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Das Buch

Nina Mertens, 37, hat die Nase voll: Um sie herum schwelgt die Welt in Reichtum, während sich bei ihr die Rechnungen stapeln und ihr Schufa-Score stetig sinkt. Deshalb beschließt sie, sich einen Millionär zu angeln. Aber wo? Da, wo die Millionärsdichte am höchsten ist, in Kampen auf Sylt! Sie verbringt ihren gesamten Jahresurlaub in Deutschlands teuerstem Luxusdorf Kampen in einem 4-qm-Stoff-Iglu. So der Plan. Als ein Orkan ihr Zelt zerfetzt, bietet ihr der Platzwart einen leerstehenden Wohnwagen als Ersatzunterkunft an, und Nina freundet sich mit Elli, ihrer 83-jährigen Nachbarin, an.

Beim Schwimmen lernt Nina Jan, einen Surfer mit Traumbody, kennen, in den sie sich unaufhaltsam verliebt. Doch jetzt bloß nicht das Ziel aus den Augen verlieren, schließlich bahnt sich parallel gerade ihr erster Millionärs-Flirt an: Adelsspross Alexander von Harzberg macht ihr den Hof, und Nina fühlt sich schon so gut wie verheiratet.

Die Autorin

Claudia Thesenfitz, 48, hat lange festangestellt bei Tempo, der Szene Hamburg und petra gearbeitet, bevor sie sich 2001 als freie Autorin und Journalistin selbständig machte. Sie schreibt für alle großen Frauenzeitschriften und Magazine (emotion, Brigitte, petra, maxi, Für Sie, Cosmopolitan, Gala u.v. m.) und hat unter anderem die Autobiographien von und mit Nena (2005, Lübbe), Dieter Wedel (2008, Lübbe) und Uwe Ochsenknecht (2013, Lübbe) geschrieben. Sylt oder Selters ist ihr erster Roman.

Claudia Thesenfitz

Sylt oder Selters

Ein Glücksroman

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Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

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Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN 978-3-8437-1115-9

Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung:
– Nena, Lukas Hilbert und Carsten Pape
für den Abdruck des Song-Textes
»Dann fiel mir auf« von Nena
– Universal Music Publishing und Grand Hotel
Van Cleef für den Abdruck des Song-Textes
»Einmal um die Welt« von Cro
– Meike Winnemuth für den Abdruck
aus ihrer Stern-Kolumne über Sylt

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: Leuchtturm: Getty Images/© Heinz Wohner;
Frau: Getty Images/© Oleh Slobodeniuk

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Annemarie – und Gisela, Bärbel und Frauke

»Besser ein toller Teppich
als ein nicht so toller Teppich.«

(Käthe Lachmann)

1

Nina hatte die Nase voll: Um sie herum schwelgte die Welt in Reichtum und Jetset, während sich bei ihr die Rechnungen stapelten, Inkassobescheide addierten und ihr Schufa-Score stetig sank. Ihr Job als Graphikerin in der Redaktion einer großen Frauenzeitschrift war nicht schlecht, aber in letzter Zeit hatte ihre Arbeitsmotivation bedenklich nachgelassen. Essen gehen, ein paar Klamotten und Kurzreisen – die kleinen Extras eben, die ihr Leben schöner machten – trieben ihr Konto ständig ans Dispolimit. Ihr bescheidenes Monatsgehalt würde ihr nie ein Leben in Saus und Braus ermöglichen – sosehr sie sich auch abrackerte. Und diese Erkenntnis war deprimierend.

Bockig stieß Nina die Tür zum Redaktionsgebäude auf und strafte den Opi am Empfangstresen, der nun wirklich nichts dafür konnte, mit einem grimmigen Blick. »Morgen, Frau Mertens«, rief er Nina hinterher, während sich die Fahrstuhltüren vor ihr schlossen.

Als sie sich im fünften Stock wieder öffneten, erkannte Nina schon von weitem die schrullige Gestalt von Redaktionssekretärin Zemke am Kopierer. Als sie Nina erblickte, schaute sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Frau Mertens! Ich hab mir schon Sorgen gemacht!«

»Wie schön! Ich mir Rührei!«

Mit offenem Mund ließ Nina Frau Zemke am Kopierer zurück, während sie im Stechschritt den Gang hinuntereilte. Zehn Minuten zu spät. Schon wieder. Die alte Zemke konnte sich ihre Schadenfreude sonst wohin stecken, anstatt vorwurfsvoll wie eine moralinsaure Gefängniswärterin auf ihre Billiguhr zu tippen.

Während sie an ihren Schreibtisch hetzte, pushte Nina sich gedanklich in Rage, und ihr Schuldgefühl übers Zuspätkommen wandelte sich in absurde Wut. Wut auf irgendwas. Wut auf alles. Erhitzt und abgehetzt warf sie sich auf ihren Stuhl, riss den Hörer vom schrill klingelnden Telefon und schrie so empört in die Muschel, als wäre ihr gerade jemand ins Auto gefahren:

»Ja?? Was gibt es denn???«

»Solltest du dich nicht mit vollem Namen und Arbeitgeber melden, Nina?«, fragte am anderen Ende der Leitung mit skalpellscharfer Stimme Anne Soltau, die Art-Direktorin.

»Oh, Anne, guten Morgen«, stammelte Nina, »ich dachte, es wäre meine Mutter!«

»Privatgespräche sollten bevorzugt zu Hause geführt werden«, entgegnete Anne trocken. »Ich brauche die Layouts zur Testino-Ausstellung – und zwar sofort!«

Klack. Aufgelegt. Hektisch klickte Nina sich durch die Dateien auf ihrem Bildschirm, während sie sich aus dem Mantel wand. Ausstellung, Ausstellung – scheiße! Die Layouts hatte sie ja noch gar nicht gemacht! Super: Ein Manic Monday, wie er im Buche stand.

Anne war ihre unmittelbare Vorgesetzte, ihre Chefin. Im Grunde ein netter Typ, aber in letzter Zeit extrem angespannt. Es gab Gerüchte, ihr Stuhl würde wackeln. Nina war das ziemlich egal. Sie hatte im Laufe ihres mittlerweile über 15-jährigen Arbeitslebens schon so manchen Chefredakteur und so manche Art-Direktorin kommen und gehen sehen. Das Personalkarussell hatte sich oft und schnell gedreht – nur sie selbst war merkwürdigerweise immer an ihrem Platz geblieben.

Zwei hektische Stunden später, nach einem eilig zusammengezimmerten und schnell versendeten Layout, schlürfte Nina ihren Kaffee. So konnte es nicht weitergehen. Jeden Tag Annes Launen ertragen, gelangweilt auf die öde Hauswand nebenan gucken und nur heimlich Privatgespräche führen dürfen? Als einziger Spaß eine virtuelle Shoppingtour bei Zalando, MyTheresa oder Stylebop, bei der sie Artikel in den Warenkorb legte, die sie sich nicht leisten konnte? Sie war jetzt 41, der Job war okay, sogar mehr als das, aber es war klar, dass sie damit nie richtig reich werden würde. Keine Aussicht auf den Jackpot – niemals. »Alltag ist nur durch Wunder erträglich«, hatte Max Frisch in einem seiner begnadeten Bücher geschrieben, aber Wunder waren in Ninas Lebensentwurf ausgeschlossen. Sie würde alt und grau werden, irgendwann eine spärliche Rente beziehen und jeden Einkauf bei Aldi sorgfältig durchkalkulieren. Das war eindeutig nicht das Leben, von dem sie als Teenie geträumt hatte …

Frustriert blätterte sie durch das aktuelle Heft: Ein schon etwas verblühtes Ex-Model hatte sich doch tatsächlich diesen supersmarten (und superreichen) Bundesligakicker geschnappt. Respekt! Die Frau war weit über 30, hatte eindeutig Übergewicht und außerdem noch zwei Kinder – und dennoch hatte sie sich den Fußballmillionär geangelt. Nina dachte nach: Hatte die Kronprinzessin von Schweden nicht ihren Fitnesstrainer geheiratet – und der lief jetzt in Maß- statt Jogginganzügen durch den Palast? Ein Leben in Saus und Braus, mit dem einzigen Problem, ob man lieber im Strandhaus in den Hamptons, der Villa in der Toskana oder dem New Yorker City Loft verweilen wollte. Überall First Class, Senator-Lounge, bevorzugte Behandlung und Weine mit hoher Parker-Punktzahl. Wie war das noch in diesem Song von Cro:

(»Baby, bitte mach dir nie mehr Sorgen um Geld,
gib mir nur deine Hand, ich kauf dir morgen die Welt.

Sie will Kreditkarten
und meine Mietwagen
Sie will Designerschuhe und davon
ganz schön viel haben
»MANOLO BLAHNIK, PRADA, GUCCI, und LACOSTE«
Kein Problem, dann kauf ich halt
für deine Schuhe gleich ein ganzes Schloss

Sie will in Geld baden,
und sie will Pelz tragen
Sie will schnell fahren
Einmal um die Welt jagen
Sie kann sich kaufen, was sie wollte, doch nie hatte
denn ich hab jetzt die American Express, und zwar die schwarze«)

Das Leben genießen ohne finanzielle Sorgen – das wär’s!

WÄRE??

Eine Idee glomm in Ninas Kopf auf – erst schummrig flackernd und dann immer gleißender: Was dieses Ex-Model und der Fitnesstrainer konnten, konnte sie schon lange, oder? Die Mechanismen von Liebe waren schließlich überall gleich – Kontostand-unabhängig: Man lernte sich kennen, verliebte sich – oder auch nicht. Man musste sich einfach nur auf die richtigen Erntefelder begeben, um die Beute-Auswahl zu korrigieren. Wer einen Steinpilz auf einem Champignonfeld suchte, mühte sich vermutlich vergebens, denn Steinpilze gab es nur im Wald. Wenn sie also einen Millionär kennenlernen wollte, musste sie nicht durch ihre bevorzugten Nachtclubs ziehen, die überwiegend von arbeitslosen Webdesignern frequentiert wurden, sondern sich dort hinbegeben, wo die Millionärsdichte am höchsten war. Und wo war das? Nina checkte schnell im Netz: Zum Beispiel in Kampen auf Sylt!

Sylt – das wären gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens die Aussicht auf den privaten Jackpot, und zweitens wollte Nina immer schon mal auf diese Insel, die ihr ihre Hippiemutter als Kind eisern verwehrt hatte – genauso wie Monopoly. »Da fahren nur Bonzen hin, skrupellose Kapitalisten, die sich gegenseitig im Reichsein übertrumpfen wollen!« Gut so! Genau deswegen wollte sie da jetzt hin.

Natürlich war sie nicht so beknackt, schulmädchennaiv an Wunder zu glauben. Aber wenn sie einfach so weitermachte wie bisher, würde gar nichts passieren – das stand fest. Damit Wunder geschehen konnten, musste man etwas Wunderliches tun: Und sie würde jetzt eben versuchen, sich einen Millionär zu angeln – genau wie die Fußballer-Freundin. Wie beschworen einen die Alten doch immer so weise: »Man bereut nur das, was man nicht getan hat.« Einen Versuch war es immerhin wert. Geniale Ideen hörten sich ja oft erst mal bekloppt an.

Beflügelt von ihrem Plan, füllte Nina einen Urlaubsantrag aus: Sie hatte noch vier Wochen Resturlaub – und die würde sie jetzt nehmen. Am Stück! »Hast du kurz fünf Minuten Zeit, Anne?«, fragte sie ihre Vorgesetzte am Telefon. »Wenn, dann jetzt sofort«, lautete deren knapp gebellte Antwort. Eilig schnappte Nina sich ihren Zettel und rannte über den Flur in Annes Büro.

»Ah, Nina, das ging ja schnell.« Zerstreut und mit etwas derangiertem Pferdeschwanz, schaute Anne von ihrem Bildschirm hoch. Sie sah ziemlich gestresst aus. »Was gibt’s denn?«

»Ich würde gerne Urlaub nehmen.«

»Kein Problem, reich ihn bei Oliver ein.«

Oliver war der Chef vom Dienst, der Herrscher über alle administrativen und organisatorischen Fragen innerhalb der Redaktion.

»Mach ich, aber ich wollte vorher mit dir den Zeitrahmen klären. Ich würde gerne nächste Woche losfahren – für 28 Tage.«

»28 Tage?? Nächste Woche??« Entgeistert nahm Anne ihre schwarze Ray-Ban-Nerdbrille ab, die jetzt auf einmal alle trugen, und schaute Nina an.

»Warum das denn?«

»Ich glaub, ich brauch einfach mal ’ne längere Pause«, sagte Nina.

»Stimmt was nicht?«, fragte Anne.

»Doch, doch«, antwortete Nina.

»Hast du Burn-out?«, hakte Anne nach.

Höchstens Bore-out, dachte Nina. »Quatsch! Ich will einfach mal raus«, beruhigte sie ihre Chefin.

Anne dachte nach. Versuchte, Ninas Psyche durch fixierende Blicke zu röntgen.

»Okayyyyy …??«, sagte Anne so lang gezogen und gedehnt, als hätte eine Verrückte ihr gerade erklärt, dass sie sich in ihrer Freizeit gerne Schals aus Regenwürmern strickte. »So kurzfristig geht das aber nur, wenn du eine Vertretung organisierst, dein Laptop mitnimmst und im Notfall die Layouts gegencheckst.«

»Kein Problem!«, versprach Nina und ließ die verwirrte Anne allein.

2

»Wir hätten noch ein schönes Häuschen – für 290 Euro pro Nacht!« Die Stimme der Mitarbeiterin der Kampener Appartementvermittlung klang so euphorisch, als hätte sie Nina gerade einen Lottogewinn verkündet.

»Äh«, sagte Nina, während sie auf ihren Taschenrechner eintippte: 290 mal die 28 Tage ergab: eine unglaubliche Zahl! 8120 Euro erschienen auf dem Display.

Nina bedankte sich bei der netten Frau und legte auf. Achttausend Euro – hätte sie diese absurde Summe mal eben so übrig, bräuchte sie keinen Millionär mehr. Dann wäre sie vermutlich selbst einer.

Auch beim anschließenden Internetcheck stellte sich schnell heraus: Ein Ferienhaus auf Deutschlands teuerstem Pflaster konnte sie sich definitiv nicht leisten. Doch zu ihrem Erstaunen entdeckte sie, dass Kampen einen Campingplatz hatte! »Zelten unter Millionären – wie absurd«, dachte Nina. Und beschloss, in Kampen zu campen.

Da sie zuletzt als Kind in einem Zelt geschlafen hatte, musste sie erst mal die nötige Ausrüstung organisieren: Bei eBay stieß sie auf das Iglu-Zelt »Mallorca 3«. Kostenpunkt: 39,95 Euro. »Mallorca 3 ist ein kompaktes 3-Personen-Zelt mit praktischem Vorzelt bzw. Stauraum. Dank der klassischen Tunnelform erreicht das Mallorca 3 dabei die optimale Balance zwischen Windfestigkeit und Komfort.

Der Eingang zur Schlafkabine ist mit einem Moskitonetz versehen und schützt Sie somit zuverlässig vor ungebetenen Gästen, ebenso wie die praktische Dauerventilation einen Hitzestau im Innenraum des Zeltes verhindert. Die großzügige Schlafkabine gewährt zudem ausreichend Platz für bis zu 3 Personen.

Insgesamt bietet das Mallorca 3 somit ein ausgezeichnetes Preis-Leistungs-Verhältnis.«

Nina drückte den »Sofort Kaufen«-Button und wurde dadurch zur stolzen Eigentümerin eines Zweitwohnsitzes aus grün-grauenhaftem Nylon.

Einen Schlafsack wollte sie nicht, sie hasste es, wenn ihre Füße nachts eingesperrt waren und sie sie nicht aus der Decke herausstecken konnte. Sie würde deshalb einfach ihre Bettdecke und ihr Kopfkissen mitnehmen. Als Matratze kaufte sie noch drei Isomatten.

3

Abends stand sie mit einem Glas Weißwein vor ihrem Ganzkörperspiegel und hatte plötzlich große Zweifel: War sie mit ihren 41 Jahren überhaupt hübsch genug? Konnte diese etwas verknitterte Beute noch jemanden locken? Nina hatte ein schönes Gesicht, grüne Augen, eine schmale Nase, volle Lippen – und wilde schwarze Haare, die sie zu einem lässigen Strubbelschnitt hatte schneiden lassen. Ihr eigentlicher Joker aber war ihre Haut: Die war glatt und samtig und wurde schon bei geringer UV-Strahlung dunkelbraun. Ihre Schwachstelle war eher ihre etwas zu kräftige Figur. Nina zog sich aus und machte eine Bestandsaufnahme nackter Tatsachen: Der Bauch, der Hintern – bestimmte Körperzonen waren meilenweit von Modelmaßen entfernt. Aber sollte man nicht seine Schwachstellen lieben? Selbstbewusstsein wirkte wie ein Aphrodisiakum auf Männer. Und nur wer sich selbst liebte, hat die Chance, von jemand anderem geliebt zu werden. Wenn Sie also als Siegerin aus Sylt zurückkehren wollte, würde sie sich mit ihren vermeintlichen Unzulänglichkeiten arrangieren müssen.

Nina zog sich wieder an, setzte sich in die Küche und schenkte sich Wein nach. Dann schnappte sie sich einen Block und schrieb:

»Mein lieber Arsch,
du bist prall und rund wie der Vollmond – oder die Erde. Oder ein frisch gebackenes Brötchen. Du siehst super aus in Jeans und du hast dich noch nie hängen lassen. Okay, mit der Zeit hast du ein paar Dellen gekriegt, aber die sieht man ja nicht, wenn du angezogen bist. Dafür hast du keine Falten!
Du bist zu dick, finden manche. Ich finde das nicht. Wären wir beide in Afrika, würden wir auf Knien verehrt werden. Weil wir so begehrt wären. Mindestens zehn Kühe würde ich für dich kriegen – und einen Mann noch dazu, natürlich …
Ich habe das Gefühl, wenn ich erst mal anfange, an dir rumzumäkeln, ist unsere Beziehung nur noch Arbeit bzw. Sport. Und irgendwann bist du fort … Das könnte ich nicht ertragen! Ich will uns glücklich sehen! Deshalb bleib, wie du bist! Ich liebe dich.«

Nina lachte laut, zerknüllte das Papier und warf es in den Müll. Positive Affirmation – wer sollte diesen Mist denn glauben? Es würde sich schon irgendein Millionär in sie verlieben – trotz zu großem Hintern. Der von der Fußballer-Freundin war schließlich auch nicht klein – und außerdem hatte sie Cellulitis. Schien den Profi-Kicker ja nicht zu stören …

4

Vier Tage später fuhr sie in ihrem 22 Jahre alten Mercedes in Stellingen auf die A 7 Richtung Niebüll. Es war Mitte Juli, die Sonne knallte aufs Autodach, und der Sommer tanzte über die vorbeifliegenden Felder und Wälder. Der Himmel war blau und Ninas Laune blendend. Aus ihrem altmodischen Autoradio dudelten die Oldies ihrer Kindheit, und Nina sang laut mit. »Girls, girls, girls …«

Der Sylt Shuttle war genau so spannend, wie Nina erwartet hatte: Man musste sich mit seinem Auto in eine von acht Spuren einreihen und an einem Automaten ein Bahnticket ziehen. Hatte man bezahlt, öffnete sich die Schranke, und man durfte weiterfahren und wurde auf eine von vier langen Warteschlangen geleitet, in denen die Autos auf die Verladung auf den Zug warteten. Nina fand es aufregend. Sie liebte solche Sachen: Mit dem Auto auf die Fähre, den Nachtzug oder sogar das Parkhaus – überall, wo man sich einreihen und ein Ticket ziehen musste, fühlte Nina sich wohl. Würde sie vielleicht mal mit ihrer Therapeutin drüber sprechen müssen. Vielleicht war das ein Zeichen für irgendwas?

Nina reihte sich hinter einen espresso-farbenen BMW X 5 (die Farbe war ja jetzt wieder schwer angesagt, früher hieß sie nussbraun) und stellte den Motor ab. Noch zehn Minuten bis zum Verladen.

Um sie herum standen tatsächlich fast nur Luxus-SUVs von Porsche, BMW, Range Rover oder Mercedes – so absurd konnte das Leben doch nicht sein, oder? War das hier echt ein Reichenghetto? Nina musste an die Stern-Kolumne von Meike Winnemuth denken, die auf Sylt für große Empörung gesorgt hatte. »Ich will Sylt toll finden«, hatte Meike darin geschrieben. »Und Sylt ist ja auch toll: die Dünen, die Heide, der Strand, der Wind, die Wolken. Aber die Leute. Die Leute. Die verzweifelten Leute. Die Männer mit ihren roten Hosen und Dieter-Bohlen-Hemden, bedruckt mit Jetsetquatsch, United States Polo Tournament Jeux Olympiques 1924 Player, Herrgott. Die Frauen so blond, so rundstirnig, so behängt. Und alle zu braun. Und alle zu laut.«

Nina schaute sich um: Auffällig viele Männer trugen rosa. Rosa Polohemden von Ralph Lauren, rosaweiß-gestreifte Hemden, umgeknotete rosa Pullis. Und die Frauen waren tatsächlich oft blond – und sehr dünn. Ob Nina unter diesen Umständen ins Beuteschema passte?

Die Ampel sprang auf Grün, und die Autoschlange setzte sich in Bewegung. Nun ging es also auf den Zug – Nina war aufgeregt. Ein Mann in gelber Signalweste winkte die Autos auf den unteren oder oberen Teil des Shuttles, während ein anderer jedem Fahrzeug eine Lidltüte durchs Fenster reichte. Eine Tüte eines Billigdiscounters für die Millionäre? Sehr merkwürdig. Auch Nina nahm eine der gelbblauen Stofftaschen entgegen.

Sie hatte Glück, sie durfte nach oben. Unter Geschepper und Geruckel lenkte sie den alten Mercedes auf den Zug. Motor aus, Gang raus, Handbremse anziehen. Gemessen an der Länge der Autoschlange ging es erstaunlich schnell los. »… Allen Syltern sagen wir: Herzlich willkommen zu Hause!«, beendete eine Frauenstimme ihre Durchsage aus den überall an der Brüstung angebrachten Lautsprechern. Nina war irgendwie gerührt darüber, dass die Sylter sich offenbar so freuten, wenn ihre Landsleute heim zum Rudel kehrten, dass sie es per Lautsprecher verkünden mussten.

Nina inspizierte die Tüte. Sie enthielt diverse Hochglanz-Sylt-Magazine – und den aktuellen Sonderangebotsprospekt von Lidl. Sie packte die Tüte wieder weg. Sie wollte nicht zu Lidl, sondern zu Leysieffer.

Der Zug setzte sich in Bewegung, und Nina wunderte sich über die zahlreichen Apfelbäume an der Strecke. Ob das die Nachkömmlinge all der Bio-Apfelgripse waren, die die Besserverdiener im Laufe der vergangenen Jahrzehnte aus ihren SUVs geschmissen hatten?

Vorbei ging es am Bahnhof Niebüll, durch Rotklinker-Reihenhäuser, durch weite Kornfelder, gespickt mit riesigen Solaranlagen (Energiepark nannte sich das) und schließlich auf den Hindenburgdamm, der mitten durch die Nordsee, mitten durchs Meer lief, wie es schien. Nina kurbelte (ja, der Mercedes hatte noch Fenster zum Kurbeln) das Fenster runter und genoss die salzige Luft. Frisch, prickelnd wie Champagner.

