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Ingrid Noll

Der Mittagstisch

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Gemälde von Lucas Cranach d. J.,

›David und Bathseba‹, um 1537 (Ausschnitt)

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 25724370 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 25760696 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Für Mira und Mathilda,
Ruben und Jakob

[7] Inhalt

  1  Der Mittagstisch  [9]

  2  Der Kapitän  [19]

  3  Hänsel und Gretel  [30]

  4  Ein Foto bei Nacht  [39]

  5  Peanuts  [49]

  6  Gretels Absturz  [59]

  7  Sommerferien  [68]

  8  Das Mühlrad  [77]

  9  Daddy  [86]

10  Ossobuco  [96]

11  Fotos aus North Dakota  [106]

12  Die beiden Schaufler  [117]

13  Captain’s Dinner  [128]

14  Im Wald und auf der Heide  [140]

15  Der Samariter  [150]

16  Nur du Gudrun  [160]

17  Der Überläufer  [169]

18  Der Kameruner  [179]

19  Der böse Hund  [188]

20  Hundsmiserabel  [199]

21  Ihr Kinderlein kommet  [209]

[9] 1

Der Mittagstisch

Es war wahrscheinlich in Kassel oder Stuttgart, aber ich kann mich nur an eine gigantische Treppe erinnern, ähnlich der berühmten Freitreppe von Odessa. Vielleicht war auch alles ganz anders, denn ich war erst drei Jahre alt, vielleicht gibt es solche Treppen in keiner einzigen deutschen Stadt – ich muss demnächst meine Mutter fragen. Sie hielt mich damals fest an der Hand. »Nicht loslassen, Nelly!«, sagte sie. Ich gab diesen Befehl an meine Puppe weiter.

Wir hatten eine uralte Tante besucht, die nicht mehr lange leben würde. Meine Mutter wurde mit einem handgeschriebenen Testament und einer Granatbrosche beschenkt, ich mit einer Puppe. Sie fühlte sich anders an als meine weichgestopften Vinylbabys, denn sie war aus sprödem Zelluloid. Die Tante hatte selbst mit dieser Puppe gespielt und sie bestimmt achtzig Jahre lang auf ihrem Plüschsofa sitzen gehabt. Ich verstand durchaus, dass es sich um etwas Besonderes handelte, denn die Tante behauptete ebenso stolz wie geheimnisvoll, es sei eine echte Schildkröt.

Aus irgendeinem Grund hatte meine neue Puppe keine Lust, von meinem schmuddeligen Händchen umklammert zu werden. Auf der obersten Treppenstufe riss sie sich plötzlich los und stürzte in die Tiefe. Sie überschlug sich mehrmals, bis der Kopf sich löste, zerbarst und die einzelnen Teile [10] mit immer größerer Geschwindigkeit abwärtssprangen; nur ein Stück Rumpf blieb einige Stufen unter mir liegen. Ich schrie wie am Spieß. Immer wieder träume ich, dass meine kleine Tochter mir ebenso entgleitet, eine unendlich tiefe Treppe hinunterkullert und dabei ihren Kopf verliert. Vielleicht bin ich ja auch nur eine besonders ängstliche Mutter. Als Alleinerziehende ist man schnell überfordert.

Mein Freund Matthew war ein cooler Hund, wie eine Freundin anerkennend feststellte. Als er ein paar Jahre nach Carolines Geburt plötzlich zurück in die USA flog, versprach er zwar nicht, uns bald nachzuholen, aber selbstverständlich rechnete ich mit materieller Unterstützung. Seitdem war er unauffindbar, die hinterlassene Adresse stimmte nicht. Nach einigen frustrierenden Versuchen hatte ich es aufgegeben, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Mein Großer erinnerte sich noch ganz gut an seinen Vater und erwähnte ihn gelegentlich, meine Kleine tat das nie und fragte nicht.

Für einen Amerikaner sprach Matthew einigermaßen gut Deutsch, schließlich hatte er es von klein auf bei seinen Großeltern gehört. Da mein Englisch ziemlich dürftig ist, verständigte er sich mit mir und den Kindern fast nie in seiner Muttersprache und machte sogar gute Fortschritte im hiesigen Dialekt. In einer Hinsicht konnte er es allerdings zu keiner Perfektion bringen, und das waren die Artikel. Er ersetzte sie durch ein neutrales de: de Mann, de Frau, de Kind.

Um unsere Kinder von Anfang an auf die weite Welt vorzubereiten, wählten wir Vornamen, die auch in anderen Ländern bekannt sind: Simon und Caroline. Der Junge lernte [11] in der Grundschule bereits ein wenig Englisch, aber eher Lieder wie Jingle Bells und Happy Birthday; es war schade, dass die Geschwister nicht zweisprachig aufwachsen konnten. Matthew brachte ihnen vor allem Späße bei. An lustige Begebenheiten in unserer kleinen Familie dachte ich zuweilen wehmütig zurück, aber ich versuchte, mich mit meinem Status als alleinstehende Mutter ein für alle Mal abzufinden.

Einmal sagte er zum Beispiel zu unserem Sohn: »Es gibt de deutsche Sprichwort: Man soll nie de Sand in de Kopp stecke!« Das leuchtete Simon ein: Wenn er aus dem Kindergarten kam, rieselte es stets aus Haaren, Ohren, Schuhen und Kleidern. Dann drohte ihm Matthew mit dem Zeigefinger und scherzte: »Ick mack dir fünf Löcher in de Gesicht und steck’ dir de Kopp zwische de Ohre, Mister Sandman!«

Mein Sohn begriff solche Späßchen erst Jahre später. Doch vom großen Bruder eines Kindergartenkumpels lernte er einen kleinen Schabernack, den Matthew noch nicht kannte: Zweiunddreißig-heb-auf. Er schmetterte dem lernbegierigen Papa einen Satz Spielkarten vor die Füße und befahl: »Heb auf!« Dann weidete er sich am offenstehenden Mund und der verdatterten Miene seines Vaters. Als der Junge in die Schule kam, war es vorbei mit fröhlichen Neckereien, denn sein Vater verschwand plötzlich auf Nimmerwiedersehen.

Früher waren wir finanziell ganz gut zurechtgekommen. Matthew hatte stets ein paar Scheine in der Hosentasche, wir bekamen Kindergeld, und auch meine Mutter steckte uns immer wieder etwas zu. Doch als der Kindsvater [12] plötzlich spurlos verschwand, musste ich schleunigst eine bezahlte Arbeitsstelle finden. Leider konnte ich keine abgeschlossene Ausbildung vorweisen. Bereits nach wenigen Semestern hatte ich zum Leidwesen meiner Mutter mein Studium unter- und schließlich abgebrochen, weil ich keine rechte Lust mehr hatte und lieber als Barista hinter der Theke stand. Ich musste die Kaffeemaschine bedienen, warme und kalte Getränke zubereiten, kassieren und vor allem das hausgemachte Eis servieren. Dabei lernte ich täglich nette junge Leute kennen, schließlich auch Matthew. Schon nach kurzer Zeit wurde ich schwanger – ungeplant, aber nicht unwillkommen. Im siebten Monat beendete ich meine gastronomische Karriere und freute mich auf meine künftige Aufgabe als Mutter. Heiraten hielten wir für eine Spießererfindung, doch wir zogen zusammen und waren eine Zeitlang glücklich; auch als Caroline geboren wurde, herrschte noch tiefer Frieden. Auf den Anlass unserer Trennung möchte ich jetzt nicht weiter eingehen, aber es hatte mit dem schrecklichen Kameruner zu tun. Plötzlich stand ich mit zwei kleinen Kindern allein da und musste sehen, wie ich zurechtkam.

Zum Glück erbte ich das Haus meiner Großeltern, dessen Erdgeschoss früher als Schreibwarenladen genutzt worden war. Kurz entschlossen verließ ich Frankfurt und zog mit den Kindern in meine Heimat an die Bergstraße zurück. Leider ließen sich die ehemaligen Geschäftsräume wegen der großen Schaufenster nicht so leicht als Wohnräume vermieten und blieben vorläufig ungenutzt, im oberen Stock lagen die gute Stube, Küche, Ess- und drei Schlafzimmer meiner Vorfahren. Seit meine Oma, die Mutter meines [13] frühverstorbenen Vaters, nach einem Unfall ins Altersheim hatte ziehen müssen und dort nach zwei Jahren verstarb, stand das Haus leer, eine leichte Verwahrlosung hatte bereits eingesetzt. Die Großeltern hatten durch die günstige Lage – direkt neben einer Schule – ihren Unterhalt mit dem Verkauf von Heften, Malsachen und Bleistiften bestritten. Doch als in der Nähe ein Supermarkt eröffnete, trieb sich die jugendliche Kundschaft lieber dort herum, und das Lädchen musste schließen.

