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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Fotolia.

ISBN 978-3-89656-580-8

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Für Norbert, den Mann an meiner Seite

„Rund 44 Millionen Menschen leiden weltweit an Demenz, und Schätzungen zufolge werden es bis zum Jahr 2050 dreimal so viele sein. Allein in Deutschland leben 1,4 Millionen Demenzpatienten.“

(Auszug aus einem Spiegel-Online-Artikel vom 11. Dezember 2013)

Das amerikanische National Institute on Aging hat sieben Warnzeichen formuliert, die auf eine beginnende Alzheimersche Krankheit hinweisen können und die die Menschen in der nahen Umgebung veranlassen sollten, ärztlichen Rat einzuholen.

1. Der Erkrankte wiederholt immer wieder die gleiche Frage.

2. Der Erkrankte erzählt immer wieder die gleiche kurze Geschichte.

3. Der Erkrankte weiß nicht mehr, wie bestimmte alltäg­liche Verrichtungen wie Kochen, Kartenspiel oder Handhabung der TV-Fernbedienung funktionieren.

4. Der Erkrankte hat den sicheren Umgang mit Geld, Überweisungen, Rechnungen und Ähnlichem verloren.

5. Der Erkrankte findet viele Gegenstände nicht mehr oder er legt sie an ungewöhnliche Plätze (unabsichtliches Verstecken) und verdächtigt andere Personen, den vermissten Gegenstand weggenommen zu haben.

6. Der Erkrankte vernachlässigt anhaltend sein Äußeres, bestreitet dies aber.

7. Der Erkrankte antwortet auf Fragen, indem er die ihm gestellte Frage wiederholt.

(Auszug aus einem Wikipedia-Eintrag)

„Die Zeit ist aus den Fugen.“

William Shakespeare – Hamlet

„Es war einmal“, beginnt Roman.

Karsten schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er. „Anders.“

„Willst du die Geschichte erzählen?“

„In meinem Kopf sind keine Geschichten mehr.“

„Dann hör meiner zu“, erwidert Roman.

Immer wenn sein Freund unruhig ist, setzt er sich zu ihm. Wenn Karsten durchs Haus rennt, seine Blicke hilflos durch das Zimmer stolpern oder die Finger nervös über Tischkanten streichen, nimmt Roman seine Hände und greift nach Geschichten, die ihm im Kopf herumschwirren. In solchen Momenten scheinen die Ausflüge ins Reich der Fantasie das Einzige zu sein, womit er Karsten erreichen kann. Märchen, an die er sich aus seiner Kindheit erinnert. Bruchstücke von Abenteuern aus den Büchern von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler, die ihm im Gedächtnis haften geblieben sind. Manchmal, wenn er ganz besonders mutig ist, versucht er es auch mit eigenen Einfällen. Vielleicht ist es der Klang seiner Stimme, der Karsten beruhigt, vielleicht ist es die simple Struktur der Erzählungen, in der Gut und Böse so einfach zu unterscheiden sind – selbst für einen beschädigten Geist wie den seines Freundes.

Als Roman den „Nichtsnutzen in Weiß“ – Karstens Wortwahl, nicht seine – davon berichtet hat, haben sie nur den Kopf geschüttelt. Es gibt so vieles, was noch nicht bekannt, noch nicht erklärbar ist. Und dennoch: Karstens Aufregung legt sich, sein Puls wird langsamer und seine ziellose Unruhe macht einem Lächeln Platz, wenn er in fremde Welten entführt wird. Dabei hat er die Vorliebe seines Freundes für diese Märchen früher bestenfalls toleriert.

Roman beginnt erneut, aber um Karsten einen Gefallen zu tun, ändert er den Anfang. „Noch immer versammeln sich die Stammesältesten während der Sommermonate am Lagerfeuer, abends, wenn die Arbeit auf den Feldern getan und das Vieh versorgt ist …“

„Viel besser“, unterbricht ihn Karsten erleichtert. „Das scheint … Finger und Fuß zu haben.“

„Psst“, sagt Roman. „In den dichten Wäldern jenseits der Moore mögen die Schatten springen und im Mondlicht die Wölfe heulen, doch hier, im Schein der brennenden Holzscheite und unter dem wachsamen Funkeln der Sterne, sind die Dorfbewohner sicher vor den Geistern des Waldes. Dann holt der Flötenspieler sein Instrument aus dem Beutel und beginnt eine Melodie zu spielen, die ihren Vorfahren von den geheimnisvollen Fremden beigebracht wurde, die eines Nachts nach einem Sturm zusammen mit dem Wrack eines Segelschiffes an den Strand des großen Meeres gespült worden waren. Nur drei der Fremden hatten überlebt, die anderen waren gestorben an Entkräftung, an Fieber, an Sehnsucht, aber diese drei – ein Bauer, ein Astronom und ein Schreiner – haben das Leben des Stammes verändert. Sie zeigten den Männern, wie man Hütten baut, um auch außerhalb der Berghöhlen vor Regen geschützt zu sein, sie brachten ihnen bei, wie man Getreide sät und erntet und wie man den Lauf der Sterne deutet. Den Frauen zeigten sie, welche Kräuter heilende Wirkung besaßen oder nahrhaft waren, und bald waren ihre Kinder nicht mehr so häufig an Krankheiten gestorben. So wurde aus dem rastlosen Stamm der Nomaden eine Gemeinschaft von Bauern und Viehhaltern, die nicht mehr den Herden hinterherzogen, sondern ihr Leben an einem Ort verbrachten, den Jahreszeiten trotzten und zum ersten Mal eine Heimat für sich in Besitz nahmen.

Nach einigen Jahren verließen die Fremden sie, getrieben von einem unstillbaren Fernweh, und waren nie mehr zurückgekommen. Doch neben dem Wissen, das ihnen die seltsamen Fremden schenkten, haben die Dorfbewohner die Geschichten behalten, die sie von ihnen gehört haben. Geschichten von einer Insel jenseits des Horizonts mitten im unendlichen Meer, die von fremdartigen Wesen und Tieren bevölkert wurde, regiert von der Magie und der Kriegskunst mächtigen Königen, und die doch in einer einzigen Nacht durch einen vom Himmel fallenden Stern vernichtet worden war. Diese Geschichten erzählen sich die Dorfältesten noch immer am Lagerfeuer in den lauen Sommernächten, und dabei blicken sie nach Westen, wo sie die Fremden an der Küste gefunden haben …“

„Weiter!“, sagt Karsten. „Mehr!“ Er atmet gleichmäßig, seine Wut ist verflogen.

„Heute nicht“, erwidert Roman. „Ich muss zur Arbeit. Kommst du alleine klar?“

„Natürlich.“ Karsten spitzt die Lippen. „Ich bin schon klargekommen, als du noch nicht auf der Welt warst.“

„Ach so?“ Roman hat gelernt, Äußerungen dieser Art zu ignorieren. Ihr Wahrheitsgehalt ist bestenfalls fragwürdig, der Zusammenhang nicht immer sofort zu erkennen.

