Für Jules und Rosie

verlassen und an seinem

Weibe hangen, und sie werden sein

ein Fleisch.«

(Genesis 2:23, 24)

Chani – Baruch

November 2008 – London

Reglos stand die Braut da, unter Lagen kratziger Petticoats wie zur Salzsäule erstarrt. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, sammelte sich in den Achselhöhlen und hinterließ Flecken auf der elfenbeinfarbenen Seide. Sie schob sich näher an die Tür des Bedeken-Raumes heran und presste ein Ohr dagegen.

Sie hörte die Männer singen. Ihre »Lai-lai-lai«-Rufe rollten den staubigen Korridor der Synagoge herunter. Sie kamen, sie abzuholen. Jetzt war es so weit. Dies war ihr Tag. Der Tag, an dem ihr Leben endlich begann. Sie war neunzehn und hatte noch nie die Hand eines Jungen gehalten. Der einzige Mann, der sie berühren durfte, war ihr Vater gewesen, und seine körperlichen Zuwendungen hatten abgenommen, als ihr Körper rundlicher und reifer wurde.

»Setz dich, Chani-leh, zeig ein bisschen Anstand. Komm, eine Kalla steht nicht an der Tür. Los, setz dich hin!«

Das Gesicht ihrer Mutter war grau geworden. Die Falten traten umso deutlicher hervor, als ihr das Make-up den Hals hinunterglitt. Die gezupften Augenbrauen

Chani blieb auf ihrem Posten. »Müssten sie nicht längst hier sein?«

»Sie kommen noch früh genug. Du solltest für deine unverheirateten Freundinnen beten. Nicht alle haben so ein Glück wie du heute, Baruch HaSchem

»Aber wann kommen sie denn? Es fühlt sich an, als würden wir schon ewig warten.« Chani stieß einen langen, gelangweilten Seufzer aus.

»Wenn sie so weit sind. Und nun ist Schluss, Chani-leh.«

Von Mutter zu Tochter und von Schwester zu Schwester war das Kleid allen immer ein treuer Freund gewesen – es schrumpfte oder wuchs mit den Erfordernissen einer jeden Braut. Die silbernen Stickereien und unzähligen Perlen kaschierten Narben und schartige Säume der verschlissenen Hülle. Jede Änderung zeugte von der Reise einer weiteren Braut, zeichnete ihre Hoffnungen und Wünsche nach. Die gelbgewordenen Achseln, die schon so oft chemisch gereinigt wurden, erzählten von

Sie ging zögerlich über den Teppich. Als würde sich das Rote Meer teilen, rutschten die Mutter und die Schwestern mit ihren üppigen Hinterteilen zur Seite, um auf dem Diwan für ihren kleinen hübschen Po Platz zu machen. Das weiße Braut-Gebetbuch wurde ihr behutsam in die Hände geschoben. Die Frauen flüsterten und murmelten, die Gebete hoben und senkten sich im Rhythmus ihrer Atemzüge und dem Klopfen ihrer Herzen. Das Hebräische ergoss sich in sanftem, weiblichem Keuchen. Chani stellte sich vor, wie die Worte hoch, hoch und immer höher schwebten – geflügelte Briefe, die mit der Zimmerdecke verschmolzen.

In der warmen Luft mischten sich die verschiedenen Parfums mit Körperausdünstungen und schlechtem Atem. Getrockneter Lippenstift verklebte die ausgedörrten Münder der Frauen, und verborgen unter vielen Kleiderschichten, knurrten ihre Mägen. Einige trugen Zweiteiler, bestehend aus langen Röcken und passenden Jacken, zugeknöpft, soweit es nur ging. Andere hatten den obligatorischen langen Rock mit einer weißen hochgeschlossenen Bluse unter einem schlichten blauen Blazer kombiniert. Die Farben waren absichtlich trist, belebt höchstens von einer kleinen Brosche oder etwa cremefarbenen Paspeln um die Taschen. Eine selbstauferlegte Uniform, die sogar die Jüngste unter ihnen wie eine Witwe erscheinen ließ.

Die drallen Rücken und Schultern derer, die schon vor ihr Bräute gewesen waren, wiegten sich vor und zurück, mit knackenden Knien, wenn sie sich tief verbeugten. Sie beteten und seufzten für Chani, dafür, dass diese Ehe eine gute und treue werde und dass HaSchem wohlwollend auf sie und ihren Ehemann herabblickte. In Chanis Augen brannten Tränen angesichts ihrer Loyalität und Güte.

Doch wo war die Rebbetzin? Nachdem der Unterricht beendet war, hatte sie versprochen, zur Hochzeit zu kommen. Chani sah sich ein weiteres Mal um, bevor sie die Enttäuschung zuließ. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Rebbetzin bereits in der Schul war und sie von der Frauengalerie aus beobachten würde. Chani schwor sich hinaufzuschauen, bevor sie unter die Chuppa trat.

