Jan Stressenreuter

Aus Wut

Kriminalroman

Impressum

Das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen hat dieses Projekt mit einem Arbeits­stipendium gefördert. Der Autor bedankt sich an dieser Stelle für die freundliche Unterstützung.

Erste Auflage September 2011

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von PapadoXX (fotolia.de).

ISBN 978-3-89656-521-1

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Handschriftliche Notiz

Handschriftliche Notiz PP Eberswalde an Kriminalhauptkommissar Lutz Beerbaum, Leiter KK12

Habe in der besprochenen Sache ein Gutachten von einem Außenstehenden angefordert. Der Mann ist Spezialist für Traumata und schreibt auch hin und wieder allgemeinmedizinische Artikel für Zeitschriften und Zeitungen. Habe ihn gebeten, sein Memorandum so verständlich wie möglich zu halten. Vielleicht haben wir dann eine neue Entscheidungsgrundlage, wie wir mit unserem Problem umgehen. Werde Ihnen das Gutachten ggf. weiterleiten. Aber sehen Sie zu, dass nichts davon in den Akten erscheint.

Vertraulicher Bericht

z. Hd. Dr. Helmut Eberswalde, Polizeipräsident Köln

Betr.: Neubewertung der Geschehnisse beim Überfall auf die ARAL-Tankstelle, Cäcilienstraße, Köln, am 27. März 2005

Beauftragter Gutachter: Dr. med. Jens Hartung, Facharzt für Psychotraumatologie, Köln

Nach gründlicher Studie aller vorliegenden Unterlagen sowie aller – auch der aus Sicherheitsgründen unter Verschluss liegenden – Dokumente und einer Überprüfung der damals verfügbaren Zeugenaussagen erscheint es mir notwendig, die Ereignisse der Nacht vom 26./ 27. März 2005 neu aufzurollen und zu bewerten.

Gleich zu Beginn muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieses Gutachten nur auf sekundären Quellen beruht – keine der an den Geschehnissen beteiligten Personen standen mir (aus den bekannten Gründen) zur direkten Befragung zur Verfügung.

Daher kann diese Beurteilung auch nur für den internen Gebrauch bestimmt sein und nur als zusätzliche Informationsquelle genutzt werden. Sie sollte in dem Sinne behandelt werden, wie sie angefordert wurde: ein Perspektivwechsel aus der Sicht eines unbeteiligten Fachmediziners.

Nach meiner Auffassung gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Überfall auf die ARAL-Tankstelle und die daraus resultierenden Mordanschläge geplante Taten waren. Weder die vor Ort gesicherten Spuren noch die Aussagen der überlebenden Zeugen deuten in diese Richtung, auch nicht die Antworten auf den Fragekomplex zur Tatwaffe, den die Staatsanwaltschaft in ihrem damaligen Plädoyer meiner Meinung nach zu einseitig behandelt hat. Die Ereignisse der betreffenden Nacht scheinen sich eher zufällig entwickelt zu haben, wobei insbesondere das noch junge Alter des Haupttäters Hajo Webknecht und des Fahrers des Fluchtwagens, Andreas Schmidt-Werner, zu berücksichtigen ist. Beide waren zum Tatzeitpunkt 24 respektive 18 Jahre alt. Beiden ist während der Verhandlung ein geringer Reifegrad attestiert worden, tatsächlich scheinen mir beide Persönlichkeiten durch ausgeprägte psychische Störungen gekennzeichnet zu sein. Daher halte ich es für notwendig, meinen Erläuterungen zum Tathergang ein kurzes Psychogramm der Täter voranzustellen.

Webknecht ist bereits vor dem Überfall mehrmals polizeilich in Erscheinung getreten und sowohl bei der Justiz als auch bei den Sozialbehörden der Stadt aktenkundig. Seine Biografie ist aus der Sicht eines Psychologen ein erschreckendes Beispiel dafür, dass unsere Gesellschaft sich nicht mehr in der Lage sieht, ihren schwächeren Gliedern die Fürsorge und Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen, um ein regelkonformes Leben zu gestalten.

