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Jan Beinßen

 

Und wenn das vierte Lichtlein brennt …

 

Ein Fall für Paul Flemming

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (1. Auflage 2012)

© 2012 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag, unter Verwendung eines Fotos von Stephanie Wißmann/getty images

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-328-7

 

Sophie, mein Henkersmädel,

komm, küsse mir den Schädel!

Die Augen zwar, sie fraß der Aar --

doch du bist gut und edel!

 

Christian Morgenstern

 

1

Er lief wie ferngesteuert durch die Menge. Seine Umgebung nahm er nicht bewusst wahr, beachtete das Städtlein aus Holz und Tuch nicht. Er wurde angerempelt, von Ellenbogen gestoßen, man trat ihm auf die Füße. Doch das war ihm gleichgültig.

Paul Flemming kämpfte sich über den Christkindlesmarkt, der jetzt, am frühen Abend, brechend voll war mit Touristen, aber auch Einheimischen, die nach einem Einkaufsbummel auf einen Glühwein ins Lichtermeer der Weihnachtsstadt eintauchten.

Das war es auch, was Paul begehrte: einen Glühwein, am besten einen mit Schuss. Denn er wollte sich betäuben, um die Verwirrung und die Angst zu lindern, die ihn in einen Klammergriff genommen hatten.

Ein Geruchswirrwarr aus Bratwurstdunst, Schaschlik und dem heißen Fett von Baggers umfing ihn. Aus einer Holzbude, die Mandeln und Lebkuchen verkaufte, strömte intensiver Zimtgeruch. Doch das, was er sonst angenehm fand und genoss, interessierte Paul nicht: Er strebte ohne Umwege den nächstgelegenen Glühweinstand an.

Wie nicht anders zu erwarten, fand er sein Ziel dicht umlagert vor. Die Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umgebung schlug in Gereiztheit um: Verdammt, fluchte er im Stillen, warum müssen mir all die Deppen im Weg stehen? Er empfand die Menschen um ihn herum als hektisch und lästig. Niemand würde seine Notlage erkennen und ihn vorlassen. Jeder achtete nur auf sich selbst. Wie viele Leute mochten heute hier sein? Er schätzte, dass der Hauptmarkt von mindestens zehntausend Männern, Frauen und Kindern bevölkert wurde. Waren diese Leute nicht alle wahnsinnig, sich diese Enge freiwillig anzutun? Er würde ewig warten müssen, bis er an seinen Punsch kam!

»Paul? Bist du das?«

Eine vertraute Stimme erklang ganz in seiner Nähe. Er drehte sich um und sah in das rotwangige Gesicht von Pfarrer Hannes Fink.

»Herrje!«, rief der Geistliche. »Du siehst fürchterlich aus! Das muss ja eine riesige Laus gewesen sein, die dir über die Leber gelaufen ist.«

Bei dieser besorgten Anrede wich Pauls rastlose Energie plötzlich einer tiefen Erschöpfung: Von Gefühlen übermannt warf er sich dem stattlichen Pfarrer an die Brust und drückte sich fest an ihn. »Ich bin erledigt«, keuchte er. »Fix und fertig. Ich brauche dringend was zu trinken!«

»Darauf kannst du hier lange warten«, sagte Fink. »Ist doch klar, dass um diese Uhrzeit die Hölle los ist, um es mal salopp zu sagen.« Er fasste Paul am Ärmel. »Komm mit zu mir ins Pfarrhaus. Ich kann dir zwar nur Bier und keinen Glühwein anbieten, aber dafür ein besonders süffiges. Du trinkst und sprichst dich bei mir aus.«

»Wolltest du denn nicht gerade wohin? Hast du überhaupt Zeit?«

»Für einen Mitmenschen in Not? Immer!«

 

2

»Was ist denn passiert?«, erkundigte sich Fink. Seine tiefe Brummstimme vermittelte wie stets Ruhe und Gelassenheit, doch seine Wimpern zuckten voller Ungeduld. »Erzähl schon!«, forderte er Paul auf.

Sie saßen im Bücherzimmer des Pfarrhauses von St. Sebald. Bücherzimmer deshalb, weil der quadratische Raum mit Bücherregalen bis an die Decke vollgestellt war und an den Wänden lediglich Platz für ein paar Dürer-Drucke ließ. In der Mitte des mit Holzdielen ausgelegten Raums stand ein rustikaler Eichentisch, an dem sie jetzt saßen und aus zwei vollgeschenkten Steingutkrügen Dunkles tranken.