Eines schönen Tages traf ich direkt vor meiner Haustür eine ehemalige Klassenkameradin, die Lehrerin geworden war. Wir freuten uns beide über das Wiedersehen, denn wir hatten uns nach dem Abitur aus den Augen verloren. Natürlich hatten wir uns viel zu erzählen, aber das Beste war, dass mein Haus nur wenige Schritte von der Schule entfernt lag. Regine versprach, oft und auch mal in der großen Pause vorbeizuschauen. Bald darauf schneite sie zur Mittagszeit herein und machte glückliche Augen, als wir uns an den Küchentisch setzten und ich den Nudelauflauf aus dem Backofen und einen vierten Teller holte. Die Kinder lauschten verwundert, da Regine eine sehr spezielle Ausdrucksweise hatte.

»Jetzt bin ich erst seit drei Monaten hier«, klagte sie, »aber ich kann mich überhaupt nicht an das zwar wohlfeile, aber lieblose Cateringessen in der Mensa gewöhnen, und mein hastig geschmiertes Butterbrot nehme ich oft wieder mit nach Hause. Im Dönerladen lungert meistens meine halbe Klasse herum, da halte ich mich lieber fern.«

Dreimal pro Woche musste Regine über Mittag bleiben, weil sie bereits um vierzehn Uhr wieder Unterricht hatte. Sie fand meine Idee unwiderstehlich, an diesen Tagen – [14] natürlich gegen angemessene Bezahlung – regelmäßig bei uns zu essen. Auch mir machte es Spaß, nicht immer nur Spaghetti oder Fischstäbchen zuzubereiten. Regine war zwar nett, aber manchmal kehrte sie allzu sehr die Lehrerin heraus. Es schadete meinen Kindern natürlich nicht, wenn sie gelegentlich kritisiert wurden. Doch leider hatte meine Freundin die Marotte, seltene, fast ganz aus der Mode gekommene Wörter zu benutzen. Sie fand es wohl lustig, trefflich statt gut, garstig statt schlechtgelaunt oder wohlfeil statt billig zu sagen. Was Wunder, dass meine Kinder schnell den einen oder anderen Ausdruck aufschnappten. Sie beschuldigten sich gegenseitig, Maulaffen feilzuhalten, ein Wildfang, Schelm oder Lümmel zu sein. Meine kleine Caro, wie Caroline genannt wurde, malte sogar die Sonne nicht an den Himmel, sondern ans Firmament und bezeichnete unsere Welt als Erdenrund.

Mit leichtem Vorwurf in der Stimme sagte ich zu Regine, dass mit dieser Marotte Schluss sein müsse.

»Mein Gott«, sagte sie. »Du bist aber bärbeißig! Wenn ich mit törichten Backfischen und pubertierenden Rotzlöffeln den Schimmelreiter durchnehme, dann verstehen die oft nur Bahnhof. Deine Kleinen sind später einmal im Vorteil.«

»Oder sie machen sich lächerlich«, sagte ich. »Ich frage mich immer wieder, wozu das gut sein soll!«

»Jahrelang wollte ich über den sprachlichen Wandel vom 19. ins 20. Jahrhundert eine Doktorarbeit schreiben, aber als ich mit dem Referendariat begann, fehlte mir einfach die Zeit. Du kannst dir kaum vorstellen, wie viel ich damals gelesen und gesammelt habe!«

Um des lieben Friedens willen gab ich mich geschlagen. [15] Im Grunde konnte ich mich glücklich schätzen, dass meine Freundin mit den Kindern so gut auskam. Der blonde, oft verträumte Simon, der sich mit anderen Kindern manchmal schwertat, unterhielt sich gern mit ihr und belehrte postwendend seine kleine Schwester. Und er übertraf Regine sogar noch, wenn er zu seinen Klassenkameraden wohlan denn sagte, was er aus den Grimm’schen Märchen haben musste. Caro schlug eher ihrem Vater nach und eroberte die Herzen mit Charme und Schalk.

Schon nach einigen Wochen fragte Regine, ob sie nicht probeweise eine Kollegin mitbringen könne, der sie von meiner trefflichen Bewirtung vorgeschwärmt hätte. Bald darauf hatte ich schon drei Kostgänger, denn besagte Kollegin brachte noch ihren Vater mit. Der alte Herr war ein amüsanter Plauderer, war früher zur See gefahren und hatte sich angeblich in allen Häfen der Welt herumgetrieben. Er hatte blitzblaue Augen wie Hans Albers, trug meistens eine Schiffermütze, hatte einen unersättlichen Appetit und auch eine entsprechende Wampe. Weil sein Doppelkinn diese Bezeichnung nicht verdiente, nannte Regine ihn insgeheim »Tripelkinn«. Die Kinder sagten zuerst Käpt’n Blaubär zu ihm. Die männliche Gesellschaft tat ihnen sichtlich gut, bald schon nannten sie ihn Opa. Im Übrigen wusste Regine, dass er nie Kapitän gewesen war, sondern Kellner auf einem Kreuzfahrtschiff.

»Von Dubrovnik aus machte ich einen Ausflug nach Trebinje«, erzählte er. »Dort saß ich auf einem weiträumigen Platz unter Platanen und trank Pivo, als mir etwas Ekliges unterm Hosenbein bis zum Knie hochkrabbelte und ich vor Schreck mein Bier verschüttete…«

[16] Er konnte kleine Begebenheiten so dramatisch erzählen, dass die Kinder jene Eidechse tatsächlich für einen frischgeschlüpften Dinosaurier hielten und um weitere Geschichten bettelten. »Der reinste Münchhausen«, murmelte Regine bloß. »Alles vom Urmel geklaut!«

 Sechs Personen passten im Übrigen so eben an meinen Küchentisch. Als meine drei Gäste noch weitere interessierte Kandidaten vorschlugen, war ich ratlos.

»Du hast doch im Erdgeschoss jede Menge Platz«, sagte Regines Kollegin Tonja. »Diesen großen Raum könnte man leicht zu einem schönen Esszimmer umfunktionieren. Natürlich müsste man die Regale rausreißen und einen größeren Tisch anschaffen, aber das sind Peanuts.«

Bis jetzt diente der ehemalige Verkaufsraum meinen Kindern als Rennstrecke für Kettcar, Roller und Dreirad, hier hatten wir verregnete Geburtstage mit allerlei traditionellen Spielen wie Sackhüpfen, Eierlauf und Topfschlagen gefeiert. Die großen Schaufenster hatten zwar Zuschauer angelockt, aber das war bei einem Kinderfest nicht weiter schlimm. Eine Mittagstafel vor den Augen der Passanten hatte nicht mehr den nostalgischen Charme einer Wohnküche, den meine drei Gäste bisher so geschätzt hatten. Außerdem müsste ich dauernd mit einem vollgetürmten Tablett die Treppe rauf- und runterbalancieren, um Geschirr und Essen zu transportieren. Käpt’n Blaubär sah das sofort ein und war strikt gegen eine Expansion. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Lügenmärchen hatte er sehr praktische Einwände.

»Wenn man schon von draußen erkennt, dass hier regelmäßig mehrere Leute ihr Mittagessen einnehmen, dann sieht das doch sehr nach gewerblicher Gastronomie aus, auch [17] wenn der Betrieb nur bestimmten Personen zugänglich ist. Über kurz oder lang wird das Finanzamt hellhörig, und du musst Steuern zahlen, das Gesundheitsamt kommt mit strengen Hygienevorschriften, ein Vertreter vom Gewerbeaufsichtsamt oder gar ein Polizist erscheint unangemeldet und entnimmt Lebensmittelproben. Extratoiletten für weibliche und männliche Besucher sind gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem muss über Ein- und Ausgaben penibel Buch geführt werden. Wollen Sie sich das alles antun?«

Nein, das wollte ich natürlich nicht. Doch andererseits konnte niemand davon leben, an drei Tagen gerade mal drei Gäste zu verköstigen.

Tonja, die so hieß, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Dr. Schiwago gelesen hatte, kam mit einem anderen Vorschlag: »Deine Kinder spielen doch sehr gern im früheren Schreibgeschäft, warum machst du nicht einen Kinderladen auf? Soviel ich weiß, brauchst du eine Qualifizierung als Tagesmutter und die Erlaubnis vom Jugendamt. Das kann doch nicht so schwierig sein…«

Demnächst kam auch Caroline in die Schule, worüber ich sehr froh war. Tag für Tag eine Rasselbande von Kleinkindern war für mich der reinste Alptraum. Ein einziger Kindergeburtstag kostete mich bereits mehr Kraft als ein Hausputz.