„Gibt es Zauberer in dieser Geschichte?“

„Zauberer und Drachen und …“

„Schattenspringer?“

„Was sind Schattenspringer?“

„Ich weiß nicht. Das Wort war auf einmal hier drin.“ Karsten tippt sich an den Kopf.

„Dann gibt es auch Schattenspringer. Aber heute nicht mehr.“ Roman drückt seinem Freund einen Kuss auf die Stirn und will sich hinausstehlen.

„Wo gehst du hin?“, ruft ihn Karsten zurück.

„Arbeiten“, wiederholt Roman geduldig. „Ich muss zum Dienst ins Krankenhaus.“

„Ah, natürlich. Das wusste ich.“ Karstens Miene verfinstert sich. „Du musst nicht so tun, als wäre ich dumm. Dann kann ich sehr böse werden, mein Lieber.“

„Ist gut. Kann ich dich alleine lassen?“

„Ja, ja!“

„Ich rufe dich einmal die Stunde an, okay? Und wenn du Hilfe brauchst …“ Roman bricht mitten im Satz ab. Er kann es kaum noch verantworten, Karsten alleine zu lassen. Die Stunden in der Klinik sind eine Tortur, weil er in ständiger Sorge ist. „Ich kann dir die Geschichte morgen weitererzählen, wenn du möchtest“, sagt er schließlich.

Sein Mann starrt gedankenverloren auf den Boden und schweigt.

„Karsten?“

„Ja?“

Roman seufzt. Er kennt diesen Gesichtsausdruck. Nichts von dem, was er in den letzten Minuten erzählt hat, hat Spuren in Karstens Gedächtnis hinterlassen. Seine Worte sind wie Herbstlaub, das von einer Windbö erfasst und fortgeweht wird. Und so wird er beim nächsten Mal wieder Karstens Hände nehmen, tief durchatmen und seinem Freund etwas Neues erzählen. Aber es muss etwas Großes sein, etwas von Bedeutung. Etwas, das einen Unterschied macht. In der Hoffnung, dass wenigstens ein Bruchteil davon bei Karsten haften bleibt.

Plötzlich hat Roman eine Idee. Alles, was er braucht, sind eine Videokamera und ein Mikrofon.

Die Tür quietscht, als Roman das Schlafzimmer betritt, und der Dielenboden knarrt leise unter seinen Schuhen. Karsten hat beide Hälften des Bettes in Beschlag genommen und sich quer hineingelegt. Seine Füße baumeln über die linke Seite; Roman kann die dunklen Härchen auf seinen Zehen sehen. Ein Kissen liegt auf dem Boden, die Laken sind zerwühlt – als wäre Karsten selbst im Schlaf auf der Suche nach etwas, das sich nicht benennen lässt. Wenn er wach ist, durchstöbert er häufig seine Hosentaschen, befördert den Inhalt ans Tageslicht: Schlüssel, Kleingeld, Kaugummipapier, längst vergessene Merkzettel, ein Taschentuch. Er betrachtet die Dinge irritiert, murmelt etwas Unverständliches und verstaut sie kopfschüttelnd wieder. „Es ist weg“, sagt er dann, aber wenn man ihn fragt, was genau er denn vermisse, bleibt er die Antwort schuldig.

Im Gegensatz zu Karsten ist Roman von den ersten Sonnenstrahlen aufgeweckt worden. Eine Schar Meisen hatte sich in der Birke neben dem Goldfischteich hinten im Garten versammelt und den Baum lautstark nach Insekten und Larven abgesucht. Kurz darauf war er aufgestanden; dabei ist er todmüde. Seit Karsten so schlecht dran ist, kann Roman nicht mehr durchschlafen, bei jedem Geräusch schreckt er hoch. Zweimal hat er ihn in der Nacht zur Toilette gebracht, um zwei und um halb fünf, weil er sich in der Dunkelheit nicht mehr zurechtfindet und ins Bett pinkeln würde.

„Komm“, sagt er sanft. „Es ist schon spät. Du hast lange genug geschlafen.“ Wenn Roman nervös, gehetzt oder angespannt klingt, überträgt sich die Stimmung sofort auf seinen Freund und er macht einem die nächsten Stunden zur Hölle. Doch selbst wenn man nett und liebevoll ist, hat man nur eine Chance von fünfzig zu fünfzig.

Karsten hat sich die Decke über den Kopf gezogen und reagiert erst, als Roman sie ihm wegnehmen will. „Verschwinde!“, faucht er. „Dich will ich nicht sehen. Hol die Frau.“

Roman seufzt. „Die Frau“ ist Sophie, ihre Nachbarin aus dem heruntergekommenen Haus gegenüber, an dessen Fassade Efeu wuchert und wo Löwenzahn den Grashalmen die Herrschaft auf dem Rasen streitig macht. Wilder Holunder wächst dort, und Brennnesseln erobern jedes Jahr ein größeres Stück Grün. Aus irgendeinem Grund hat Karsten Sophie besonders ins Herz geschlossen, obwohl er vor der Krankheit kaum ein Wort mit ihr gewechselt, sie verächtlich als „alte Schachtel“ bezeichnet hatte. Seit einiger Zeit jedoch sitzen sie immer wieder zusammen auf der Bank vor dem Haus, einträchtig wie ein altes Ehepaar den Schatten genießend, den die dichten Blätter der Kastanie auf dem Bürgersteig vor der Augustsonne bieten.

„Worüber sprecht ihr bloß?“, hat Roman Sophie gefragt, wobei sich die Eifersucht in seiner Stimme nicht ganz verdrängen ließ. „Die meiste Zeit erzählt er doch nur noch wirres Zeug!“

„Und wenn schon“, hat Sophie gekrächzt und Roman ihre knochige, mit Altersflecken übersäte Hand auf den Arm gelegt. Danach hat sie angefangen zu lachen, ihr heiseres Raucherlachen, das meist in einem abscheulichen Hustenanfall endet. „Außerdem muss man nicht immer reden.“ Mit ihren einundachtzig Jahren ist Sophie dreißig Jahre älter als Karsten – sie könnte seine Mutter sein – und noch sehr viel rüstiger, vor allem aber klarer im Kopf als er. Mit ihrem zerfurchten Gesicht, der dürren Gestalt und den langen, grauen Haaren erinnert sie an die Hexe aus einem Märchenbuch. Kein Wunder, dass die Kinder in der Nachbarschaft sich vor ihr fürchten und heimlich mit dem Finger auf sie zeigen.

