Cover
   Helge Stadelmann/Thomas Richter– Bibelauslegun praktisch– In zehn Schritten den Text verstehen– SCM R.Brockhaus

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

TEIL 1
EINFÜHRUNG IN DIE SCHRIFT- UND TEXTGEMÄSSE AUSLEGUNG DER BIBEL

Die Bibel schrift- und textgemäß auslegen

Gottes Reden ernst nehmen

Was bedeutet der Text ursprünglich?

Was bedeutet der Text für die Gegenwart und Zukunft?

Voraussetzungen für eine schrift- und textgemäße Auslegung der Bibel

Auslegung und Anwendung der Bibel im Überblick

TEIL 2
ZEHN SCHRITTE ZU EINER SCHRIFT- UND TEXTGEMÄSSEN AUSLEGUNG DER BIBEL

Einführung in die 10-Schritt-Methode

Die 10-Schritt-Methode im Überblick

Der Überblick: Lesen, was da steht
Den »Schatzplan« studieren –
»Stolpersteine« markieren

Schritt 1: Mit dem Text vertraut werden

(1) Die Texteinheit mehrmals in Übersetzungen lesen

(2) Den Gedankengang der Texteinheit aufnehmen

a) Die Frage nach dem Hauptgedanken

b) Die Frage nach dem roten Faden

(3) Die »Stolpersteine« markieren

Der Einblick: Merken, worum es geht
Die »Schatzsuche« beginnen –
»Stolpersteine« wegräumen

Schritt 2: Die Textbasis feststellen

(1) Einen Übersetzungsvergleich der Texteinheit durchführen

a) Das Problem der Textvarianten

b) Das Problem der Übersetzungsweisen

c) Weitere Textprobleme

(2) Die Textbasis für die Auslegung festlegen

Schritt 3: Die ursprüngliche Kommunikationssituation klären

(1) Die literarische Abfassungssituation der Texteinheit betrachten

a) Wer ist der Verfasser der Texteinheit?

b) Wo wurde die Texteinheit verfasst?

c) Wann wurde die Texteinheit verfasst?

d) Für wen wurde die Texteinheit verfasst?

e) Aus welchem Anlass und mit welchem Ziel wurde die Texteinheit verfasst?

(2) Die geschichtlich-kulturelle Abfassungssituation der Texteinheit betrachten

(3) Die geographische Abfassungssituation der Texteinheit betrachten

Schritt 4: Den Zusammenhang der Texteinheit erfassen

(1) Die Einbettung der Texteinheit im Buchkontext feststellen

(2) Die Funktion der Texteinheit im Abschnittskontext ermitteln

(3) Die Abgrenzung der Texteinheit vornehmen

(4) Die parallelen Texte zur Texteinheit beachten

(5) Die Harmonisierung der Texteinheit im Schriftkontext erwägen

Schritt 5: Die Textart der Texteinheit untersuchen

(1) Die Literaturgattung der Texteinheit bestimmen

a) Alttestamentliche Literaturgattungen

b) Neutestamentliche Literaturgattungen

(2) Die Literaturformen der Texteinheit bestimmen

a) Alttestamentliche Literaturformen

b) Neutestamentliche Literaturformen

(3) Die Stilfiguren der Texteinheit auflösen

Schritt 6: Die Begriffe und ihre Verbindung in der Texteinheit erkennen

(1) Die Wörter der Texteinheit wägen

(2) Die Sätze der Texteinheit analysieren

Schritt 7: Den Gedankengang der Texteinheit entfalten

(1) Das Textschaubild anfertigen

(2) Die Struktur der Texteinheit entfalten

Schritt 8: Die Probleme der Texteinheit lösen

(1) Die gesamtbiblisch-theologische Betrachtung

(2) Die systematisch-theologische Betrachtung

Der Ausblick: Sagen, wo es hingeht
Den »Schatz« heben –
»Stolpersteine« werden zu Bausteinen

Schritt 9: Die Aussage der Texteinheit präzise zusammenfassen

(1) Das Textthema formulieren

(2) Die Textgliederung erstellen

Schritt 10: Sich der Bedeutung der Texteinheit für heute stellen

(1) Den eigenen heilsgeschichtlichen Standort vergegenwärtigen

(2) Den heilsgeschichtlichen Standort der Texteinheit wahrnehmen

(3) Die Texteinheit vor dem Hintergrund der fortschreitenden Offenbarung einordnen

