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Die Erfindung der Roten Armee Fraktion
durch einen manisch-depressiven Teenager
im Sommer 1969

Frank Witzel

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

Roman

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Wie bereits aus dem Titel ersichtlich, sind sämtliche in diesem Roman auftauchenden Figuren vom Erzähler frei erfunden. Namensähnlichkeiten wären reiner Zufall.

Für Achim, Alex, Bernd, Claudia und Rainer

Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst.

Theodor W. Adorno

Quand nous serons tous coupables, ce sera la démocratie.

Albert Camus

Existence with all its horrors is endurable only as an aesthetic fact.

Richard Rorty

L’indignation rétrospective est aussi une facon de justifier le présent.

Pierre Bourdieu

Der Staub des Alten legt sich anders nicht. Er wird immer wieder aufgeblasen, wo das Neue nicht den ganzen Menschen hat. Es geht darum nicht an, mit oft recht billigem Verstand dort nur ironisch zu sprechen, wo sich der teuerste immerhin zu wundern hätte. Es geht nicht an, dicke Bücher über den Nationalsozialismus zu schreiben, und nach der Lektüre ist die Frage, was das sei, das so auf viele Millionen Menschen wirke, noch dunkler als zuvor.

Ernst Bloch

Dies geheime Deutschland ist ein riesiger, ein kochender Behälter von Vergangenheit; er ergießt sich vom Land gegen die Stadt, gegen Proletariat und Bankkapital »zugleich«, er ist tauglich zu jedem Terror, den das Bankkapital braucht. Mythisch gewordene Bodenständigkeit erzeugt so nicht nur falsches Bewusstsein, sondern stärkt es durch Unterbewusstsein, durch den wirklich dunklen Strom.

Ernst Bloch

Der Beweger des Menschengeschicks ist unbekannt, sogar noch der Beweger des Hungers und der Ökonomie, wie sehr erst das Subjekt der »Kultur«, all der Täuschungen, auch Glanzbilder eines wechselnd adäquaten Bewusstseins, in dem das Echte verborgen ist. Im Kleinen, Winzigen geht oft noch am genauesten das Herz des Existierens auf; das hat schon an der Art, wie diese Pfeife da liegen mag, die Instanz seines Schlags: doch nur erst ein großes Staunen, wenn auch das letzte und höchste, fasst sich daran. Völlig im Nebel, noch ohne Lampe des Begriffs, ist das Subjekt des Existierens überhaupt.

Ernst Bloch

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.

Karl Marx

Each of us literally chooses, by his way of attending to things, what sort of universe he shall appear to himself to inhabit.

William James

Child of Eva, your Christianity.
I had a dream: It was the end of the Seventies.

Luke Haines

1

Es ist ein verschneiter Tag im Januar. Ich stehe auf einem schmalen und verschneiten Hügel, schaue in ein verschlafenes und ebenfalls verschneites Dorf, das unterhalb des Hügels liegt, und versuche mich zu erinnern, wie es war, dort unten in einer kaum möblierten und ungeheizten Wohnung zweieinhalb Monate zuzubringen, in einem Haus, das eher einem Schuppen ähnelte, dicht neben einem Bach, der halb zufror in diesem Winter vor so vielen Jahren. Ich stehe auf dem Hügel und schaue meinem gefrorenen Atem hinterher und dem Eichelhäher, der kurz auf einem der verschneiten Äste aufsetzt und dann in den grauen Himmel fliegt und hinter der nächsten Kuppe verschwindet.

Die Landstraße schlängelt sich wie auf einer Kinderzeichnung vom grauweißen Horizont zu dem Feld vor meinen Füßen. Und da kommt auch schon ein Auto angefahren. Es ist kein Ferrari 250 GT, 12 Zylinder 4-Takt, Hubraum 2953 cm3 mit 240 PS und 230 Stundenkilometern, noch nicht mal ein Porsche 501, 6 Zylinder 4-Takt, Hubraum 1995 cm3 mit 120 PS und 200 Kilometern, sondern nur ein NSU Prinz, 2 Zylinder 4-Takt, 578 cm3 mit 30 PS, der gerade mal 120 macht, mit Rückenwind, und hier geht es bergauf, raus aus dem verschneiten Dorf, und ich habe noch nicht mal den Mopedführerschein, und Claudia brüllt und Bernd schreit, ich soll mich weiter rechts halten, damit uns die Bullen in den Kurven aus den Augen verlieren, aber das ist gar nicht so leicht, denn unser NSU Prinz hat hinten fast platte Reifen, weshalb ich kaum die Balance halten kann. Trotzdem liegen wir ein ganzes Stück vorn. Hinter uns die Bullen mit ihrem vollbesetzten Mannschaftswagen VW T2 fangen an zu ballern. Die Kugeln schlagen in die Schneewehen und springen vom Straßenasphalt gegen den zitronengelben Lack der Kotflügel. Claudia kramt im Handschuhfach nach einer Waffe. Die ist nicht geladen, sage ich. Wie, nicht geladen? Kein Wasser drin. Wasser? Das ist meine Wasserpistole. Sag mal, spinnst du?, schreit Bernd. Wo ist denn die Erbsenpistole? Vergessen, aber die Wasserpistole ist echt gut, die hat vorne ’nen Ring, da kannst du um die Ecke schießen. Ihr seid Spinner, totale Spinner, ich denk, ihr habt euch das Luftgewehr von Achim geliehen.