Roman erklärt Karsten, dass Sophie im Moment nicht kann, weil die Schwiegertochter ihren Besuch angekündigt hat. „Aber sie hat versprochen, heute Nachmittag vorbeizukommen. Vorhin hat sie schon einen Pflaumenkuchen gebracht.“ Sein Blick fällt auf den gepackten Koffer in der Ecke neben der Tür. Schnell schaut er weg.

Man kann Karsten nicht ansehen, ob er die Erklärung seines Freundes verstanden hat, aber immerhin schwingt er seine Beine aus dem Bett und setzt sich auf die Bettkante.

„Wo bin ich?“, fragt er, während seine nackten Füße vor dem kühlen Holz zurückschrecken. Sein Blick irrt durchs Zimmer und bleibt verständnislos an dem Mobiliar, den Bildern und den Büchern im Regal über dem Bett hängen, als sähe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Dabei hat er das Regal selber angebracht, damals, als noch alles in Ordnung war. Schon immer hat Karsten gerne gelesen, er hat es geliebt, fremde Welten und andere Leben kennenzulernen; die meisten seiner Bücher stehen dicht gedrängt in Regalen im Arbeitszimmer, eine ganze Wand entlang. „Staubfänger“ nennt Roman sie, der in seiner Freizeit lieber in Bewegung ist, als still in einem Sessel zu sitzen.

Seine Lieblingsbücher aber wollte Karsten abends in Griffweite haben, um ein oder zwei Passagen vor dem Schlafengehen zu lesen. Ovids Metamorphosen, Armistead Maupins Stadtgeschichten und Shakespeares Tragödien. Viele Jahre hat er sie mit sich herumgeschleppt, von einer Station seines unsteten Lebens zur nächsten. Er hat sie behütet wie einen Schatz, mit Anmerkungen versehen, hin und wieder ganze Zeilen mit Bleistift unterstrichen, und doch besitzen die vielfach gelesenen Seiten jetzt nur noch den Wert von Altpapier. Auch die Bücher im Arbeitszimmer zieht er nicht mehr aus den Regalen; manchmal streicht er zögernd über die Buchrücken, starrt auf die Autorennamen und Titel – Rituale einer alten, fast vergessenen Liebe.

Seit Kurzem haben die Regale im Arbeitszimmer Lücken, und die Bücher über dem Bett wird Roman bald in den Koffer legen. Auch einige wenige Möbelstücke fehlen, sind abtransportiert worden. An den Stellen, an denen sie gestanden haben, ist der Boden heller, sind die Wände weißer; man meint, noch die Umrisse des Mobiliars zu erkennen.

„Wo du bist?“, wiederholt Roman und reicht seinem Freund eine frische Unterhose. „Zu Hause natürlich.“

Karsten schüttelt den Kopf. „Zu Hause habe ich einen …“ Seine Hände deuten ein kastenförmiges Gebilde an. „Einen …“

„Karton?“, rät Roman.

Karsten stampft unwirsch mit dem Fuß auf. „Anders. Man kann drübergucken. Mit Blumen.“

„Man kann drüber…? Ah! Balkon?“

„Genau. Zu Hause habe ich einen Balkon. Dies hier … ist bestenfalls ein Auffanglager“, belehrt er Roman. „Ich bin nicht sicher, ob die sanitären Anlagen einer Überprüfung standhalten.“ Er hält die Unterhose hoch und versucht, beide Arme hindurchzustecken. „Zu klein. Du sollst mir nicht immer Sachen in Größe S kaufen, Peter.“

Roman beißt sich auf die Lippe. Inzwischen kommt es häufig vor, dass ihn Karsten mit seinem ersten Freund verwechselt, mit dem er in den achtziger Jahren zusammen war, während seines Studiums in Bamberg. Es wäre sinnlos, den Irrtum zu berichtigen, Karsten würde ihm kein Wort glauben. Genauso wenig würde er Romans Erklärung akzeptieren, dass sie die Wohnung mit Balkon schon vor Jahren gegen das Haus eingetauscht haben, in dem sie jetzt leben. Ein Haus mit Garten am Rande der Stadt. Karstens Gehirn kann die Korrekturen nicht mehr verarbeiten. Trotzdem – es tut weh. Jedes Mal.

Roman bückt sich und nimmt Karsten die Unterhose ab, hilft ihm, hineinzusteigen und sie hochzuziehen. In der Woche, wenn er arbeitet, übernehmen andere Karstens Versorgung in den Vormittagsstunden. Das Wochenende dagegen gehört ihnen allein.

Als die erste Hürde geschafft ist, erhält Roman zur Belohnung ein schmales Lächeln. „Fertig!“ Karsten steht auf und will halb nackt in die Küche marschieren, wo seit Stunden das Frühstück auf ihn wartet. Roman überlegt, ob er ihn zurückhalten soll, um ihn weiter anzukleiden, aber dann lässt er es bei Bademantel und Pantoffeln bewenden. Es ist sowieso schon spät, sein ganzer Zeitplan ist kurz davor zusammenzubrechen. In einer Stunde muss er am Bahnhof sein.

Meist lichtet sich der morgendliche Nebel in Karstens Kopf ein wenig, wenn er etwas gegessen und den ersten Kaffee getrunken hat. Roman setzt seinen Freund an den großen Tisch in der Nähe des Fensters, bestreicht seinen Toast mit Butter und Marmelade und teilt ihn in mundgerechte Stücke. Die Notwendigkeit, das Frühstücksbrot klein zu schneiden, ist eine neue Entwicklung, erst wenige Wochen alt, ein weiterer Schritt auf Karstens Weg in ein Land des völligen Vergessens. Roman stellt es sich als einen weißen Klecks, einen blinden Fleck im Nirgendwo vor, an dem nichts mehr zu Karsten vordringt: keine Bedürfnisse außer den primitivsten; keine Worte, die einen Sinn ergeben; keine Gedanken, die erklärbar wären. Ein Leben außerhalb der Zeit, in dem weder Vergangenheit noch Zukunft existieren, nur das Jetzt von Wichtigkeit ist. Aber wer weiß das schon genau? Niemand hat ihm bisher die Welt beschreiben können, die auf Karsten wartet. Die Ärzte verschanzen sich hinter einem Fachjargon, den er als Krankenpfleger zwar einigermaßen zu deuten weiß, dessen Erkenntnisse ihm aber nicht weiterhelfen. Das Wissen um das Sterben von Neuronen in Karstens Gehirn, die Ablagerungen von Plaques und die unzureichende Produktion von bestimmten Botenstoffen wie Acetylcholin ist zu abstrakt, um diese Welt zufriedenstellend zu erklären.

Karsten hebt ein Stück Toast an und begutachtet es interessiert von allen Seiten, bis die Marmelade auf den Teller zu tropfen beginnt.

