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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2013

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Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Fotolia.

ISBN 978-3-89656-537-2

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Sommer 1981

Während sich in Amerika eine neue, konservative Regierung bereit machte, das „Reich des Bösen“ – die Sowjetunion – totzurüsten, und die alte Bundesrepublik sich anschickte, in der Lethargie der frühen Kohl-Jahre zu versinken, wurde in den USA erstmals über vereinzelte, unerklärliche Krankheitsfälle unter homosexuellen Männern berichtet. Alle Erkrankten litten unter einem seltenen, bösartigen Hautkrebs, dem sogenannten Kaposi-Sarkom, oder der seltenen Form einer Lungenentzündung, PCP, oder unter beidem zusammen. Und sie alle waren innerhalb weniger Monate tot.

Es war der Beginn der Aids-Epidemie.

Nur zwei Jahre später gab es in den USA mehr als 2300 Aids-Erkrankungen und 950 Tote, ohne dass sich die Ärzte einen Reim auf Verbreitung, Infektionsrisiken und Herkunft der Krankheit machen konnten, geschweige denn auf ihre Behandlung. Nur eines war bekannt: Ungefähr Dreiviertel aller Erkrankten waren schwule Männer – womit alle Vorurteile gegen Homosexuelle neue Nahrung bekamen. „Schwulenpest“ und „Lustseuche“ waren nur einige der Bezeichnungen, die die rätselhafte Krankheit bekam. Aber erst mit dem Tod des Schauspielers Rock Hudson Ende 1985 nahm eine breite Öffentlichkeit die Epidemie zur Kenntnis.

Aids schwappte über nach Europa und damit auch nach West-Deutschland – die DDR blieb aufgrund ihrer Abschottung bis zum Mauerfall weitestgehend von der Aids-Krise verschont, jedenfalls offiziell – und überzog schließlich die ganze Welt. Bis heute sind Millionen von Menschen an Aids gestorben, insbesondere in Afrika, und noch immer ist kein Heilmittel in Sicht.

Hunderttausende schwule Männer sind dem Virus zum Opfer gefallen. Eine ganze Generation musste mit einer neuen Form der Pest kämpfen und ist von ihr traumatisiert worden.

Trotzdem ist dies kein Aids-Roman geworden, sondern erstaunlicherweise eine Liebesgeschichte.

Für Georg 1963-1989

I. Seilakrobaten

The blood that moves our bodies

Now covers the ground

A-ha – The Blood that Moves the Body

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„Da, auf dem Bett! Was macht Truman hier auf dem Bett? Oh, stimmt ja, du kannst ihn gar nicht sehen. Schade.“ Marius sackt zurück auf das Kopfkissen, ein entschuldigendes Lächeln tanzt über seine Lippen. Für einen Moment sieht er wunderschön aus. „Die haben mir was gegeben.“

„Ja. Ich weiß.“ Jakob ist erschöpft, seit Tagen hat er kaum geschlafen. Es kostet Mühe, die Mundwinkel nach oben zu bewegen, aber Marius hat die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, und die Luft in seiner Lunge rasselt.

Der Karton steht in der Abstellkammer, hinter dem Staubsauger, versteckt unter Plastiktüten, einer ausrangierten Kaffeemaschine und gebrauchtem, glatt gestrichenem Geschenkpapier. Arne würde nie auf die Idee kommen, hier nachzusehen. Trotzdem wartet Jakob auf eine passende Gelegenheit, zum Beispiel, wenn Arne im Büro oder auf Dienstreise ist; erst dann kramt er den Karton heraus, trägt ihn ins Wohnzimmer, hebt den Deckel ab und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. Er weiß, dass er die Vergangenheit nicht so häufig hervorholen sollte – sie findet ihre ganz eigenen Wege, sich in die Gegenwart zu schleichen –, aber er kann nichts dagegen tun. Sobald seine Finger die Fotos berühren, verspürt er Geborgenheit. Sobald seine Hände über die verblassten Farben streichen, fühlt er sich zu Hause.

Die Fotos sind kleine, rechteckige Schnipsel eines Lebens, das so lange zurückliegt, dass niemand mehr sagen kann, was der Wahrheit entspricht und welche Dinge ein unstetes Gedächtnis dazuerfunden oder ausradiert hat. Sie sind seine Krücken, seine Beweisstücke. Jakob hat es immer vermieden, die Bilder einzuscannen und im Computer zu speichern. Es würde sich nicht richtig anfühlen, sie verlören ihre Bedeutung, würden untergehen in einem endlosen Meer aus Pixeln und Bytes.

Da ist Marius mit ausgebreiteten Armen vor dem altersschwachen, weißen BMW, den er fast so sehr liebte wie Jakob; im Hintergrund die Türme von San Gimignano, bröckelnde Zeugen mittelalterlicher Großmannssucht. Marius trägt kurze, dunkle Hosen, Sandalen und ein idiotisches Grinsen im Gesicht.

Jakob erinnert sich an die unglaubliche Hitze während des Italienurlaubs, an die flirrende Luft auf den Landstraßen, die die Natur jenseits der Fahrbahn in Schwingung zu versetzen schien. Die Kühlung des Autos fiel ständig aus, sodass sie im Wageninneren Temperaturen von beinahe vierzig Grad erdulden mussten und die ausgedörrte Landschaft der Toskana vierzehn Tage lang halbnackt durchquerten. Es könnte sein, dass sie ihre Oberkörper mit dem Wasser aus einer Wasserflasche bespritzt haben, aber vielleicht hat Jakob dieses Detail mit den Jahren auch nur hinzufantasiert. Allerdings weiß er genau, dass im Autoradio gerade „Luka“ von Suzanne Vega lief, während sie die Stadtgrenze von Lucca passierten. Marius und er hatten die Fensterscheiben heruntergekurbelt und sangen laut mit. Erst viel später ist Jakob aufgefallen, dass es in dem Lied um ein misshandeltes Kind geht. Sie waren naiv damals, jung und naiv. Aber vielleicht wollten sie auch nur für ein paar Minuten vergessen.

Dann das Foto, auf dem sie verschwitzt und atemlos vor einem französischen Bett im Treppenhaus stehen und sich vor Lachen kaum halten können.