Der war nicht da, nur seine Oma, und die wollte es nicht rausrücken. Pass auf! Ich schlingere nach links, und fast wären wir umgekippt, aber Claudia und Bernd werfen sich geistesgegenwärtig auf die andere Seite, und ich komme nur für einen Moment von der Fahrbahn ab. Der Schnee spritzt an den Scheiben hoch. Die Scheibenwischer arbeiten wie wild. Vielleicht sollten wir einfach drehen, ruft Claudia, damit rechnen die nie im Leben. Ja, schreit Bernd, dann rasen wir an denen vorbei, und bevor sie was merken, sind wir weg. Nein, Unsinn, das ist Quatsch, wir müssen bis zum nächsten Ort, das ist nicht mehr weit, außerdem geht’s da vorn schon bergab. Ja, stimmt, ich seh schon die ersten Häuser. Wir müssen sie abhängen. Ich rase ohne zu bremsen in den Ort, die Bleichwiesenstraße runter, dann rechts in die Weihergasse, am Bäcker Fuhr vorbei, wo es die Bananenschnitten mit Schokoguss gibt, vorbei an der Drogerie Spalding, am Lebensmittel Breidenbach, Zeitschriften und Tabakwaren Maurer, Lebensmittel Lehr, Sängerheim, kurz vorm Bäcker Daum halte ich an. Schnell, schreie ich, die Bullen sind noch nicht da. Wir steigen aus und rennen gegenüber in den Hofeingang und durch nach hinten. Wir müssen über die Mauer, da ist der Schulhof, von dort können wir weiter zur Kerbewiese. Wir springen auf die Mülltonnen. Was macht ihr da?, ruft eine Stimme aus einem Fenster im Hinterhaus. Bleibt sofort stehen! Ich kenn euch! Sofort stehen bleiben! Sonst gehe ich zu euren Eltern! Ich drehe mich kurz um. Eine Frau in Kittelschürze lehnt aus dem Flurfenster im zweiten Stock und droht mit einem Staubwedel. Gerade rasen die Bullen an der offenen Hoftür vorbei. Die haben uns nicht gesehen, sage ich, die fahren bestimmt hoch zum Gräselberg. Dann hauen wir aber besser in die andere Richtung ab, sagt Bernd. Stimmt. Los. Wir springen wieder von den Mülltonnen und rennen durch den Hauseingang. Stehen bleiben!, brüllt die Frau wieder. Vorsichtig spähen wir auf die Straße. Die Bullen sind nirgendwo zu sehen. Los, schnell! Wir laufen die Weihergasse nach links runter und biegen rechts in die Feldstraße ein, dann zum Bahndamm und wieder rechts, Richtung Schrott Wiedemann. Wir müssen uns trennen, sagt Claudia. Ja, sage ich, wenn ich um sieben nicht daheim bin, krieg ich sowieso Ärger. Ich muss erst um acht da sein, sagt Bernd. Am besten, wir sehen uns ein paar Tage nicht. Wir nicken. Und wenn die Bullen bei einem vorbeikommen, dann sofort die anderen anrufen. Aber was sollen wir sagen? Einfach sagen, es geht um die Mathe-Hausaufgabe vom Montag. Mathe-Hausaufgabe Montag, okay. Dann weiß jeder Bescheid. Ansonsten Samstag um vier an der Lohmühle. Ich muss Samstag zur Beichte, kommt nicht außerdem Beat-Club? Dann um halb sechs, okay?

Am Abend um zwanzig nach acht im Schlafanzug in der Tür zum Fernsehzimmer beim Gute-Nacht-Sagen versuche ich, einen kurzen Blick auf den Fernseher zu erwischen, sehe verwackelte Aufnahmen von rennenden Männern auf nassen Straßen und bekomme wieder Angst. Nein, das waren nicht wir. Aber sie scheinen die Suche noch nicht aufgegeben zu haben. Ein Phantombild wird gezeigt, mit Bleistift gezeichnet, aber zum Glück sind die Haare bei dem viel länger, weil ich erst letzte Woche wieder zum Frisör musste und sie mir zur Zeit nicht mal mehr über die Ohren gehen. Aber der vorgeschobene Unterkiefer, das könnte schon ich sein. Und dann das nächste Bild. Eine Frau diesmal. Nein, auch nicht Claudia. Claudia sieht ganz anders aus, da stimmt aber auch gar nichts, sie hat ganz andere Augen, und die Lippen sind auch nicht so schmal.

Dann wird etwas von einem Bekennerbrief erzählt, aber wir haben uns zu nichts bekannt. Noch nie, also, auch vorher nicht. Einmal haben wir was zusammen geschrieben, aber nicht abgeschickt und außerdem gleich verbrannt, also, ich hab’s mitgenommen und auf dem Heimweg durch den Henkellpark, als gerade niemand kam, angezündet und auf den Kiesweg geworfen und dann noch, als es ganz verbrannt war, die Aschereste auseinandergetreten. Aber was komisch ist, dass die unseren Namen sagen, also den Namen für unsere Gruppe, Rote Armee Fraktion, obwohl der noch gar nicht richtig feststeht, weil wir eigentlich noch mal abstimmen wollen, weil Claudia den nicht so gut findet, ihr allerdings auch nichts anderes eingefallen ist, weshalb sie gesagt hat, dass wir vielleicht gar keinen Namen bräuchten, weil wir schließlich keine Kinder sind, die einen Club gründen, was auch stimmt, obwohl es schon besser ist, einen Namen zu haben, besonders wenn noch andere dazukommen. Trotzdem frage ich mich, woher die das in den Nachrichten wissen, weil wir niemandem was gesagt haben, also, ich auch nicht, nicht mal Achim.