„Steck es in den Mund“, schlägt Roman vor. „Und dann kauen.“ Zwischendurch schaut er verstohlen auf seine Armbanduhr. Eine von Karstens Angewohnheiten, die im Laufe der Jahre auf ihn abgefärbt haben.

Sein Freund zieht die Augenbrauen hoch, als wäre Nahrungsaufnahme ein etwas absurdes Konzept, von dessen Nutzen er erst noch überzeugt werden muss. Immerhin folgt er Romans Anweisung, und zu den hochgezogenen Augenbrauen gesellen sich weit aufgerissene Augen, als er mit dem Geschmack der Marmelade auf der Zunge konfrontiert wird. „Süß!“, sagt er beglückt.

„Johannisbeere. Deine Lieblingskonfitüre.“ Wie froh Roman ist, wenigstens hin und wieder zu ihm durchdringen zu können. „Weißt du noch, welcher Tag heute ist?“

Karsten zögert mit der Antwort. „Wie viele Joker habe ich?“

„So viele du willst.“

„Mittwoch?“

„Samstag, aber das meine ich nicht. Heute ist ein besonderer Tag.“

„Ah ja?“

„Heute steigt die große Party, von der ich dir erzählt habe. Alle werden kommen.“

„Mein Geburtstag ist erst im …“ Der Satz versickert wie ein Rinnsal im Nichts.

„Im November“, hilft ihm Roman auf die Sprünge. „Aber wir feiern auch nicht deinen Geburtstag. Es ist ein Sommerfest. Eine Gartenparty.“ Auch wenn das eine kleine Lüge ist oder bestenfalls die halbe Wahrheit.

„Und welcher Tag ist heute? Mittwoch?“

„Samstag“, wiederholt Roman.

„Komisch. Es kommt mir wie April vor.“

„August. Es ist Ende August.“

Karsten schaut aus dem Fenster und beobachtet Sophies Haus. Ein Auto fährt vor, hält auf dem Bürgersteig, und eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters steigt aus, eine Zigarette mit Zigarettenspitze in der Hand, die Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Ellen, Sophies Schwiegertochter. Sie kommt alle paar Wochen vorbei, um nach Sophie zu sehen, mehr aus Verpflichtung als aus Sorge. Sophies Sohn ist 2004 beim Urlaub in Thailand durch den Tsunami ums Leben gekommen; man nimmt an, dass er von herumwirbelnden Trümmerteilen am Strand von Phuket erschlagen wurde. Seine Leiche wurde wohl ins Meer gespült; jedenfalls hat man sie nie gefunden. Die Leute sind fasziniert, wenn Sophie diese Geschichte erzählt, und sehen sie an, als wäre sie durch den spektakulären Tod ihres Sohnes geadelt, zu einer Art Promi geworden. Anschließend erklärt Sophie, dass Ellen Glück hatte, weil sie am Tag der Katastrophe wegen einer Migräne im Hotel geblieben war. Dabei klingt sie immer irgendwie gehässig. Die Stippvisiten ihrer Schwiegertochter lässt Sophie über sich ergehen wie ein Bambusrohr, das sich im Wind biegt. Sie nickt und lächelt, wenn sich Ellen mit ihr unterhält, und verdreht hinter ihrem Rücken die Augen.

Karsten fängt selbstvergessen an zu summen, dann singt er leise ein paar Worte. „… and here’s to you, Mrs. Robinson, Jesus loves you more than you will know …

Roman lässt überrascht seine Kaffeetasse sinken. „Ja“, sagt er. „Du hast recht.“

Karsten hat schon immer ein besonderes Verhältnis zu Musik gehabt, fast ist es eine Gabe: Jederzeit kann er ein Lied aus seiner Erinnerung hervorkramen, das zu einer bestimmten Situation passt, auch jetzt noch. Noch überraschender ist seine fast schon unheimliche Fähigkeit, das Radio genau dann einzuschalten, wenn gerade ein Stück gespielt wird, das seiner Gefühlslage entspricht. Roman hat sich nie daran gewöhnen können.

In diesem Fall und an diesem Morgen ähnelt Ellen tatsächlich Anne Bancroft in Die Reifeprüfung, dem Filmklassiker, zu dem Simon & Garfunkel die Musik beigesteuert haben. Sie trägt ein schwarzes Kleid und Pumps; ihre ganze Aufmachung wirkt deplatziert, viel zu elegant für einen Vormittag in der Vorstadt. Und der Text stimmt auch. Karsten hat ihn korrekt abgespeichert und fehlerfrei wiedergegeben. Er hat eine Vorliebe für Musik aus den sechziger und frühen siebziger Jahren, seiner Kindheit und Jugend. Noch immer liegen auf dem Speicher in einem alten Umzugskarton die Platten von damals: die Beach Boys, Bee Gees, The Who, die Beatles, die Rolling Stones. Jedenfalls kann er bei all diesen Liedern mitsingen. Meist ist es ein Zeichen von Zufriedenheit, wenn er ein Lied anstimmt. Vielleicht wird es doch noch ein guter Tag.

„Marvin und Tom kommen übrigens auch“, sagt Roman. „Ich muss sie gleich vom Bahnhof abholen. Sie bleiben das ganze Wochenende. Freust du dich?“

„Marvin und …“ Karsten runzelt die Stirn.

„Tom“, springt Roman ein.

„Ja, Tom. Ich bin ja nicht blöde! Die Kleinen.“

Diese Umschreibung wird den beiden jungen Männern kaum gerecht. Mit neunzehn Jahren ist Karstens Neffe alles, aber nicht mehr klein, und der zwanzigjährige Tom, sein Freund, erst recht nicht. Die zwei tauchen in unregelmäßigen Abständen bei Roman und Karsten auf: immer dann, wenn Angelika – Marvins Mutter und Karstens jüngere Schwester – wieder Stress macht. Sie hat die Homosexualität ihres Bruders immer als persönliche Bürde empfunden. Manchmal glaubt Roman, dass sie Karstens Krankheit als gerechte Strafe betrachtet, auch wenn sie das natürlich niemals zugeben würde. Aber wie sonst soll er die selbstgefälligen Blicke interpretieren, die er bemerkt, wenn sie während ihrer seltenen Besuche die Hilflosigkeit ihres Bruders beobachtet, die zunehmenden Fehlfunktionen seines Gehirns? Oder sind es in Wirklichkeit eher furchtsame Blicke, die eine heimliche Angst verraten, dass sie ihre eigene Zukunft vor sich sieht? Es ist noch nicht lange her, dass sie für einen kurzen Moment menschlich wirkte, verletzbar und mitfühlend, zu einem Zeitpunkt, an dem er verzweifelt war und ohne sie nicht zurechtgekommen wäre. Aber auch aus anderen Gründen war dies ein denkwürdiger Tag gewesen, ein Tag, an dem viel schmutzige Wäsche gewaschen worden war. Roman wird ihn nicht so schnell vergessen.