»Ach«, ereiferte sich Paul, »es ist widerwärtig. Oder besser: schändlich. Auf jeden Fall fürchterlich! Jemand will mich fertigmachen, und zwar auf die übelste Art. So schlimm, wie du es dir nicht vorstellen kannst.«

Fink zupfte eine einzelne Tannennadel aus dem schlichten Adventskranz, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Es ärgert dich jemand? Wer und weshalb?«

»Keine Ahnung!«, rief Paul. Er setzte den Bierkrug an und leerte ihn zur Hälfte.

»Wenn ich dir Trost spenden soll, brauche ich schon ein bisschen mehr Information«, sagte der Pfarrer noch immer ruhig und besonnen, obwohl er durchaus zu merken schien, dass Paul kurz vorm Ausrasten stand.

»Aber ich weiß es doch nicht!« Paul rollte mit den Augen. »Gestern hat es angefangen. Ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung. Seitdem komme ich nicht mehr zur Ruhe.«

»Gestern?« Fink warf einen kurzen Blick auf einen Dreimonatskalender, der in einer Nische zwischen zwei der zum Platzen vollen Regale hing. »Am 1. Dezember?«

»Ja, ja«, sagte Paul hektisch. »Ich habe einen Brief bekommen. Dachte mir erst nichts dabei. Obwohl er keinen Absender trug. Das hätte mich ja schon misstrauisch machen müssen.«

»Hat es offensichtlich aber nicht. Und weiter? Hast du ihn geöffnet?«

»Ja, klar. War ja neugierig, wer mir schreibt. Dass man von E-Mails überschwemmt wird, ist ja mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Aber ein Brief – noch dazu von Hand geschrieben – hat Seltenheitswert.«

»Was stand denn drin? Und wer hat sich diese Mühe gemacht?«

»Wer sich die Mühe gegeben hat? Gute Frage! Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich konnte die Schrift nicht erkennen. Kann von jedem x-Beliebigen kommen. Andererseits aber auch nicht, denn der Schreiberling muss mich ziemlich gut kennen – zumindest meine Schwächen.« Paul blickte seinen Freund gequält an. »Der Brief war ein einziger Vorwurf gegen mich. Eine wüste Beschimpfung. Ich habe gedacht, ich gucke nicht richtig, als ich das alles las: starker Tobak! Kaum zu glauben, wie beleidigend man sein kann.«

»Ein Hassbrief also«, folgerte Fink mit seiner sonoren Stimme, wirkte nun aber selbst angespannt. »Wer schreibt dir so etwas?«

»Hörst du nicht zu? Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht weiß.« Paul schnaubte. »Ist auch besser so. Sonst würde ich diesem Kerl ordentlich eine verpassen!«

Fink löste seine prankenhafte Hand vom Krug und legte sie auf Pauls unruhig trippelnde Finger. »Das würdest du hoffentlich nicht. Du würdest das Gespräch mit ihm suchen und die Sache mit friedlichen Mitteln aus der Welt schaffen.« Er hob die Brauen, als er unvermittelt fragte: »Weißt du denn überhaupt, dass es sich bei dem Absender um einen Mann handelt? Sagtest du nicht, der Brief sei handschriftlich verfasst worden? Daran könntest du vielleicht schon erkennen, ob der Verfasser jung oder alt, männlich oder weiblich, gebildet oder weniger gebildet ist.«

»Wie das?«

»Ein Beispiel: Männer tendieren generell eher zum Kritzeln und Schmieren, während sich viele Frauen eine schöne Schrift bewahren.«

»Dann kennst du Katinkas Klaue nicht«, hielt Paul dagegen. »Und ich kann dir auf Anhieb noch mindestens fünf andere Frauen nennen, die eine miese Handschrift haben, inklusive meiner Mutter.«

»Wie dem auch sei.« Fink versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln. »Lass nicht so nah an dich heran, was in dem Brief steht. Betrachte es als einmalige Boshaftigkeit eines Menschen, der dir aus irgendwelchen Gründen eins auswischen wollte – was ihm ja auch gelungen ist.« Der Pfarrer stand auf. »Versuch es einfach zu vergessen!«, schlug er mit seiner raumfüllenden Stimme vor. »Ich hol uns noch ein Bier, wir plaudern über angenehmere Themen, und danach gehst du auf dem schnellsten Wege heim. Katinka wird sicher schon auf dich warten.«

»Einverstanden«, ließ sich Paul überreden. Doch bevor er nach Hause in seine neue Wohnung an der Kleinweidenmühle gehen würde, wollte er auf einen Sprung in seinem Atelier am Weinmarkt vorbeischauen, um dort nach dem Rechten zu sehen.