(4) Die heilsgeschichtlich relevante Anwendung für die Gegenwart entdecken

(5) Die Anwendung der Texteinheit vornehmen

Hinweise zur schriftlichen Ausarbeitung einer schrift- und textgemäßen Exegese mit Hilfe der 10-Schritt-Methode

Anhang:

Zeitbedarf für die praktische Bibelauslegung nach der 10-Schritt-Methode

Überblick über wichtige Hilfsmittel für die praktische Bibelauslegung mit Hilfe der 10-Schritt-Methode

Ergänzende Literaturhinweise

VORWORT

Auto fahren ist eine verantwortungsvolle Sache. Da kann viel passieren. Und Auto fahren lernen ist nicht leicht. Erinnern wir uns an unsere erste Fahrstunde: Einsteigen, die richtige Sitz- und Spiegelposition finden, Kupplung drücken, Gang einlegen, vorsichtig Gas geben, Kupplung kommen lassen und die Handbremse lösen – und, o weh, schon wieder ist der Motor abgewürgt! Und dann, ein paar Fahrstunden später, das Ganze nochmals rückwärts beim Einparken am Berg … Da möchte mancher verzweifeln, sich den ganzen Frust sparen. Aber eben: Auto fahren macht auch Spaß, wenn man es kann. Es hilft ungemein im praktischen Leben. Nur, weil es so eine verantwortungsvolle Sache ist, geht es eben nicht ohne Lernschritte. Deshalb heißt es üben, üben, üben.

Bibel auslegen ist eine verantwortungsvolle Sache. Da kann viel passieren. Da kann Gottes Wort verdreht oder verwässert werden, ganze Gemeinden in eine falsche Richtung gewiesen werden. Und es kann passieren, dass im Hauskreis, bei der Jugendstunden-andacht oder bei der Predigt dann zwar »Bibelarbeit« bzw. »Auslegung der Heiligen Schrift« draufsteht, aber nur subjektive Einfälle und persönliche Meinungen des »Auslegers« drin sind! Wenn die Aussagen der Bibel das Fundament für die entscheidenden Situationen des Lebens sind (Mt 7,24ff), wenn vom richtigen oder falschen Umgang mit der Heiligen Schrift ganz wesentlich Gottes Urteil über mein Leben abhängt (2Ptr 3,16), dann lohnt es sich zu lernen, die Bibel sachgemäß auszulegen. Nur, Bibel auslegen ist nicht leicht. Die Bibel gibt es nicht in leicht löslicher Form: Einfach Wasser zugeben und umrühren genügt nicht. Um an die Schätze biblischer – und damit göttlicher – Aussagen und Zusagen zu kommen, lohnt es sich, »graben« zu lernen. Das ist wie in der Fahrschule: Anfangs wirkt alles etwas mühsam. Die einzelnen Auslegungsschritte wirken kompliziert. Man möchte sich das Üben sparen, sucht den schnellen Weg zum einfachen Ergebnis. Wer hier die Abkürzung nimmt, wird wohl immer flach in seinem Bibelverständnis bleiben. Und möglicherweise wird er mit falschen Ergebnissen sich und andere gefährden.

Gründlich die Bibel auszulegen lohnt sich. Geistliches Wachstum kommt nicht durch emotionale Stimmungsmache. Geistliches Wachstum, ganz persönlich wie auch für die Gemeinde, kommt durch Gottes Wort. Da gibt Gott uns Einblicke in seine Gedanken, Gaben und Gebote. Da deckt er uns den Tisch, damit es zu geistlich gesunder Ernährung kommt. Am ausgelegten Wort Gottes entsteht der Glaube – und alles, was Gott schenkt, kommt nur durch den Glauben. Durch das recht ausgelegte Wort wirkt der Heilige Geist, der dieses Wort einmal inspiriert hat. Und wo das Wort Gottes verdreht oder vernachlässigt wird, wird der Heilige Geist betrübt. Es lohnt sich, die Bibel zutreffend auslegen zu lernen.