Webknecht entstammt einem zerrütteten Elternhaus und wächst zusammen mit drei Geschwistern bei einer allein erziehenden Mutter auf. Einen Vater, der als positives Rollenmodell wirken könnte, gibt es nicht. Ein jüngerer Bruder und die jüngste Schwester haben andere Väter. Die Mutter kommentiert ihre Unfähigkeit, eine langfristige Bindung einzugehen, beim Prozess gegen ihren Sohn vor Gericht folgendermaßen: „Ich bin immer an die Falschen geraten. So südländische Mackertypen, die waren schon immer mein Verhängnis, verstehen Sie? Keiner hat es länger als ein oder zwei Jahre ausgehalten, dann haben sie die Biege gemacht und mich mit den Blagen sitzen lassen. Sind zurückgegangen nach Algerien, Slowenien oder haben sich ’ne andere gesucht. Der Vater vom Hajo war auch so einer. Kam aus Marokko und ist abgeschoben worden, als der Junge zwei Jahre alt war. Irgendwas mit Drogen, weiß ich nicht mehr genau.“

Abgesehen von der Tatsache, dass es unglaubhaft erscheint, dass sich die Mutter nicht mehr an die Gründe für die Abschiebung ihres damaligen Lebensgefährten erinnert, ist in den gesamten Aussagen der Mutter ihre Ich-Bezogenheit auffällig. Ihre Kinder erscheinen ihr als Last, als Bürde, die sie daran hindern, so zu leben, wie sie es sich wünscht. Alle Zeugen – Nachbarn, Bekannte –, soweit sie im Prozess gehört wurden, schildern ein Elternhaus, in dem Hajo und seine Geschwister am Rande der Verwahrlosung leben. Schläge und Gewalt scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein, laut Bericht der Schulbehörde ist Hajo mehrfach aufgefallen, als er versucht, anderen Kindern Essen zu stehlen, weil er hungrig zur Schule geschickt wurde. „Die Alte war nie vor zehn Uhr wach, wir durften sie auch nicht wecken, weil es sonst Prügel gab“, beschreibt Webknecht im Prozess die häusliche Situation während seiner Kindheit. „Wir mussten morgens selber klarkommen. Und wenn nichts im Kühlschrank war, hatten wir eben Pech.“

Trotzdem schaltet sich das Jugendamt erst ein, als der siebenjährige Hajo Webknecht zusammen mit einem Freund einen Klassenkameraden aufgrund einer Meinungsverschiedenheit während der Schulpause mit Tritten und Schlägen traktiert und ihm schwere Verletzungen zufügt. In der Folge kommt es immer wieder zu körperlichen Aggressionen gegenüber anderen Kindern. Dennoch sieht sich das Jugendamt scheinbar nicht in der Lage, der offensichtlich überforderten Mutter Unterstützung anzubieten oder das Sorgerecht zu entziehen. Zwar wird ihr formell ein Betreuer zur Seite gestellt, die Kontakte zur Familie sind jedoch sporadisch und ineffektiv. Die Vermerke der Behörde weisen eindeutig auf eine Gefährdung des Heranwachsenden hin, unternommen wird jedoch nichts. Kleinere kriminelle Vergehen wie Zigarettendiebstahl, Urkundenfälschung, Vandalismus u.ä. bleiben aufgrund der Straf­unmündigkeit des Kindes ungeahndet, ein Verfahren gegen den 14-jährigen Webknecht wegen Diebstahls in einem Supermarkt wird wegen Geringfügigkeit eingestellt. Ein Jahr später ist ein erster Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) wg. Haschischkonsums aktenkundig. Einen Schulabschluss kann Webknecht nicht vorweisen, ebenso wenig eine Ausbildung. Stattdessen wird mit zunehmendem Alter sein Strafregister immer länger, bis es schließlich im Alter von 16 Jahren zu einer ersten Jugendstrafe von mehreren Monaten Jugendhaft wegen Raubes und räuberischer Erpressung kommt.