Das tat er eine knappe Stunde später auch. Als er über das von Eiskristallen glitzernde Kopfsteinpflaster schritt und in tiefen Zügen die kalte, klare Luft einatmete, hatte er den unliebsamen Brief beinahe vergessen. Pfarrer Fink war es gelungen, ihm den Gram und den Zorn auszutreiben. Wenigstens vorübergehend.

Erst als er vor dem Haus stand, in dessen oberster Etage sein Fotostudio lag, kam ihm das kränkende Schrei­ben wieder in den Sinn. Genau in jenem Moment, als er am Briefkasten im Hausflur vorbeikam und einen Umschlag aus dem Briefschlitz lugen sah.

Paul zog das eierschalenbraune Kuvert heraus, hielt es ins schummrige Licht der Deckenlampe. Sein Name und die Adresse standen in schwarzer Tinte auf dem Umschlag. Ein Absender war nicht vermerkt.

Noch ein anonymer Brief? Konnte das denn möglich sein? Es schien sich um dieselbe ordentliche Handschrift zu handeln wie beim letzten Mal. Nun sah er sich die Briefmarke näher an, versuchte den Poststempel zu deuten. Doch der war kaum leserlich und enthielt nur ein paar Zahlen, die ihm nichts sagten.

Mit pochendem Herzen riss Paul das Kuvert auf. Er förderte ein eng beschriebenes Blatt Papier zutage, überflog die Zeilen.

Wie der erste Brief begann auch dieser mit Vorwürfen und übelsten Beleidigungen. Paul musste sich als »Lügner« und »Verräter«, »gemeines Macho-Schwein« und »hinterhältiger Hund« beschimpfen lassen. »Du bist die Ausgeburt der Bosheit, ein Ich-fixierter Unmensch«, hieß es in dem Schreiben.

Dann aber folgte ein radikaler Schwenk zur Sachlichkeit. Der Absender stellte kurz und präzise dar, dass er es keineswegs bei Briefen dieser Art belassen werde, sondern Paul auch auf anderem Wege schaden wollte.

Pauls Hände zitterten vor Aufregung und Wut so sehr, dass er die folgenden Zeilen kaum lesen konnte. Sein Zittern hatte noch eine weitere Folge: Aus dem Umschlag, den er in der linken Hand hielt, löste sich ein weiterer Bestandteil des Inhalts. Er fiel sanft zu Boden und landete fast lautlos auf den alten, gesprungenen Mosaikfliesen.

Als sich Paul danach bückte, schien ihm das Blut in den Adern zu gefrieren. Fassungslos starrte er auf das mit Tesafilm verklebte Büschel in seinen Händen.

 

3

»Katinka? Katinka, bist du zu Hause?«, schrie Paul, kaum dass er die Wohnung betreten hatte. Zu mehr Worten war er nicht fähig, denn er rang nach Luft. Seine Lunge stach, weil er die Strecke bis zur Kleinweidenmühle trotz Minustemperaturen gerannt war.

»Was ist denn los?« Seine Frau räkelte sich in einem Ledersessel, dessen Rückenlehne weit zurückgefahren war. Ihre nackten Füße ruhten auf einem Hocker ganz nahe am prasselnden Kaminfeuer, auf ihrem Schoß lag ihr i-Phone samt Kopfhörern. Das Wohnzimmer war, abgesehen vom goldgelben Funkeln aus dem Kamin, unbeleuchtet. Durch die deckenhohen Fenster bot sich ein romantischer Blick über den kleinen Garten bis zur Pegnitz.

Paul durchmaß den Raum mit wenigen großen Schritten. Grob knipste er eine Leselampe an und breitete den neuen Brief auf Katinkas Beinen aus.

»Schau dir das an! Ich habe schon wieder einen bekommen!«, rief er um Fassung ringend.