Dass sich ihr Sohn mit sechzehn dann ebenfalls als schwul geoutet hat, ist für Angelika noch immer kaum hinnehmbar, und ihre Frustration über diesen vermeintlichen Schicksalsschlag äußert sich in periodisch auftretendem Druck und hilflosen, von vornherein zum Scheitern verurteilten erzieherischen Maßnahmen, bei denen sie zum Beispiel Marvin verbietet, die Tür seines Zimmers zu schließen, wenn Tom zu Besuch ist. Oder sie versucht es so lange mit Moralpredigten, bis Marvin es nicht mehr aushält und mit Tom einige Tage zu Karsten und Roman flüchtet.

Karstens Aufmerksamkeit wird wieder von den Ereignissen auf der Straße in Anspruch genommen. Im Haus gegenüber öffnet sich die Tür, und Mojo kommt heraus, Sophies Hund, eine kleine Straßenmischung mit struppigem, braunweißem Fell, gefolgt von seiner Besitzerin in einem ihrer verwaschenen Hausanzüge. Karsten springt auf und rennt nach draußen, bevor Roman reagieren kann. „Sophie!“, ruft er begeistert. „Sophie!“

Überglücklich begrüßt er die überraschte Frau, als sähe er sie nach zwei Jahren Abwesenheit zum ersten Mal wieder.

Sophie lacht und lässt sich von Karstens ungestümer Umarmung nicht aus der Fassung bringen. „Guten Morgen, mein Lieber! Hast du gut geschlafen?“

„Tut mir leid“, entschuldigt sich Roman etwas atemlos, als er hinter Karsten hergelaufen kommt. „Aber er ist manchmal so schnell …“

Ellen mustert Karstens Erscheinung, und Roman sieht seinen Freund durch ihre Augen: einen Mann mittleren Alters mit dünnem Haar, der in Pantoffeln und einem Bademantel voller Marmeladenkleckse auf der Straße steht und offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Er kann nichts dagegen tun, dass er sich in diesem Moment für Karsten schämt.

„Er hat Alzheimer“, versucht er die Situation zu erklären.

Ellen setzt einen säuerlichen Gesichtsausdruck auf. „Ich weiß. Meine Schwiegermutter hat mir davon berichtet.“ Dann schiebt sie Sophie vor sich her ins Haus zurück, als müsste sie sie vor einem aufdringlichen Bettler in Sicherheit bringen.

„Komm“, sagt Roman verärgert. „Dein Frühstück wartet.“

„Frühstück?“, fragt Karsten. Ellens Reaktion hat er gar nicht bemerkt. „Dann hätte ich gerne ein Omelett und ein Kännchen Tee.“

Eigentlich hatte er gar nicht kommen wollen. Das zweite Januarwochenende zeigte sich kalt und regnerisch, und Karsten hätte es vorgezogen, den Abend vor dem Fernseher in Gesellschaft der Fernbedienung und einer Tüte Chips zu verbringen, anstatt sich bei diesem Wetter nach draußen zu begeben. Doch als er das Telefon in die Hand nahm, eine fadenscheinige Ausrede parat, hatte Christian ihn überhaupt nicht zu Wort kommen lassen.

„Karsten, ich weiß genau, warum du anrufst! Du kommst mit! Keine Widerrede. Wie lange warst du schon nicht mehr im Kino?“

„Ähm … da habe ich noch in Dresden gewohnt, glaube ich … seit Titanic nicht mehr.“

Am anderen Ende der Leitung ließ Christian ein entsetztes Zungenschnalzen hören. „Es ist mehr als fünf Jahre her, dass Celine Dion mit ihrem Geschrei den Kahn zum Kentern gebracht hat!“

„Ich bin eben kein großer Kinogänger“, verteidigte sich Karsten. „Ein Glas Rotwein und ein gutes Essen sind mir lieber. Und außerdem … muss es unbedingt Herr der Ringe sein? Ich hab die ersten beiden Teile schon nicht gesehen. Ich weiß gar nicht, worum es geht.“

„Die Guten kämpfen gegen die Bösen, mehr muss man nicht wissen. In den Film geht man wegen der Special Effects. Abgesehen davon haben wir uns vor Weihnachten das letzte Mal gesehen. Jörg hat schon einen bissigen Kommentar abgegeben.“

„Wieso? Was hat er denn gesagt?“

„Dass Freundschaften gepflegt werden müssen oder so was in der Art. Du kennst ihn ja.“

In der Kritik steckte ein Körnchen Wahrheit. Karsten wickelte Verabredungen mit Freunden häufig wie geschäftliche Termine ab: etwas, das erledigt werden musste, eine Verpflichtung, die es zu bewältigen galt. Nervös blickte er bei solchen Anlässen auf die Uhr, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und wischte mit den Händen über die Oberschenkel. Fremde fühlten sich von seinem Verhalten oft vor den Kopf gestoßen. Erst wenn man ihn besser kannte, wurde man sich bewusst, dass diese Ungeduld dazu diente, Karstens immense Unsicherheit zu überspielen.

„Hör zu“, seufzte er. „Es ist lieb gemeint, aber ich habe im Moment wirklich viel zu tun. Nächste Woche kommt die Wirtschaftsprüfung in die Firma und …“

„Ich hab die Karten für uns vier schon besorgt“, unterbrach ihn Christian.

„Uns vier?“ Karsten wurde plötzlich hellhörig. „Wer außer dir und Jörg kommt denn noch mit?“

„Oh … ähm … er heißt Roman, ein Arbeitskollege von Jörg aus dem Krankenhaus“, nuschelte Christian. „Es war Jörgs Idee! Er hat gesagt, es wäre doch prima, wenn ihr euch kennenlernen würdet.“

Karsten versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Auch wenn Jörg und Christian seine ältesten Freunde waren und er Christian schon seit dem Zivildienst beim Naturschutzbund kannte, gingen ihm die gut gemeinten Versuche, ihn zu verkuppeln, auf die Nerven. Erst war es Berthold gewesen, Jörgs Frisör, der einen blond gefärbten Bart trug, dann Johannes, der beim Sprechen immer die Hand vor den Mund hielt, um eine Zahnlücke zu verbergen, und danach Roland, der nur über Fußball diskutieren wollte, obwohl Karsten gleich zu Anfang der Bekanntschaft klarstellte, dass er mit Sport ungefähr so viel am Hut hatte wie Cher mit einem natürlichen Alterungsprozess. Und jetzt also Roman.

„Ich bin nicht interessiert“, erklärte Karsten, auch wenn er wusste, dass seine Äußerung auf taube Ohren stieß. „Ich bin noch nicht so weit.“

„Du bist noch nicht so weit? Was soll denn das heißen? Deine einzige feste Beziehung war in den Achtzigern“, erinnerte ihn sein bester Freund. „Das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist!“

Karsten runzelte die Stirn. „Das hat nichts mit Peter zu tun. Ich fühle mich einfach wohl in meiner Haut, so allein. Ich habe mich daran gewöhnt.“ Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Oft sehnte er sich nach jemandem, an den er sich ankuscheln, zu dem er abends nach der Arbeit nach Hause kommen konnte, aber dieses Gefühl war niemals so übermächtig, dass er das Bedürfnis verspürte, an seinem Single-Dasein etwas zu ändern. Oder war auch das gelogen? Die Wohnung war zu groß für ihn, eigentlich bewohnte er nur zwei der vier Zimmer, das Bett war zu leer. Wenn er in der Mitte lag, dann kam er sich vor wie der Kapitän an Bord eines Schiffes, das von der Crew und den Passagieren längst aufgegeben worden war. Natürlich hatte es nach Peter andere Männer gegeben, manche blieben nur eine Nacht, andere länger, aber es war keiner dabei gewesen, mit dem er sich etwas Festes, etwas Langfristiges hatte vorstellen können.

„Du sollst diesen Roman ja auch nicht gleich heiraten“, sagte Christian.

Karsten warf einen missmutigen Blick auf die Regenschlieren am Fenster. „Also schön, ich komme“, gab er nach. „Aber nur unter Protest. Und auch nur, wenn du mir versprichst, dass ihr nie mehr Partnervermittlung spielt.“

Er parkte den Wagen in einer Tiefgarage und hastete zum Treffpunkt vor dem Kino. Zum Regen hatte sich ein unangenehmer Wind gesellt, der durch die Straßen pfiff und ihn veranlasste, den Jackenkragen hochzuschlagen und sein Kinn so weit wie möglich in dem Schal zu vergraben. Der Wind wirbelte nasses Laub auf und türmte es in geschützten Ecken zu unansehnlichen, schmutzigen Haufen.

Schon von Weitem konnte er die anderen erkennen. Christian, rothaarig, schlaksig und das Gesicht übersät mit Sommersprossen, überragte jede Menschenansammlung um einen halben Kopf, und Jörg – viel kleiner als sein Freund – war durch sein dröhnendes Lachen und seine stämmige Figur ebenfalls unverwechselbar. Als Paar erinnerten ihn die beiden immer unfreiwillig an Pat und Patachon, ein dänisches Komikerduo aus der Stummfilmzeit, dessen Filme er als Kind im Fernsehen gesehen hatte. Neben ihnen stand ein Mann mit einem dunklen Dreitagebart und rabenschwarzem, gegeltem Haar voller Locken, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Karsten hatte sich vorgenommen, Roman nicht zu mögen, schon auf den ersten Blick Makel an ihm zu entdecken. Doch jetzt war er widerwillig angenehm überrascht und musterte Roman verstohlen, solange die anderen ihn noch nicht entdeckt hatten. Er war kleiner, als Karsten erwartet hatte, und jünger, besaß eine sportliche, drahtige Figur, einen knackigen Hintern … und er hatte niedliche, abstehende Ohren. Karsten bekam weiche Knie. Er stand auf kleine Männer mit Segelohren. Sie machten ihn einfach schwach und lösten in ihm einen Beschützerinstinkt aus. Eigentlich sah der Mann zu gut aus, um echt zu sein. Vielleicht lispelte er oder litt unter Depressionen? Irgend­einen Grund musste es geben, warum er noch nicht in festen Händen war.

„So“, sagte Karsten, nachdem er Jörg und Christian begrüßt hatte, und wandte sich an Roman, „du bist also mein Date für heute Abend?“ Nervös schob er den Ärmel der Jacke nach oben, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Christian schüttelte den Kopf und hielt ihn mit der Hand auf seinem Arm zurück.

„Sieht ganz so aus“, erwiderte Roman. Ein schelmisches Lächeln flog über seine Lippen, und er deutete auf seine Begleiter. „Die beiden lassen sich das ja auch was kosten. Bei so viel Kohle konnte ich nicht Nein sagen.“

Karsten starrte ihn an. „Soll das heißen, du bist hier, weil sie dich bezahlen?“

Erst als die anderen sich vor Lachen bogen, wurde ihm klar, dass Roman ihn zum Narren gehalten hatte.

„Sorry“, sagte Christian und schnaubte sich die Nase, „aber als du am Telefon die Partnervermittlung ins Spiel gebracht hast, konnte ich einfach nicht widerstehen.“

„Sehr witzig“, knurrte Karsten. Roman zwinkerte ihm zu, und er bemerkte, wie sein Herz schneller schlug.

Während des Films bot ihm Roman seine Tüte mit Popcorn an, und hin und wieder berührten sich versehentlich ihre Oberschenkel. Oder war es Absicht? Karsten konnte es nicht mit letzter Sicherheit sagen. Wenn er in der Dunkelheit des Kinos einen verstohlenen Blick auf Roman riskierte, waren dessen Augen starr auf die Leinwand gerichtet, aber seine Lippen umspielte beständig ein Grinsen, das Karsten noch weiter verunsicherte. Er kam sich vor wie ein Teenager, dessen Hormone durcheinanderwirbelten. Lächerlich, sich in einer solchen Situation wiederzufinden, grotesk geradezu! In Gedanken sah er sich aufstehen, durch die vollen Sitzreihen dem Ausgang zustreben, den Unwägbarkeiten des Abends entfliehen. Doch seine Gliedmaßen verweigerten die Gefolgschaft, drückten sich tiefer in den Sitz, schienen ein Eigenleben abgekoppelt von seinem Verstand zu entwickeln. Karsten begann zu schwitzen, seine Kehle fühlte sich staubtrocken an und die Handlung des Films wurde immer unverständlicher. Als Romans Hand wie zufällig auf seinem Oberschenkel liegen blieb, bekam er eine Latte und rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

Roman beugte sich zu ihm, und seine Lippen berührten Karstens Ohr. „Keine Sorge“, raunte er. „Geht mir genauso.“

Nach dem Film schlug Jörg vor, etwas trinken zu gehen, aber ein schmerzhafter Rippenstoß von Christian stimmte ihn schlagartig um. „Ist ja auch schon spät“, murmelte er, „blöde Idee“, und kurz darauf standen sich Roman und Karsten allein gegenüber.

„Und, wie hat dir der Film gefallen?“, fragte Karsten. Sein rechter Fuß klopfte ungeduldig auf den Boden.

„Super. Ich mag diese Fantasy-Sachen. Und dir?“

„Na ja, die Special Effects waren ganz gut.“

„Oh.“

„Tja, dann …“ sagte Karsten gedehnt. Er sah sich um; mittlerweile waren sie die Einzigen, die noch vor dem Kino verharrten.

Roman schwieg.

