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ABOUD SAEED
LEBENSGROSSER NEWSTICKER

Szenen aus der Erinnerung

Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

ePub-Erstellung/Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: pixaby.com

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-21-5

Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde mit
Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom –
Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus
Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2015, Berlin

Aboud Saeed

Lebensgroßer Newsticker
Szenen aus der Erinnerung

Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

Die Zaubercreme

Zum ersten Mal hörte ich von der „Nacht der Bestimmung“ [1] durch meinen Freund, den Dieb Malek. Malek schaffte es wirklich, alles zu stehlen, sogar Träume. Mit durchgewetzten Schuhen ging er in die Moschee, mit nagelneuen kam er wieder heraus. Er war es, der die Fuß- und Basketbälle aus der Sporthalle unserer Schule klaute. Und manchmal klaute er eine Sache nur deshalb, um sie dann woanders kaputt zu machen.

In einer Winternacht saßen Malek und ich beisammen, als er mich fragte: „Wenn die Nacht der Bestimmung käme, ... was würdest du dir wünschen?“

Ich antwortete ihm: „Ich hab mal in einer Tom-und-Jerry-Folge gesehen, dass Tom eine Creme hatte, mit der er sich so lange einrieb, bis er unsichtbar wurde. Ich hätte gerne ganz viel von dieser Creme. Dann bräuchte ich keine Kleider mehr. Ich könnte ohne Eintrittskarte ins Kino gehen, ich könnte Passantinnen unter den Rock gucken oder an Demos teilnehmen. Wenn es regnet, bräuchte ich keinen Regenschirm, sondern ich würde einfach unter den Schirm jedes dahergelaufenen Idioten schlüpfen. Außerdem wünsche ich mir, dass die Schule geschlossen wird. Und ich möchte mal Cognac probieren. Und ich wünsche mir, dass der Weihnachtsmann mit diesem Blödsinn aufhört.“

Malek erwiderte: „Man darf man sich in der Nacht der Bestimmung aber nur drei Sachen wünschen.“

Malek brach die Schule ab und wanderte nach Saudi-Arabien aus. Einmal begegnete ich ihm zufällig auf der Straße. Er trug eine knielange Gallabija [2] und einen langen Vollbart. Er blieb nicht stehen, um mir die Hand zu schütteln. Auch grüßte er mich nicht. Als sich unsere Blicke kreuzten, begnügte er sich mit einem Lächeln. Dann ging er weiter.


1 Die Nacht der Bestimmung, beziehungsweise die Nacht der Allmacht (Lailat al Qadr), ist im Islam die Nacht im Monat Ramadan, in der der Koran gemäß islamischem Glauben erstmals offenbart wurde. Es wird geglaubt, dass empfängliche Menschen in der Nacht der Bestimmung Visionen bekommen und dass Wünsche in Erfüllung gehen. Außerdem zählt das Gebet in dieser Nacht besonders stark.

2 Die Gallabija ist ein traditioneller Umhang oder ein Gewand, das Männer in vielen arabischen Ländern und in Syrien vor allem in ländlichen Gegenden tragen.

Wie der Stahl gehärtet wurde

Die Länge des Autokorsos bei der Hochzeit gibt in meiner Stadt über die gesellschaftliche Stellung einer Person Auskunft. Je mehr Autos, desto höher der Wert eines Bräutigams. Außerdem geht der Mann in meiner Stadt immer drei Schritte vor der Frau.

Als ich auf der Mittelschule war, nahm ich an einem schulexternen Englischkurs teil.

Die Englischlehrerin war blond und trug Hosen, eine heikle Sache in meiner Stadt.

Ich fing an, mich täglich zu duschen und mir von meinen Freunden Kleider und Schuhe auszuleihen, um immer in einem neuen Outfit zu erscheinen. Manchmal nahm ich ein x-beliebiges Buch aus unserer Hausbibliothek mit, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Einmal bemerkte sie, dass ich den Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ dabei hatte. Sie wusste, dass meine Familie in der Metallbearbeitung tätig war. Sie sagte: „Toll, Aboud. Schön, wie du dich zuerst wissenschaftlich mit den Grundlagen des Handwerks befasst.“

Jetzt bin ich erwachsen, habe ein Facebookprofil und kann überall dabei sein, zumindest virtuell. Sogar Webseiten besuchen, die das Aufhören von Ehrenmorden fordern – ohne dass meine Stadt auch nur irgendetwas davon erfährt! Und obwohl die Lehrerin noch nie etwas von „Wie der Stahl gehärtet wurde“ gehört hatte, war ihr Autokorso sehr, sehr lang.