Stattdessen war ihre zukünftige Schwiegermutter hier. Als ihre Blicke sich trafen, bedauerte Chani, nicht ins Gebet versunken zu sein. Mrs Levy war prachtvoll in ein dunkeltürkisfarbenes Seidenkleid gehüllt. Ein passender Pillbox-Hut vervollständigte das Ensemble und ließ sie wie einen glitzernden Eisvogel aussehen. Sie schlängelte

»Entzückendes Kleid, Chani – obwohl es für meinen Geschmack ein wenig zu altmodisch ist. Aber dennoch, sehr hübsch. Es steht dir, meine Liebe.«

Der Hut ihrer Schwiegermutter war verrutscht, was irgendwie keck wirkte. Chani unterdrückte ein Grinsen. Mrs Levys extravagante kupferfarbene Perücke war zu einem aalglatten Vorhang getrimmt worden, der ihr hinterlistiges Lächeln umrahmte. Das hämische Grienen eines Leopards, bevor er zum Sprung ansetzt. Chani würde nicht darauf hereinfallen. Sie ließ sich nicht unterkriegen.

»Danke, Mrs Levy, es ist ein Familienerbstück. Meine Großmutter hat in diesem Kleid geheiratet. Es ist eine große Ehre für mich, es tragen zu dürfen.« Kess lächelnd wandte sie sich Richtung Diwan und ließ Mrs Levy mit offenem Mund stehen. Sie war schon so weit gekommen, dass sie sich von dieser Frau jetzt nicht mehr angiften ließ. Mit der Zeit würden sie lernen müssen, einander zu tolerieren. Die tiefe Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, doch es war Chani, die den Sieg davongetragen hatte, und heute war ihr Tag.

Das Kleid knarrte, als sie sich setzte. Es floss über ihre Knie und sank in glänzenden Wogen um ihre Füße. Nur ihr Gesicht und die Hände bekamen Luft. Der Stoff kroch über das Schlüsselbein und umklammerte ihre Gurgel, der Hals unter der straffen Seide lang und elegant. Über ihren kleinen, festen Brüsten funkelten Blumen und Vögel in silbernen Bögen, die sich wie ein

Chanis Füße zappelten in Satinballerinas, sie schwitzte in den Strümpfen. Dicke Manschetten aus Zuchtperlen fesselten ihre Handgelenke, Hunderte lidloser Augen mit durchstochener Pupille. Sie war eine wahrhaft züchtige Braut, ihr Schlüsselbein, Hand- und Fußgelenke meisterhaft vor männlichen Blicken verborgen. Doch der unnachgiebige Stoff unterstrich ihre mädchenhaften Kurven und deutete das unerforschte Fleisch an, welches sich darunter verbarg.

Das Kleid war ihr Weg hinaus, ihre Chance, den klebrigen Türgriffen und dem ewig währenden Chaos ihres Elternhauses in Hendon zu entfliehen. Sie hatte noch nie ein eigenes Zimmer besessen oder neue Kleidung. Alles war immer aus zweiter Hand. Wie das Kleid. Selbst die Liebe, die man ihr entgegenbrachte, war irgendwie abgetragen.

***

Er konnte sich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Ein kleines Problem. Denn Baruch war gekommen, um seine Braut zu identifizieren, sicherzustellen, dass er das

 

Chani konnte sich erinnern, wie es war, als ihre Eltern noch Zeit hatten, als ihre Mutter am Tor des Kindergartens auf sie wartete. Auf dem Weg nach Hause hatten sie die ganze Zeit über miteinander geredet; ihre Hand fest in der ihrer Mutter, die ihrem Geplapper aufmerksam lauschte. Fast verblichen das Bild, wie ihre Mutter mit ihr im Garten Himmel und Hölle spielte, die Röcke hob und geschickt von Stein zu Stein hüpfte. Doch dann waren in schneller Folge noch drei Babys gekommen. Ihre

Ihr Vater war der angesehene Rabbi eines kleinen Schtiebl in Hendon mit einer bescheidenen Zahl von Mitgliedern. Er war ein sanfter, dünner, stiller Mann, vertieft in seine spirituelle Welt, der eher geistig als körperlich anwesend war. Sein Bart war lang und federleicht, wie graue Zuckerwatte. Er trug den in seinen Kreisen üblichen schwarzen Anzug, mit Hosenträgern unter dem Jackett, damit nichts rutschte. Ihre Mutter kaufte ihm immer Hosen, die ein wenig zu groß waren, vielleicht in der Annahme, er würde hineinwachsen. Doch während ihre Mutter immer beleibter wurde, schien ihr Vater zu schrumpfen.

Chani vergötterte ihn. Er war ein warmherziger, liebevoller Vater gewesen, strahlend und lachend. Sie erinnerte sich an das Gefühl, wenn er sie schnappte und an seinen dünnen Armen durch die Luft wirbelte. Je größer jedoch seine Familie wurde, desto mehr wurde seine Freude an ihr zu einer Zerstreutheit, die sich anfühlte wie Ablehnung. Er irrte durch das Haus im Nebel seiner nicht enden wollenden Vaterschaft.