Etwa eine halbe Stunde später fuhr der Zug in Westerland ein – der »Hauptstadt« Sylts. Nina war unangenehm überrascht. Westerland sah scheußlich aus. Betonklötze wie in der ehemaligen DDR, Hochhäuser, Funkmasten. Und das kickte nun die Reichen und Schönen? Irritiert fuhr sie vom Zug und fädelte sich auf die Straße nach Kampen ein. Sie fuhr durch Keitum, ein idyllisches Reetdachdörfchen, dessen kleine Bauernkaten Luxusboutiquen wie Hilfiger, Polo Ralph Lauren, Lacoste und Co. beherbergten. Edles im Alten – ein merkwürdiger Kontrast.

Auf der Schnellstraße trat Nina aufs Gas und wunderte sich über die Temperaturanzeige auf einer Brücke. 28 Grad. Gut zu wissen. Rechts flog das Watt, links eine wunderschöne Dünenlandschaft vorbei.

Und dann passierte sie das gelbe Ortsschild von Kampen, dem Ziel ihrer Träume. Nun war sie also hier, und es sah so aus, als wäre sie in Schlumpfhausen gelandet. Absolut uniforme Reetdachhäuser hinter uniformen Friesenwällen und weißen Friesentoren. Dank des Navis auf ihrem Handy fand Nina den Campingplatz am Ortseingang sofort.

Der Platz war wunderschön: Direkt an den Dünen gelegen, klein, sauber, überschaubar. Nina parkte, ging in die Rezeption und meldete sich bei Herrn Sörensen, dem grillhuhnbraunen Platzwart, an. 10 Euro würde sie pro Nacht für »Mallorca 3« zahlen müssen – für Kampener Verhältnisse ein Spottpreis.

Gespannt stapfte Nina hinter Herrn Sörensen her, der sich dickbäuchig und ächzend auf den Weg gemacht hatte, um Nina einen Platz zuzuweisen. Er lag direkt neben den Restmüllcontainern. »Was anderes ist nicht mehr frei, wir haben hier nicht so viele Zelte«, sagte Sörensen, und Nina meinte, eine gewisse Arroganz aus seiner Tonlage herauszuhören. Egal. Der Fettsack konnte sie mal. Hauptsache, sie war jetzt hier.

Immer wieder die Gebrauchsanweisung studierend, errichtete Nina »Mallorca 3« und stand schließlich schweißüberströmt vor ihrem neuen Zuhause, einer etwas windschiefen grau-rotzgrünen Scheußlichkeit. Unbegeistert machte Nina sich daran, ihr Bett zu richten. Den Koffer ließ sie lieber im Auto – »Mallorca 3« konnte sie schließlich nicht abschließen.

Mittlerweile hochrot im Gesicht, kramte Nina Badehandtuch und Bikini aus ihrem Gepäck und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Meer. Hinter dem Campingplatz führte ein Fußpfad direkt an den Strand. Während sie durch die Dünen kraxelte, sog sie den Duft der Heide ein – wunderbar! Ein Dünenkamm noch – und dann sah sie es: Das grüne Meer! Die wilde Brandung von Sylt mit dem weißen Puderzuckerstrand davor. Die Gischt brach das Licht, so dass alles leicht milchig-pastellig wirkte, wie mit Weichzeichner aufgenommen. Nina war fasziniert. Barfuß rannte sie die Treppe runter, die vom Kliff zum Strand führte.

Nina liebte es, im Wasser zu sein. Begeistert schmiss sie sich in die Wellen. Die Brandung prickelte auf ihrer Haut, während sie sich durch die wild schäumenden Wellen kämpfte. Kopfüber tauchte sie durch einen Wellenkamm und schwamm sich von der Brandung frei. Das Wasser war überraschend kalt, aber sie gewöhnte sich schnell daran. Schwimmen war wie Fliegen! Nina liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit, das Treiben und Schweben. Und das Tauchen.

