Die Drei Fragezeichen
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Im Haus des Henkers

erzählt von Marco Sonnleitner

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung: eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan.

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14810-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Im Reich des Schlangendämons

Hinter den schroffen Bergspitzen erloschen die letzten Sonnenstrahlen in einem Meer von Blut. Zu früh. Viel zu früh. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten.

Gabriela Cooper blieb stehen. Sie würde die Kapelle nicht mehr erreichen. Weiter unten auf dem schmalen Gebirgsgrat verstummte das Gepolter der Kutsche. Natürlich. Seine dämonischen Gehilfen hielten an, um ihn aus seinem engen Gefängnis zu befreien. Schlugen die Decke zurück und entriegelten die Schlösser des riesigen Glassarges.

Sie zog den schweren Colt aus dem Halfter und überprüfte die Trommel. Sechs Kugeln, sechs großkalibrige Kugeln aus purem Silber. Eine für jedes Herz. Die abgesägte Schrotflinte und die restliche Munition hatte sie im Kampf gegen den Werwolf verloren. Nur dieser eine Colt war ihr geblieben und der stählerne Dolch. Aber den könnte sie höchstens verwenden, um ihrem eigenen Leiden ein schnelles Ende zu setzen. Auf seiner schuppigen Haut würde dieser Dolch nicht mal einen Kratzer hinterlassen.

Sie hatte nur noch eine Chance. Stehen bleiben, sich ihm stellen. Alle Konzentration auf die sechs Schüsse richten, die sie hatte.

Sie hob den Colt mit beiden Armen, stellte sich breitbeinig hin, zielte über Kimme und Korn. »Den Rückstoß miteinberechnen«, wiederholte sie, was ihr John gesagt hatte. »Das Adrenalin kontrollieren, den Atem vor jedem Schuss anhalten.« Doch die Chance, dass sie jedes Herz erwischte, bevor er bei ihr war, war verschwindend gering. John hatte es nicht einmal geschafft, seine Waffe aus dem Holster zu ziehen, bevor … bevor …

Gabriela zwang sich, nicht mehr an die zurückliegende Nacht zu denken, konzentrierte sich wieder auf die Wegbiegung, hinter der er jeden Moment auftauchen musste.

Und dann war er da! Der Schlangendämon! Der schreckliche Gebieter über das Heer dieser grauenvollen Geschöpfe, die seit letztem Winter ihr Dorf heimgesucht hatten. Ihn galt es zu vernichten. Er war der Grund allen Übels! Gabriela hob den Colt und der Schlangendämon schleuderte ihr ein heißes Fauchen entgegen.

Und dann war Schluss! Der dumpfe Bass der Titelmelodie setzte ein, auf der dunklen Leinwand stand »Ende Teil 1« zu lesen, der Vorhang schloss sich.

»Och nö, oder?« Zusammen mit ein paar dutzend anderen Kinobesuchern machte Bob seinem Unmut Luft. »Das ist jetzt aber nicht wahr!« Er sah nach links, wo seine Freunde saßen. »Gerade jetzt, wo es so richtig … Peter?«

Der Zweite Detektiv war verschwunden.

»Hier.« Peter schob sich nach oben. Ganz tief war er in seinen Sitz gesunken, sodass Bob ihn nicht mehr gesehen hatte. »Mann, war das gruselig. Ich dachte zwischenzeitlich, mir bleibt das Herz stehen. Dieser Schlangendämon, Skamaton … Heute Nacht mache ich bestimmt kein Auge zu.«

Das Licht im Saal ging an und Bob griff missmutig nach seiner Jacke. »Trotzdem fies, dass die jetzt Schluss machen. So etwas hasse ich!«

»Ich bin, ehrlich gesagt, ganz froh.« Peter zerknüllte seine Popcorntüte und atmete einmal tief durch.