Es waren nicht nur die Töchter, die nach ihr kamen. Die Gemeinde hatte ihn ihr gestohlen. Zu Hause, in der vernachlässigten Doppelhaushälfte, klingelte es ständig an der Tür. Ein unaufhörlicher Strom an unglücklichen

Ihre Mutter war zu einer Maschine geworden, deren Teile abgenutzt waren und knirschten. Früher war sie schlank gewesen, eine geschmeidige junge Frau, fröhlich und flink. Über die Jahre hatte sich ihr Bauch aufgebläht und war wieder erschlafft, wie der Kehlsack eines Ochsenfrosches. Heute war das Licht in ihren Augen verloschen. Sie war eine Fremde geworden, ein erschöpfter Berg erschlafften Fleisches, der ohne Pause stillte, beruhigte, tätschelte oder fütterte.

Ihr Vater hatte seinen Samen immer und immer wieder in den verschlissenen Unterleib seiner Frau gesät. Chani schauderte, wenn sie an die schmerzvollen Geburten dachte, mit denen Baby um Baby auf die Welt gedrängt wurden. Sie schwor sich, dass alles anders sein würde, wenn sie an der Reihe war. Ihre Kinder würden sich nie nach Zuwendung sehnen. Und obwohl sie eigentlich kaum etwas über Empfängnisverhütung wusste, hatte sie sich gelobt, dass sie nach vier Kindern irgendwie aufhören würde.

Am Telefon waren ihre Stimmen tonlos und rauh. Zum Reden war keine Zeit; keine Zeit, all die Fragen zu stellen, auf die Chani Antworten brauchte. Nun war sie an der Reihe.

 

Chani trug keinen Schmuck, ein Verbot der Tora. Eine Kalla, eine jüdische Braut, musste ohne Ringe und ohne Ohrschmuck unter dem Hochzeitsbaldachin stehen, als Zeichen, dass die bevorstehende Vereinigung geistig und nicht materiell begründet war. Sie blickte auf ihre Hände herab, die sich leuchtend gegen ihr Gebetbuch abhoben. Die Nägel waren manikürt und in fast durchsichtigem Pink lackiert worden, doch sie waren hässlich und zu kurz. Sie hatte sie bis zum Ansatz abgeknabbert. Ihre Hände wirkten kindlich, die Finger stummelig. Sie vermisste das Lodern ihres Ringes – des glühenden Diamanten, eine Kugel von obszöner Größe, die an ihren feuchten kleinen Fäusten noch größer wirkte. Sie hatte ihn liebend gern aufblitzen lassen und sich angewöhnt, wann immer es ging, mit der linken Hand zu gestikulieren oder auf etwas zu zeigen.

Mit gesenktem Blick trat sie zurück, als die Tür aufschwang. Die beiden Parteien, draußen die Männer, drinnen die Frauen, starrten einander an. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, eine Stille, als lausche jeder auf einen einzelnen Akkord, der in der von Staubpartikeln wimmelnden Luft nachklang.

 

Baruch fiel fast vornüber in den Raum. Er richtete sich auf, wischte die Brillengläser an seinem Tallit ab und setzte sie wieder auf seine verschwitzte Nase. Jemand gab ihm einen kleinen Schubs, und er wurde weiter hinein in das Zimmer voller berauschender, fremdartiger, weiblicher Aromen befördert.

Und da war sie. Sein Blick traf ihren, und er nahm die Farbe Roter Bete an. Baruch beugte sich ein wenig

Seine Hände zitterten, als er ihr den Schleier über das Gesicht zog. »Amen!«, donnerten die Männer hinter ihm. Sie war das richtige Mädchen – doch wer war sie wirklich? Angesichts dessen, was er gerade im Begriff stand zu tun, wurde ihm schwindelig.

 

Chani hatte ein Date nach dem anderen gehabt. Alle arrangiert, jeder angehende Bewerber sorgsam erwogen von den Eltern und der Heiratsvermittlerin. Etliche Stunden hatte sie so bei kaltem Kaffee und schwerfälligen Unterhaltungen zugebracht. Den Männern, die ihr gefielen, gefiel sie nicht, und jene, die sie wollten, fand Chani langweilig oder unattraktiv. Nach jedem Treffen rief die Mutter des jungen Mannes an und teilte ohne Umschweife das Urteil mit. Ihre Mutter gab am Hörer höfliche Laute von sich. Dann hängte sie auf, das

Welchen Sinn hatte es, ein unverheiratetes jüdisches Mädchen zu sein? Sie wollte nicht wie Miss Halpern enden, die Religionslehrerin in der Schule, deren langes, blasses Gesicht mit jedem Jahr säuerlicher wurde, den unbedeckten Kopf über verschlissene Lehrbücher gebeugt, das Gekicher jener Mädchen ignorierend, die sie unterrichtete; Mädchen, die an der Schwelle zur Frau standen, voller Lebendigkeit angesichts der Hoffnungen und Versprechungen. Also biss Chani die Zähne zusammen und zeigte Ausdauer.

Nach einer Weile hatte sie alle abgelehnt, selbst jene, die Chani wohlgesinnt waren. Käsige Studenten, der plumpe Lehrer oder der melancholische Witwer – sie konnte sich nicht dazu durchringen, ja zu sagen. Alle höchst fromm, alle auf der Suche nach einem guten jiddischen Mädchen, die ihnen Tscholent kochte und ihnen am Schabbes die Kerzen anzündete. Eine Instantfrau – bloß noch Wasser hinzufügen. Keiner von ihnen interessierte sich dafür, wer sie war.

Abends erforschten Chanis Hände in ihrer unförmigen weißen Unterhose die eigene Nacktheit, und sie genoss den Duft und erspürte die so verschiedenen

Unsichtbare Grenzen umgaben sie. Als kleines Mädchen hatte sie ihren altmodischen Rock raffen wollen, um mit Beinchen wie stampfenden Kolben dem Bus hinterherzujagen. Stattdessen wurde sie gelehrt zu gehen, nicht zu rennen, die Arme steif an die Seiten gepresst. Sie hatte sich nach Ausgelassenheit gesehnt, doch ihr wurde beigebracht, ihren Gang zu zügeln.

Mit fünfzehn hatte sie ihre Geschwätzigkeit in der Schule in Schwierigkeiten gebracht. Als Reaktion darauf füllte sie alte Schulhefte mit wütenden Kritzeleien. Man hielt sie für frech, aber talentiert. Ihre Noten wurden besser. Alles interessierte sie – zumindest das wenige, das sie in die Hände bekam. Internet oder Fernsehen gab es weder in der Schule noch zu Hause. »Ein Fernseher ist eine offene Kloake im Wohnzimmer«, knurrte ihr Vater. Nach der Schule drückte sie sich im Brent Cross Shopping Centre vor Dixons herum, fasziniert von den flackernden Bildschirmen und grellen Farben einer Welt, in die sie sich hineinstürzen wollte.

Im Unterricht verschandelte dicker schwarzer Filzstift Shakespeares Texte. Brandneue Ausgaben von Julius Caesar waren entweiht worden, hässliche Flecken verbargen die »unangemessene Sprache« darunter. In Kunst, ihrem Lieblingsfach, waren Gauguins Nackte gekonnt kaschiert worden. Da Vincis Zeichnungen sahen aus wie Patchworkdecken. Hinterteile, Brüste und Genitalien zierten weiße Aufkleber.

Sie lebte unter einer Glasglocke.

Aber schließlich, trotz aller Einwände und Hürden, war es so weit. Schließlich sagte sie ja. Sie kannte ihn nur von den wenigen verkrampften Treffen, bei denen sie sich auf die Zunge gebissen und nur gestelzte Sätze von sich gegeben hatte. Ein nervöser, schlaksiger Jeschiwa-Junge, der jedoch überaus freundlich und aufmerksam wirkte. Sie hoffte, dass sich die Glasglocke endlich hob. Oder dass sie sie zumindest mit jemandem teilen konnte.

 

Über ihren Köpfen ragte der mitternachtsblaue Baldachin empor; seine goldenen Fransen zitterten, als sich

Es fühlte sich seltsam an, so dicht beieinanderzustehen. So nahe waren sie einander noch nie gekommen. Trotzdem berührten sie sich nicht. Noch nicht. Zwischen ihnen lag nur ein Atemhauch. Chani war sich Baruchs physischer Nähe intensiv bewusst. Sie spürte, wie erhitzt und angespannt er unter seinem schwarzen Anzug und dem Gebetsmantel war. Die schwarze Hutkante verbarg sein Gesicht. Seine Füße zuckten, und er klopfte mit der Schuhsohle leicht auf den Boden. Doch er sah sie nicht an. Schon gar nicht direkt. Sie wusste, dass er sie heimlich beobachtete. Hysterie stieg in ihr auf, und ihrem Mundwinkel entwich ein Quieken. Der Rabbi warf ihr mit missbilligend gesträubten Augenbrauen einen warnenden Blick zu.

Im Kreis, im Kreis und weiter im Kreis. Chani umrundete Baruch und zählte im Kopf bis sieben, während sie mit jedem Schritt die Schranken zwischen ihnen zerbrach. Sie erinnerte sich, wie sie beide zusammengezuckt waren, als ihre Finger sich im Foyer des Hotels versehentlich streiften. Der Zucker hatte sich über den ganzen Tisch verteilt. Wie erstarrt, hatte keiner der beiden Anstalten gemacht, das Malheur wieder in Ordnung zu bringen. Beide befolgten das Schomer Negia – das Gebot der Keuschheit.

Doch heute Nacht würden die Verbote aufgehoben.

 

Er war zwanzig Jahre alt. Sein Leben verlief in engen Grenzen: der Druck, erfolgreich zu sein, ein Rabbi zu werden, seinem Vater zu gefallen. Seine schnelle Auffassungsgabe wurde an den Talmud gekettet. Dass er gern Englisch studieren wollte, blieb als frevlerisches Geheimnis in seinem Herzen vergraben. Er hörte auf seinem iPod Coldplay, während sein Vater glaubte, dass die Weisheiten von Rabbi Shlomo seine Ohren füllten. Unter seiner Matratze lagen verbotene Romane – Dickens, Chandler, Orwell –, doch sie reichten ihm nicht mehr aus. Er fühlte sich kontrolliert – es gab keine Erleichterung, kein Entrinnen.

Eines Abends hatte er nach dem Unterricht die U-Bahn genommen. Ihm gegenüber saß eine Frau. Sie war dick.

Nachts presste er sein Verlangen in die Matratze. Er hoffte, seine Mutter würde den verschwendeten Samen nicht bemerken, wenn sie die Wäsche wusch. Er hatte versucht, sich zurückzuhalten, indem er Handschuhe anzog und zwei Paar Unterhosen, doch nun waren seine Träume eine verbotene Landschaft aus enormen Brüsten, die sich wie Dünen in der Wüste erhoben. Er war einsam und sehnte sich nach etwas, nach jemandem.

 

Verheiratet. Zehn Minuten zusammen im Jichud-Raum, allein. Plötzlich vermisste Chani das Gedränge weiblicher Körper und das Rascheln von Röcken. Sie wusste weder, was sie tun, noch, was sie sagen sollte, was ungewöhnlich war. Sie versuchte, sich vorzustellen, was die Rebbetzin ihr in dieser Situation raten würde, doch keiner ihrer

Chani konnte Baruch nicht in die Augen sehen. Ihre Freundinnen hatten darüber gekichert, dass diese kurze Pause für die Frischvermählten, direkt nach der Zeremonie, eigentlich dazu da war, es zu tun. Sie wurde starr vor Angst und fragte sich, ob Baruch dasselbe dachte.

Eine Kuchenetagere war aufgestellt worden, Stufe um Stufe glänzten auf Spitzendeckchen Köstlichkeiten aus Blätterteig. Am Fuße standen zwei Flaschen Mineralwasser und zwei Kristallkelche. Weder Chani noch Baruch hatten seit dem vorherigen Tag gegessen oder getrunken. Sie starrten auf die Kuchen. Instinktiv griffen sie nach demselben Stück Mandelkuchen.

»Nein, mach ruhig … Nimm du es. Bitte«, krächzte Baruch.

Chani murmelte einen Dank und einen Segen und nahm einen bescheidenen Bissen. Am liebsten hätte sie alles auf einmal in sich hineingestopft. Sie vermieden Blickkontakt und kauten schweigend.

»Fühlt sich seltsam an, verheiratet zu sein, oder?«

»Mmm.« Sie hatte immer noch den Mund voll.

»Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe«, sagte sie. »Es ging so, ähm, schnell.«

»Ja, stimmt. Ich glaube, das geht allen so.«

»Wahrscheinlich.«

»Nun, sie werden jetzt jeden Moment kommen, vielleicht …« Er verstummte und schwieg.

Chani spürte, wie sich eine große, knöcherne Hand um die ihre schloss. Sie wünschte, die Hand wäre nicht so schweißnass. Seite an Seite standen sie da und aßen jeder noch ein Stück Kuchen, bis die Tür aufging und sie sich schnell losließen.

***

In der Woche vor der Hochzeit saß Baruch in Rabbi Zilbermans Büro. Das Zimmer war eine staubige, graue Schachtel. Es gab zwei Türen, beide verschlossen, aber keine Fenster. Der Schreibtisch war von Papieren bedeckt. Bücher füllten die Regale und lagen verstreut auf dem Boden. Es war kaum genug Platz für die beiden Plastikstühle. An der Wand hing das riesige Foto eines verehrten Weisen. Der alte Mann darauf starrte ihn aus milchig-blauen Augen an, die Hände staken wie gefrorene Klauen aus Fledermausärmeln. War er wohl auch nervös gewesen wegen der Hochzeitsnacht?

Unter dem Foto saß Rabbi Zilberman, eine Studie in Schwarzweiß; der Bart ein schlieriges Dunkelgrau, und die Schultern des schwarzen Anzuges voller Schuppen. Seine traurigen grauen Augen betrachteten Baruch. Er stand der Synagoge in Golders Green vor, in die Baruchs Familie ging. Sein runder Rücken, wenn er sich vorne in der Schul zum Gebet beugte, war Baruch vertrauter als

Der Rabbi begann. »Du bist für alle Bedürfnisse deiner Frau verantwortlich«, sagte er. »Du musst sie ernähren, sie kleiden, ihr ein Dach über dem Kopf bieten und ihr auch sonst alles materiell Notwendige zur Verfügung stellen. Aber du musst ihr auch beim Beischlaf Vergnügen bereiten.«

Baruch rutschte auf seinem Sitz hin und her. Vergnügen. Das hörte sich so einfach an. Er war sogar so weit gegangen, einige private Nachforschungen zu dem Thema in der Swiss Cottage Library anzustellen, weit weg vom Schtetl Hendon. Er hatte sogar seine Jarmulke gegen eine Baseballkappe getauscht, um noch anonymer zu sein. Zu schüchtern zum Fragen, war er durch die Regale gestreift, so verloren wie Moses in der Wüste, bis

In der Schule hatte er sich die schmuddeligen Männermagazine angesehen, die von Tisch zu Tisch gereicht wurden. Bei den Bildern wurde ihm ganz wirr im Kopf – die Frauen so schamlos, die Münder schimmernd und offen, ihre Körper geschmeidig und nachgiebig. Wie sollte er sie mit Chani vergleichen, von der er noch nicht einmal die Ellbogen gesehen hatte? Trotzdem war es seine Pflicht, ihr Vergnügen zu bereiten.

»Einen Orgasmus, Rabbi?«, schlug er vor. Als er seinen Patzer bemerkte, wurde er rot, und der Akneausschlag auf seiner linken Wange schien zu leuchten.

Rabbi Zilberman hob eine Augenbraue. »Ja, ich glaube, so nennt man das heute.« Aber er bohrte nicht weiter.

»Wie weiß ich, ob ich meiner Frau Vergnügen bereitet habe?« Er musste es fragen. Das war seine Chance. Sein Mund war trocken, doch die Worte flutschten einfach heraus.

»Mit der Zeit und mit Übung wirst du es irgendwann wissen. Sie sagt es dir vielleicht sogar, aber verschwende keine Zeit damit, über frivole Sachen zu schwatzen. Entscheidend sind die Taten, nicht die Worte. Ein Kind ist eine wundervolle Mizwa. Und Beischlaf mit ihr, während sie schwanger ist, ist eine Doppel-Mizwa

Der Rabbi schien sich auszudehnen und den Raum auszufüllen. »Und, Baruch, genau so, wie wir nicht wie die Tiere essen, haben wir auch keinen Beischlaf auf ihre Art. HaSchem hat uns mit physischem Verlangen geschaffen, und die Ehe erlaubt uns, dieses Verlangen auf die richtige Art und Weise zu genießen. Nicht wie die wilden Tiere.« Rabbi Zilberman glotzte ihn an.

Wie die wilden Tiere? Aber wie sollte das anatomisch möglich sein? Er erinnerte sich an die Bilder – aber das Hinterteil war doch sicherlich die falsche Stelle? Baruch war sehr erleichtert, dass HaSchem dieses Problem für ihn gelöst hatte.

Doch der Rabbi war noch nicht fertig. »Und wenn deine Frau nidda ist, wirst du dich ihr nicht nähern. Du darfst sie nicht berühren, bis ihre Blutung aufgehört und sie sich in der Mikwe gereinigt hat. Dann könnt ihr wieder Freude aneinander haben, genau wie in der Hochzeitsnacht. Aber deine Frau wird das alles wissen. Sieh die Zeit, in der du keinen Beischlaf mit ihr haben kannst, als Zeit an, in der ihr euch wieder wie Bruder und Schwester kennenlernt; in der ihr alle Meinungsverschiedenheiten regelt und eure Freundschaft vertieft.« Der Rabbi sprach ruhig und ungeniert.

Baruch starrte auf sein Ohr. Es hörte sich alles sehr weise und einfühlsam an, und es war für ihn nichts Neues. Er hatte die Traktate der Familienreinheit in der Gemara studiert, ein Text, so trocken und unnahbar, dass

Wie konnte sie da unten jeden Monat bluten? Bei dem Gedanken daran wurde ihm übel.

***

Zwei Tage vor der Hochzeit. Chani wusch, kämmte und bürstete sich, sie schrubbte sich beinahe wund. Sie saß in der kleinen Kabine und wartete darauf, dass das Licht über der Tür anging. Das Badezimmer war eine Wonne. Makellos sauber, mit glänzenden Oberflächen, ganz anders als zu Hause. Die Wände waren pastellrosa gestrichen. Passende rosa Handtücher lagen ordentlich gefaltet über einer geheizten Stange. Es gab sogar eine nagelneue Zahnbürste und eine frische Tube koschere Zahnpasta, ein winziges Paket Wattestäbchen, eine Nagelfeile, Nagelschere und Pinzette. Alles nur für sie.

An diesem Morgen hatte Chani sich zum letzten Mal innerlich kontrolliert, genau so, wie Rebbetzin Zilberman sie instruiert hatte. Das weiche Bedika-Tuch war strahlend weiß geblieben. Nicht ein Tropfen Blut. Sie war bereit für die Mikwe, das rituelle Bad. Die Rebbetzin hatte sie begleitet und wartete jetzt am Empfang. Chani las den gerahmten Hinweis an der Wand:

Bevor Sie mit den Reinigungsvorbereitungen beginnen, entfernen Sie:

  1. Gebisse und Zahnprothesen (bei Zahnprovisorien fragen Sie Ihren Rabbi)

  2. falsche Wimpern

  3. Verbände, Pflaster

  4. Make-up

  5. Nagellack

Dann schneiden und feilen Sie Hand- und Fußnägel. Putzen Sie Ihre Zähne, spülen Sie den Mund aus, und benutzen Sie die Toilette (wenn notwendig).

Baden und duschen Sie vor dem Tauchbad. Untersuchen Sie sich und entfernen Sie getrocknete Blutreste oder Eiter, getrocknete Muttermilch an den Brustwarzen, Reste von Teig, Nissen oder Kopfläuse, Splitter, Tusche oder Farbreste.

Chani war sich sehr sicher, dass sie getrocknete Muttermilch und Kopfläuse ausschließen konnte. In ein flauschiges Handtuch gehüllt, setzte sie sich auf den Badewannenrand. Flüsternd sprach sie das Gebet vor dem Tewila – dem Eintauchen.

Mögen die Augen meines Ehemannes nur auf mich blicken und meine Augen nur auf ihn … Möge mein Mann sich meinetwegen glücklicher schätzen als wegen jedes anderen Segens in der Welt …

Sie stellte sich vor, dass hinter den Türen der anderen Kabinen auch junge Bräute warteten, genau wie sie. Wissen konnte man es nicht. In der Mikwe war man immer allein.

»Hallooo, Schätzchen, mach dein Handtuch auf, und lass mich dich ansehen.«

Chani machte einen Satz. Hinter ihr stand die MikweFrau. Sie war eine schrumpelige, alte Irre. Ihr Haar war in ein verblasstes blaues Kopftuch gehüllt. Sie trug Clogs und dunkelblaue Leggins. Ihr Lächeln war warm und ehrlich, ihre Blicke jedoch messerscharf.

Chani öffnete das Handtuch und wurde einer aufmerksamen Musterung unterzogen.

»Was du bist für eine süße, kleine Braut«, flötete die Mikwe-Frau. Chani fühlte sich bloßgestellt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihre Nacktheit vor neugierigen Augen verborgen, und nun gab sie sie einer vollkommen Fremden preis.

Die Mikwe-Frau bat sie, sich umzudrehen, damit sie den Rücken nach ausgefallenem Kopfhaar absuchen konnte.

»Nägel, Schätzchen?«

Chani zeigte ihre Hände vor. Die Mikwe-Frau inspizierte jeden der abgebissenen Nägel. Dann besah sie sich die Handinnenflächen.

»Füße?« Chani hielt jeden Fuß hoch.

»Und hast du deine Haare da unten gekämmt?«, fragte die Mikwe-Frau.

»In Ordnung, Schätzchen, also rein mit dir. Weich dich richtig ein, meine Kleine. Tauch gaaanz unter.«

Drei Stufen, dann zwei Schwimmzüge, und sie war in der Mitte des Pools. Das Wasser war warm. Sie sank hinab, und die Oberfläche schloss sich über ihrem Kopf. Ihr Herz pochte in den Ohren. Als sie wieder aufstieg, erkannte sie verschwommen zwei dunkle Gestalten am Rande der Mikwe. Sie tauchte auf und schnappte nach Luft. Als sie die Augen öffnete, sah sie Rebbetzin Zilberman auf sich herablächeln. Daneben stand die Mikwe-Frau, mit demselben verzückten Lächeln auf dem Gesicht.

Chani umklammerte ihren mageren Busen mit den Händen. Sie hatte nicht erwartet, dass die Rebbetzin hereinkam und zusah. Eine kleine Luftblase schoss hinter ihr auf. Sie betete, dass es niemand bemerkt hatte.

Sanft sagte die Rebbetzin zu ihr: »Chani, du musst dreimal ganz untertauchen und dann den Segensspruch aufsagen. Nicht die Beckenwände berühren, denn dann werden deine Handflächen nicht vollständig gereinigt. Spreize deine Finger und Zehen so weit auseinander, wie du kannst. Lass das Wasser jede Spalte waschen. Bist du so weit?«

Chani nickte und sank tief in die Mikwe. Sie wusste, wenn eine Frau unter Wasser betete, flogen ihre Gebete direkt zu HaSchem. Sie ließ sich zwischen Zeit und Raum treiben. Sie öffnete die Augen, das Wasser brannte nicht. Es war rein und natürlich.

Bitte, HaSchem, mach, dass es in meiner

Sie tauchte noch zweimal unter. Schließlich kam sie an die Oberfläche und sagte den Segensspruch. Wiedergeboren. Sie war bereit zur Hochzeit.

Die Rebbetzin

November 2008 – London

Ein weiterer Tag. Ein weiteres Tauchbad. Eine weitere Braut.

Die Rebbetzin und Chani gingen an den Bögen der Eisenbahnbrücke entlang bis zum Ende der Gasse. Der Himmel über ihnen war stürmisch und grau, und ein kalter, peitschender Wind verhedderte ihre langen Röcke. Das geduckte, flache Mikwe-Gebäude befand sich neben einer Autowerkstatt und einem Parkplatz. Versteckt und unauffällig, ohne ein Hinweisschild, doch die Frauen der Gemeinde wussten, wo es war, und schätzten die abgeschiedene Lage.

»Wie wäre es, wenn du Baruch in eurer Hochzeitsnacht ein kleines Geschenk machst, als Symbol für den Beginn eures neuen Lebens?«

»Was denn?«

»Eine kleine Schachtel Pralinen oder neue Manschettenknöpfe? Oder ein neues Siddur, auf den sein Name geprägt ist?«

»Aber er bekommt doch mich. Bin ich nicht genug?«

»Ich bin sicher, dass du mehr als genug bist, Chani – ich habe nur einen Vorschlag gemacht.«

Aber Chani war anders. Ihr fehlte die einfältige Passivität, die für viele andere Mädchen so typisch war. Sie sehnte sich nach Antworten, doch die Rebbetzin war sich nicht sicher, ob es ihr zustand, sie zu geben. Sie dachte an Mrs Kaufman, Chanis Mutter. Sie war nicht sonderlich überrascht gewesen, als die Frau angerufen hatte und atemlos erklärte, sie schaffe es heute nicht. Die zweitjüngste Tochter sei die Treppe hinuntergefallen und müsse ins Krankenhaus – ob die Rebbetzin Chani bitte in die Mikwe begleiten könnte? Als Chani ankam, war sie niedergeschlagen gewesen, und die Enttäuschung spiegelte sich in ihren Augen wider.