Marius und er hatten Katrin beim Umzug geholfen, und während sie dieses Monstrum von Bett nach unten schleppten, klappte es plötzlich auseinander und verkeilte sich im Treppengeländer, sodass man es weder vor- noch zurück-bewegen konnte. Katrin hatte einen hysterischen Anfall bekommen, weil sie befürchtete, dass jeden Moment ihre prüden Nachbarinnen – aus irgendeinem nicht mehr nachvollziehbaren Grund waren es allesamt Postbeamtenwitwen – aus den Wohnungen stürmen und entdecken würden, auf welcher Unterlage Katrin in den letzten Jahren so lustvoll und laut Sex gehabt hatte.

Ein dritter Schnappschuss zeigt Marius und den Kater einträchtig nebeneinander schlummernd; der Kater hat sich auf dem Kopfkissen zusammengerollt und kitzelt mit seiner Schwanzspitze Marius’ Nase.

Jakob erinnert sich, dass jeden Morgen gegen sieben Uhr die Schlafzimmertür aufgedrückt wurde und der Kater zu ihnen ins Bett marschierte. Marius wurde mit einem Schnurren ins Ohr begrüßt und Jakob in den großen Zeh gebissen, damit er aufstand und den Fressnapf in der Küche füllte. Spätestens bei dieser Erinnerung muss Jakob lachen – auch wenn ihm das Lachen häufig im Halse stecken bleibt.

Es gibt noch viele solcher Bilder, die seine Finger staubig und schmutzig werden lassen, wenn er sie betrachtet:

Marius mit einer Tina-Turner-Perücke und dem roten Kleid, das er sich von Katrin für den Karneval geliehen hatte, Jakob direkt neben ihm, peinlich berührt die Hände vor das Gesicht haltend. Hinter ihnen sind schunkelnde Menschen an einer Theke zu sehen: Clowns, Piraten und Matrosen. Am nächsten Tag konnte Marius sich nur humpelnd fortbewegen, weil er es nicht gewohnt war, auf hohen Absätzen zu laufen.

Marius in verdreckten Arbeitsklamotten bei der Sanierung ihrer Wohnung. Das Foto hat Jakob immer geil gemacht. Selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren, verspürt er diese altbekannte Unruhe.

Marius versonnen am Zeichenbrett in seinem Arbeitszimmer, Lineal und Zirkel liegen vergessen auf den Plänen für ein Mehrfamilienhaus, während er die Wolken durch das Fenster beobachtet.

Wenn Jakob die Fotos auf dem dunklen Parkett verteilt, denkt er, dass es gute Zeiten waren – Jahre, in denen er vor Liebe fast geplatzt wäre und gelernt hat, wie sie sich anfühlt, wie sie schmeckt, wie sie riecht. (Wie Marius, wie Marius, wie Marius.) Aber er weiß auch, dass die Fotos nur einen Teil der Wahrheit erzählen. Weil die schlechten Zeiten nicht auf glänzendem, buntem Papier festgehalten und je nach Bedarf hervorgeholt oder weggelegt werden können. Die Zeiten, in denen er versagt und betrogen und verloren hat.

Trotzdem, er würde alles dafür tun, um das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können, alles. Deshalb hat sich Jakob entschieden, seine Sehnsucht in diesem Karton vor Arne zu verstecken.

Januar 1986

Spanien und Portugal treten der Europäischen Gemeinschaft bei, deren Mitgliederzahl sich damit auf zwölf erhöht.

Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher geben im nordfranzösischen Lille den Bau eines Eisenbahntunnels unter dem Ärmelkanal bekannt. Die Bauarbeiten werden 1994 abgeschlossen.

Die US-amerikanische Raumfähre „Challenger“ explodiert 73 Sekunden nach dem Start in Cape Canaveral (Florida). Grund der Katastrophe ist das Versagen von Dichtungsringen an einer seitlichen Feststoffrakete. Alle sieben Astronauten kommen bei dem Unglück ums Leben. Das Shuttle-Programm der NASA wird vorübergehend eingestellt; erst im September 1988 startet mit der „Discovery“ eine neue Raumfähre ins All.

Im Alter von 81 Jahren stirbt in Kalifornien der Schriftsteller Christopher Isherwood, dessen Berlin-Romane aus den dreißiger Jahren als Vorlage zu dem Musical „Cabaret“ dienten. Isherwood gehört zu einem Kreis schwuler amerikanischer Autoren, Dramaturgen und Poeten, die in den fünfziger und sechziger Jahren Berühmtheit erlangten und sehr erfolgreich waren. Dazu zählen unter anderem James Baldwin, Tennessee Williams, Gore Vidal und Truman Capote.

Im Winter werden in den USA die letzten schwulen Saunen geschlossen. Die dortige Schwulenbewegung hatte sich zwar dagegen gewehrt, konnte sich aber nicht gegen die örtlichen Gesundheitsbehörden durchsetzen.

Angesichts immer alarmierenderer Berichte und immer höherer Opferzahlen durch Aids macht sich in Amerika ein Stimmungsumschwung gegen Schwule bemerkbar. Nach einer Umfrage der L.A.Times sind 51% der Bevölkerung für eine Kriminalisierung von sexuellen Handlungen Aids-Kranker, ebenso viele Menschen befürworten Quarantänemaßnahmen für AidsKranke. 42% sprechen sich für die Schließung aller schwulen Bars und Kneipen aus. In der konservativen Presse gibt es Stimmen, die sich für Zwangstests, Zwangstätowierungen oder die Quarantäne von HIV-Infizierten starkmachen. Auch die Gewalt gegen Schwule nimmt zu: Sie hat sich in den Jahren 1982 bis 1985 etwa verdreifacht.

Quarantänemaßnahmen werden auch in Europa teilweise als probates Mittel zur Bekämpfung von Aids angesehen: In Stockholm wird erstmals ein HIV-infizierter Drogenabhängiger zwangsweise in eine Seuchenklinik eingeliefert.

In Berlin bezieht die Deutsche Aids-Hilfe (DAH) ihre ersten eigenen Arbeitsräume – gegen den Widerstand der im selben Haus ansässigen Ärzte, die um Klienten und Umsätze fürchten.