»Sei nicht so hasenfüßig, Nelly. Du solltest mal etwas investieren«, meinte Regine. »Den Laden lässt du zu einer großen Wohnküche umbauen, die Schaufenster einfach zumauern. Ich leihe dir gern das nötige Geld, ich habe geerbt. Mein Oheim ist endlich den Weg allen Fleisches gegangen –«

»Mit anderen Worten: Dein Erbonkel ist gestorben«, [18] übersetzte ich und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. In meiner Generation schien das Erben an der Tagesordnung zu sein, meine Mutter hatte zuerst eine Tante und später zwei weitere Verwandte beerbt, ich die Großeltern und Regine einen Onkel. Vielleicht würde auch mein kinderloser und schwerkranker Cousin bald sterben. Ich war optimistisch.

So kam es, dass ich irgendwann ein illegales Restaurant besaß, das an jedem Wochentag von zwölf bis fünfzehn Uhr für angemeldete Gäste geöffnet hatte. Das sollte noch dramatische Folgen haben.

[19] 2

Der Kapitän

Nie hätte ich geahnt, dass der alte Seemann mein bester Freund werden sollte. Seit seine Frau tot war, fühlte er sich wohl recht einsam. Seine Tochter Tonja lebte zwar auch in unserer Stadt, doch in einem anderen Viertel. Er war der Einzige, der bereits zwei volle Stunden vor dem Mittagessen auftauchte. Glücklicherweise wohnte er ganz in meiner Nähe und konnte den kurzen Weg trotz seiner Plattfüße gut bewältigen. Bereitwillig half er mir bei der Vorbereitung der Speisen – allerdings nur, wenn er dabei sitzen konnte. Er schälte Kartoffeln, putzte Gemüse, schnippelte Bohnen, polierte manchmal das Silberbesteck meiner Großmutter und unterhielt mich dabei mit lustigen Geschichten. Er war der Einzige, der auch am Wochenende kommen durfte.

Wenn wir ganz unter uns waren und ich ein kleineres, ein riesiges und zwei halbe Schnitzel auftischte, faltete er die Hände und betete: »Lieber Gott! Mach bei Tisch, dass ich das größte Stück erwisch!« Auch einen anderen Spruch gab er gern zum Besten: »Die Liebe ist vergänglich, der Durst bleibt lebenslänglich!« Zu seinem Leidwesen wurden bei uns keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt, es blieb bei Tee, Kaffee, Mineralwasser oder Saft. Kurz entschlossen brachte er seinen Flachmann selber mit.

[20] Gleich nach dem Essen zog sich der Kapitän mit einem Espresso, dem Flachmann sowie meinen Kindern in das obere Stockwerk zurück und überwachte sie bei den Hausaufgaben. Oft stieß auch Simons einziger Freund, der etwas zu klein geratene Tassilo, dazu und erhielt Nachhilfe im Lesen. Ich konnte also unbesorgt die Gäste bedienen, für verspätet Eintreffende ein Gericht wieder warm machen, schließlich abdecken, aufräumen und die beiden Spülmaschinen füllen.

In meinem neuen Restaurant sah es inzwischen völlig anders aus. Wir hatten unten eine zusätzliche Küche eingebaut und alles frisch geweißelt. Nur der alte grüne Linoleumboden war zwar fleißig geschrubbt, aber nicht erneuert worden. An der Innenseite der zugemauerten Schaufenster (an denen nur hoch oben ein durchgehendes Fensterband ausgespart blieb) hatte mir der Schreiner offene Regale für Töpfe und Pfannen eingebaut. In der Mitte hatte er einen Platz für die ausrangierte Schultafel, die Regine organisiert hatte, frei gelassen. Hier konnte jeder den Menüplan für die laufende Woche studieren. Es gab keine Speisekarte, also auch keine Auswahl. Wenn einer der Stammgäste ein bestimmtes Essen verabscheute oder aus anderen Gründen nicht kommen wollte oder konnte, musste er sich beizeiten abmelden. Kassiert wurde wöchentlich. Auf einer Liste hatte ich vermerkt, was die einzelnen Teilnehmer nicht vertrugen oder nicht mochten, und ich versuchte, nach Möglichkeit ihre Wünsche zu berücksichtigen. Ich kochte meistens gutbürgerlich, manchmal mediterran oder einen leichten Eintopf, jeden Donnerstag fleischlos. Ich begriff bald, dass es überaus schwer ist, alles so abwechslungsreich und lecker zuzubereiten, dass keine Langweile und keine Beschwerden [21] aufkommen, sondern Glück und wohliges Behagen. Trotzdem sah das Ganze anfangs ziemlich hausbacken aus:

Montag: Frikadellen mit Bratkartoffeln

Dienstag: Spaghetti bolognese

Mittwoch: Kalbsleber mit Kartoffelbrei

Donnerstag: Gemüse-Eintopf

Freitag: Hühnerfrikassee mit Reis

Dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn der weitgereiste Kapitän mir nicht mit guten Ratschlägen und Tipps eine neue kulinarische Welt erschlossen hätte. Er meinte nämlich (wir sagten längst du zueinander): »Luxusessen wie auf Kreuzfahrtschiffen wird man schnell leid, Kantinen- oder Mensaessen erst recht. Da man es sowieso nicht allen recht machen kann, solltest du mit Variationen und Gewürzen hin und wieder etwas mutiger sein. Außerdem sind deine Gäste fast alle unter fünfzig, sind schon in der Welt herumgekommen und wollen nicht immer nur wie bei Muttern essen.«

Von da an klang es schon etwas exotischer:

Montag: mit Hack gefüllte rote Bete auf russische Art

Dienstag: überbackene Orecchiette mit Lachsstreifen

Mittwoch: Lammcurry mit Rosinenreis

Donnerstag: Ratatouille

Freitag: Tandoori-Hühnchen

Auf der großen Menü-Tafel war so viel Platz, dass meine Kinder die Ränder mit bunter Kreide bemalen durften. Auch manche Gäste schrieben einen Wunsch, ihren Dank oder [22] einen kleinen Vers an den Rand, andere zeichneten mit mehr oder weniger Talent ein Suppenhuhn, einen Blumenkohl oder einen Eisbecher. Tonja hatte einen Spruch aus einem Kalenderblatt abgeschrieben: Alles Gute im Leben ist entweder ungesetzlich, unmoralisch, oder es macht dick.

Mein Mittagstisch mochte ungesetzlich sein, unmoralisch aber nicht. Und dick durfte er auch nicht machen, weil – abgesehen vom Kapitän – alle Gäste berufstätig waren und es sich nicht leisten konnten, gnadenlos vollgestopft für den Rest des Tages unbrauchbar zu sein. Zum Beispiel das Paar aus einem nahegelegenen Elektroladen: Sie arbeitete im dortigen Büro, er war als Handwerker im Außendienst tätig, und beide hatten eine Stunde Mittagspause. Es schien ihnen gut bei mir zu gefallen, obwohl sie großen Respekt vor Regine und ihren Belehrungen hatten. In seiner Freizeit schloss der Elektriker sogar kostenlos einen sechsflammigen Gasherd mit großem Elektrobackofen an, den mir meine Mutter spendiert hatte. Im Übrigen hatte ich alle meine Gäste gebeten, in der Öffentlichkeit nichts über ihre private Kantine verlauten zu lassen und mich nur absolut vertrauenswürdigen und verschwiegenen Freunden zu empfehlen.

Markus, der hilfsbereite Elektriker mit den dunklen Locken, war der Einzige in unserer Runde, der etwas Praktisches gelernt hatte, und lag mir nicht nur deshalb am Herzen. Er hatte ein feines, schmales Gesicht, das zu seiner kräftigen Statur nicht ganz passte. Sein kurzer, gutgepflegter Oberlippenbart und seine randlose Brille gaben ihm einen intellektuellen Touch. Abgesehen von meiner persönlichen Sympathie fand ich es besser, dass die Lehrer in unserem Kreis nicht zu sehr dominierten, weil sie dauernd Ferien hatten [23] und dann ausfielen. Die Freundin des Elektrikers war mir allerdings nicht sympathisch, sie war spitznasig, spitzohrig und spitzfindig. Und außerdem wahnsinnig neugierig. Natürlich konnte ich es nicht verhindern, dass meine Gäste vor ihrem Aufbruch fast gleichzeitig alle verschwinden wollten. Im Erdgeschoss gab es nur ein Klo, also musste mein Badezimmer im ersten Stock notfalls zur Verfügung stehen. Gretel, so nannte sich die spitzzüngige Schlange, schaffte es »zufällig« immer, die Toilette in meinem privaten Bereich zu benutzen. Von den Kindern wusste ich, dass sie sich alle Zimmer angeschaut hatte, selbst mein Schlafzimmer war nicht vor ihr sicher. Aber da ich mir den freundlichen Handwerker auf jeden Fall warmhalten wollte, machte ich gute Miene zum bösen Spiel.

Für eine alleinerziehende Frau mit kleinen Kindern ist es schwierig, abends auszugehen. In den letzten Jahren hatte ich es nur geschafft, wenn meine Mutter einmal angereist kam. Doch von Bonn bis an die Bergstraße waren es mehr als zwei Stunden. Caro hatte leider immer noch fürchterliche Angst im Dunkeln und schlief schlecht ein. Das Licht musste brennen und die Tür offen bleiben. Nun ging sie bereits in die erste Klasse, aber es war noch nicht daran zu denken, sie und ihren Bruder für ein paar Stunden allein zu lassen. Als ein Elternabend anstand, klagte ich dem Kapitän mein Problem. Ich hätte gern Carolines Lehrerin kennengelernt und an der Wahl der Elternsprecher teilgenommen. Der alte Herr strahlte und behauptete, es sei ihm ein Vergnügen, auf meine Kinder aufzupassen. Da sie ihn für eine Art Opa ansähen und grenzenloses Vertrauen zu ihm [24] hätten, würde es bestimmt gut klappen. Er freue sich schon darauf, ihnen vor dem Einschlafen noch ein paar spannende Geschichten zu erzählen.

»Aber bitte nicht zu spannend!«, bat ich und war erleichtert.

Als ich an jenem Abend gegen halb elf heimkam, fand ich meine Kleinen und den Kapitän schlafend im Kinderzimmer vor und musste lachen. Obwohl mein Sohn bereits ein großes Bett hatte, wollte es kaum für den dicken Mann und zwei kreuz und quer liegende Grundschüler reichen. Der alte Herr schnarchte, was meine Küken aber nicht zu stören schien. Ich tippte ihn leicht an, er schlug die Augen auf, machte ein unerhört erstauntes Gesicht, grinste dann schuldbewusst und versuchte, sich vorsichtig von vier Ärmchen und Beinchen zu lösen. Ich trug Caro in ihr eigenes Bett und setzte mich mit dem müden Babysitter und einer Flasche Wein ins Wohnzimmer.

»War die reinste Wonne!«, sagte er. »Wir haben Schokoladeneis genascht, Witze erzählt, uns kaputtgelacht und sind wohl schließlich eingepennt. – Und wie war es bei dir?«

Er versprach, mir stets für solche Gefälligkeiten zu Diensten zu sein. »Die Kindheit meiner Tochter Tonja habe ich kaum mitgekriegt, ich war ja immer unterwegs. Leider Gottes kann ich auch kein biologischer Großvater werden – gern würde ich bei deinen Kindern etwas nachholen.«

Tonja lebte mit einer Frau zusammen, was aber heutzutage nicht unbedingt ein Grund war, auf Nachwuchs zu verzichten. Doch ich verkniff es mir im eigenen Interesse, derartige Möglichkeiten auch nur anzudeuten.

[25] Alle naselang freute ich mich über Späße, die der Kapitän mit den Kindern machte, und erinnerte mich wehmütig, wie uns der verschollene Matthew zum Lachen gebracht hatte. Simon fragte mich zum Beispiel: »Was hat hundert Beine und kann doch nicht laufen?« Und als ich keine plausible Antwort wusste, erklärte er strahlend: »Fünfzig Hosen!«

Klar, dass meine vaterlosen Kinder auf einen so tollen Opa flogen. Im Kindergarten, in der Grundschule und zu Hause gab es nur Frauen, der Kapitän war ein Geschenk des Himmels. Doch die Schlange sollte für Unfrieden im Paradies sorgen.

Eines Tages blieb Gretel noch sitzen, als alle anderen Gäste bereits verschwunden waren und ich anfing zu wischen und aufzuräumen. »Musst du nicht ins Büro?«, fragte ich etwas ungehalten, denn ihre Anwesenheit störte mich. Sie habe heute frei, sagte sie.

»Nelly, in Wirklichkeit möchte ich mal allein mit dir sein, denn ich will dir schon lange etwas sagen. Immer wenn ich nach oben muss, sehe ich dort den Kapitän mit deinen Kindern am Küchentisch hocken, und deine Tochter sitzt im Allgemeinen auf seinem Schoß.«

»Ja, natürlich, das weiß ich. Sie klebt an ihm wie eine Klette!«, sagte ich, fast stolz.

»Du bist ein wenig naiv, liebe Nelly. Hast du die Diskussionen über die vielen entlarvten Pädophilen nicht verfolgt? Meistens ist es der nette Onkel, der hilfsbereite Nachbar, der Stiefvater, der angehimmelte Musiklehrer, ein Geistlicher, ein Sozialpädagoge, ein Trainer. Sie genießen für ihr Engagement das volle Vertrauen ihrer Schützlinge und deren Eltern [26] und nutzen es auf infame Weise aus. Bist du nie auf die Idee gekommen, dass der Kapitän ein dirty old man sein könnte und sich nicht ohne Hintergedanken bei euch eingenistet hat? Außerdem hat er eine Alkoholfahne.«

»Ich bitte dich, Gretel, du siehst Gespenster! Er hat selbst keine Enkelkinder und ist froh, einen Ersatz gefunden zu haben. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer!«

»Dann hoffe ich sehr, dass du dich nicht verbrennst. Denk daran, dass ich dich gewarnt habe!« Mit diesen Worten stand sie auf und ging beleidigt davon.