Gruben

Als ich klein war, lief ich draußen immer barfuß und ohne Hose herum. Mein Lieblingsspiel war das Graben. Ich grub mit meinen nackten Händen viele winzige Gruben. Mein „Freund“, der Nachbarjunge, den ich nicht ausstehen konnte, weil er gut roch, hübsch und gut angezogen war, sagte zu Katzen immer „Cat!“. Jedes Mal, wenn er eine sah, lächelte er dämlich und die blanke Freude übermannte ihn. Er war sehr dumm. Er interessierte sich nicht für Gruben. Alles, was er darüber wusste, war dieser eine Satz, den jeder Depp kennt: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“

Ich hingegen wurde von Gruben förmlich heimgesucht. Das Grüßen ist eine Grube, Gedichte zu schreiben ist eine Grube, Nachrichten anzusehen ist eine Grube. Der Schlaf ist eine vorübergehende Grube, Freunde sind verstreute Gruben. Zwischen deinen Schenkeln, meine Dame, ist eine glühende Grube. Die Heimat ist eine enge Grube, die Liebe eine tiefe Grube.

Jetzt, wo ich groß bin und zwei Hände aus Eisen habe, ist ein Unwetter gekommen. Und all diese Gruben sind überschwemmt.

Zigarettenlos

Als ich mit dem Rauchen anfing, stahl ich die Eier unter den Hühnern weg, um sie gegen Zigaretten einzutauschen.

Und jedes Mal, wenn meine Zigaretten aufgebraucht sind, frage ich mich: „Wie viele Menschen auf dieser Erde rauchen wohl jetzt gerade in diesem Augenblick?“ Und dann verfluche ich sie alle. Ich hasse jeden einzelnen, der im Besitz einer Schachtel Zigaretten ist, und wünsche ihm, dass er zu Asche zerfällt.

Ich hasse den Fettwanst, der mich nach Kleingeld fragt, und hoffe, er stirbt durch einen Herzstillstand.

Ich hasse alle schönen Frauen: Jennifer Lopez, Maria Sharapova, Maya Diab und Cameron Diaz. Ich wünsche ihnen, dass sie ein Leben lang barfuß gehen müssen. Ich hasse diejenigen, die in Fünf-Sterne-Hotels und -Restaurants sitzen und sich über Menschenrechte unterhalten. Ich hasse die Frau, bei der ich im Bett versagt habe, und ich wünsche ihr, dass sie einen Mann ohne Penis heiraten wird. Ich hasse all jene, die mich durchschaut haben und meine Fehler kennen – ich wünschte, eine Flut würde sie alle dahinraffen. Ich hasse alles Schöne: Ich hasse die Nacht, ich hasse Bikinis, Wodka, Jazz und Hassan Blasim [3]. Wie wünschte ich doch, es gäbe ihn einfach nicht. Ich hasse mein schwaches dummes Herz, das mich manchmal im Stich lässt.


3 Hassan Blasim (geboren 1971) ist ein irakischer Regisseur und Schriftsteller.

Eselpimmel

Ich erinnere mich, wie ich in Müllhalden nach weggeworfenen Wassermelonenschalen suchte und das restliche Fruchtfleisch daran abknabberte. Ich erinnere mich, wie ich dann mit klebrigen, schwarzen Händen in die Schule ging. Wenn meine Lehrerin mir zur Strafe mit dem Stock auf die Finger schlug, sah sie erst auf meine dreckigen Hände und sagte dann: „Du Ekel.“ Ich erinnere mich, wie ich einmal den Penis eines Esels packte und versuchte, ihn auszureißen. Ich schaffte es nicht. Ich erinnere mich, wie ich mich einmal über den Fahnengruß und die Hose meines Lehrers lustig machte. Ich erinnere mich, wie ich Stufen in die Schulmauer gehackt habe, um hinüberklettern und abhauen zu können. Ich liebte Sheikh Imam [4] und die Waden meiner Nachbarin, wenn sie die Treppe putzte. Als ich auf die Uni kam, entdeckte ich das Croissant. Ich entdeckte auch, dass die meisten Menschen ihren Geburtstag feiern.

Heute feiere ich, in einem bescheidenen Zimmer, in Begleitung einer Schachtel Zigaretten und eines Glases billigen Wodkas meinen Geburtstag wie ein fleißiger partygeübter Mensch.


4 Sheikh Imam (1918–1995) war ein berühmter ägyptischer Komponist und Sänger. Fast sein gesamtes Leben lang bildete er mit dem bekannten ägyptischen Dichter Ahmed Fuad Negm ein Duo. Gemeinsam waren sie bekannt für ihre politischen Lieder, die sich für die Armen und die Arbeiterklasse einsetzten.

Bankimoon

Ich habe den Weihnachtsmann und seine roten Kleider immer gehasst. Einmal nannte ich ihn einen Scharlatan und Schwindler. Wen ich stattdessen mochte, war der Geist aus der Öllampe. Ich stellte mir immer vor, dass er aus unserer Teekanne kommen würde. Ich wollte mir keine Süßigkeiten von ihm wünschen. Auch keine Geschenke oder neue Festtagskleider. Ich hatte mir ein paar Fragen aufgehoben, auf die ich schon seit meiner Kindheit Antworten suchte. Zum Beispiel:

Was treiben Tom und Jerry eigentlich hinter den Kulissen? Haben sie Sex?

Hören Tyrannen Musik? Stehen sie auf Gedichte von Mahmoud Darwisch?