Und Claudia würde garantiert nichts sagen, weil sie auch in der Basisgruppe ist, und da dürfen sie wirklich nie verraten, was sie da besprechen, und bei Bernd ist es ohnehin klar, weil der manchmal schon nervt mit seiner Geheimniskrämerei. Aber der Michael Reese, der hält sich immer verdächtig nah bei uns auf, weil er aufschnappen will, über was wir reden und was wir gut finden, damit er das nachmachen kann. Aber gerade weil wir das wissen, weil das außerdem nervt, diese Nachmacherei, passen wir bei ihm besonders auf, und in der Schule reden wir über so Sachen sowieso nicht, das haben wir vorher ausgemacht, auch nicht in der Pause. Wenn was ist, dann sagen wir einfach, heute Mittag an der Lohmühle oder irgendwo anders, oder wenn’s ganz dringend ist, dann auf dem Nachhauseweg am Sportplatz, aber auch da passen wir immer höllisch auf, weil da manchmal auch Lehrer sind. Aber beim Reese weiß man nie, und Bernd meint auch, dass der uns vielleicht richtig hinterherspioniert und in der kleinen Pause, wenn wir im Fahrradkeller kurz eine rauchen, zurück in den Klassenraum geht und unsere Ranzen durchwühlt, weshalb wir nie was Verdächtiges in der Klasse lassen, sondern alles immer im Parka haben. Reese liest auch Landserheftchen und hat als Einziger eine Frisur, wo die Haare mit Pomade nach hinten gekämmt werden. Damit sieht er richtig spießig aus, aber beim Sport, wenn er durchgeschwitzt ist und die Haare nach vorn fallen, gehen sie über sein ganzes Gesicht, so lang sind die. Und dann in der einen großen Pause, als wir Boxschläge immer nur markiert und knapp vorm Gesicht abgebremst haben, hat er Bernd direkt auf die Nase gedroschen und behauptet, er hätte sich verschätzt, aber vielleicht war das damals schon Absicht, vielleicht ist er wirklich hinter uns her und will sich rächen, weil wir uns immer über ihn lustig machen, denn er wird immer so schnell rot und lässt dann jedes Mal einen Stift auf den Boden fallen und bückt sich und hebt ihn auf, damit es so aussieht, als wäre ihm bloß vom Bücken das Blut in den Kopf gestiegen. Und natürlich ist das fies, weshalb mir der Reese auch manchmal leidtut und ich mich sogar mal mittags mit ihm verabredet habe, obwohl Bernd meint, dass einem der Reese nicht leidtun muss, weshalb ich Bernd auch nichts von meiner Verabredung mit dem Reese erzählt habe, auch danach nicht, weil das irgendwie peinlich war und ich extra mit der 6 rausfahren musste nach Kastel, weil ich nicht wollte, dass er zu mir kommt, und dann saß ich beim Reese im Zimmer, aber der hatte gar keine Singles, noch nicht mal ein Radio, sondern nur die Landserheftchen und Bleisoldaten, mit denen er Schlachten nachspielt auf so einem Brett, das er selbst gebastelt hat, mit Bergen und einem Fluss und so Streugras von Faller, das wir auch für die Eisenbahn haben. Und die Soldaten, die waren richtig schwer und so groß wie eine Streichholzschachtel ungefähr, aber die anderen Leute, die der Reese Zivilisten nannte und die immer alle sterben mussten oder auf der Flucht im Fluss ertranken, die waren viel kleiner, weil er die auch von Faller hatte und weil das eigentlich Leute waren, die zu einem Bahnhof gehören, weshalb die meisten auch Koffer und Taschen trugen und manche sogar mit einem Taschentuch winkten, was ich doof fand, weil es gar nicht passte. Aber der Reese meinte, die mit den Koffern, die wären auf der Flucht, und die mit den Taschentüchern, die wollten sich ergeben, weil man mit einem weißen Taschentuch winkt, wenn man sich ergibt. Und ich musste dann immer die Fallermännchen spielen und mit Koffern versuchen, über den Fluss und auf den Hügel zu kommen, aber da standen schon die Soldaten vom Reese, weshalb ich die mit dem Taschentuch vorgeschickt habe, aber die hat der Reese auch einfach abgeknallt, und da hatte ich dann auch kein richtiges Mitleid mehr mit ihm, besonders weil er auch immer seine Zunge so komisch nach außen stülpt, wenn er sich konzentriert, aber auch wenn er wütend ist, und er wurde dann auch wütend, als ich mit einem Fallermännchen einfach durch die Beine von dem einen Soldaten gelaufen bin, und hat gesagt: Das ist unfair und geht nicht, aber ich hatte einfach keine Lust mehr auf das doofe Spiel und wollte am liebsten gehen, aber dann hat der Reese eingelenkt und mir eine silberne Kugel gezeigt, ungefähr so groß wie ein Flummi, und hat mich gefragt, ob ich weiß, was das ist, und als ich nein gesagt habe, da hat er gesagt: Das ist eine Kugel aus einem Kugellager von einer echten Lokomotive, und ich hab gesagt: Irre, weil ich mir versucht habe vorzustellen, wie groß das Kugellager von einer Lokomotive sein muss, weil ich nur die dünnen Ketten mit den kleinen Perlen kenne, und dann haben wir noch ein bisschen rumgesessen, und der Reese hat gefragt, wie ich die Anita finde, und ich hab gesagt: Okay, aber dann habe ich gesagt, dass ich jetzt gehen muss, was auch so halb stimmte, und da hat der Reese gesagt: Okay, Bruder, was ich komisch fand, weil das niemand in unserer Klasse sagt und ich überlegt habe, wer das sagt, Bruder, weil ich das schon mal gehört habe, aber es ist mir einfach nicht eingefallen.

Jetzt zeigen sie den gelben NSU Prinz und das Kennzeichen, das wir auf Pappe gemalt haben. Ich fand NSU gut, weil das ein Stück von Cream ist. Driving in my car, smoking my cigar, the only time I’m happy is when I play my guitar, Ahahahahah ahah. Außerdem stand dieser NSU da und war nicht abgeschlossen, und der Schlüssel steckte. Und jetzt zeigen sie meine Wasserpistole, die wir im Handschuhfach vergessen haben, und ich denke: Was ein Mist, weil die ganz selten war und weil es die bestimmt nicht mehr gibt. Und meine Mutter fragt: Sag mal, hast du nicht auch so eine? Und ich sage: Nein, meine ist doch ganz anders. Kann die nicht auch um die Ecke schießen? Doch, aber die sieht anders aus. Wo ist die denn? Die hab ich dem Achim geliehen.

Und ich denke: Was ist, wenn die an der Wasserpistole Fingerabdrücke finden und dann in die Schule kommen, um von uns allen die Fingerabdrücke zu nehmen? Ich hab mal gelesen, dass sich einer deshalb extra die Fingerkuppen abgeschmirgelt hat, aber das hilft nichts, weil die Fingerkuppen immer gleich nachwachsen, mit denselben Linien. Aber auch wenn meine Fingerabdrücke an der Wasserpistole sind, heißt das noch lange nicht, dass ich auch den NSU geklaut habe. Schließlich kann ich die Pistole wirklich verliehen haben. Ich habe sie ja auch schon mal verliehen, obwohl nicht die, weil das eben meine wertvollste ist, aber die andere, die hellgrüne aus durchsichtigem Plastik, bei der man immer sehen kann, wie viel Wasser noch im Griff ist. Ich könnte sagen, dass ich die dem Reese geliehen habe, dann würden sie zum Reese nach Hause fahren und in seinem Zimmer nachschauen und dort dann die ganzen Landserheftchen und Bleisoldaten finden und die Eisenkugel, die sie vielleicht für eine Kugel halten, mit der man eine Waffe lädt, und da könnte der Reese noch so sehr sagen, dass die aus dem Kugellager von einer Lokomotive stammt, das würden sie ihm nicht abkaufen. Wie soll der denn an das Kugellager einer Lokomotive kommen?