Das vorliegende Buch will eine kleine Schule der Bibelauslegung sein. Die 10-Schritt-Methode ist eine Seh-Schule, die bei der Bibelauslegung Sehen lehrt, was der Text tatsächlich sagt. Wer diese Schritte immer wieder geht, hat am Ende das Sehen beim Bibellesen gelernt. Geübte Bibelleser entwickeln einen Blick für das, was da steht. Wer oft genug geübt hat, braucht gar nicht mehr sehr lang, um einen Bibeltext zutreffend auszulegen. Dahin zu kommen lohnt sich – für das eigene Bibelstudium und für die Vorbereitung zur Bibelarbeit mit anderen.

Das Buch ist allgemein verständlich geschrieben. Es ist als persönliches Lernmittel geeignet, aber auch für Bibelschulen und Seminare. Selbst der Theologiestudent wird Gewinn davon haben, wenn er die ersten Schritte der Schriftauslegung am gewohnten deutschen Text üben kann, bevor er später mühsame exegetische Methodenschritte am griechischen und hebräischen Text lernt. So mancher Praktiker bzw. Prediger hat überdies die gute Gewohnheit wieder vergessen, dass man einen Text durch gründliches Graben nach dem Sinn erst im Einzelnen für sich erarbeitet haben sollte, bevor man ihn anderen weitergibt. Da kann dieses Buch helfen, die Erinnerungen an exegetische Fertigkeiten wiederzu-beleben. Die Gemeinde, der das zugute kommt, würde es ihm danken!

So wünschen wir uns Leser, die Freude an der Bibelarbeit haben. Jeder Abschnitt der 10-Schritt-Methode wird mit praktischen Aufgaben abgeschlossen. Die Lösungen dazu können über die Verlagsinformationen zu diesem Buch unter www.scm-brockhaus.de eingesehen werden.

Gießen/Waiblingen-Hegnach,
im August 2005

Dr. Helge Stadelmann
Freie Theologische Akademie
Gießen
Thomas Richter
Bibel-Seminar
Königsfeld

TEIL 1

EINFÜHRUNG IN DIE SCHRIFT- UND TEXTGEMÄSSE AUSLEGUNG DER BIBEL

Die Frage, wie man die Bibel angemessenen und richtig verstehen kann, ist so alt wie die Bibel selbst. Wie legen wir die Bibel aus, wie verstehen wir sie, wie können andere sie verstehen (z. B. Apg 8,30)? Ausgehend von diesen Fragestellungen wollen wir im Folgenden einen Weg zu einer der Bibel angemessenen Auslegung aufzeigen, damit wir das Wort Gottes schrift- und textgemäß verstehen können. Schriftgemäß heißt dabei: Meine Auslegung stimmt insgesamt lehrmäßig mit der Heiligen Schrift überein. Textgemäß heißt: Meine Auslegung gibt erklärend genau das wieder, was der vorliegende Bibeltext sagt – nicht mehr und nicht weniger. Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn es kann vorkommen, dass die vermeintliche Auslegung einer Bibelstelle zwar schriftgemäß ist, weil die Aussage mit der Lehre der Bibel übereinstimmt, dass sie aber nicht textgemäß ist, weil das, was der Ausleger an biblischen Gedanken in den Text hineinliest, eben nicht in der vorliegenden Bibelstelle steht. Auch so manche fromme Predigt ist zwar in einem allgemeinen Sinn schriftgemäß, aber nicht textgemäß.

Die Bibel schrift- und textgemäß auslegen

Die Bibel wurde als niedergelegtes Wort Gottes in menschlichen Sprachen und konkreten Geschichtszusammenhängen verfasst. Weil sie von Gott stammt, ist sie Offenbarungswort mit unein-schränkbarem Wahrheitsanspruch. Weil Gott durch sein Wort Glauben und Heil wirkt, hat die Bibel lebensverändernden Macht-charakter. Weil Gott sein Wort in menschlicher Sprache und in geschichtlichen Situationen gegeben hat, muss jede Auslegung der Bibel ihren geschichtlichen und literarischen Charakter berücksichtigen. Und weil Gott in menschlicher Sprache seine Wahrheit offenbart hat, muss jede sachgemäße Auslegung theologische Auslegung sein.1