Scheißt Haifa Wehbe [5] auch manchmal, so wie wir?

Warum wandern Haarläuse eigentlich nicht vom Kopfhaar rüber ins Barthaar oder runter in die Schambehaarung?

Wann wird Ban Ki-moon endlich aufhören, sich zutiefst besorgt zu fühlen? Oder wird er sein ganzes Leben lang in diesem Zustand bleiben?

Besorgt ... besorgt ... besorgt ... besorgt ... Ich bin zutiefst besorgt über die verschärfte Lage in ...

Plötzlich erschien mir der Geist. Als ich ihn etwas fragte, begann er zu stottern, dann schlüpfte er mit einem Satz zurück in die Lampe, seinen dünnen Rest hinter sich herziehend.


5 Haifa Wehbe (geboren 1976) ist eine libanesische Popsängerin und Schauspielerin. Sie ist besonders bekannt für ihr stark sexualisiertes Auftreten.

Ying Yang

Wenn ich früher aus dem Haus ging, sagte ich niemandem Bescheid, und wenn ich wieder heimkehrte, beispielsweise von der Schule, grüßte ich niemanden. Bei uns zu Hause grüßen wir einander nicht, außer an den Festtagen.

An meinem Geburtstag habe ich noch nie eine Kerze ausgeblasen und ich habe noch nie einen Liebesbrief geschrieben. Ich habe noch nie eine Rose in der Hand gehalten. Im Frühling pflegten die anderen Schüler der Lehrerin oft Blumensträuße mitzubringen. Ich dagegen schenkte ihr ein Bildchen von einem Totenkopf mit zwei übereinander gekreuzten Knochen.

Im Zeichenunterricht wollte die Lehrerin, dass jeder eine Sache zeichnet, die er liebt. Da habe ich ihren Hintern in Form eines Ying-und-Yang-Symbols gezeichnet.

Regen

Ich liebte Arnold Schwarzenegger und Actionfilme. Ich träumte immer davon, Terminator zu sein – mit einem stählernen, mit organischem Gewebe überzogenen Penis. Wenn ich alleine auf der Terrasse saß, steckte ich mir manchmal einen Stift oder ein Stöckchen in den Mund und stellte mir vor, ich würde rauchen. Ich steigerte mich so sehr in diese Vorstellung hinein, dass ich dann manchmal in meiner Hosentasche nach einem Feuerzeug suchte. Und wenn ich im Auto mitfuhr, lehnte ich mich mit dem Ellbogen aus dem Fenster. Und wenn ich eine unglaubwürdige Ausrede für etwas fand, kratzte ich mich am Kopf.

Ich ging nicht ran, wenn das Telefon klingelte oder jemand an die Tür klopfte, und verfluchte den Himmel jedes Mal, wenn es regnete. Es regnete bei uns in die Zimmer und wir stellten Töpfe unter die Risse in der Zimmerdecke auf. Wenn es richtig schüttete, füllte der Regen alle Töpfe in unserem Haushalt, sodass meine Mutter dann zu den Nachbarn ging, um sich einen Kochtopf auszuleihen. Manchmal regnete es aber auch so stark, dass es im ganzen Viertel nicht genügend Gefäße gab, um all die Tropfen aufzufangen.

Keiner spielt mit mir

Im Badezimmer entkleidet der Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch die Wahrheit.

Ich mochte unser Badezimmer nie, trotz seiner Bescheidenheit – es bestand aus Wasserhahn und Abflussloch. Ich floh vor dem Anblick meines Körpers, vor den Haaren, die mir in üppigen Mengen ausfielen, ich floh vor der Wahrheit.

Was ihr nicht wisst: Jene Frau, die Beduinenkleider trägt und mitten im Gedränge auf dem Gehweg sitzt und ihren Sohn stillt, das ist meine Mutter. Jener Bauer, der eine Kufija und eine Gallabija trägt, der einmal in einen Musikladen ging, um eine Kassette zu kaufen, und den Besitzer nach einer Live-Aufnahme von Samih Choukeirs [6] Konzert „Eure Kehlen“ gefragt hat, das ist mein Vater. Und der junge Mann, der in öl-und rußbeschmierten, mit Metallspänen eingestaubten, billigen Schuhen auf die Hochzeitsfeier geht, das ist mein Bruder. Die Bücher, die wir im Bulgur-Topf verbrannt haben, sind meine Bücher. Die bescheidene Tür, über der eine schwache Lampe hängt, die fast schon erloschen ist, ist unsere Haustür. Und die Wahrheit ist, dass die Eltern meiner Freunde ihren Kindern verboten haben, mit mir zu spielen, weil ich ein schlechter Junge bin.


6 Samih Choukeir (geboren 1957) ist ein syrischer Musiker, Sänger und Komponist. Er war der erste etablierte syrische Künstler, der nach Ausbruch des Volksaufstands 2011 in seiner Musik eine klare Position zugunsten der Revolution einnahm und infolge dessen ins Exil gehen musste.