenommen werden wird, wird man ihm dann möglicherweise auf diese eben geschilderte Weise unrecht tun.

Ende: Das ist allerdings sehr gut möglich, was Sie da sagen. Das ist vielleicht auch etwas, was mein Vater sehr stark empfunden hat. Und möglicherweise ist das auch der Grund dieser leeren Welten, die er da geschildert hat. Vielleicht ist das auch der Grund für seine, ich möchte mal sagen, seine Widerborstigkeit. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er sich so standhaft geweigert hat, sich gefällig zu machen. Weshalb er sogar so richtige kleine Hemmschwellen einbaute, ich weiß nicht, ob er das absichtlich gemacht hat oder weil ihm einfach danach zumute war oder weil er es dem Betrachter eben ein bisschen schwer machen wollte, hier eine reine Konsumhaltung einzunehmen und sich halt die Sachen so als Sammlerobjekt unter den Nagel zu reißen. Das alles geht verhältnismäßig schwer mit den Bildern meines Vaters. Vielleicht hat er das bewusst oder unbewusst sogar so gewollt. Weil ihm natürlich diese Problematik bekannt war, in der wir da heute alle stehen. Also die Frage, wozu malt man überhaupt Bilder, was soll das ganze eigentlich, was ist das für ein merkwürdiger Kunstbetrieb, den wir da heute haben? Kunst sozusagen als eine Art Luxus, den man sich leistet. Wenn man schon mal den Mercedes und drei Eisschränke hat, dann leistet man sich auch noch ein Bild von Klee oder so was. Wozu eigentlich? Das kann ja nicht der Sinn eines Bildes sein.

Krichbaum: Es gibt sogar Leute, die kaufen Kunstwerke wie Aktien oder festverzinsliche Papiere.

Ende: Ja, er sagte schon damals, das sind Briefmarkensammler, denen ist es eigentlich wurscht, ob sie die blaue Mauritius oder einen Picasso kaufen, Hauptsache, es ist eben etwas, was andere nicht haben. Das ist natürlich kein wirkliches Verhältnis zur Kunst. Das heißt nicht, mit Kunst leben.

Krichbaum: Sie haben mir einmal gesagt, dass Sie verhältnismäßig früh angefangen haben, künstlerisch tätig zu werden, Gedichte zu schreiben, Bilder zu malen und zu zeichnen.

Ende: O ja. Das fing schon mit vierzehn, fünfzehn an. Und mein Vater hat das sehr wohl gemerkt.

Krichbaum: Und er hat an Ihrem künstlerischen Werden regelrecht teilgenommen?

Ende: