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Übersetzung aus dem Englischen
von Karin Dufner

ISBN 978-3-492-96909-3
Mai 2015
© 2014 Rachel Abbott
Titel der englischen Originalausgabe:
»Sleep Tight«, Black Dot Publishing, London 2014
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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PROLOG

Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ das Mädchen den lärmerfüllten Pub. Während sie sich gegen die schwere Tür stemmte, bis ein Schwall eiskalter Luft hereinwehte, hatte sie Stimmengewirr und Gelächter in den Ohren. Sie drehte sich um und rief denen, die zufällig in ihre Richtung schauten, ein »Tschüss!« zu. Einige Arme hoben sich, um ihr zum Abschied zuzuwinken, doch die meisten waren damit beschäftigt, ihre Biergläser zu leeren oder die Umstehenden, wild gestikulierend, mit dem neuesten Tratsch zu unterhalten.

Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss und trennte das Mädchen abrupt von dem warmen gelben Licht und dem ausgelassenen Geräuschpegel der jungen Kneipengäste. Dunkle Nacht senkte sich über sie. Die plötzliche Stille fühlte sich fast an wie ein Schlag. Einen Moment blieb sie reglos stehen.

Sie erschauderte in der dieses Jahr früh hereingebrochenen winterlichen Kälte, wickelte sich den Schal fester um den Hals und schlang sich die Arme um den Oberkörper, um sich zu wärmen. Sie musste endlich einen Mantel finden, der ihr so gut gefiel, dass sie ihn auch abends zum Ausgehen anziehen würde. Schmunzelnd über ihre Eitelkeit, hielt sie sich vor Augen, dass es bis nach Hause nur eine Viertelstunde Fußmarsch war. Wenn sie schnell genug ging, würde ihr schon warm werden.

Die nächtliche Stille wurde kurz unterbrochen, als die Tür des Pubs erneut aufflog. Von drinnen fiel bernsteinfarbenes Licht auf die feuchten Pflastersteine. Trotz der lauten Musik, die aus der Kneipe hallte, glaubte sie zu hören, dass jemand ihren Namen rief. Doch dann knallte die Tür wieder zu, und es wurde ruhig.

Die wenigen Leute, die in diesem Teil von Manchester noch draußen unterwegs waren, hasteten vorbei und verschwanden auf dem Weg nach Hause in den Seitenstraßen. Offenbar hielten das schauderhafte Wetter und der frühe Kälteeinbruch die Menschen heute im Haus, was nur allzu verständlich war.

Ein paar Meter vor ihr blieb ein Pärchen stehen und küsste sich. Das Mädchen legte dem Jungen die Arme um den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren ganzen Körper an ihn schmiegen zu können. Die Nacht fühlte sich gleich viel wärmer an. Lächelnd betrachtete das Mädchen die beiden und dachte daran, wie wundervoll es war, verliebt zu sein. Sie war erst vor Kurzem mit ihrem Freund zusammengezogen. Noch nie zuvor war sie so glücklich gewesen.

Als sie die Kreuzung an der Hauptstraße erreichte, wartete sie am Fußgängerüberweg. Obwohl im Moment kaum Verkehr herrschte, musste man hier, auf einer der wichtigsten Zufahrtsstraßen nach Manchester und wieder hinaus, stets mit Autos rechnen.

Sobald der Weg frei war, hastete das Mädchen weiter in Richtung der ruhigeren Straßen auf der anderen Seite, abseits der Studentenheime und der modernen Wohnhäuser. Sie war begeistert gewesen, dass sie die Wohnung in einem alten viktorianischen Gebäude ergattert hatten. Das gesamte Erdgeschoss gehörte ihnen. Es musste zwar noch einiges getan werden, aber sie arbeiteten daran. Und das Beste war, dass das Haus in einer reizenden, friedlichen, von Bäumen gesäumten Straße stand, wo man seinen Nachbarn nicht auf der Pelle hockte.

Sie bog in die erste Straße ein. In dem kleinen Park rechts von ihr wimmelte es tagsüber von spielenden Kindern. Doch um diese Uhrzeit war er menschenleer. Nur eine Schaukel schwang sanft und lautlos hin und her.

Ihre flachen Schuhe erzeugten auf dem Gehweg kaum ein Geräusch. Sie hatte das seltsame Gefühl, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Im Vorbeigehen schaute sie immer wieder auf die Fenster der Häuser, doch die meisten wurden von hohen Hecken geschützt. Die wenigen, die sie sehen konnte, waren schwarz. Das leblose Spiegelbild der Straßenlaternen ließ die Zimmer dahinter unheimlich und verlassen wirken.

Ganz allmählich beschlich sie das Gefühl, dass sie nicht allein war. Es lag nicht an einer einzigen Bewegung, dem Schlurfen eines Schuhs oder einem dunklen Schatten im Augenwinkel. Nein, es war etwas anderes: die Gewissheit, dass die Blicke eines anderen Menschen sich in ihren Rücken bohrten. Sie war sich ganz sicher.

Sie erstarrte. Ihre Nervenenden begannen zu prickeln. Sollte sie losrennen? Oder würde der Unbekannte das als Aufforderung verstehen, sie zu verfolgen und zu packen? War es vielleicht eine Lösung, in die nächstbeste Auffahrt einzubiegen? Aber womöglich holte er sie vorher ein.

Sollte sie ihm zeigen, dass sie ihn bemerkt hatte? Würde sie eine Reaktion provozieren, wenn sie sich umdrehte? Sie wusste es nicht.

Doch er war da. Sie konnte nur nicht feststellen, wie nah.

Vorsichtig wandte sie sich um. Die Straße war leer. War er doch nicht hinter ihr? Irgendwo musste er sein, so viel stand fest. Sie spähte hinüber zum Park und erinnerte sich an die schwingende Schaukel. Womöglich schlich er ja gerade neben ihr her, verborgen vom Gebüsch entlang des unbeleuchteten Pfads.

Im nächsten Moment schoss ihr noch ein Eindruck durch den Kopf: Mitten in dem fröhlichen Getümmel im Pub hatte sie sich eine Sekunde lang beklommen gefühlt. Sie war auf ihrem Barhocker herumgewirbelt und hatte damit gerechnet, einen fremden Mann aufdringlich dicht hinter ihrem Rücken stehen zu sehen. Aber da war niemand; es schaute noch nicht einmal jemand in ihre Richtung. Sie hatte ihr Unbehagen beiseitegeschoben und zugelassen, dass die angenehme Stimmung des Abends das kurze Unwohlsein wegdrückte. Doch es war ganz genauso gewesen wie jetzt in diesem Augenblick.

Ein paar Meter voraus befand sich ein Eingang zum Park. Wenn da ein Mann war, der sie wirklich überfallen wollte, war das dort die optimale Stelle. Also blieben ihr nur wenige Sekunden, um sich etwas auszudenken. Sie beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. Sobald sie auf Höhe des Tors war, würde sie losrennen. Und schreien, falls es nötig wurde.

Zwei Schritte noch, und sie war da. Sie nahm die Arme auseinander und ließ sie zu beiden Seiten sinken. Vor sich konnte sie die Straßenecke sehen, wo es sogar noch dunkler war. Die dicken Stämme der Bäume, die sie eigentlich so sehr liebte, warfen düstere Schatten auf den schmalen Gehweg. Ihre kahlen schwarzen Äste verschmolzen mit dem Nachthimmel.

Eins, zwei – und los!

Sie wagte nicht, in Richtung des offenen Parktors zu schauen. Ihre stampfenden Füße und das Keuchen ihres Atems übertönten die Geräusche eines möglichen Verfolgers.

Nur noch zehn Meter trennten sie von der Ecke, als es geschah. Sie war fast da, fast zu Hause, fast in Sicherheit.

Hinter dem letzten der schwarzen Bäume trat eine dunkle Gestalt hervor und verharrte breitbeinig mitten auf dem Weg, um sie abzufangen.

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