Bob sah Justus an. »Deine Tante muss in einem ihrer vorigen Leben ein ziemlich düsteres Dasein geführt haben, wenn du mich fragst. Ihre Vorliebe für Horrorfilme war mir ja bekannt, aber der Streifen, den sie uns hier empfohlen hat, ist wirklich von der heftigen Sorte.«

»Und sie fiebert schon dem zweiten Teil entgegen.« Justus stand auf. »Ja, in den Abgründen von Tante Mathildas Seele scheint so manch dunkles Geheimnis verborgen zu liegen.«

Peter stupste seinen Freund an. »Los, Erster, geh schon, ich muss an die frische Luft.«

Draußen hatte der Regen endlich aufgehört. Als die drei Freunde vor dem Rex-Filmpalast standen, glänzte der dunkle Asphalt zwar noch feucht im Licht der Kinoreklame, aber der Himmel war sternenklar.

»Noch jemand Lust auf einen Milchshake oder ein Eis?« Bob nickte hinüber zu Luigis Eisdiele. »Luigi hat noch auf, wie es aussieht.«

Justus schüttelte den Kopf. »Wie ihr wisst, erwartet uns morgen eine jener berüchtigten Physikklausuren von Mrs Fulham. Davor würde ich meinen grauen Zellen gerne die nötige Ruhe gönnen.«

»Ich bin auch müde«, sagte Peter. »Der Film hat mich echt geschafft. Lasst uns nach Hause fahren.«

Wegen des Regens hatten die drei Detektive den Bus ins Stadtzentrum von Rocky Beach genommen. Vom Kino waren es keine fünf Minuten zum Busbahnhof, und an einem der Bussteige wartete auch schon die Linie, die sie zum Schrottplatz bringen würde. Dort hatten sich die Jungen am frühen Abend getroffen und dort standen auch Peters und Bobs Fahrräder.

Der Bus war nahezu voll besetzt und der Grund dafür war offensichtlich. Einer der Fahrgäste hatte eine Kokosnuss in der Hand, ein anderer einen lila Plüschtiger, zwei aßen Corn-Dogs, einer Kotelett am Stiel, zwei junge Mädchen teilten sich ein Elefantenohr mit Puderzucker, während ihre Freundin fädenziehende Käse-Nachos aus einer Tüte klaubte. Und noch einige andere sahen einfach nur fröhlich, aufgeregt oder zerzaust aus. Sie alle kamen wohl vom alljährlichen Jahrmarkt, dem Rocky Beach County Fair, der gerade am östlichen Rand des Palisades Parks sein Lager aufgeschlagen hatte.

»Dahinten sind noch Plätze frei!« Peter deutete auf eine Gruppe von zwei einander gegenüberliegenden Zweiersitzen im hinteren Teil des Busses. Justus und Bob folgten ihm schnell, bevor sich andere die Plätze schnappten.

Kurz darauf ließ der Busfahrer den Motor an und wollte schon die Türen schließen, als noch ein blasser junger Mann an der hinteren Tür einstieg. Oder doch nicht? Bob bemerkte, dass er zögerte, so als wüsste er nicht, ob er wirklich mitfahren wollte.

»Wollen der Herr jetzt rein oder nicht?«, fragte der Busfahrer über sein Mikro und schaute dabei in den Rückspiegel. Einige Passagiere lachten.

Der junge Mann lächelte verlegen und stieg ein. Während der Bus losfuhr, sah er sich unsicher um und knetete dabei eine durchsichtige Tüte mit rosa und weißen Marshmallows in seinen Händen.

Schließlich bemerkte er den freien Platz bei den drei Jungen, traute sich aber offenbar nicht zu fragen, ob er sich setzen dürfe.

»Der Platz hier ist frei.« Justus rückte demonstrativ ein Stück weiter zum Fenster.

»Da-danke«, sagte der junge Mann leise und wurde ein wenig rot dabei. Ungelenk ließ er sich gegenüber von Bob nieder, machte sich auf seinem Sitz so schmal wie möglich und sah zu Boden.