„Ich … ähm … sollen wir … ich meine … wenn du Lust hast …“ Karsten schloss die Augen und verfluchte seine Unsicherheit. „Andererseits … langer Tag morgen …“

„Bier oder Bett?“, unterbrach ihn Roman.

„Was?“

„Na ja, wir können entweder …“

„Aber ich bin bestimmt zehn Jahre älter als du!“

„Und das heißt?“

Karsten zuckte mit den Schultern. „Weiß ich auch nicht so genau.“

„Also“, wiederholte Roman. „Bier oder Bett?“ Anscheinend besaß er die Angewohnheit, seine Worte mit ausladenden Handbewegungen zu unterstreichen, wie ein Schauspieler, der seinem Text zusätzliche Bedeutung verleihen möchte – was Karsten, einen Mann von eher knappen, sparsamen Gesten, amüsiert hätte, wenn er nicht so verlegen gewesen wäre.

„B… Bett“, brachte er heraus.

Roman grinste. „Dachte ich es mir doch.“

Im Auto, auf dem Weg zu Romans Wohnung, fragte Karsten: „Bist du eigentlich immer so selbstsicher? So unverfroren?“

Roman sah ihn erschrocken an. „Nein, auf keinen Fall! Eigentlich bin ich eher der schüchterne Typ. Es ist nur …“, druckste er herum, „… als ich dich vor dem Kino gesehen hab, da war mir irgendwie klar, dass wir heute Abend in der Kiste landen würden. Und … ich wollte eigentlich nur die Zeit bis dahin abkürzen.“

„Um es hinter dich zu bringen?“

„Weil ich es nicht mehr abwarten kann.“

Karsten erwachte im Morgengrauen, obwohl er nur wenige Stunden Schlaf gefunden hatte. Der Raum war zu dunkel gewesen, die Matratze zu weich, die Situation zu fremd. Ob er sich heimlich davonstehlen, wie ein Schatten aus der Wohnung, aus dem Leben dieses Mannes verschwinden sollte? Im fahlen Dämmerlicht suchten seine Augen seine Kleidungsstücke, die wie eine Spur aus Brotkrumen von der Wohnungstür unweigerlich zum Bett führten: Vor der Schlafzimmertür die Schuhe, hektisch abgestreift, während er am Abend, plötzlich jedes Zweifels, jeder Unsicherheit beraubt, Roman das Sweatshirt über den Kopf gezerrt hatte; Strümpfe, T-Shirt und Hose unbeachtet auf dem Boden, Roman hatte Schwierigkeiten gehabt, den Gürtel zu öffnen; die Unterhose schließlich am Fußende des Bettes. Karsten lächelte still. Nein, es gab keinen Grund, sich wie ein Dieb aus dem Staub zu machen.

Eine Weile sah er Roman beim Schlafen zu, betrachtete die ungebändigten Locken, den sich in regelmäßigen Abständen hebenden und senkenden Brustkorb, das Zucken der Augen hinter den Augenlidern. Ob er träumte? Er fühlte sich merkwürdig beruhigt durch seine Anwesenheit. Mit der Hand fuhr er sachte über Romans Oberkörper, spürte die sehnige, aber unauffällige Muskulatur, die der eines Langstreckenläufers glich, und zuckte ertappt zurück, als sich Roman auf die Seite drehte. Irgendwann kroch Karsten leise aus dem Bett, schlich aus dem Schlafzimmer und begrüßte den jungen Hund, einen irischen Setter, der auf einer Decke in der Küche geschlafen hatte und nun begeistert an ihm hochsprang.

„Das ist Buddy“, hatte ihn Roman am Abend zuvor verlegen vorgestellt. „Er ist gerade ein Jahr alt und noch sehr verspielt. Ich hab ihn seit vier Wochen.“ Sie hatten den Hund aus dem Schlafzimmer aussperren müssen, weil er sich immer wieder eifersüchtig zwischen sie gedrängt und ihre Umarmungen als Spiel missverstanden hatte.

Karsten machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und beobachtete zusammen mit Buddy den heraufziehenden Tag. Der Himmel war wolkenverhangen, noch immer färbte Regen den Asphalt dunkel. Die wenigen Passanten, die sich um diese Uhrzeit auf der Straße befanden, eilten von einem Hauseingang zum nächsten oder kämpften sich mit aufgespannten Schirmen durch das Nass.

Das Geräusch nackter Füße auf dem Laminatboden und dann zwei Arme, die sich um seine Brust schlangen, machten ihn darauf aufmerksam, dass er nicht der Einzige war, der eine unruhige Nacht gehabt hatte.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Karsten. „Es ist eine Weile her, dass ich mit einem anderen Mann eingeschlafen bin.“

„Dann wird es Zeit, dass du dich wieder daran gewöhnst“, murmelte Roman. Er nahm Karsten an die Hand. „Komm zurück ins Bett. Ich muss nur schnell mit dem Hund raus.“ Eilig zog er sich eine Jogginghose und ein Kapuzenshirt über. „Lauf nicht weg.“

Später, als sie verschwitzt und atemlos nebeneinander lagen und beobachteten, wie die Regentropfen das Fenster hinunterperlten, sagte Karsten: „Roman ist ein schöner Vorname. Gefällt mir.“

„Eigentlich sollte ich Rasmus heißen. Meine Mutter ist ein Fan von Astrid Lindgren. Ich bin quasi groß geworden mit Karlsson vom Dach, Michel aus Lönneberga und Kalle Blomquist. Sie wollte mich unbedingt nach diesem Jungen aus einem ihrer Kinderbücher nennen.“

Rasmus und der Landstreicher?“

„Ja, genau! Aber der Rasmus aus den Büchern hat glatte Haare, und blond ist er auch, glaube ich. Und ich hatte schon bei der Geburt dunkle und lockige Haare. Ich schätze, ich habe sie schwer enttäuscht.“ Karsten streckte sich im Bett und gähnte, und Roman fragte schnell: „Willst du nicht noch einen Kaffee, bevor du gehst?“ Dabei versuchte er seine Enttäuschung zu verbergen. Je länger er in den Armen dieses schüchternen und etwas unbeholfenen Mannes lag, desto wohler fühlte er sich.