Gottes Reden ernst nehmen

Die Bibel ist ein literarisches Werk. Daher erfordert ihr Verständnis exakte grammatisch-sprachliche Methoden. Als ein in geschichtliche Situationen hinein geschriebenes Buch, das zugleich viel von geschichtlichen Vorgängen berichtet, ruft sie nach historischen Arbeitsmethoden. Als Buch, das vom Einbruch der Offenbarungswirklichkeit Gottes in diese Welt berichtet und dabei beansprucht wahres Wort Gottes zu sein, verlangt die Bibel vom Ausleger Offenheit für die Realität Gottes. Und wenn der Ausleger es mit dem lebendigen Gott und seinem Reden zu tun bekommt, ist die angemessene Haltung, dass er seine selbstherrliche menschliche Vernunft in demütigem Gehorsam unter dieses Wort beugt. Schließlich ruft der Anspruch, dass Gott durch die Bibel lebensverändernd wirken will, den Ausleger zu der Bereitschaft auf, sich dem Wort existenziell zu stellen und alle Arbeit an diesem Wort unter Gebet und in gehorsamer Hörbereitschaft zu tun.

Wer alle diese Punkte bejaht, spricht sich damit für angemessene Methoden bei der Auslegung der Bibel aus. Man könnte aber fragen: Ist all dieses Reden von Methoden nicht etwas, was nur den theologischen Fachmann angeht, wenn er sich »berufsmäßig« mit der Bibel beschäftigt? Kann der einfache Christ, dem die Bibel doch auch gegeben ist, das alles überhaupt leisten? Was hat er schon von literarischen, historischen und theologischen Methoden gehört? Ist für ihn nicht ein unmittelbarer, nicht an Regeln gebundener Umgang mit der Bibel zu fordern?

Wir wollen dazu grundsätzlich Folgendes bemerken: Der Umgang mit der Bibel darf nie der Willkür preisgegeben werden, weder der kritizistischen Willkür einer selbstherrlichen Vernunft noch der erbaulichen einer frommen Phantasie. Dem einfachen Christen, der die Bibel in einer deutschen Übersetzung liest, ist im Grunde die gleiche Aufgabe gestellt wie dem Ausleger, der mit dem Grundtext und entsprechenden Nachschlagewerken arbeitet. Jeweils geht es darum, dass die Bibel in ihrem Wortlaut und Zusammenhang verstanden und angenommen wird. Der von Gott offenbarte Wortlaut gilt für beide, und das durchaus anstrengende »Sinnen über dem Wort« (Ps 1,2) ist von beiden gefordert. So mag es verschiedene Ebenen hinsichtlich der Detailliertheit der Auslegungsarbeit geben, aber grundsätzlich ist jeder Leser und Ausleger der Bibel an den Wortlaut der Texteinheit gewiesen, den es im Zusammenhang in seiner eigentlichen Bedeutung zu verstehen gilt. Gerade der Glaube an die wörtliche Inspiration und göttliche Autorität der Bibel gebietet respektvolle Genauigkeit im Umgang mit ihrem Wortlaut.

Methoden stellen jeweils konkrete Einzelschritte auf dem Weg zu einer Sache dar; so auch die 10-Schritt-Methode. Sie können aber nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn Klarheit über das Ziel dieses Weges herrscht. Von daher ist es für eine sinnvolle Auslegungsmethodik von großer Bedeutung, klar zu definieren, was eigentlich Aufgabe und Ziel der Auslegung der Bibel sein soll. Nach dem Selbstzeugnis der Bibel sind wir hier vor eine doppelte und doch in sich zusammengehörige Aufgabe gestellt, die wir nachfolgend erklären werden:

Einen Bibeltext schrift- und textgemäß auszulegen bedeutet:

1. Die ursprünglich von Gott intendierte Bedeutung der betreffenden Texteinheit in ihrem biblischen Zusammenhang zu erkennen und zu erklären.

2. Diesen Ausspruch Gottes in der Vergangenheit als Anspruch Gottes in der Gegenwart dem Menschen von heute zu veranschaulichen und als Zuspruch Gottes für die Zukunft anzuwenden.

Was bedeutet der Text ursprünglich?

Eigentlich sollte es ganz selbstverständlich sein, dass es jeder ernsthaft so zu nennenden Auslegung der Bibel um die Erklärung der ursprünglichen Textbedeutung gehen muss2. Die Frage nach der vom Autor beabsichtigten Bedeutung müsste im Vordergrund stehen. Tatsächlich aber ist dieser unumstößliche Grundsatz heute alles andere als selbstverständlich.