Ich möchte noch so gern wissen, was die angestellt haben, die sie da mit Phantombildern suchen, aber meine Mutter schickt mich runter in mein Zimmer. Da steht immer noch meine Ritterburg, obwohl ich schon längst zu alt dafür bin. Ich habe sie letztes Jahr mit Holzresten und Abfällen von meinen Revell-Modellen umgebaut, aber man sieht immer noch, dass es mal eine Ritterburg war. Andreas Baader, mein wertvollster Ritter, weil er eine schwarzglänzende Rüstung hat, ist gerade dabei, die Zugbrücke anzusägen, und Gudrun Ensslin stößt einen von den weißen Rittern in den Burggraben. Gudrun Ensslin ist eine Indianersquaw aus braunem Plastik, die ich eigentlich nicht besonders mag, weil sie gar keine Details hat, aber es ist die einzige Frau bei den Figuren. Ich habe sie mal in einer Wundertüte gewonnen, wo sie zwischen Puffreis lag.

Ich weiß nicht warum, aber ich muss auf einmal an den Seifenhasen denken, denn ich letztes Jahr zu Ostern bekommen habe. Den musste man aus der Verpackung nehmen und auf den Waschbeckenrand stellen. Am nächsten Tag war ihm dann ein richtig flauschiges Fell gewachsen. Natürlich durfte man sich nicht mit ihm waschen, dann war das Fell weg und wuchs auch nicht wieder. Ich habe mich auch nie mit ihm gewaschen, aber mein kleiner Bruder muss ihn wohl mal mit seinen nassen Fingern angegrapscht haben, denn eines Morgens war er ganz nackt. Ich habe dann noch ein paar Tage gewartet, ob das Fell wiederkommt, aber als es nicht wiederkam, habe ich mich auch mit ihm gewaschen. Ich habe mir dieses Jahr wieder so einen Hasen gewünscht, aber keinen bekommen. Wahrscheinlich, weil ich schon zu groß für so was bin, und mein Bruder noch zu klein. Vielleicht ist mir der Hase eingefallen, weil ich überlege, wie wir uns verkleiden können und wo man vielleicht eine Perücke herkriegt. Ich habe zwar eine Beatles-Perücke, von der Kerb, aber das ist einfach nur so eine Art Plastikhelm, der mir auch noch zu groß ist. Das fällt gleich auf, und außerdem mag ich die Frisur von damals gar nicht so, die Pilzköpfe, wie die Lehrer sagen, sondern so wie sie die Haare ab der Help haben. Und dann fällt man mit langen Haaren ohnehin noch mehr auf. Der Geyer wird immer angepöbelt und gefragt, ob er ein Junge ist oder ein Mädchen.

Ich ziehe das DIN-A4-Heft raus, das ich hinter dem Schrank versteckt habe und in das ich alles schreibe, was mit der Roten Armee Fraktion zu tun hat. Da steht zum Beispiel drin, wer alles bei uns Mitglied ist und wann wir uns treffen und wer welche Singles mitgebracht hat und auch unser Wahrzeichen, obwohl das noch nicht ganz fertig ist. Erst habe ich versucht, es so ähnlich zu machen wie das Zeichen vom Turnverein. Der Turnverein Biebrich kürzt sich TVB ab, das sind auch drei Buchstaben. In einem rotem Ritterschild mit sieben Ecken steht dann von oben nach unten erst ein langes T und auf dem Längsstrich vom T ein kleines V und dann unten ein B. Und dann steht da noch die Jahreszahl der Gründung: 1846. Links vom Längsstrich eine 18 und rechts die 46. Ich hab dann das Wappen durchgepaust und von oben nach unten das R in ein T, das V in ein A und das B in ein F umgezeichnet, das A etwas kleiner so wie das V und dann links eine 19 und rechts 69. Ich fand, dass es ganz gut aussah, aber Claudia hat es nicht gefallen. Sie fand es zu spießig, schließlich seien wir kein Turnverein. Das stimmt. Ich gehe auch schon lang nicht mehr hin. Ich fand vor allem blöd, immer die schwarzen Turnhosen und die komischen Unterhemden anziehen zu müssen. Und Frotteesocken durften wir auch keine tragen.

Ich fand aber die Zahl irgendwie gut, und ich hab auch vorgeschlagen, dass wir nicht die wirkliche Jahreszahl unserer Club-Gründung hinschreiben, sondern einfach eine ältere Zahl, so wie ich auch Mitglieder bei uns aufgelistet habe, die gar nicht wirklich zu uns gehören, denn es gibt in jedem Verein Ehrenmitglieder, die nicht wirklich mitturnen oder in der Turnhalle auftauchen, aber trotzdem zum Verein gehören. Bei uns war John Lennon Ehrenmitglied und Steve Marriott und Ginger Baker und noch einige andere. Also brauchten wir auch noch ein anderes Gründungsdatum. Es musste ja nicht 1846 sein, aber schon was Älteres. Deshalb habe ich alle möglichen Geschichten aus der Rasselbande und der Neuen Stafette gesammelt, und auch aus dem Sternsinger. Und da bin ich auf Max Reger jr. gestoßen. Der wurde am 19. März 1913 in Wiesbaden geboren. 1913 fand ich ein gutes Datum, weil ich dreizehn bin, also dreizehneinhalb, und dann, weil für viele die 13 eine Unglückszahl ist. Dieser Max Reger jr. hat zwar nicht direkt eine Gruppe oder Bande oder einen Club gegründet, aber wir sind auch kein richtiger Club, sondern eher Einzelkämpfer. So wie die Tupamaros, sagt Claudia. Die Tupamaros haben als Wahrzeichen einen Stern und darin wie der Turnverein Biebrich auch drei Buchstaben von oben nach unten: M, L und N, was ich nicht verstehe, weil gar kein T drin vorkommt, eher könnte TVB auch Tupamaros von Biebrich heißen, und vielleicht sollten wir uns einfach so nennen. Bernd wäre vielleicht dafür, aber Claudia nicht, weil sie Biebrich spießig findet, und da hat sie ja auch recht. Ich finde Rote Armee Fraktion auch besser.

Max Reger jr. war eher Krimineller, so wie Jürgen Bartsch oder der Entführer von Timo Rinnelt, und er hat auch Jungs gequält, weshalb ich seine Geschichte nicht aus dem Sternsinger haben kann, weil da immer nur von Jungs erzählt wird, die etwas Gutes tun, zum Beispiel eine Hostie zu einer sterbenden Frau bringen, wie dieser eine Junge damals bei den Römern, als die Christen noch verfolgt wurden. Der hat die Hostie von einem Priester in irgendeiner Katakombe bekommen und musste sie ganz vorsichtig zu der Frau tragen, weil es ja der Leib des Herrn war. Und das hat der Junge auch gemacht, obwohl nicht gesagt wird, ob die Hostie in einer Monstranz war oder einem Kelch oder sonst in einem Gefäß, aber wahrscheinlich eher nicht, weil das ja noch mehr aufgefallen wäre, aber so in der Hand kann er sie auch nicht getragen haben, weshalb ich glaube, dass er sie in einer Schachtel hatte oder vielleicht auch in ein Tuch gewickelt, falls es damals noch keine Schachteln gab. Es ist schon Abend, und eigentlich muss der Junge längst zu Hause sein, und die Straßen damals, die hatten keine Laternen, das war eher so düster wie im Adolfsgässchen hinterm Adler, aber eben überall, in der ganzen Stadt, und als der Junge mit der Hostie in eine Straße einbiegt, da sieht er schon von Weitem so römisch-heidnische Jugendliche dort rumlungern, so wie die Vorderberger, weshalb er auch gleich weiß, dass das Ärger gibt, egal, was er sagt. Aber einfach umkehren kann er auch nicht, weil die ihn schon gesehen haben und dann sofort hinter ihm her wären. Deshalb versteckt er die Hostie unter seiner Toga, was mich an eine andere Geschichte erinnert, die wir in Latein gelesen haben, das war allerdings ein Spartaner, der hat bei einem reichen Patrizier einen lebenden Fuchs geklaut, den sich der irgendwie als Haustier hielt, und den auch unter seiner Toga versteckt, als er von einem Wächter kontrolliert wurde. Und da hat er die ganze Zeit so tun müssen, als ob nichts wäre, obwohl ihm der Fuchs die ganze Brust zerkratzt hat mit seinen Krallen. Denn die Spartaner sind unheimlich hart und zäh, während die Römer eher verweichlicht sind, weshalb ich einerseits schon eher Spartaner bei uns aufnehmen würde, andererseits sagt der Dr. Jung immer, dass wir verweichlicht sind mit unseren langen Haaren, dabei gehen mir die Haare noch nicht mal richtig über die Ohren, weil ich gar keine langen Haare haben darf, und wenn die Beatles wegen ihrer langen Haare auch verweichlicht sind oder sogar die Stones oder die Who, die ja eher wie Spartaner sind, dann bin ich auch lieber verweichlicht. Auf alle Fälle wollen diese römisch-heidnischen Jugendlichen unbedingt sehen, was der christliche Junge da unter seinem Hemd trägt. Er will es natürlich nicht herzeigen, weil es ja der Leib des Herrn ist und weil er genau weiß, dass die nur die Hostie schänden wollen und überhaupt das ganze Christentum verhöhnen und in den Dreck ziehen. Also stoßen sie ihn rum und fangen an, mit Steinen nach ihm zu werfen und hören einfach nicht auf, bis er schließlich so schlimm am Kopf getroffen wird, dass er umfällt und stirbt. Aber bevor er stirbt, spendet er sich noch selbst die Heilige Kommunion. Obwohl er noch keine zehn ist, also noch gar nicht zur ersten Heiligen Kommunion gegangen ist. Trotzdem ist das keine Sünde in diesem Fall, weil er damit den Leib des Herrn vor Verunglimpfung bewahrt, weshalb er sogar heiliggesprochen wird, denn er hat sein Leben wie ein Märtyrer geopfert. Und so ähnlich ist das auch mit dem kleinen Jungen, der von Kamerad Müller dazu gebracht wird, sich zu opfern, denn der Junge ist 1937 geboren und soll schon 1943, obwohl er noch keine sechs ist und noch nicht mal schreiben kann, ein Attentat begehen. Und man weiß nicht genau, was aus ihm geworden ist, ob er noch lebt oder ob er dabei ums Leben kam, dann wäre er noch vor Max Reger jr. gestorben, den sie erst 1957 erschossen haben, als wir alle gerade erst ein paar Jahre auf der Welt waren, ich und Claudia und Bernd.