Und wer würde nun Chanis Fragen beantworten? Die Rebbetzin entschied sich zu reden. Es war ihre Pflicht. »Chani, beim ersten Mal wird es ein bisschen weh tun, aber lass es einfach geschehen. Versuch dich zu entspannen und atme tief und langsam. Mit der Zeit wird euer Beischlaf schöner. Es ist für euch eine ganz

Die Rebbetzin hatte schon zu viel gesagt und war peinlich berührt. Chani starrte sie an. Im Licht des Brückenbogens glänzten ihre Augen. Ein Zug zerriss die Luft über ihnen. Die Rebbetzin dankte HaSchem für die willkommene Ablenkung.

Schweigend gingen sie weiter, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Die Rebbetzin dachte an Baruch. Ein talentierter Jeschiwa Bocher und ein wirklich guter Fang. Vielleicht ein bisschen neurotisch, das musste man zugeben, aber welcher Junge war das nicht? Er war mit Avromi befreundet, ihrem Ältesten. Sie waren auf dieselbe Schule gegangen, genau genommen in dieselbe Klasse. Baruch kam aus einer guten, reichen Familie. Seine Eltern besuchten regelmäßig die Schul ihres Mannes. Es war auch insgesamt eine gesunde Familie. Ein wenig Diabetes väterlicherseits, aber wer hatte heutzutage keinen Diabetes? Chanis Familie dagegen war arm, aber von hervorragender Abstammung; voller Zaddikim und daher traditioneller. Aber leider zu viele Töchter. Die arme Mrs Kaufman, was für Kopfschmerzen es ihr bereiten musste, Ehemänner für sie zu finden. Wie sehr sie sich nach einem Sohn gesehnt haben musste.

Die Rebbetzin war über den Schidduch etwas überrascht gewesen. Nicht nur wegen des so unterschiedlichen familiären Hintergrundes, Chani war auch nicht die formbare Schwiegertochter, die Mrs Levy im Sinn

Aber noch mehr irritierte sie, dass die Eltern der Verbindung schließlich zugestimmt hatten. Die Rebbetzin wusste, dass Mrs Levy absolut dagegen gewesen war. Waren sie von Mrs Gelbman überredet worden? Die Frau war eine geschickte Eheanbahnerin und machte selten Fehler. Vielleicht kannte sie auch ein passendes Mädchen für Avromi. Ein gutes, heimisches Mädchen aus einer entsprechenden Familie. Ja, das war genau das, was sie brauchten. Oder war es dafür schon zu spät? War er über diese Art Mädchen schon hinweg? Ihre Stimmung wurde düsterer, als sie an ihren verwirrten, verlorenen Sohn dachte.

Sie passierten die Werkstatt und wurden wie üblich von den Mechanikern begafft. Zwei fromme Frauen in wenig eleganter Kleidung, deren lange, dunkle Röcke sie beim Gehen behinderten. Chanis nasses Haar hatte einen Fleck auf ihrer Jacke hinterlassen. Wie mochten sie auf die Außenwelt wirken? Auf Männer, die es gewohnt waren, dass sich ihnen weibliche Körper zur Schau stellten?

Die Rebbetzin zog ihre Strickjacke fest um sich

An der nächsten Kreuzung blieben sie stehen. Die Rebbetzin umarmte Chani sanft. »Melde dich vor Schabbes bei mir, wenn du irgendetwas brauchst«, sagte sie.

»Aber Sonntag sehe ich Sie doch, oder?«

Die Rebbetzin löste sich von Chani und hielt sie eine Armeslänge von sich fort. Forschend blickte sie das kleine, verunsicherte Wesen vor sich an.

»Natürlich werde ich da sein. Nun hör auf, dir Sorgen zu machen, und genieße diese letzten paar Tage zu Hause bei deiner Familie. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, Chani.«

Und dann waren sie jede ihrer Wege gegangen. Langsam schritt die Rebbetzin die Golders Green High Street hinauf. Sie fühlte sich wie eine Heuchlerin, weil sie seit Monaten nicht mehr in der Mikwe gewesen war. Sie hatte ihre Gründe. Die Wärterin hatte auf ihren Bauch gestarrt, doch die Rebbetzin hüllte sich in ihre weiteste, dunkelste Kleidung, die sie in eine riesige Krähe verwandelte. Sollte sie doch denken, was sie wollte.

Um sie herum dröhnte der Verkehr. Ein Chassid, in tristes Schwarz gekleidet wie ein Gespenst aus der polnischen Vergangenheit, brabbelte Jiddisch in sein Handy und schlängelte sich zwischen zwei roten Bussen durch. Als er weiterhastete, blitzten seine wollenen Strümpfe auf. Einer der Busfahrer musste voll bremsen und hupte. Der Chassid ignorierte ihn, hüpfte auf den Bordstein und begann, sich auf dem überfüllten Bürgersteig

Die Welt der Gojim zog achtlos an ihm vorüber. Manche starrten ihn kurz an, doch die meisten Nichtjuden waren an die Hut und Perücke tragenden Mitglieder der ChassidenkoscherenBig Issue