Das beginnt schon beim fromm-erbaulichen Umgang mit der Bibel. Beachtet man die gegenwärtigen Trends in den Andachtsbüchern und Materialien für Haus- und Bibelkreise, so ist festzustellen, dass die erste Frage oft lautet: »Was sagt dieses Wort mir?« Stattdessen sollte die erste Frage lauten: »Was sagt dieses Wort?« Die Frage nach der ursprünglich von Gott intendierten Bedeutung einer Bibelstelle gerät ins Hintertreffen gegenüber der Frage, was »mir« bzw. »uns« dieses Wort heute zu sagen hat. Man trägt dabei vage Erwartungen oder auch Fragen, die sich aus einer augenblicklichen Lebenssituation ergeben, an den Text heran und bezieht nun das, was man dort hört und liest, auf eben diesen Horizont. Die entscheidende Frage ist aber, ob der Text auf eben diese Situation tatsächlich antworten wollte oder an sich etwas ganz anderes zu sagen hätte. Bei solch einer subjektiven Bibellektüre wird das Wort Gottes aus dem Zentrum gerückt und seiner Würde beraubt. Dafür schiebt sich der fromme Mensch mit seinen Erwartungen an den Text in den Mittelpunkt. Die Gefahr wird bei diesem Ansatz übergroß, dass man den ersten erbaulichen Gedanken, der einem bei der Bibellese kommt, schon als persönliches »Wort Gottes an mich« ausgibt. Ob man die eigentliche, von Gott inspirierte Wortbedeutung dabei getroffen hat, ist bei dieser Art von Lotteriespiel fraglich. Die Bibel wird zu einer Art Meditationsgegenstand herabgewürdigt, an dem sich ganz subjektive und unterschiedliche Gedanken entzünden. Vielleicht sagt mir dieser Text dies, dem Nächsten das und dem Übernächsten noch etwas anderes. Die Bibel wird so zu einem Andachtsorakel, das jeder nach seinem Belieben deutet. Der fromme Subjektivismus hat Einzug gehalten. Gott und seinem offenbarten Wort aber wird so die ihm gebührende Ehre und Würde versagt! Demgegenüber geht eine textgemäße Auslegung davon aus, dass Gott seine Gedanken im Wort der Heiligen Schrift in verständlicher sprachlicher Form offenbart hat. Für jeden, der mit diesem Wort umgeht, müsste es nun oberstes Anliegen sein, zunächst genau zu sehen und zu verstehen, was Gott gesagt hat und wie es gemeint ist. Erst danach kann das (recht verstandene!) Wort Gottes auch richtig angewendet werden. Genaue Auslegung muss der Anwendung prinzipiell vorangehen. Wer mit der Anwendung des Wortes beginnt, bevor er es text- und schriftgemäß ausgelegt und verstanden hat, zäumt das Pferd vom Schwanz her auf. Es geht um den Primat der Bibel in seiner ursprünglichen Bedeutung gegenüber den Erwartungen und Ideen auch des frommen Betrachters! Sonst betreibt man statt Exegese (Herauslesen des Sinnes aus der Texteinheit) nur noch Eisegese (Hineinlesen von Sinn in die Texteinheit) und bevormundet damit Gott! Der in frommen Kreisen gern zitierte Merksatz der Bibelauslegung: »Was sagt der Text für mich? – Was sagt der Text an sich? – Was sagt der Text für dich?«, ist in seiner Reihenfolge zwingend zu verändern. Er müsste vielmehr lauten:

a) Was sagt der Text an sich?

b) Was sagt der Text für uns (= mich und dich)?

Der Text sagt »mir« nichts anderes als das, was ich »anderen« weiterzugeben habe, nämlich den von Gott intendierten Sinn. Diese Bedeutung gilt es zu entdecken und text- sowie schriftgemäß zu übertragen. Wir fragen also immer zuerst: »Was sagt die Texteinheit?« – und lassen uns das, was sie tatsächlich sagt, dann auch gesagt sein (vgl. Apg 8,26-40).

Was bedeutet der Text für die Gegenwart und Zukunft?