Wir würden uns natürlich nie im Leben schnappen lassen. Oder in die Ostzone gehen, wenn man uns auf den Fersen ist, so wie Max Reger jr. Zumindest ich nicht. Claudia sagt, dass man da drüben leichter an Waffen kommt, weil man schon mit vierzehn jeden Mittag nach der Schule zur Armee muss. Da darf man dann mit alten russischen Maschinengewehren rumballern. Außerdem sind die Kinder in der Ostzone ganz anders angesehen. Sie dürfen Messer tragen und Schleudern und Luftgewehre und ihre eigenen Eltern anzeigen oder bespitzeln. Oder auch die Lehrer. Wenn da zum Beispiel so ein alter Nazi ist wie der Dr. Jung, der nur von Stalingrad erzählt, dann können die den melden und dürfen ihn selbst im Heizungskeller verhören und ohrfeigen. Und wenn er danach überhaupt noch weiter im Schuldienst bleiben darf, dann können die Schüler selbst ihre Hausaufgaben bestimmen. Aber man darf in der Ostzone keine langen Haare haben und auch keine Musik hören. Nur die Internationale und Marschmusik. Und dann ist das Essen auch schlecht, schlechter als bei uns im Krieg. Und sie haben keine Eisenbahnen und Straßenbahnen, weil sie alles rausreißen und nach Russland schicken mussten. Jede verrostete Schraube mussten die nach Russland schicken. Dafür haben sie aber Maschinengewehre bekommen. Sie kennen auch keine Kaugummis oder überhaupt Süßigkeiten. Schokolade, das ist in der Ostzone altes Brot, auf das sie Kakao gestreut haben. Kakao haben sie ganz viel, weil sie den aus Kuba bekommen, aber trotzdem können sie keine Schokolade machen, weil ihnen die Maschinen dazu fehlen. Wenn eine Maschine kaputtgeht, dann gibt es keine Ersatzteile, und sie müssen das alles selbst machen, so wie der Mann vom ADAC den kaputten Keilriemen mit der Strumpfhose von der Frau von der Caritas ersetzt hat, als wir den Ausflug nach Rothenburg gemacht haben, und ich immer nur denken musste, dass die Frau von der Caritas jetzt gar nichts mehr unter ihrem Rock anhat, was ich eklig fand, weshalb ich auch lieber ein Eis auf die Hand haben wollte, obwohl das viel weniger war als die Portion am Tisch, aber ich wollte mich einfach nicht zu denen setzen, sondern bin nach vorn auf die Terrasse und hab so getan, als wollte ich mir noch mal die Burg genauer anschauen, dabei hat mich die Burg kein bisschen interessiert. Meinem Vater hat das nichts ausgemacht, dass die Frau von der Caritas jetzt nichts mehr unter ihrem Rock anhatte. Er konnte neben ihr sitzen und seine Torte essen. Und mein Bruder ist sowieso noch zu klein. Die Frau von der Caritas könnte man auch anzeigen in der Ostzone, weil sie keine Strumpfhose trägt. Und wenn sie sagen würde, das sei ein Notfall gewesen und sie hätte auch nicht freiwillig ihre Strumpfhose hinter einem Busch ausgezogen und dem Mann vom ADAC gegeben, dann könnte man sagen, dass sie lügt. Also nicht in dem Fall, aber sonst, denn sonst lügt sie ständig. Und da könnte man das endlich mal gegen sie verwenden, weil es in der Ostzone verboten ist, ohne Strumpfhose herumzulaufen. Überhaupt ist es verboten, ohne Uniform herumzulaufen. Und dann hätte ich nicht nur so ein Plastikstilett und so einen Gummidolch, sondern ein richtiges Fahrtenmesser mit Horngriff und Blutrinne, und damit würde ich dann vor ihrem Gesicht rumfuchteln. Aber wenn wir in die Ostzone gehen, dann nützt mir das mit der Frau von der Caritas gar nichts, weil die ja immer noch hier ist. Und wenn ich sagen würde, dass sie ohne Strumpfhose rumläuft, dann würden die nur mit den Achseln zucken, weil die bestimmt denken, dass hier ohnehin alle halbnackt rumlaufen, nur weil wir keine Uniformen tragen und nach der Schule nicht zur Armee müssen. Aber ich könnte sagen, dass sie eine Fluchthelferin ist und dass sie mit ihrem Opel Kapitän junge Mädchen aus der DDR entführt hat, die dann anschließend hier im Westen ohne Strumpfhose herumlaufen mussten. Und dann würden die richtig wütend, und ich bekäme vielleicht den Auftrag, die Frau von der Caritas zu entführen und in die DDR zu bringen. Dazu würde man mir nicht nur ein Fahrtenmesser geben, sondern auch noch andere Waffen und eine Minox, mit der ich dann heimlich Aufnahmen machen könnte von irgendwelchen Gebäuden oder Leuten, die für die DDR interessant wären. Eine Minox ist tausendmal besser als meine Kodak Instamatic, die immer nur quadratische Bilder macht, weshalb man sie schräg halten muss, um was Hohes aufzunehmen, weil man mehr draufkriegt, wenn das Bild wie eine Raute ist, obwohl das dann im Album blöd aussieht und außerdem ziemlich viel Platz wegnimmt. Eine Minox ist außerdem noch viel kleiner, nicht viel größer als eine Schachtel Welthölzer, nur eben länglich und silbern. Achim wünscht sich eine von seiner Oma zum Geburtstag, die kann ich dann vielleicht mal leihen, dann müssen wir nicht in die Ostzone, weil die außer Waffen gar nichts haben, noch nicht mal Spielsachen, auch wenn ich mich eigentlich nicht mehr für Spielsachen interessiere. Aber auch keine Platten und auch kein Radio, also schon Radio, aber da laufen nur Durchsagen und die Nationalhymne, die außerdem noch von einem Hans-Albers-Schlager abgeschrieben wurde, wie unser Musiklehrer Bernhard sagt. Und Fernsehen haben sie auch keins, weil die Leute nicht wissen sollen, dass es woanders ganz viele Süßigkeiten gibt, dass man sogar beim Hausmeister Schwenk Schokoprinz und Weberkuchen kaufen kann und Bluna und dass Schokolade in Wirklichkeit was ganz anderes ist als altes Brot mit Kakao bestreut.

Es klopft. Ich schiebe das DIN-A4-Heft schnell unter das Kopfkissen. Es ist die Frau von der Caritas. Schläfst du noch nicht?, fragt sie und stellt sich in die Tür. Doch, sage ich. Sie trägt einen geblümten Bademantel. Das heißt, sie übernachtet wieder hier. Deine Mutter ist auch schon im Bett. Ich nicke und ziehe die Füße aus den Pantoffeln. Sag mal, sagt die Frau von der Caritas, ich habe da vorhin im Fernsehen gesehen, da suchen sie solche Gammler oder Anarchisten, die wollten hier unten in Biebrich die Kaufhalle in die Luft sprengen. Und da haben sie das Fluchtauto gezeigt und die Waffen, die sie im Handschuhfach gefunden haben, und dann war da noch so ein Sprengstoff, der war gar nicht groß, sondern in einem gelben Ei, und ich meine, dass ich so was auch schon mal bei dir gesehen habe. Silly Putty, sage ich. Ja, das kann sein. Was ist das denn? Das ist Knete. Und was ist da so Besonderes dran? Die hüpft wie ein Flummi, und dann kann man sie ganz lang dehnen und doch abreißen, und man kann aus der Zeitung Bilder abziehen. Wie - abziehen? Wenn man Silly Putty auf ein Zeitungsfoto legt und festdrückt, dann ist das Foto auf der Knete. Dann haben die das vielleicht benutzt, um Flugblätter zu machen? Nein, das geht nicht, da bräuchte man ja hundert davon, und Silly Putty ist teuer, das kostet fast 5 Mark. Zeigst du mir mal deins? Das hab ich Achim geliehen. Ach ja? Ja. Na gut, ist ja auch nicht so wichtig. Wenn er es dir wieder zurückgibt, kannst du es mir ja mal zeigen. Ja. Dann gute Nacht. Gute Nacht.