In den deutschen Charts steht Falco mit „Jeanny“ an der Spitze, in Großbritannien die Pet Shop Boys mit ihrem ersten Hit „West End Girls“.

Jakob drängte sich frierend unter den schmalen Dachvorsprung, um dem Regen zu entkommen, und wartete darauf, dass der Sehschlitz der metallenen Eingangstür aufgeklappt wurde und Beppos Augen ihn für einen kurzen Moment unter die Lupe nahmen.

Es war noch nicht allzu lange her, dass er sich kaum ins „Pimpernel“ hineingetraut hatte. Drei Jahre? Ja, kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Damals hatte er eine Stunde auf einer Bank gegenüber der Diskothek gehockt, im mageren Schutz eines winterlich kahlen Baumes nervös an den Fingernägeln gekaut und die Männer beobachtet, die dort Einlass begehrten. Er hatte gesehen, wie sie um die Ecke bogen oder von der Straßenbahnhaltestelle herüberliefen und dann hastig hinter der aufgerissenen Tür verschwanden, als gehörten sie zu einem Geheimbund und nähmen an einem subversiven Treffen teil. Als täten sie etwas Verbotenes.

Mehrmals hatte Jakob Anlauf genommen und war doch wieder nur auf die Bank zurückgesackt. Als er endlich genug Mut zusammengekratzt hatte, um selbst vor die Tür zu treten, und sein Finger den Klingelknopf berührte, hätte er sich fast übergeben vor Aufregung. Aber er hatte genug gehabt von dem anonymen Sex in Pornokinos oder am Aachener Weiher, dem beliebten Cruisinggelände am Rande der Innenstadt, wo alles reduziert wurde auf Schwanz und Arsch. Er hatte endlich jemanden spüren wollen, richtig spüren, hatte mit seinen Händen über fremde Haut streichen und in fremde Augen blicken und darin Erstaunen und Neugier erkennen wollen. Nicht nur Geilheit, nicht nur den Wunsch nach Befriedigung. Dass es in einer Diskothek genauso zugehen konnte wie in den dunklen Ecken eines Kinos, dass es an ihm selbst lag, wenn er jemanden kennenlernen wollte, hatte er erst hinterher begriffen. Rückblickend musste er zugeben, dass er damals noch ziemlich unbedarft gewesen war.

Der Regen, der seit Tagen fast unaufhörlich über dem Rheinland niederging, wurde stärker und fegte in Böen gegen die Häuser. „Komm schon, Beppo“, murmelte Jakob. „Es ist schweinekalt!“

Er schlug den Kragen der hellbraunen, mit Lammfell gefütterten Wildlederjacke hoch, die er zu Weihnachten von seinen Eltern bekommen hatte. Eigentlich hatte er die Feiertage nicht zu Hause verbringen wollen, eigentlich nahm er sich jedes Jahr vor, nicht mehr nach Hause zu fahren, aber dann tat er es doch. Aus Furcht, seine Eltern noch weiter zu verprellen. Aus Mangel an Alternativen, denn trotz seines Studiums an der Uni hatte er in Köln bisher nur wenige Freunde gefunden, und die fuhren auch alle über die Feiertage nach Hause. Die Jugend der Nach-APO-Zeit war eine Mami-Generation, und er steckte mittendrin.

Gemeinsam waren sie aus Prinzip – aber welchem Prinzip? Dem Prinzip, dagegen zu sein? – wegen des Nato-Doppelbeschlusses auf die Straße gegangen, hatten Plakate gegen die Pershing-2-Raketen geschwenkt, sich über Helmut Kohl lustig gemacht, hatten Anti-Atomkraft-Buttons auf ihre Taschen gepinnt, doch am Abend wollten alle zurück ins gemachte Nest. Nicht, dass Jakob sich seinen Kommilitonen moralisch überlegen fühlte, im Grunde war er ja nicht anders, auch wenn er in einer Wohngemeinschaft lebte. Politik interessierte ihn trotz allem nicht sonderlich. Erst seitdem die Grünen im Parlament saßen und ihre Blumentöpfe auf den Sitzpulten deponiert hatten – und damit Jakobs Großvater zur Raserei gebracht und zu dem Ausruf verführt hatten, dass so etwas früher nicht vorgekommen wäre –, nahm er überhaupt wahr, dass sich langsam etwas veränderte. Erst seitdem Petra Kelly mit einer Stimme wie ein Schnellfeuergewehr den Bundestag aufmischte und Joschka Fischer gesagt hatte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“, fand er, dass Politik einen gewissen Unterhaltungswert besaß. Dennoch war Jakob viel zu sehr mit sich und der immerwährenden, aufregenden Suche nach Sex beschäftigt, um diese Veränderungen mit mehr als einem Achselzucken zu registrieren. Was waren die Forderungen nach einem Ausstieg aus der Kernenergie im Vergleich zu den lustvoll verbrachten Stunden auf der Uniklappe?

Jakob drückte erneut auf die Klingel, diesmal ein wenig energischer, im selben Moment wurden endlich der Sehschlitz und dann gleich darauf die Tür aufgerissen. Feuchte Wärme und das gedämpfte Geräusch stampfender Beats schwappten ihm entgegen.

„Sorry“, sagte Beppo. „Es gab ein bisschen Chaos. Irgendein Idiot hat seine Garderobenmarke verloren.“ Der Türsteher, ein schlaksiger, blonder Mittzwanziger mit fettigen Haaren und einer langen, gebogenen Nase, nahm Jakobs nasse Jacke mit gespreizten Fingern in Empfang. „Regnet’s etwa schon wieder?“

„Immer noch“, murmelte Jakob, drückte Beppo fünfzig Pfennig für die Garderobe in die Hand und verstaute sein Märkchen im Portemonnaie.