Für denjenigen, der auf der Grundlage der ursprünglichen Textbedeutung nach der Gegenwartsbedeutung des Wortes Gottes fragt, ist die Auslegung der Bibel nicht nur ein nach rückwärts in die Vergangenheit gerichtetes Unterfangen. Die Bibel ist kein toter Gegenstand aus längst vergangener Zeit, den es lediglich aus historisch-literarischem Interesse zu erforschen lohnt. Für Julius Schniewind galt noch:

Was die Schrift sagt, ist Lehre für die Kirche und Glauben weckende Botschaft. Die Bibel ist kein Material, das mit historischen Hypothesen durchpflügt werden will, sondern Stimme, die gehört werden will, Zeugnis, das für die Wahrheitsfrage ins Gewicht fallen will.3

Das Wort Gottes wirkt Glauben (Röm 10,17), führt zur Wiedergeburt des Menschen (1Petr 1,23), »ist lebendig und wirkungskräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, es dringt hindurch, bis es Seele und Geist […] scheidet und ist ein Richter über die Regungen und Gedanken des Herzens« (Hebr 4,12). Gott hat sein Wort nicht nur dazu gegeben, damit wir es analysieren, sondern ihm gehorchen: »Du selbst hast deine Befehle erlassen, damit man sie genau befolge!« (Ps 119,4). Bei Esra, dem Schrift-gelehrten, wird entsprechend ein umfassender, die eigene Existenz mit einbeziehender Umgang mit dem Wort Gottes deutlich, denn »er hatte gegründet sein Herz zu suchen die Weisung (= thora) Jahwes und zu tun und zu lehren in Israel Satzung und Recht« (Esra 7,10). Hierbei ist die Reihenfolge zu beachten, dass Esra das Wort Gottes zuerst aufnimmt, dann anwendet und auf dieser Grundlage andere anleitet, mit diesem Wort zu leben. Daraus ergibt sich:

a) Das Studium (= Lesen) der Wegweisung Gottes steht am Anfang.

b) Das Befolgen (= Leben) der Wegweisung Gottes ist die Antwort auf das Studium.

c) Das Weitergeben (= Lehren) der Wegweisung Gottes ist abgedeckt durch das eigene Leben.

Unseres Erachtens bleibt die Auslegung der Bibel allzu oft in dem stecken, was die Griechen unter »erkennen« verstanden. Es geht dann um das bloße intellektuelle Erfassen einer Sache. Der hebräische Erkenntnisbegriff (»yada«) lädt darüber hinaus aber gerade zur Begegnung mit dem Erkannten ein: Hier geht es um Erkennen, indem man sich auf eine Sache einlässt. Das muss auch neu in unserer exegetischen Arbeit zum Ziel werden. Denn erst wo es zur Begegnung mit der Wahrheit des Wortes Gottes kommt, hat das Wort ausrichten können, wozu es gegeben ist.

Eine der Bibel angemessene text- und schriftgemäße Auslegung beschränkt sich also nicht auf ein rein historisch-literarisches Verstehen, sondern der Prozess der Auslegung ist erst abgeschlossen, wenn die jeweilige Absicht der auszulegenden Texteinheit am Empfänger ihrer Botschaft zum Ziel gekommen ist. Allerdings bleibt hier die Frage, ob eine Methode zu dieser Existenzbegegnung mit der Wahrheit Gottes führen kann. Diese Frage erscheint umso dringlicher, wenn man bedenkt, dass dem natürlichen, sündigen Menschen hierzu doch der Zugang eigentlich verschlossen ist. Diese Fragen müssen uns angesichts des vorgegebenen Erkenntniszieles veranlassen, intensiv über die Rolle des Heiligen Geistes für die Auslegung der Bibel nachzudenken. Wenn die Auslegung der Bibel ihr Ziel erst dann erreicht hat, wenn das, was Gott sagen wollte, im umfassenden Sinn beim Hörer angekommen ist, kommt Exegese nicht ohne die Bitte um den Heiligen Geist aus. Wer diese geistliche Dimension der Auslegung bei der Exegese ausklammert und nur in einen freiwilligen meditativen Anhang verweist, greift bei der Schriftauslegung zu kurz.