Irgendwas ahnt die Frau von der Caritas, aber ich weiß nicht was. Natürlich war es auch blöd, das Silly Putty mitzunehmen und im Handschuhfach liegen zu lassen. Ich weiß auch nicht, warum ich das gemacht habe. Alle meine wertvollen Sachen sind jetzt weg. Aber Beweise sind das trotzdem nicht, weil es mindestens zehn von den Wasserpistolen in der Kaufhalle gab, und Silly Putty verkaufen sie ja auch bei Hertie. Es klopft schon wieder. Ich lege mich schnell ins Bett und decke mich zu. Ich bin’s noch mal, sagt die Frau von der Caritas und steckt ihren Kopf zur Tür rein. Jetzt ist auf einmal der Bademantel oben auf, und ich kann ihren Büstenhalter sehen. Ich hab noch was vergessen. Die haben im Fernsehen auch was von einem Buzzer gesagt, den sie in dem Auto gefunden haben. Ist das nicht diese kleine Apparatur, die du mir mal gezeigt hast, die man aufzieht und in der Hand versteckt, und als du mir die Hand gegeben hast, da hat sich das gedreht, und ich bin richtig erschrocken, weil ich dachte, ich bekomme einen Schlag. Ja, das ist das. Kannst du mir den mal zeigen? Der scheint ja richtig gefährlich zu sein. Sie kommt einen Schritt weiter ins Zimmer und beugt sich noch ein Stück nach vorn, sodass ich den Büstenhalter ganz sehe und darunter ein Stück Bauch. Den hab ich auch dem Achim geliehen. Wie? Den auch? Ja, ich hab ihm meine ganze Schatztruhe geliehen. Aber deine Schatztruhe steht doch da drüben auf dem Regal. Ich meine ja auch nicht die Schatztruhe, sondern alles, was drin ist. Das Silly Putty und den Buzzer und das Cognacglas, aus dem man nicht trinken kann, und die Zauberseife und das Eiswasser und die Wasserpistole, mit der man um die Ecke schießen kann. Ach, die auch? Ja, die auch. Wann hast du denn Achim das letzte Mal gesehen? Gestern in der Schule. Und nicht heute Mittag? Nein, heute Mittag nicht. Der Achim hat doch lange Haare, oder? Na ja, so halblang, über die Ohren. Und hat der auch eine Freundin? Nein, glaube nicht. Na ja, wenn er dir die Sachen wiedergibt, zeigst du sie mir mal.

Es wäre natürlich blöd, wenn die Frau von der Caritas jetzt Achim verdächtigt und vielleicht noch bei seiner Mutter anruft. Das müssen wir irgendwie verhindern. Sie stellt immer so blöde Fragen. Auch damals, als wir versucht haben, mit einem Feuerzeug ein Loch in den Kaugummi-Automaten oben in der Bleichwiesenstraße zu brennen, oder als der Pez-Automat kaputtging, weil wir alle vier Knöpfe gleichzeitig gedrückt haben. Das hatte uns der Scharper erzählt, dass dann ganz viel rauskommt. Aber es kam noch nicht mal das eine Pez raus, für das wir Geld reingeworfen hatten. Oder als wir die Fenster in dem leerstehenden Haus eingeschmissen hatten, da hat die Frau von der Caritas auch wieder so komisch gefragt, ob ich da schon mal gewesen bin und so. Ich muss das mit Claudia und Bernd besprechen. Eigentlich finde ich die Frau von der Caritas eklig. Wenn wir sie entführen und in einem Keller gefangen halten, dann würde ich sie zwingen, ihre Bluse auszuziehen und den Büstenhalter auch. Natürlich wenn die anderen nicht da sind. Wir hätten ja auch Masken auf, und sie wüsste nicht, dass ich es bin, weil ich mit einer ganz hohen Stimme sprechen würde und so als wäre ich ein Amerikaner, und dann könnte ich sehen, ob ich das wirklich eklig finde oder nicht, weil Büstenhalter schon eklig sind, aber vielleicht der Busen nicht.

Ich stehe auf und stecke das DIN-A4-Heft wieder hinter den Schrank. Ich schreibe morgen an der Geschichte der Roten Armee Fraktion weiter. Nach Max Reger jr. und Kamerad Müller kommt Ethan Rundtkorn. Der ist genau in dem Jahr geboren, in dem der Junge, den Kamerad Müller angesprochen hat, das Attentat beging und vielleicht auch starb. Er ist Amerikaner und noch ziemlich jung, so zwölf oder dreizehn. Und dann aus Südamerika Miguel García Valdéz, der aber Felipe genannt wird. Er ist älter, denn er studiert schon. Mehr brauchen wir auch nicht, weil das für eine Vereinsgeschichte reicht, so wie in der wirklichen Geschichte ja auch: Ägypter, Griechen, Römer und dann wir. Zumindest so ähnlich, weil eigentlich geht es ja um uns, um die Rote Armee Fraktion. Ich setze mich zurück aufs Bett und nehme, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen, das Foto von John und Yoko aus meiner Brieftasche. Das Foto, das ich aus der Underground ausgeschnitten habe.

Den Halsreif mit dem Fuchsgesicht um den Hals von John Lennon auf dem Foto neben Yoko Ono. Alex sagt, Yoko und John sind nur nackt, damit alle auf Yokos Busen schauen und nicht den Halsreif bemerken mit dem Fuchsgesicht und den beiden magischen Augen. Aber ich habe es bemerkt, und deshalb bin ich auch krank geworden, glaube ich. Guido sagt, im Kampf, im unerbittlichen Kampf gegen die herrschende Macht müssen wir auch das opfern, was direkt neben uns steht, nämlich das Mädchen, in das wir verknallt sind. Wir dürfen niemals die Gruppe verraten, und John hat die Gruppe auch nicht verraten, wie man an dem Fuchsreif um seinen Hals sehen kann. Denn wenn man genau hinschaut, sieht man die beiden weißen Augen lebendig werden. Was sie sagen, kann ich noch nicht hören. In welche Richtung sie mir den Weg weisen, kann ich noch nicht sehen.