„He“, sagte Beppo und deutete beinahe anklagend auf Jakobs Gesicht. „Ist der neu?“

Ertappt fuhr Jakob durch die schwarzen Stoppeln auf seinen Wangen. „Schnäuzer hat doch jeder. Dreitagebart ist mal was anderes.“

Beppo grinste. „Stimmt. Letztes Wochenende war ich mit meiner besten Freundin in Berlin. Carlotta, der kleine Dicke, kennst du bestimmt … nein? … na, ist ja auch egal. Jedenfalls, wir waren zusammen im ‚Knast‘ und …“

„‚Knast‘?“

Beppo rollte die Augen. „Die Lederkneipe in der Fuggerstraße.“

„Ich war noch nie in Berlin.“

„Solltest du mal nachholen. Da geht’s richtig ab. Nicht so öde wie hier in Köln.“

„Wart ihr auch im Osten?“

„Bist du bescheuert? Da kriegt man doch nur Depressionen. Außerdem sind wir zum Ficken dahin … ähm, was wollte ich erzählen?“

„Irgendwas mit Carlotta.“

„Richtig.“ Beppo hängte Jakobs Jacke auf einen Bügel und verstaute sie an der Garderobenstange. „Also, wir stehen da im ‚Knast‘, trinken ein Bier, und dann sagt Carlotta plötzlich: ‚Siehst du den da vor uns? Der mit dem Schnäuzer und der Lederjacke? Der baggert mich die ganze Zeit an.‘ Ich dreh mich um, und da stehen sage und schreibe acht Typen mit Schnäuzer und Lederjacke. Die sahen alle aus wie Klone von diesem amerikanischen Pornostar … ich komm jetzt bloß nicht auf den Namen … irgendwas mit P.“

„Al Parker?“

„Kann sein. Al Parker. So viel zu Gruppenzwang … nein, jetzt weiß ich’s wieder: Pierce Daniels.“

„Mit dem würde ich auch ins Bett gehen.“

„Schätzchen“, erwiderte Beppo, „stell dich hinten an! Sieht jedenfalls gut aus, dein Bart. Passt zu deinen dunklen Haaren.“

Für einen Moment hatte Jakob den Eindruck, von Beppo angemacht zu werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Türsteher einen Gast abgriff. Aber er hatte gehört, dass Beppo ein Problem mit Alkohol hatte, außerdem war er sowieso nicht sein Typ. Jakob warf einen Blick Richtung Eingang. „Ist schon was los?“

Beppo zuckte mit den Schultern und schien das Interesse an Jakob bereits verloren zu haben. Gelangweilt ließ er sich auf seinen Barhocker zwischen den Jacken und Mänteln fallen, friemelte eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie an. „Ist doch erst elf. Wird schon noch. Heute ist Freitag.“

Das „Pimpernel“ bestand aus drei Etagen. Im Keller waren die Toiletten untergebracht und eine kleine Bar, deren Hauptattraktion die Pornos waren, die dort als Super-8-Filme auf die Leinwand geworfen wurden, später gab es dann Videokassetten und einen Fernseher. Neben der Bar konnte man sich durch einen schmalen Gang an Holzbrettern vorbei in einen winzigen Darkroom unter der Treppe quetschen, der seinem Namen alle Ehre machte. Sobald man den Einfallswinkel des Lichts verlassen hatte, den die flackernden Sexfilme warfen, und einen Schritt in den Verschlag tat, war es so dunkel, dass man Mühe hatte, sein Gegenüber zu erkennen. Die Wände rochen nach kaltem Rauch und Moder.

Eine Etage höher, im Erdgeschoss, befand sich im hinteren Bereich die eigentliche Diskothek, mit einem DJ-Pult, einer großen Tanzfläche, seitlich an den Wänden nach oben aufsteigenden Podesten und einer riesigen, glitzernden Diskokugel. Der vordere Teil des Raums wurde von einer rustikalen Bar mit schweren Holzbalken und niedriger Decke eingenommen, die sich an der rechten Wand entlangschlängelte.

In der ersten Etage befand sich eine Art Café, in der ruhigere Musik gespielt wurde, Sitzmöglichkeiten zum Verweilen einluden und wo man sich auch tatsächlich unterhalten konnte – im Gegensatz zur Diskothek. Alles war ein bisschen schäbig, ein bisschen heruntergekommen; die besten Zeiten des „Pimpernel“ waren in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre gewesen, als es einer der größten und bekanntesten schwulen Clubs der Bundesrepublik war. Jakob hatte sogar Freddy Mercury hier gesehen. Zusammen mit Barbara Valentin hatte er getanzt und später einen hässlichen, kleinen Milchreisbubi mit Pickeln im Gesicht abgeschleppt. Es war wochenlang das Thema Nummer Eins gewesen.

Mittlerweile musste sich das „Pimpernel“ der Konkurrenz vieler anderer Bars und Kneipen erwehren und zehrte vor allem von seinem langsam verblassenden Ruhm. Dennoch war es für viele noch immer der erste Anlaufpunkt an einem beginnenden Wochenende, auch für Jakob. Es war Zufluchtsort und Abenteuerspielplatz zugleich. Er fühlte sich leichter, erleichtert, wenn er bei Beppo an der Garderobe zusammen mit seiner Jacke seinen Alltag abstreifte. Hier gab es nur schwule Männer – von der einen oder anderen Schwulenmutti abgesehen –, hier war er endlich einmal nicht in der Minderheit. Er genoss dieses Gefühl, ließ sich davon umschmeicheln wie vom warmen Licht einer Höhensonne, ließ den Geschmack dieser Freiheit, dieses Unbeschwertsein, auf seiner Zunge schmelzen wie ein süßes Fruchtbonbon.