Der dritte Detektiv überlegte kurz, ob er sein Gegenüber ansprechen und ihm so die Befangenheit nehmen sollte. Aber er hatte das Gefühl, dass der junge Mann lieber in Ruhe gelassen werden wollte. Daher wandte er sich an seine Freunde: »Wir sollten da auch noch hingehen, was meint ihr?« Bob zeigte aus dem Fenster, wo in einiger Entfernung die bunten Lichter des Jahrmarktes zu erkennen waren. »Der geht nur noch bis Sonntag, soviel ich weiß.«

»Ich war schon mit Kelly«, sagte Peter. »Ist ja immer ganz nett da, aber auch ziemlich teuer.«

»Nur wir drei, das wäre doch ein Spaß!«, meinte Bob.

Justus schien das etwas anders zu sehen. »Gegen eine gemeinsame Unternehmung ist grundsätzlich nichts einzuwenden, aber der Unterhaltungswert einer solchen Veranstaltung ist doch sehr überschaubar.«

»Na ja, Im Reich des Schlangendämons war jetzt auch nicht unbedingt nur was für geistige Überflieger«, konterte der dritte Detektiv.

Der Bus hielt an der nächsten Station. Zwei Fahrgäste stiegen aus, drei ein. Die Fahrt ging weiter.

»Das kann man auch anders sehen. Wenn man die Figur der Gabriela Cooper einmal genauer betrachtet, verkörpert sie im Genre des Horrorfilms einen durchaus emanzipatorischen Ansatz.«

»Ach, Kollegen, entspannt euch doch einfach nur, hm?« Peter rekelte sich auf seinem Sitz. »Denken ist erst morgen wieder angesagt.«

Ein Handy piepste. Es war das Handy des jungen Mannes, der bei dem ersten Ton leicht zusammenzuckte. Wieder zögerte er, fischte dann das Telefon aus seiner inneren Jackentasche und sah auf das Display. Offenbar hatte er eine SMS erhalten.

Die drei ??? beobachteten den Mann unauffällig. Sie konnten nicht anders. Zu eigenartig war sein Verhalten. Er starrte bewegungslos auf den kleinen Bildschirm. Sein Atem ging rascher und aus seinem ohnehin schon blassen Gesicht wich auch noch der letzte Rest Farbe. Seine Hand schien sogar leicht zu zittern.

Bevor Bob jedoch etwas auf dem Display erkennen konnte, drückte der Mann die Nachricht weg und steckte sein Handy ein.

»Alles in Ordnung?«, fragte Peter vorsichtig. Er hatte das Gefühl, dass der Mann gleich ohnmächtig vom Sitz kippte.

Der Mann erwiderte nichts. Er schien den Zweiten Detektiv gar nicht gehört zu haben.

»Geht es Ihnen gut?« Bob beugte sich leicht nach vorne.

»Was?« Der Mann schrak auf. »Ja, ja. Ja. Alles gut, alles gut.«

Der dritte Detektiv hatte einen ganz anderen Eindruck, nickte jedoch.

Der Bus hielt wieder. Diesmal stiegen mehr Leute aus. Einige Sitze wurden frei.

Als der Bus wieder angefahren war, holte der junge Mann das Handy noch einmal aus der Tasche und starrte erneut auf das Display.

Unwillkürlich sahen auch die drei Jungen dorthin. Auf dem Display war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Fragende Blicke gingen zwischen ihnen hin und her. Irgendetwas stimmte mit dem Typen doch nicht. Peter verzog ganz leicht den Mundwinkel, als Justus ihn ansah. Vielleicht war der Kerl gar nicht schüchtern und unsicher, sondern irgendwie nicht ganz richtig im Kopf. Womöglich sogar gefährlich?

Dann tippte der Mann auf die Neun. Ganz langsam, wie in Zeitlupe. Die drei ??? konnten es genau beobachten. Danach die Eins. Und nach einem kurzen Zögern noch einmal die Eins.

911! Die Notrufnummer!

Der Mann hob das Handy ans Ohr und wartete. Dass ihn die drei ??? nun ihrerseits anstarrten, merkte er gar nicht. Er schien gar nichts mitzubekommen, wirkte völlig apathisch.