Obwohl ich ihr böse war und kein Wort glauben mochte, war doch ein leichter Zweifel in mir erwacht. War ich wirklich naiv und gutgläubig, hatte ich die Augen verschlossen, bloß weil das Arrangement zwischen dem Kapitän und mir so praktisch war? Ich beschloss, dem neuen Opa etwas mehr auf die Finger zu sehen und die Kinder ausführlich über ihre gemeinsamen Spiele auszuhorchen. Wenn sie dann allerdings von ihm schwärmten, wurde ich fast ein wenig eifersüchtig. Es verging auch kaum ein Tag, an dem er ihnen nicht etwas mitbrachte, zwar keine teuren Spielsachen, aber mal ein Päckchen Knete, mal neue Kreide für die große Tafel oder ein paar Bonbons. War das nicht genau das billige Klischee vom bösen Onkel, der sich mit Süßigkeiten einschleimt?

Und beruhten Klischees und Vorurteile nicht zuweilen auf unguten Erfahrungen? Es war schließlich kein Ammenmärchen, dass Seefahrer, die oft monatelang von ihren Familien getrennt waren, ein Hafenbordell aufsuchten. Als Oberkellner auf einem Luxusdampfer hätte unser »Kapitän« früher sicherlich die Gelegenheit gehabt, sich in Thailand eine [27] Elfjährige zu kaufen. Vielleicht war er auf den Geschmack gekommen… Ich schüttelte mich bei dieser Vorstellung, verfluchte die Schlange, verdrängte meine finsteren Gedanken und beschäftigte mich wieder mit den täglichen Herausforderungen.

Es gibt Tage, da geht alles schief. Ich hatte zwar geglaubt, alles Nötige für das Mittagessen eingekauft zu haben, aber ausgerechnet Salz sowie das von mir bevorzugte Traubenkernöl waren ausgegangen. In aller Eile fuhr ich zum Supermarkt und kam dadurch in Zeitnot. Als ich endlich wieder zurück war, stand der Kapitän bereits vor der Haustür und meinte, es sei vielleicht gut, wenn er auch einen Hausschlüssel habe, dann könne er in solchen Fällen schon mal mit der Arbeit beginnen. Ich war nervös und sagte nicht eben freundlich: »Du hältst dich wohl für unentbehrlich!«

Er sagte nichts, war aber bestimmt gekränkt. Als wir schließlich gemeinsam in der Küche arbeiteten und ich den Kirschauflauf vorbereitete, ließ er ständig seine abgedroschenen Seemannsgeschichten vom Stapel. Das Rezept für Clafoutis, den es zum Nachtisch geben sollte, ist im Grunde ganz einfach, man braucht nur Mehl, Quark, Zucker, Eier, Salz und Milch zu verrühren und über die Kirschen in die Tarte-Form zu gießen. Unkonzentriert, wie ich war, vergaß ich den Zucker und merkte es erst, als der Auflauf bereits fertig war und der gefüllte Messbecher immer noch auf der Anrichte stand. Zum zweiten Mal fuhr ich den armen Kapitän mit harschen Worten an und gab ihm die Schuld für meine Fahrigkeit.

»Mit dir ist aber heute nicht gut Kirschen essen«, meinte [28] er in dem vergeblichen Versuch, mich durch ein Wortspiel aufzuheitern.

Bereits in meiner Jugend hatte ich darunter gelitten, wenn meine Mutter ihre schlechte Laune an ihren Lieben ausließ. Als mein Vater noch lebte, war er der Leidtragende, später war ich es. Nun verfiel ich womöglich in das gleiche Muster.

In diesem Moment klingelte es an der Tür, und Simon kam nach Hause. Er greinte leise vor sich hin. »Ich hab’ alle Matheaufgaben falsch!«, schluchzte er, dabei war Rechnen eigentlich seine Stärke. Wie konnte das nur geschehen? »Der Opa hat’s mir vielleicht falsch erklärt«, behauptete Simon, und der Kapitän bekam einen roten Kopf.