Voraussetzungen für eine schrift- und textgemäße Auslegung der Bibel

Im Lauf der Geschichte der Bibelauslegung tat man sich mit dem Heiligen Geist immer wieder schwer. Entweder wurde er in Gegensatz zum Wortlaut der Schrift gesetzt – nach dem Motto: »Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig« (in Verkennung des eigentlichen Sinnes von 2Kor 3,6!) – oder man setzte ihn in Gegensatz zu einer geordneten Auslegungsmethode. Dabei kann der Heilige Geist, der den Wortlaut der Bibel eingegeben hat, gar nicht in Gegensatz dazu treten! Der Geist ersetzt auch nicht den Verstand, sondern erneuert ihn und gebraucht ihn (Röm 12,2; 1Kor 14,19ff). Der geistliche Ausleger soll nicht den Vollzug geordneten Denkens aufgeben, wohl aber sein Denken unter den Gehorsam Christi bringen (2Kor 10,5)! Wie Gerhard Maier bemerkt, hat der Heilige Geist bei der Inspiration der Bibel durchaus auch das methodische Vorgehen der menschlichen Schreiber in Dienst genommen:

Eines der eindrücklichsten Beispiele methodischer Arbeit findet sich im Neuen Testament selbst, nämlich das lukanische Doppelwerk (Lk 1,1-4; Apg 1,1f). Von daher lässt sich eindeutig entscheiden, dass der Heilige Geist nicht in die Aufgabe der Methode, sondern in die von der Schrift her normierte Methode führt.

Entspricht nun also dem inspirierten Ausleger eine bestimmte inspirierte Methode? Die Antwort kann auch hier nur sehr behutsam gegeben werden. Bleiben wir unserem pneumatozentrischen Ansatz treu, d. h., fragen wir nach dem aus dem Neuen Testament erkennbaren Willen des Geistes, so ergibt sich Folgendes:

Das Neue Testament enthält keine ausgearbeitete, systematisch-geschlossene Methode. So enthält es z. B. philologisch-rationale, typologische, allegorische und heilsgeschichtliche Elemente einer Schriftauslegung (vgl. Mt 13,37ff; 22,23ff; Joh 10,34ff; 1Kor 10,4ff; 15,27; Gal 4,22ff; 2Tim 2,6). Von daher gewinnen wir die Freiheit, mit mehreren legitimen Methoden der Schriftauslegung zu rechnen. Die Konsequenz aus dieser Beobachtung ist einschneidend. Sie besagt nicht weniger als dies: dass der inspirierte Ausleger die Möglichkeit einer historischen Methode benutzen, ja als notwendig begründen kann, sich aber zugleich der Möglichkeit anderer Methoden offen halten muss.4

Damit ist eine erste entscheidende Einsicht ausgesprochen: Die Methode soll auf den Geist eingestellt sein und kann als solche vom Geist gebraucht werden. (Man muss sich allerdings im Klaren darüber sein, dass die Erkenntnisse des »inspirierten« Auslegers nicht mit den inspirierten Bibeltexten auf einer Stufe stehen.)

Eine auf den Geist eingestellte Methode muss von daher

a) eine konsequent bibelgemäße Methode sein. Das heißt, sie muss anerkennen, dass die Bibel in Sprache und Geschichte eingebettet ist, und sie muss ihre Inspiration, ihren Wahrheitsanspruch und ihren existenziellen Anredecharakter ernst nehmen. Eine Methode, die sich sachkritisch über das geistgewirkte Wort erhebt, wird in ihrer Sündhaftigkeit kaum zum Instrument des Heiligen Geistes werden. Vor allem wird

b) eine auf den Geist eingestellte Methode das Wirken und Reden des Geistes nicht jenseits des Bibeltextes erwarten, sondern im vom Geist gewirkten Wort. Hans Joachim Iwand hat das prägnant auf den Punkt gebracht, indem er festhält:

Wir möchten mit unserer Arbeit all denen beistehen, die nun doch da anklopfen, wo einmal – wenn Gott Gnade gibt – aufgetan wird, die dort suchen, wo die Verheißung des Findens uns gegeben ist. Der Buchstabe der Schrift ist nun einmal diese Stelle, wo wir anklopfen dürfen und müssen, und ohne die Mühe um den Buchstaben wird die Gabe des Geistes nicht empfangen. Allen aber, die noch zu glauben vermögen, dass die Bemühung um die Schrift die wahre und erstrangige Bemühung um die Erneuerung der Kirche sein müsste, grüße ich mit einem Satz aus Bengels Vorwort zu seinem Gnomon: […] Die Schrift erhält die Kirche und die Kirche hütet die Schrift. Blüht die Kirche auf, dann leuchtet die Schrift. Ist die Kirche krank, dann verstaubt die Schrift. So kommt es, dass das Angesicht der Kirche und das der Schrift immer zugleich entweder Spuren der Gesundheit oder der Krankheit zu zeigen pflegt.5