»Mein Name ist Rudy Carlisle«, sagte er plötzlich mit brüchiger Stimme. »Ich wohne in der Kennedy Street 254 in Rocky Beach und habe vor einer Stunde den Juwelier Kyle Caldwell in der Main Street ausgeraubt.«

Hut? Heiligenschein?

Carlisle legte auf, steckte sein Handy in die Tasche und stierte wieder genauso teilnahmslos vor sich hin, wie er das die ganze Zeit getan hatte.

Die drei ??? waren völlig perplex und Peter verspürte den Impuls, aufzuspringen und den Kerl sofort dingfest zu machen. Aber hatte Carlisle dies nicht gerade selbst getan? Er hatte Namen und Adresse genannt und ein astreines Geständnis abgeliefert. Die Polizei musste ihn nur noch zu Hause auflesen.

Das Ganze war ausgesprochen seltsam. So etwas hatten die drei Detektive noch nicht erlebt. Aber sie reagierten äußerst professionell. Jetzt kam ihnen die Erfahrung zugute, die sie im Laufe ihrer langen detektivischen Karriere hatten sammeln können. Und die sagte ihnen, dass sie sich besser so unauffällig wie möglich verhielten und so taten, als wäre nichts geschehen. Dieser Typ war absolut undurchschaubar und unberechenbar. Wer weiß, dachte Peter, was der Kerl unter seiner Jacke hat und wozu er fähig ist, wenn wir jetzt Alarm schlagen. Ähnliches ging Bob durch den Kopf, und auch Justus’ Blick, den er seinen Freunden unauffällig zuwarf, mahnte zur Vorsicht.

Den anderen Fahrgästen war der unglaubliche Vorgang, der sich gerade abgespielt hatte, verborgen geblieben. Niemand von ihnen ahnte, mit wem sie da im städtischen Bus durch das nächtliche Rocky Beach nach Hause fuhren.

Erneut sah Justus seine Freunde an. Doch jetzt war sein Blick ein anderer. Er war intensiv, hellwach und versuchte ihnen irgendetwas mitzuteilen. Peter und Bob schauten fragend, doch Justus konnte ihnen nicht mehr sagen. Dann streckte sich der Erste Detektiv, als müsse er seine müden Glieder einrenken, gähnte übertrieben und schlug sich mit beiden Händen auf die Knie. »Also, Leute. Die nächste Station ist meine. War schön heute Abend. Wir sehen uns dann morgen in der Schule.«

Die nächste Station ist meine? Peter sah aus dem Fenster. Sie befanden sich südlich des Villenviertels. Die Sunrise Road, an der der Schrottplatz lag, war noch mindestens vier oder fünf Stationen entfernt. Auch Bob verstand nicht, was Justus vorhatte. Was wollte er hier? Klar war nur, dass der Erste Detektiv nicht wollte, dass sie mit ausstiegen.

»Macht’s gut, ihr zwei!« Justus stand auf, hob die Hand und drehte sich um.

Peter und Bob grüßten verhalten. Dann beobachteten sie, wie ihr Freund zur vorderen Tür ging, dort stehen blieb und sich an einer der Halteschlaufen festhielt. Carlisle konnte ihn nicht sehen, er saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.

»Nächste Station Hillside Drive!«, verkündete die Bandansage des Busses. Das Fahrzeug kam zum Stehen, drei Passagiere stiegen hinten, zwei vorne aus. Die Türen schlossen sich wieder, der Bus fuhr weiter.

Justus war nicht ausgestiegen. Er warf einen Blick nach hinten. Carlisle saß weiterhin unbeweglich wie eine Mumie auf seinem Sitz. Dann gab der Erste Detektiv seinen Freunden merkwürdige Zeichen. Er deutete auf sich und dann auf den Busfahrer, ließ seine rechte Hand auf- und zuschnappen, legte Daumen und kleinen Finger an Ohr und Mund und fuhr sich schließlich mit dem Zeigefinger in einer kreisförmigen Bewegung um den Kopf.