Katinka setzte sich auf, strich sich ein paar blonde Strähnen aus der Stirn, sah zunächst Paul skeptisch an und dann den Brief. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dich da nicht reinsteigern sollst. Ein Kollege von mir, ein Richter am OLG, hat schon weitaus Schlimmeres bekommen. Man muss über solchen Sachen stehen und sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, wenn …«

»Dieser Typ droht mir!«, unterbrach Paul. »Es geht nicht länger um einen dummen Scherz oder bloße Belästigung. Nein, Kati, dieser Anonymus meint es ernst!«

Katinka musterte Paul und forschte in seinen Augen. »Du bist ja völlig aufgelöst. Erzähl schon, was drin steht!«

Paul deutete auf den letzten Absatz des Briefes. »Lies selbst. Du wirst es sonst nicht glauben.«

Abermals musterte Katinka ihn. Dann angelte sie sich ihre Lesebrille von einem Beistelltischchen und widmete sich dem seltsamen Schreiben:

 

»… und da ich dich kenne, vor allem deinen starken Hang zum Zweifeln und Hinterfragen, habe ich beschlossen, meinen Worten Nachdruck zu verleihen, indem ich Fakten schaffe. In der langen Zeit, die mir zur Verfügung stand, um über meine Rache an dir nachzusinnen, habe ich diverse Möglichkeiten durchgespielt. Zunächst liebäugelte ich mit materiellen Schäden: Ich wollte Dinge, die dir wichtig sind, zerstören. Doch ich habe mich schnell wieder von diesem Gedanken verabschiedet, denn du bist kein materieller Mensch. Also suchte ich nach für dich schmerzhafteren Alternativen. Nach etwas Lebendigem vielleicht? Ein Haustier? Hund, Katze, Wellensittich? Aber jeder weiß: Paul Flemming besitzt kein Haustier. Denn das würde ja deine heilige Freiheit gefährden. Um ein Haustier müsstest du dich kümmern. Du müsstest es füttern, pflegen, müsstest Zeit opfern und Zuwendung spenden. Nein! Das würde dich viel zu sehr einschränken! Für dich wäre schon eine Zimmerpflanze ein Grund, um die eigene Souveränität zu fürchten. Umso mehr wundert es mich, dass du dich an diese Staatsanwältin gebunden hast. Ich kann mir das nur so erklären, dass sie als Karrierefrau jede Menge um die Ohren hat. Sie hat de facto keine Zeit für dich, sodass du dir trotz des Eherings um deinen Finger deine Freiräume bewahren kannst. Hand aufs Herz, Paul: Du hast sie wegen der Kohle vor den Altar gezerrt, stimmt’s? Sie zahlt die Miete für dein Atelier und für eure schicke neue Wohnung sowieso, sodass du in aller Seelenruhe weiter deinen Müßiggang pflegen und nebenbei das ein oder andere Model vernaschen kannst.«

 

Katinka blickte auf und sah Paul mit großen Augen an. »Was soll dieser Quatsch? Warum muss ich das lesen?«

»Weiter!«, beharrte Paul. »Lies weiter!«

Katinka verzog die Nase, vertiefte sich dann aber wieder in das Geschreibsel:

 

»Eine Weile habe ich deine Staatsanwältin in Betracht gezogen. An ihr hätte ich gern meine Wut auf dich abreagiert und dann zugesehen, wie du um sie trauerst. Doch dann dachte ich mir, dass ich dir eventuell nur einen Gefallen tue, wenn ich sie dir vom Hals schaffe. Mal abgesehen davon, dass man schwer an sie herankommt. Sie hält sich ja meistens in der Nähe von Richtern, Anwälten und Polizisten auf.«

 

Wieder sah Katinka auf. »Das ist die Höhe! Allmählich verstehe ich, warum du so sauer bist.«

Paul nickte ihr verhuscht zu und lenkte ihren Blick zurück aufs Papier.

 

»Ich habe weiter gesucht nach einer Person, die dir nahe steht, aber nicht zu nahe. Eine Person, der gegenüber du ein gewisses Verantwortungsgefühl entwickelt hast. Jemand, für den du im Fall des Falles eintreten würdest. Wer blieb mir dafür übrig? Deine Eltern Hertha und Herrmann? Zu alt und klapprig. Die hätten mein Vorhaben nicht lange genug überlebt. Hannah, dein Stieftöchterchen? Ja, sie wäre eine Option gewesen. Aber ich habe eine noch bessere Alternative gefunden. Du wirst ganz meiner Meinung sein: Sie lohnt jede Anstrengung! Es wird mir ein Vergnügen sein, dich mit ihrem unausweichlichen Ende auf die Folter zu spannen.«

 

»Was, um Himmels willen, soll dieser Blödsinn?« Ka­tinka wirkte verwirrt.

Statt die Antwort auszusprechen, hielt ihr Paul das mit Tesafilm fixierte Büschel entgegen: eine fingerdicke Haarsträhne, etwa fünf Zentimeter lang.