Von daher gilt es, wieder neu zu entdecken, was der hermeneutische Kernvers der Auslegung der Bibel zum Ausdruck bringt: »Der natürliche [psychische/seelische] Mensch nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich [pneumatisch] beurteilt werden muss« (1Kor 2,14). Damit sind wiederum zwei grundsätzliche Aussagen getroffen:

a) Ohne das Wirken des Heiligen Geistes nimmt der natürliche Mensch die Wahrheit des Wortes Gottes nicht an, bleibt also – möglicherweise trotz richtigen historisch-grammatischen Ver-stehens – in existenzieller Distanz dazu.

b) Er kann das Wort Gottes ohne den Geist nicht vollumfassend »erkennen« (im Sinn des Sich-Einlassens auf das Wort, worum es beim hebräischen Erkenntnisbegriff geht). Es bleibt ihm Torheit. An anderer Stelle macht Paulus deutlich, dass dieses Nicht-erkennen-Können durchaus auch mit einer Verblendung der Sinne durch »den Gott dieser Welt« zu tun haben kann – eine geistliche Dimension, die in unserer Theologie heute so gut wie gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird (2Kor 4,3f). Hier ist es nötig, dass solche Verstehenshemmnisse durch geistliches Handeln eingerissen werden müssen, damit das gesamte Denken »gefangen genommen wird unter den Gehorsam Christi« (2Kor 10,4f). Was immer nun die Ursache ist – Verblendung durch eine geistliche Macht, vernunftmäßiger Widerstand gegen Gottes Offenbarung oder das schlichte Unvermögen des gefallenen Menschen –: Immer haben wir es mit einem Nicht-erkennen-Können zu tun. Aber gerade hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit einer schrift- und textgemäßen Auslegung der Bibel, die den Zusammenhang von Wort und Geist beachtet. Die Bibel als Wort Gottes bringt den Geist an die Herzen der Menschen heran, und dieser Geist bringt als Autor der Bibel das Wort Gottes in die Herzen hinein.

Der Hauptgrund, weshalb geeignete exegetische Methoden einzusetzen sind, hängt also mit der Tatsache zusammen, dass Gottes Offenbarung fest in der menschlichen Geschichte verwurzelt ist. Gott hat sich entschlossen, durch menschliche Autoren zu reden, die von der hebräischen, aramäischen und griechischen Sprache mit all ihren grammatischen Regeln Gebrauch machten. Genauso wie der Handwerker die Werkzeuge benötigt, die – wie vom Hersteller vorgesehen – zum entsprechenden Teil passen, so benötigt auch der Ausleger der Bibel die entsprechenden Methoden, die zu den von Gott gebrauchten Kommunikationsmitteln passen. Das heißt nicht, dass wir uns, wenn wir richtige Bibelauslegung betreiben, weniger auf den Heiligen Geist verlassen müssten. Im Gegenteil: Wenn wir mit exegetischen Methoden arbeiten, welche die Eigenart der ursprünglichen (zum Beispiel urtextlichen) Kommunikation Gottes ernst nehmen, arbeiten wir zweifellos enger mit dem Heiligen Geist zusammen, als wenn wir uns nicht um solche Methoden kümmern. Wir stehen so weniger in der Gefahr, dem Text eine uns plausibel erscheinende Bedeutung zu geben und diese dann dem Heiligen Geist zuzuschreiben (Gal 5,17). Da der Heilige Geist sich nicht selbst widerspricht, wird seine Hilfe für uns darin bestehen, dass er uns beim Entdecken der ursprünglich intendierten Bedeutung und beim Anwenden dieser Bedeutung unterstützt (Joh 16,7-15). Und er wird das bewirken, was wir nie selbst zustande brächten: nämlich dafür sorgen, dass das biblische Wort an uns wirkt und sein Ziel erreicht. Um Letzteres kann man nur beten. Von daher gilt auch für die Bibelauslegung die alte christliche Weisheit: Bete und arbeite!

Die Bibel so auszulegen bedeutet also, dass wir sehr viel Zeit mit der Analyse bestimmter Texte verbringen müssen. Das könnte die Gefahr in sich bergen, die biblischen Texte zum bloßen wissenschaftlichen Studienobjekt zu machen. Um dieser Versuchung zu widerstehen, müssen die Stunden, die man mit harter Arbeit überunter