Er will mit dem Busfahrer reden und telefonieren, verstand Peter. Aber was meint er mit dem Hut?

Ein Heiligenschein? Bob hatte keine Ahnung, wie Justus jetzt auf einen Heiligenschein kam.

Der Erste Detektiv stellte sich direkt hinter den Busfahrer und räusperte sich. »Entschuldigen Sie, Sir, ich muss …«

»Junge, du musst gar nichts!«, fuhr ihm der Mann über den Mund. »Vor allem nicht mit mir sprechen während der Fahrt. Kannst du lesen?« Er zeigte nach oben.

Justus musste nicht hinaufblicken. Er wusste auch so, welches Schild da hing. »Ich weiß! Aber es ist ein Notfall!«

»Ein Notfall?« Der Mann fuhr kurz herum, schaute Justus irritiert an. Dann sah er wieder auf die Straße. »Wovon, zum Teufel, sprichst du?«

»Bitte fahren Sie weiter! Bleiben Sie ruhig und lassen Sie sich nichts anmerken!«, flehte Justus. »Das ist wichtig!«

»Was für ein Notfall?« Der Fahrer war alles andere als ruhig. »Hat sich jemand verletzt?«

»Nein, es handelt …«

»Schwanger? Haben die Wehen eingesetzt? Aber nicht in meinem Bus! Ich will hier keine …«

»Nein, Sir, lassen Sie mich doch bitte …«

»Eine Bombe!«, hauchte der Mann. »Wir haben eine Bombe an Bord!«

»Sir! Bitte!«, stieß Justus hervor. »Hören Sie mir doch zu!«

»Was, zum Geier, ist los? Red schon, Junge!«

Versuche ich ja die ganze Zeit!, dachte Justus. »Folgendes. Dahinten sitzt ein Mann, der eben über sein Handy die Polizei informiert hat, dass er vor einer Stunde einen Juwelierladen überfallen habe.«

Der Busfahrer sah ihn erneut an. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!«

»Nein, Sir, das ist sicher nicht meine Absicht. So unglaublich es klingt, aber es besteht tatsächlich der dringende Anlass zu der Vermutung, dass die Äußerung des Mannes alles andere als ein Scherz ist. Sein ganzes Verhalten, der Eindruck, den er macht – er meint es ernst!«

»Du … du veräppelst mich nicht?«

»Nein, Sir, mitnichten.«

»Donnerlittchen! Ein Gauner, der sich selbst anzeigt!« So halbwegs schien der Fahrer Justus zu glauben. »Aber man hat ja auch schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen, nicht wahr. Nur – wieso soll das ein Notfall sein?«

»Weil ich den Eindruck habe, dass der Mann nicht ganz bei Sinnen ist und womöglich zu Kurzschlusshandlungen neigen könnte. Und Sie haben den Bus voller Passagiere.«

Der Fahrer atmete hörbar ein. Allmählich begriff er, wo das Problem lag. »Steht er unter Drogen? Ist es das? Du denkst, dass er gleich austickt und um sich ballert?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich halte es für angeraten, dass Sie möglichst unauffällig über Funk die Polizei zur nächsten oder übernächsten Haltestation beordern. Die Beamten sollten allerdings in Zivil erscheinen und sich erst so spät wie möglich zu erkennen geben, um kein Aufsehen zu erregen.«

»Und die Passagiere? Wie sollen wir die in Sicherheit bringen?«

Justus dachte einen Augenblick nach. »Erfinden Sie eine Panne. Der Motor sei überhitzt, alle müssten aussteigen und auf den nachfolgenden Bus warten, irgendetwas in der Art. Ich würde als Erster aussteigen und die Polizisten auf unseren Mann aufmerksam machen, damit sie ihn im richtigen Moment in Gewahrsam nehmen können.«

»Okay, könnte klappen.« Der Busfahrer sah Justus aus den Augenwinkeln an. »Sprichst du eigentlich immer so?«

»Wieso? Wie spreche ich denn?«

»Egal.« Der Fahrer griff zum Funkgerät und ließ sich über seine Zentrale mit der Polizei verbinden. Eine Streife war bereits auf dem Weg zur Kennedy Street, doch die Beamten hielten es ebenfalls für besser, wenn sie Carlisle an der nächsten Station abpassten.