Jakob ging zum Tresen, bestellte ein Kölsch und wanderte mit seinem Glas gemächlich Richtung Tanzfläche. Er kletterte auf eines der Podeste und beobachtete die zwei frühen Tänzer, die zur Musik mehr oder weniger im Takt herumhampelten; der DJ spielte Chartmusik, um Stimmung zu verbreiten: Grace Jones und dann Jennifer Rush. „He’s my destiny, and it’s hard to see how I could love him more ...” Jakob sang leise mit, dann, nach ein paar Minuten, begab er sich gelangweilt in den rauchgeschwängerten Keller, setzte sich an die kleine, schummrige Theke, nickte Robert, dem Barkeeper, zu und verfolgte mit einem Auge den Pornofilm, der über die Leinwand flimmerte. Ansonsten taxierte er die Männer, die wie er eine erste Runde drehten, als ob sie ihr Revier markierten. Sein Herz begann schneller zu schlagen und sein Körper schaltete auf Jagdmodus.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Schatten, der von den Toiletten kommend die Bar betrat und sich hinter den Holzbrettern in den Darkroom zwängte. Jemand Großes, jedenfalls größer als er, breitschultrig, mehr hatte er in dem kurzen Moment nicht erkennen können. Augen wie brauner Kandiszucker, die für den Bruchteil einer Sekunde an ihm hängen blieben, bevor sie unter der Treppe verschwanden. Aber das reichte, um Jakobs Interesse zu wecken. Er stand auf, folgte dem Mann, blieb desorientiert im Halbschatten stehen, bis eine Hand sich an ihn herantastete, ihn an sich zog. Vor ihm materialisierte sich wie von Geisterhand ein Kopf, eine Wange mit unregelmäßigem Bartflaum. Wieder diese dunklen Augen, die ihn kühl musterten, einteilten, begutachteten. Jakob fühlte sich merkwürdig nackt und berauscht, ein Schauer kroch über seinen Rücken. Dann brach sich ein kurzes, aufforderndes Grinsen den Weg über die fremden Lippen, bevor sie seine berührten.

„Wie heißt du?“

Erstaunt hielt Jakob inne. Normalerweise wurde eine solche Frage hinterher gestellt, wenn überhaupt. Zögernd nannte er seinen Namen. „Und du?“, flüsterte er zurück.

Da war auch etwas Weiches, Kindliches in den Gesichtszügen, etwas, das sich erst auf den zweiten Blick offenbarte und ihm vorher entgangen war. „Marius.“

Jakob seufzte ungewollt auf, fühlte das Blut in seinen Schläfen pochen, schloss die Augen und erwiderte den Kuss.

Jakob hat die Fotos und den Karton weggeräumt und die Wohnung verlassen. Er läuft durch die Stadt, vorbei an Verkehrsinseln, auf denen bunte Stiefmütterchen im Wind nicken, macht Platz für einen Radfahrer, der auf dem Bürgersteig fährt, kauft sich ein Päckchen Kaugummi an einem Kiosk. Als er im Schaufenster eines Herrenausstatters sein Spiegelbild bemerkt, schreckt er im ersten Moment zurück, denn er kann das, was er sieht, nicht zuordnen. Gleich darauf erfüllt ihn tiefe Resignation. Es ist nicht zu glauben, dass dieser Mann ihn darstellen soll. Diese spärlicher werdenden, wenn auch zum Glück noch nicht völlig ergrauten Haare auf seinem Kopf. Stattdessen gibt es immer mehr davon an Stellen, wo sie nicht hingehören: in der Nase und in den Ohren, auf dem Rücken. Diese Andeutung von Tränensäcken unter den Augen. Fahle, lasche Wangen und hängende Schultern, als wären sie durch jahrelange Büroarbeit gekrümmt und verkümmert. Diese Fettpolster am Bauch, die er mit einem längsgestreiften Hemd zu kaschieren versucht, und diese im Vergleich zu seinem Oberkörper viel zu dünnen Oberschenkel – das kann doch nicht er sein! Das kann doch nicht sein, was nach fünfzig Jahren Lebenszeit aus ihm geworden ist!

Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass er sein Spiegelbild wahrnimmt. Natürlich sieht er sein Gesicht, wenn er morgens die Seife abwäscht und sich rasiert. Sieht seinen Körper, wenn er sich nach dem Duschen abtrocknet, aber das sind eher reflexartige Beobachtungen, bei denen er mit seinen Gedanken dem Tag schon ein paar Stunden voraus ist. Er vermeidet es, seinen Körper eingehender zu betrachten.

Einzig seine Augen erinnern ihn an das Bild, das er von sich im Kopf trägt und das einen viel jüngeren und sportlicheren Jakob zeigt. Nur seine Augen haben sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht verändert. Sie sind immer noch so blau wie der Himmel in van Goghs „Sternennacht“. (Marius hat das einmal gesagt, als sie zusammen im Bett lagen … ist das wirklich schon über zwanzig Jahre her? … und er hat ihm dieses Lied von Don McLean vorgespielt, „Vincent“, das der amerikanische Songwriter dem berühmtesten aller Maler widmete. Angeblich soll ihn das Gemälde zu dem Lied inspiriert haben. Seitdem war Jakob immer stolz auf seine Augen. Erst viel später, als er „Sternennacht“ im Museum of Modern Art in New York vor sich gesehen hat, ist ihm aufgefallen, dass es ganz viele verschiedene Blautöne im Himmel von van Goghs Gemälde gibt.)

Jakob beugt sich nach vorne, bis seine Nase beinahe das Schaufenster berührt, und sucht krampfhaft nach weiteren Ähnlichkeiten, nach Dingen, die ihn an sein verschwundenes Ich erinnern könnten. Die Hände? Nein, bestimmt nicht. Früher waren seine Hände schmal, seine Finger feingliedrig. Jetzt ist sein Handrücken von dicken, blauen Adern überzogen und seine Finger sehen geschwollen und wurstig aus, die Nagelbetten eingerissen, die Haut rau. Die Oberarme? Selbst unter der leichten Jacke kann er erkennen, dass sich der Bizeps früherer Jahre zurückgebildet hat, nachdem er den Sport aufgegeben hat. Der Hintern? Jakob dreht sich und linst über den Rücken auf sein Spiegelbild, aber bevor er sich ein abschließendes Urteil bilden kann, läuft eine junge Frau mit einem Kinderwagen an ihm vorbei und mustert ihn argwöhnisch. Vielleicht sollte er lieber Arne fragen, wie sein Hintern aussieht. Aber Jakob ist nicht sicher, ob Arne den Grund seiner Frage verstehen würde. Und er weiß nicht, ob Arne überhaupt noch eine Meinung zu seinem Hintern hat.

Er gibt sich einen Ruck und trennt sich von seinem Spiegelbild, lässt den alternden Mann, den auch er nicht mehr verführen wollte, bei den Pullovern und Sakkos zurück und geht ein paar Häuserblocks weiter, bis er vor dem vierstöckigen, hell getünchten Altbau steht, der sein eigentliches Ziel ist. Zwei Erker auf mittlerer Höhe streben nach vorne; jemand hat einen Blumenkasten mit roten Geranien an der Fensterbrüstung befestigt. Sogar von hier unten kann Jakob erkennen, dass da ein Stümper am Werk war. Die einzelnen Pflanzen sind zu eng nebeneinander gesetzt, im Laufe des Sommers werden sie sich gegenseitig ersticken. Immer wieder muss er den Kunden in seiner Gärtnerei sagen, dass Pflanzen Platz zum Wachsen brauchen, Raum, um sich entfalten zu können. So wie Menschen eigentlich. Manchmal wird er dann ungläubig angeglotzt, und er sieht ein verstohlenes Lächeln über ein Gesicht huschen. Solchen Kunden würde er dann am liebsten eine Plastikpflanze in die Hand drücken.

Zwei kleine Jungen toben im geöffneten Hauseingang an ihm vorbei. Jakob muss einen Schritt zur Seite treten, damit sie ihn nicht anrempeln, so vertieft sind sie in ihr Spiel. Er betätigt eine Klingel und steigt die Treppen bis in die zweite Etage empor, dann geht er durch die angelehnte Tür in den zweiten Raum auf der linken Seite und setzt sich auf den Stuhl, der der Tür am nächsten steht. Ein misstrauischer Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass er einige Minuten zu spät ist. Wahrscheinlich jedenfalls, seine Uhr geht nie wirklich genau. Früher war das anders. Damals ist er zu jedem Termin rechtzeitig erschienen, war die Pünktlichkeit in Person. Aber seit Marius hat sich der Ablauf der Zeit gegen ihn verschworen. Mal vergeht sie schneller, als er erwartet, und überrumpelt ihn mit ihrer Vergänglichkeit, sodass er sich ständig gehetzt fühlt, sich andauernd sputen muss. Dann wieder hinkt sie hinter ihm her, bewegt sich kriechend wie eine Schnecke, und er ist gezwungen innezuhalten, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihn einzuholen. Die Zeit ist wie ein launischer Liebhaber, unberechenbar, unzuverlässig. Jakob hat gelernt, mit ihrer Wankelmütigkeit zu leben. Arne nicht.

Der Raum, in dem er sitzt, ist weiß. Jakob unterdrückt wie jedes Mal den Impuls, aufzuspringen und wegzurennen. Zu viel Zeit hat er in solchen Räumen verbracht, in Wartezimmern, Krankenhausfluren, Laboren und Sprechzimmern. Es ist eine Farbe, die er mit dem Tod verbindet: glitzernd und klirrend wie ein Januarmorgen, ein eisiger Tag im tiefsten Winter.

Aber dieser Raum ist anders. Die Farbe der Tapete ist kein steriles Weiß, das seine Angst und Hoffnungslosigkeit kühl an sich abperlen lässt, sondern sie erinnert mehr an das sanfte Beige einer aufgeschlagenen, mollig warmen Bettdecke. Dieser Farbton beruhigt seine Sinne und lässt seinen Puls langsamer schlagen.

An der Wand hängt eine verschwommene Fotografie aus schwarzen, roten und grauen Strichen. Es könnten Gebäude sein, alte Fabrikhallen oder vielleicht Bahngleise, eine Industrielandschaft, aber die Umrisse sind zu schemenhaft, um ihnen eine eindeutige Struktur zuzuordnen. In dieses Bild kann er sich vertiefen, wenn er keine Antworten weiß oder wenn ihm nicht zum Reden zumute ist. Nicht, dass er gut darin ist, die dann entstehende Stille auszuhalten. Wenn er schweigt und der Stille lauscht, wird sie größer und größer, bläst sich auf wie ein Heißluftballon, der bald den ganzen Raum ausfüllt, ihn in die Ecke drückt und immer kleiner werden lässt. Und er will sich nicht mehr klein machen, deswegen ist er ja überhaupt hier. Weil er Angst hat, dass er vollkommen verschwindet, wenn er sich weiterhin klein macht. Daher fängt er dann meist wieder an zu reden; seine Lippen hangeln nach dem ersten Gedankenfetzen, der durch sein Gehirn schießt, und stoßen die Worte ruckartig nach draußen. Dann weicht die Stille zurück, und er atmet erleichtert auf. Oft wird Jakob erst hinterher klar, dass er wieder etwas preisgegeben hat, was er eigentlich für sich behalten wollte.

Über der namenlosen Fotografie hängt eine Lampe, die deren Farben in einem gedämpften Gelb ausleuchtet, dann gibt es noch eine Couch mit einem Bezug aus blassen Zickzackmustern und einen weiteren Stuhl. Ansonsten ist der Raum leer. Die Gardinen sind zugezogen, die Fenster geschlossen, um das Rattern der Straßenbahnen und das Hupen der Autos auszusperren, das aufgeregte Geschrei und Lachen der Kinder aus der Ganztagsschule gegenüber, wenn sie nach Unterrichtsschluss auf den Pausenhof drängen. Tageslicht fällt matt auf einen quadratischen Flecken des weichen Teppichs, der jeden seiner Schritte verschluckt. Doch er hat selten Gelegenheit, dem Nicht-Vorhandensein seiner Schritte nachzuspüren, denn meist sitzt oder liegt er in diesem Raum. Das ist die Aufgabe, die Jakob hier hat. Zu sitzen oder zu liegen und zu reden. Zweimal die Woche fünfundfünfzig Minuten lang. Montags und donnerstags.

Die Frau, die diesen Raum und diese Zeit mit ihm teilt, nimmt immer auf dem anderen der beiden Stühle Platz. Auf ihrem Schoß befindet sich immer ein Schreibblock, auf dem sie Notizen macht, wenn Jakob spricht. Sie zückt den Kugelschreiber in unregelmäßigen Abständen, haucht die Spitze an, als müsste sie dem Stift Leben einflößen, und schreibt. Soweit er das erkennen kann – er sitzt nicht nah genug, um sicher zu sein –, sind es meist nur Stichpunkte, häufig versehen mit einem Ausrufe- oder Fragezeichen, in den seltensten Fällen ist es ein ganzer Satz. In all den Monaten hat Jakob noch kein System bei ihren Aufzeichnungen erkennen können. Immer wieder ist er überrascht, wenn der Stift auf den Zettel herabstößt wie ein Habicht, der auf einer Wiese eine Maus erspäht, und er wägt in Gedanken die Worte ab, die seine Therapeutin zu ihren Notizen bewogen haben, dreht sie hin und her und überlegt verzweifelt, ob sie einen tieferen Sinn gehabt haben könnten, der sich ihm nicht erschlossen hat.

Jakob und die hagere, hochgewachsene Frau mit den frühzeitig ergrauten Haaren haben eine ungleiche Rollenverteilung. Er nennt sie förmlich „Frau Dr. Leggs“, und das ist auch völlig in Ordnung, denn er weiß so gut wie nichts über sie. Er hat keine Ahnung, wie alt sie ist – er schätzt sie drei oder vier Jahre jünger als er selbst –, er weiß nicht, ob sie verheiratet ist, ob sie Kinder hat, welche Musik sie gerne hört oder ob sie glücklich ist. Nur wenn er über sie nachdenkt, nennt er sie Silky Legs, eine Anspielung auf ihren Vornamen Silke und ihre Vorliebe für hautenge Jeans. Tatsächlich hat er keine Ahnung, ob ihre Beine in ihrem natürlichen Zustand, also unbekleidet, tatsächlich seidig sind, und im Grunde verbieten sich solche Überlegungen gegenüber der eigenen Therapeutin, zumal, wenn man wie Jakob schwul ist.

Sie nennt Jakob ebenso förmlich „Herr Brenner“, was ihm jedoch komisch vorkommt, denn sie weiß mehr über ihn als irgendjemand anders, mehr als Katrin, mehr als Arne, vielleicht sogar mehr als Marius. Vor allen Dingen weiß sie, dass Jakob unglücklich ist. Aber das weiß sogar Arne, der Jakob hierhingeschickt hat, unter der Drohung, es sonst nicht mehr mit ihm auszuhalten. Nur weshalb Jakob unglücklich ist, das weiß seine Therapeutin noch nicht – das heißt, sie hat eine Vermutung, aber Jakob muss den Grund selbst herausfinden. Sie kann ihm nur den Weg zeigen, der zu seiner Traurigkeit führt. So lautet ihre Vereinbarung. Später, wenn er sie gefunden hat, seine Melancholie, seine Depression oder wie immer man das Gefühl bleierner, lähmender Schwere auch nennen mag, kann sie Jakob helfen, diesen Schatten auf seiner Seele zu betrachten. Silky Legs hat ihm auch erklärt, dass sein Zustand früher als Schwarzgalligkeit bezeichnet wurde, weil man der irrigen Annahme war, er würde durch die sich ins Blut ergießende Gallenflüssigkeit hervorgerufen. Seitdem wird er das Bild nicht mehr los, dass seine Depression wie ausgelaufene schwarze Tinte in seinem Körper herumschwappt.

Aber Jakob hat Angst, sich seiner Traurigkeit anzunehmen. Natürlich. Jedes Mal, wenn er zurückschreckt, wenn er Stoppschilder auf dem Weg in sein Innerstes aufstellt, wird es still in dem Raum. Die Therapeutin kennt dieses Schweigen, dieses Verstummen. Sie hat es schon viele Male, von vielen Patienten vernommen.

„Wovor haben Sie Angst, Herr Brenner?“ Sie sieht ihn an, streicht eine Strähne ihrer Haare hinters Ohr, und Jakob senkt den Blick, zuckt mit den Schultern. Die Therapeutin wartet, lässt der Stille Zeit, sich auszubreiten.

„Davor, dass es mich zerdrückt“, platzt er schließlich her­aus.

„Zerdrückt?“

Jakobs Hände wischen über seine Oberschenkel. „Dass ich es nicht aushalte.“

„Sie halten es schon jetzt nicht mehr aus.“

„Wieso?“

„Sonst wären Sie nicht zu mir gekommen.“

„Arne wollte, dass ich …“, verteidigt sich Jakob und bricht ab. „Es tut so weh“, sagt er dann einfach. Er schluckt und kämpft die aufsteigenden Tränen herunter. Plötzlich fühlt er sich wie ein sechsjähriger Junge, der von der Schaukel gefallen ist und sich das Knie aufgeschrammt hat. Der sich in die tröstenden Arme seiner Mutter flüchten will.

Die Therapeutin bemerkt seine Fassungslosigkeit und hakt nach. „Welcher Ihrer Gedanken macht Sie traurig, Herr Brenner?“

Er schweigt.

„Wenn Sie Ihre Angst nicht überwinden, wird der Schmerz immer größer werden.“

„Ich weiß“, murmelt Jakob. Marius’ Gesicht taucht vor ihm auf, die Augen enttäuscht von ihm abgewendet. Das, mehr als alles andere, lässt Jakob seinen Mut zusammenraffen. Er will Marius nicht enttäuschen. Nicht noch mehr. Nicht noch einmal. „Kann ich …?“, fragt Jakob und deutet auf die Couch. Er hat das Gefühl, dass er besser reden kann, wenn er seine Therapeutin nicht sieht, wenn sie im Hintergrund bleibt.

„Natürlich.“

Jakob wechselt schwerfällig vom Stuhl auf die Couch und starrt an die Decke.

„Hast du vielleicht Lust, noch mit zu mir zu kommen?“ Jakobs Stimme war heiser vor Aufregung.

Erst nach Mitternacht trieb es sie endlich aus dem Dark­room. Ihre Gesichter glänzten fiebrig. Auf Marius’ Oberlippe hatten sich feine Schweißperlen gebildet, durchsichtig wie Glas, salzige Tropfen, die er mit einer unwilligen Bewegung abwischte. Jakob wusste das noch nicht, aber die Tatsache, dass über seiner Oberlippe kein Bart wuchs, war einer von Marius’ wunden Punkten. Zu gerne hätte er wie alle anderen einen Schnäuzer oder, wie Jakob, einen Dreitagebart gehabt.

„Jetzt?“, erwiderte Marius erstaunt und merkwürdig ungeduldig.

„Na ja, ich dachte, wir könnten noch ein bisschen kuscheln und so …“ Jakob schaute zu Boden, als fürchtete er, dass sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit den anderen abschrecken könnte.