Als Kind hatte sie sich, zum Entsetzen ihrer Mutter, oft von den Wellen mitreißen und ans Ufer spülen lassen. Eine Flugbahn im sprudelnden schaumigen Gequirl der Gischt. Wellenreiten ohne Bord, nur mit dem Körper. Oft war sie dabei bis zu einer Minute unter Wasser gewesen …

Erfrischt und seltsam aufgeladen, wundersam energetisiert, kletterte Nina ziemlich viel später wieder aus dem Meer und ließ sich pitschnass auf ihr Handtuch fallen. Die Menschheit unterteilte sich in »Nach-dem-Schwimmen-sofort-mit-dem-Handtuch-Abrubbler« und »Nass-in-der-Sonne-Trockner«. Nina gehörte zu Letzteren. Das Salzwasser auf der Haut trocknen lassen – auch eine ihrer unmädchenhaften Leidenschaften.

Die warme Sonne auf der kalten Haut, die noch von der Brandung nachprickelte – ein unglaublicher Genuss! Das schäumende, wirbelnde Meer war wie eine Massage gewesen. Wohlig schlief Nina ein – und wachte erst eine Stunde später wieder auf, weil ihre Stirn brannte. Sonnencreme – Shit – die hatte sie ganz vergessen.

Leicht benommen zog sie T-Shirt und Jeans an und schlenderte am Wassersaum entlang, in Richtung eines Restaurants, das sie in der Ferne gesehen hatte.

Das Laufen im Sand war anstrengender als erwartet. Erstens war der Ufersaum sehr schräg, und zweitens sackte man beim Gehen ziemlich tief ein. Nina war froh, als sie die Holztreppe zum »Grande Plage« erklomm. Sie hatte schrecklichen Durst – und Hunger.

Sie setzte sich an einen Tisch mit Blick aufs Meer, bestellte sich eine große Apfelschorle und bat um die Karte.

Spontan gönnte sie sich ein Glas Champagner und scharfe Spaghetti mit Scampi. Wer nicht nach den Sternen griff, der bekam sie auch nicht. »Zum Wohl«, strahlte die szenig aussehende Bedienung sie an, während sie das prickelnde Glas Moët vor ihr auf dem Tisch platzierte. »Zum ersten Mal hier?«

»Wieso?«, fragte Nina erstaunt.

»Weil Sie irgendwie so fasziniert aussehen. So geflasht. Das ist ganz typisch für Menschen, die das erste Mal auf der Insel sind.«

»Stimmt«, sagte Nina. »Ich bin heute erst angekommen.«

»In Bezug auf Sylt gibt es kein Mittelding«, sagte die gutgelaunte Kellnerin. »Entweder man ist sofort schock-verliebt – oder man hasst es hier.«

»Ich bin schockverliebt«, sagte Nina, lächelte die Kellnerin an und nahm einen Schluck Champagner, der herrlich auf ihrer Zunge perlte.

»Kommen Sie von hier?«, fragte sie die nette Bedienung in den cool kaputten Jeans.

»Ja, ich bin gebürtige Sylterin«, antwortete die sichtbar stolz. »Ich wohne in List.«

»Toll«, sagte Nina, weil ihr nichts Intelligenteres dazu einfiel.

»Viel Spaß noch«, wünschte die Kellnerin und eilte zu einer verzweifelt winkenden Dame mit riesiger Prada-Sonnenbrille, die es endlich geschafft hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Na, die ist ja nett, dachte sich Nina, schon leicht beschwipst vom Alkohol. Vollkommen unarrogant. War wohl doch nicht so snobistisch hier.

Als die duftenden Spaghetti kamen, merkte sie, wie ausgehungert sie war. Wann hatte sie denn eigentlich das letzte Mal etwas gegessen? In Hamburg, zum Frühstück – und jetzt war es sieben.

Gierig verschlang Nina die leckere Pasta, schüttete fast den ganzen Inhalt des Parmesanschälchens darüber und merkte, als sie satt war, wie müde sie war. Zeit für »Mallorca . Im milchigen Abendrot schlenderte sie zurück zum Campingplatz. Satt, beschwipst, sonnenverbrannt, glücklich. Wie herrlich es hier doch war.

Auf dem Campingplatz nahm sie in den überraschend sauberen Sanitärräumen noch eine heiße Dusche, kletterte danach seltsam entspannt in Malle 3, versuchte, noch ein paar Seiten zu lesen, gab es aber schnell auf, weil ihr die Augen zuklappten – und fiel in einen tiefen Schlaf.