»Je eher wir den Kerl haben, desto besser«, meinte der Polizist am Funkgerät. »Wir kommen zu Ihnen.«

Justus sah wieder nach hinten zu Peter und Bob. Die beiden warteten schon auf ein Zeichen von ihm und fingen seinen Blick sofort auf. Der Erste Detektiv hob den Daumen, was Peter und Bob allerdings auch nicht viel schlauer machte. Was war okay? Hier war gar nichts okay.

»Sehr verehrte Fahrgäste«, ertönte plötzlich die Stimme des Fahrers aus den Lautsprechern. »Wir haben leider ein kleines Problem. Meine Temperaturanzeige hier vermeldet, dass der Motor kurz davor ist, den Geist aufzugeben. Sie müssen leider an der nächsten Station aussteigen und den nachfolgenden Bus nehmen.«

Lautes Murren war zu vernehmen, ein Mann schimpfte und rief irgendetwas von wegen Steuergeldern.

»Tut mir leid, Leute, aber es geht nicht anders. Ich habe in der Zentrale Bescheid gesagt. Der andere Bus hat genügend Platz, alle kommen unter. Er wird in ungefähr dreißig Minuten hier sein.«

Carlisle zeigte immer noch keine Regung. Peter und Bob hätten nicht einmal sagen können, ob er die Durchsage überhaupt mitbekommen hatte. Irgendein Rädchen lief in dessen Oberstübchen nicht rund.

Als der Bus an der Oak Road hielt, stieg Justus wie angekündigt als Erster aus und lief zu den Polizisten. Die Beamten, sechs an der Zahl in zwei Autos, waren zwar in Zivil erschienen, aber ihre gespannte Haltung, der aufmerksame Blick und nicht zuletzt die Beulen unter den Jacken, die sicher von ihren Dienstwaffen herrührten, waren für Justus Hinweis genug. Während hinter ihm die Passagiere nach und nach den Bus verließen, teilte er den Polizisten mit, was geschehen war. Die Männer hörten konzentriert zu und brachten sich anschließend unauffällig in Stellung. Drei von ihnen positionierten sich ein Stück rechts des Ausstiegs, drei links. Die Hände auf Hüfthöhe, die Augen scheinbar irgendwohin gerichtet, aber jeder von ihnen hatte nur Carlisle im Blick.

Peter und Bob erhoben sich, nickten Carlisle kurz zu, der scheu zurücklächelte, und begaben sich zum Ausgang. Immer noch war ihnen nicht klar, was hier gespielt wurde. Aber an die Sache mit dem Motorschaden glaubte keiner der beiden. Carlisle ließ noch ein Pärchen passieren und stand dann ebenfalls auf.

Auf dem Treppenabgang bemerkte der Zweite Detektiv die Männer rechts und links des Busses. Und jetzt verstand er. Das war okay, das hatte Justus gemeint! Signallicht, nicht Hut!

Bob sah zuerst Justus, der sie unauffällig zu sich herwinkte, dann entdeckte auch er die sechs Polizisten. Signallicht, kein Heiligenschein! Schnellen Schrittes näherten sich die beiden Detektive ihrem Freund. Dann drehten sich alle drei um.

Als das Pärchen draußen war und Carlisle in der Türöffnung stand, sprangen die Beamten gleichzeitig und mit gezogenen Waffen nach vorne. »Hände hoch!«, schrie der vorderste von ihnen. »Rauskommen und auf den Boden legen! Los!«

Carlisle erschrak bis ins Mark. Es warf ihn förmlich wieder die Stufen hinauf. »Aber … w-was …?«, stotterte er und ließ die Tüte mit den Marshmallows fallen.