Pfarrer Fleischmann sagt, ich solle das Flugzeug besteigen und so viele abschießen wie möglich. Ich solle mich unter einen aufgehängten Eimer Wasser mit Löchern im Boden stellen und duschen. Ich solle den Tod meiner Kameraden gedanklich vorweg- und hinnehmen, weil alle Propheten und Heiligen und Märtyrer und Apostel letztlich gestorben seien und selbst der Auferstandene, obwohl auferstanden, zwar unter uns gewandelt, aber nicht auf der Erde geblieben sei, was einem Tod, auch wenn das blasphemisch klinge, gleichkomme, denn der Tod am Kreuz sei der wahre Tod, der Tod im Bett oder im Sanatorium oder im Konvikt, wenn man sich etwas um den Hals lege und zuziehe, sei kein wahrer Tod, denn erstens könne man sich nicht selbst ersticken, weil der Herr es so eingebaut habe in den Körper, dass man vorher ohnmächtig wird und die Kontrolle über seine Hände verliert und loslassen muss, weshalb es sinnlos sei, überhaupt zu versuchen, auf diese Art dem Herrn nachzufolgen, sondern man müsse sich etwas anderes ausdenken und auch den Fuchsreif um den Hals von John anders interpretieren und auslegen, und zweitens sei es eine Sünde, den Leib des Herrn, genauer den Leib, den der Herr einem gegeben habe, nackt zu zeigen und eben nicht in Kleidern zu verhüllen, damit nur der Herr wisse, wie man nackt aussehe und wirklich und wahrhaftig, jedoch niemand anderer sonst, da alle anderen die Kleider für das nehmen, was man sei, also die Shakehosen und Frotteesocken und Nickipullover und Twinsets und Elastikgürtel, weshalb man darauf achten müsse, eben das alles nicht zu tragen, weil es ablenke vom wahren Geiste, den man der Welt zwar als unnackt, aber eben deshalb nicht beliebig verkleidet zu präsentieren habe, weshalb er, Pfarrer Fleischmann, ein Gewand trage, das nicht ablenke, wie ein jeder, der sich Gott versprochen habe, nur in einem schlichten Gewand auf Erden wandele, einem Gewand, das in seinem Verhüllen auf die reine Nacktheit, die nuditas virtualis, verweise, während Shakehosen und Frotteesocken und Nickipullover und Twinsets und Elastikgürtel auf die nuditas criminalis verwiesen, weil man sich herausstaffiere und individualisiere, wie nur der individualisierte Körper erotisierend wirke, nicht aber die nach immer gleichen und vom Vatikan festgelegten Regeln gemalte Brust der Heiligen Jungfrau, weshalb der Ungläubige das Heilige in seiner Immer-Gleichheit oft als langweilig empfinde, das Böse hingegen in seiner herausstaffierten Individualität, in seinen immer anders dargestellten Dämonen und Teufeln als anregend und interessant, und es sei eine Hilfe bei der Erforschung des Gewissens, ob einen das Heilige langweile und das Böse affiziere. Und nur so könne man auch die Uniformen verstehen. Oder die Sträflingskleidung, die gestreifte, weil die Natur keine Streifen kenne, gestreift, weil man damit auf die Zweigeteiltheit des Sträflings hinweise, der seine Ganzheit verspielt habe und nicht länger nur sich allein gehöre.

Dr. Märklin erklärt mir den Fuchsreif folgendermaßen: Er sagt, obwohl ich noch ein Kind sei, müsse ich mich an meine Kindheit erinnern. Ich müsse mich an den Moment, in dem ich mich jetzt befinde, als etwas Vergangenes erinnern und so tun, als sähe ich aus der Zukunft auf mich zurück, denn nur dadurch könne ich erkennen, was mir die Kehle zuschnüre und weshalb ich immer von der Frau von der Caritas sprechen will, ohne dabei ihren Namen zu nennen, und nicht über meine Mutter. Warum und weshalb? Kann ich den Unterschied zwischen beiden Fragepronomina erkennen? Kann ich erkennen, dass das Warum nicht nach dem Weshalb fragt und umgekehrt? Und so sei es auch mit dem Fuchsreif um den Hals mit den beiden weißen Augen. Das eine Auge fragt warum. Das andere fragt weshalb. Kann ich den Unterschied erkennen?

Guten Tag, Dr. Märklin, sage ich mit möglichst tonloser Stimme, wenn ich das Zimmer betrete. Es klingt wie ein normales Guten Tag, meint aber Gelobt sei Jesus Christus, das ich beim Betreten des Beichtstuhls sage und wenn ich in Pfarrer Fleischmanns Zimmer komme. Pfarrer Fleischmann sagt dann: Das ist hier nicht nötig, auch wenn es mir gefällt, dass du das sagst, weil es mir zeigt, dass du ein rechter Kerl bist, weil ich weiß, dass aus dir noch etwas wird, dass du all den Unsinn nur gemacht hast, weil man dich dazu angestiftet hat. Aber jetzt setz dich hierher und erzähl einfach, was dir einfällt. Einfach was mir einfällt soll ich auch bei Dr. Märklin erzählen, aber dort fällt mir immer etwas anderes ein, weil er etwas anderes zu mir sagt als Pfarrer Fleischmann. Jetzt denke ich zum Beispiel, was Pfarrer Fleischmann wohl damit meint, mit dem ganzen Unsinn, und was er damit meint, dass man mich nur angestiftet hat. Von wem hat er das erfahren? Wer hat mit ihm darüber gesprochen? Und was meint er mit frei erzählen? Soll ich ihm sagen, wer mich angestiftet hat? Meint er die Dickwurz? Meint er Frau Berlinger? Meint er den Buzzer und die Wasserpistole? Silly Putty? Meint er das Päckchen Reval?

Ich greife der Einfachheit halber die Sätze von Pfarrer Fleischmann auf und sage, ja, man hat mich angestiftet. Ja, ich war zu schwach. Ja, ich habe nachgegeben. Sie haben mir gesagt, sie seien Märtyrer und Heilige, sie haben mir ihre Wunden gezeigt und die Striemen, und einer hatte sogar ein Auge kaputt und einer nur drei Finger, und ich wusste nicht, dass das vom Contergan kam, weshalb ich ihnen geglaubt habe, als sie mich im Fahrradkeller gefragt haben, ob ich nicht etwas für sie tun kann, ob ich nicht mitkommen kann, nachts, mich von zu Hause wegschleichen, an der