Karsten hielt inne und sah ihn überrascht an. „Schmeißt du mich raus?“

„Nein! Es ist nur … dieses Gähnen und Recken sah nach Aufbruch aus.“

Karsten schüttelte den Kopf. „Ich bin gekommen, um zu bleiben.“

„Du meinst, für immer?“

„Ähm …“ Plötzlich hatte Karsten Angst vor der eigenen Courage. Hatte er gerade etwas losgetreten, was er nicht mehr beherrschen konnte? „Nicht ganz so schnell, okay? Gib uns Zeit.“

Beginn Video / Jörg und Christian

Christian (etwas nervös): „Also, ja … Roman hat gesagt, dass er das hier aufnehmen will, weil … falls du dich nicht mehr an deine Freunde erinnerst … dann spielt er dir einfach diese Videos vor und … (er richtet den Blick auf einen Punkt hinter der Kamera) … ist das so richtig?“

Jörg (verdreht die Augen): „Ist doch egal. Ist doch nicht Hollywood.“

Romans Stimme aus dem Off: „Ihr macht das ganz okay. Einfach losreden. Erzähl was über euch und Karsten.“

Christian: „Über uns und … okay. (holt Luft) Also, hallo, Karsten! Ich bin Christian und das ist Jörg. Wir sind so mit deine ältesten Freunde. Wobei, du und ich, wir kennen uns am längsten. Jörg hab ich ja dann erst später kennengelernt … (zu Roman) Mann, das ist gar nicht so einfach. Ich hätte mir was aufschreiben sollen … egal. Nein, nicht unterbrechen! Ich kann das. (in die Kamera) Du und ich, wir haben uns im Zivildienst Anfang der achtziger Jahre kennengelernt, beim Naturschutzbund, in einem der Ortsvereine im Rhein-Erft-Kreis, da waren wir beide gerade Anfang zwanzig … ich kann gar nicht glauben, dass das schon gut dreißig Jahre her ist. Du warst damals richtig dünn und hattest auch viel mehr Haare … (er grinst) … du kamst gerade frisch von zu Hause, aus Aachen, und hattest in Brühl dieses winzige Zimmer zur Untermiete, was dir der NABU als Zivildienstbude organisiert hatte, und ich hab noch bei meinen Eltern gewohnt. Wieso bist du eigentlich damals direkt nach der Schule ausgezogen? Du hast es mir mal erzählt, aber ich hab’s vergessen, um ehrlich zu sein. Ich glaub, irgendwas mit deinen Eltern … oder deinem Vater? Jedenfalls warst du andauernd pleite, na ja, kein Wunder bei dem mickrigen Sold, den wir bekommen haben. Ich hab dich hin und wieder mit nach Hause genommen, damit du was Anständiges zu essen bekommst, ansonsten hast du ja nur von Dosenravioli und Pommes frites gelebt. Wobei … also, das ist mir wichtig, nicht, dass du was Falsches denkst: Wir hatten nie was miteinander. Du bist ja schon immer auf eher kleinere Männer abgefahren, und ich war damals schon so hoch aufgeschossen …“

Jörg: „Erzähl die Geschichte mit den Kröten.“

Romans Stimme: „Was für Kröten?“

Christian: „Hat er das nie erwähnt?“

Romans Stimme: „Nein … nein, ich glaube nicht.“

Christian: „Merkwürdig. Vielleicht hat er das vergessen … ist ja auch schon lange her.“

Romans Stimme: „Dann erzähl.“

Christian: „Ehrlich? (zu Jörg) Soll ich? Ist doch eher ziemlich peinlich für alle, oder?“

Jörg: „Jetzt mach schon.“

Christian: „Na gut, wenn du meinst … (in die Kamera) also, wir waren ja beide ziemlich unerfahren, was Naturschutz so bedeutet, diese ganze Öko-Bewegung steckte ja damals noch in den Kinderschuhen, und die Leute vom Naturschutzbund wussten auch erst nicht so genau, was man mit Zivis überhaupt anfangen kann. Wir waren die ersten beiden Zivis, die da eine Stelle angetreten hatten, erinnerst du dich? Na ja, und weil die eben nicht so genau wussten, was sie mit uns machen sollten, war unser erster Job, diese Krötenwanderung zu überwachen … (lacht laut) … o Mann, haben wir uns doof angestellt!“

Romans Stimme: „Inwiefern?“

Christian: „Na ja … da war rechts diese Wiese, so ‘ne Art Feuchtbiotop, wo die Kröten eben lebten, und links war der Laichplatz, so ein Tümpel, in dem die Viecher ihre Eier ablegten, also nur die Weibchen natürlich. Und dazwischen war diese stark befahrene Bundesstraße. Und wir sollten aufpassen, dass die blöden Kröten nicht von den Autos plattgefahren wurden auf dem Weg von A nach B. Heute arbeitet man ja viel mehr mit Internethinweisen und Schutzzäunen und so, aber damals … Vielleicht weißt du das nicht mehr, aber Kröten wandern gerne dann, wenn es im Frühjahr relativ warm und feucht ist, und es muss möglichst schon dunkel sein. Und an dem Aprilabend war es dunkel und es hat geregnet. Und wir hatten diesen VW-Bus vom NABU – mit den ganzen Anti-Atomkraft-Stickern, weißt du noch? –, ein Paar Regenjacken und Warndreiecke, die wir auf der Bundesstraße aufgestellt haben, an dem Abschnitt, an dem wir die Krötenüberquerung vermuteten. Zuerst passierte überhaupt nichts, und wir kamen uns total bescheuert vor, weil wir immer nasser wurden und keine einzige Kröte zu sehen war, nur hupende und genervte Autofahrer … ach so, ja, ich hab vergessen zu erwähnen, dass die Monika, unsere Vorgesetzte, sich verpisst hatte mit Menstruationsbeschwerden, wir waren also ganz allein für diese Kröten verantwortlich … kann ich vielleicht mal was zu trinken haben?“

Roman kommt kurz ins Bild und reicht Christian ein Glas Wasser. „Hier.“

Christian: „Danke. (trinkt einen Schluck) Na ja, und dann kamen sie aber doch angehopst, die Kröten, erst nur ein paar und dann immer mehr. Aber weil das eben Kröten waren, haben die auch nicht daran gedacht, diese Bundestraße möglichst zügig zu überqueren, sondern sind oft mitten auf der Fahrbahn sitzen geblieben. Und dann blieb uns nichts anderes übrig, als die Viecher einzufangen und per Hand über die Straße zu transportieren. Gott, haben wir uns geekelt! Weil die ja alle so feucht und glitschig waren. Einmal hat eine in deiner Hand angefangen zu quaken, und du hast vor lauter Schreck geschrien und sie fallenlassen. Ich hab mich fast nassgemacht vor Lachen! (Christian grinst) Manche Kröten wollten auch wieder umdrehen, und dann mussten wir sie zurückschleppen und wieder in die richtige Spur bringen.“

Jörg: „Ich kann’s mir bildlich vorstellen. Die zwei kleinen Ökos im Kreise ihrer Kröten.“

Christian: „Du bist ein Idiot! Und von Umweltschutz hast du auch keine Ahnung. Du kannst ja bis heute nicht mal richtig den Müll trennen … ehrlich, er schmeißt Verpackung und Altpapier immer zusammen weg, und ich darf dann …“

Romans Stimme aus dem Off: „… die Kröten!“