„Wäre es nicht sinnvoller gewesen, mich das vorher zu fragen? Ich meine, bevor wir …?“ Marius unterbrach sich, als er Jakobs enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich würde gerne noch mitkommen. Kuscheln hört sich gut an. Aber ich bin mit dem Auto da.“

„Du hast einen Wagen?“ Jakob besaß gerade mal ein klappriges Fahrrad ohne Schutzblech und mit einem Wackelkontakt in den Leuchten, mit dem er jeden Morgen zur Uni fuhr. „Was bist du von Beruf?“

„Ich studiere noch.“

„Und was?“

„Architektur.“

„Dann hast du reiche Eltern!“

Jakobs Bemerkung klang fast wie eine Beschuldigung, aber Marius zuckte nur mit den Schultern. „Ich studiere in Koblenz und meine Eltern wohnen in Köln. Also brauche ich ein Auto, um sie am Wochenende besuchen zu können.“ Es hörte sich an, als läge die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel außerhalb seines Vorstellungsvermögens. „Abgesehen davon ist es ein alter Wagen, ein BMW 2002.“ In Jakobs Gesicht spiegelte sich Unverständnis wider. „Das ist ein Liebhabermodell. Wurde nur bis 1977 gebaut. Meiner ist von 1973.“

„Und das ist … schlecht?“

Marius starrte Jakob an, und dann brach unbändiges Gelächter aus ihm heraus. „Du hast keine Ahnung von Autos, oder?“

Jakob grinste zurück und überspielte sein Gefühl von Unterlegenheit. „Stimmt. Aber ich kann unheimlich gut blasen.“

„Hab ich gemerkt. Und wo wohnst du?“

„Drüben in Deutz, in der Nähe der FH.“ Plötzlich war Jakob nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, Marius einzuladen. Was würde er zu einem möblierten Zimmer in einer WG sagen, noch dazu, wenn die Ausstattung mehr oder weniger aus Sperrmüll bestand? Würde er nicht auf der Stelle kehrtmachen, wenn er das schmale Kastenbett und das Sofa mit den kaputten Sprungfedern entdeckte, würde er nicht den Kopf schütteln und unter einem fadenscheinigen Vorwand die Flucht ergreifen?

Aber Jakobs Bedenken waren unbegründet. Wenn Marius Vorbehalte gegen Jakobs Einrichtung hatte, dann ließ er sich nichts anmerken. Auf Zehenspitzen schlichen sie in die Wohnung, um Jakobs Mitbewohner nicht aufzuwecken, unterdrückten ein plötzliches, nervöses Kichern, als sich Marius den Fuß im Dunkel des Flures stieß. Hastig zogen sie sich aus, nachdem Jakob die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen hatte, ungeduldig, hungrig, um dann sehr viel ernster und langsamer fortzufahren: Finger, die nackte Haut erkundeten, Hände, die beinahe ehrfürchtig ertasteten, Blicke, die einander festhielten. Das hölzerne Gestell des Bettes knarrte unter ihren Bewegungen, und Jakob spürte Marius’ stoßweisen, hilflosen Atem über seine Stirn branden, als er zum zweiten Mal in dieser Nacht kam.

„Ich steh auf deine Brustbehaarung“, flüsterte Marius, als Jakob später in seinen Armen lag. „Das ist so weich und wuschelig.“ Seine Hand glitt über Jakobs Oberkörper, strich über die dunklen Haare und folgte ihnen bis zu dem Flaum, der wie ein schmales Rinnsal vom Bauchnabel zur Schambehaarung floss.

Jakob grinste. „Und ich steh drauf, dass du keine hast. Das ist so glatt und griffig.“ Er hob seinen Kopf und suchte Marius’ Augen. „Wie alt bist du eigentlich?“

„Zweiundzwanzig.“

„Du siehst älter aus. Ich hatte dich auf fünfundzwanzig geschätzt.“

„Danke. Ich fasse das als Kompliment auf. Ich kann es nicht ausstehen, so jung zu sein.“

„Wieso nicht?“

„Keine Ahnung. Ich glaube, dreißig ist ein gutes Alter. Dann ist man erst richtig erwachsen. Ich will so schnell wie möglich dreißig werden.“ Marius’ Lippen berührten Jakobs Augenbrauen, und Jakob seufzte zufrieden. Ein träges, wohliges Gefühl durchströmte ihn. „Und du?“

„Und ich was?“

„Wie alt bist du?“

„Vierundzwanzig.“

„Das ist wirklich unfair!“, erklärte Marius. „Du bist älter, du hast ordentlichen Bartwuchs und du hast Haare auf der Brust.“

„In zwanzig Jahren wirst du dich mit Sehnsucht an dein jetziges Alter erinnern“, murmelte Jakob. Sein Kopf ruhte auf Marius’ Brust, und er spürte, wie die Müdigkeit ihre langen Finger nach ihm ausstreckte. Er wünschte, er könnte die Zeit anhalten. Dieser Augenblick war perfekt, um für immer darin zu leben. „Dann bist du nämlich über vierzig und quasi scheintot als schwuler Mann.“

„Ich glaube nicht daran, dass ich so alt werde“, erwiderte Marius leise und streichelte Jakobs Wangen.

„Mmh?“

„Vor ein paar Jahren war ich mal bei einer Wahrsagerin. Sie hat gesagt, dass meine Lebenslinie sehr kurz ist. Siehst du?“ Er hielt seine Handfläche in den Lichtschein, den die Straßenlaterne vor dem regennassen Fenster auf das Bett warf und der die Haare auf Jakobs Arm in ein kühles, goldenes Licht tauchte. „Die Linie bricht mitten auf der Handfläche ab.“

„Und daran glaubst du?“, brummte Jakob und gähnte.

„Nein. Natürlich nicht.“

Jakob spürte das Zögern in Marius‘ Stimme, als lauschte er zweifelnd in sich hinein. Als hätte das Aussprechen der Prophezeiung eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, die stumm geblieben wäre, wenn er geschwiegen hätte. Aber Jakob war zu schläfrig, zu glücklich, zu zufrieden mit dem Abend, um all dem Beachtung zu schenken, und am nächsten Tag hatten beide keine Erinnerung mehr daran.