Protokolle der Kollegen aus der JVA Siegburg beschreiben den Jugendlichen als unzugänglich und renitent gegenüber Autoritäten. Interessant scheinen mir in diesem Zusammenhang die Notizen des Kollegen Dr. Günther, der sich mit Hajo Webknecht in dieser Zeit mehrfach gesprächsbegleitendend beschäftigt hat. Er charakterisiert den Jugendlichen als haltlosen Aufschneider, der es immer wieder versteht, sich mittels Großspurigkeit und seines Hangs zu Gewaltbereitschaft Respekt und eine gewisse Anhängerschaft unter ihm körperlich unterlegenen Mithäftlingen zu verschaffen – ein Muster, das sich später in seiner Zufallsbekanntschaft mit Andreas Schmidt-Werner zu wiederholen scheint. Der Kollege attestiert dem Jungen einen „gewissen Stolz, so nachhaltig durch die Maschen des Staates geschlüpft“ zu sein. Seine Inhaftierung nehme er nur als unangenehmes, aber ihn nicht weiter berührendes Intermezzo wahr. Ferner wird er als sprunghaft, aufbrausend und emotionsgesteuert beschrieben. Nur am Rande sei hier darauf hingewiesen, dass seine Mutter ihn in der Zeit seiner Haft nur einmal besucht.

Nach seiner Entlassung wohnt Webknecht zwar erneut bei seiner Mutter, aber weder sie noch seine Geschwister bekommen ihn häufig zu Gesicht. Die Mutter hat inzwischen einen neuen Lebensgefährten, mit dem Webknecht sich nicht versteht. Der Junge scheint bei Freunden und Bekannten zu schlafen, geht keiner geregelten Arbeit oder Ausbildung nach und schließt sich einer Bande von Jugendlichen an, die sich auf das Aufbrechen von Autos und Diebstahl spezialisiert haben.

Nach dem Wechsel einiger Positionen im Jugendamt und einer halbherzigen Strukturreform innerhalb der Behörde scheint es, als wäre man danach zumindest zeitweise entschlossen gewesen, dem Heranwachsenden mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Mit siebzehn wird er aus dem Haushalt der mittlerweile wegen Alkoholproblemen auffälligen Mutter entfernt und nach einem weiteren zweimonatigen Jugendarrest in ein städtisches Wohnprojekt gesteckt, zusammen mit anderen schwererziehbaren Jugendlichen. Mit Erreichen der Volljährigkeit entzieht er sich der Kontrolle der Jugendbehörden jedoch endgültig. Er hat keinen festen Wohnsitz, lebt – vermutlich – von Gelegenheitsjobs und – nachweislich – vom Handel mit weichen Drogen, wofür er im Verlauf der nächsten Jahre mehrfach polizeilich festgesetzt und einmal verurteilt wird, zu einer erneuten mehrmonatigen Haftstrafe. Ein weiterer Grund für die Haftstrafe war der Tatbestand illegalen Waffenbesitzes; für mich ein Hinweis, dass Webknecht zu diesem Zeitpunkt eine weitere Grenze überschritten hat auf einem Weg, der ihn fast zwangsläufig zu dem Abend in der ARAL-Tankstelle führen musste.

Andreas Schmidt-Werner hat einen völlig anderen sozialen Hintergrund. Der Fahrer des Fahrzeugs in jener Nacht entstammt einem behüteten, finanziell gut abgesicherten und konservativ geprägten Elternhaus. Der Vater arbeitet als Staatsanwalt in Köln, die Mutter ist Hausfrau und mit ehrenamtlichen Tätigkeiten bei diversen Wohltätigkeitsorganisationen ausgelastet. Beide haben wenig Zeit, sich um die Erziehung ihres Sohnes zu kümmern. Schmidt-Werner ist ein Einzelkind, das den Erwartungen seiner Eltern nicht entspricht. Er muss mehrere Klassen des Gymnasiums wiederholen und wird von seinen Klassenkameraden wegen seiner schwächlichen körperlichen Konstitution gehänselt. Zitat des Vaters, im Vorfeld des Prozesses gegen seinen Sohn: „Andreas hatte nie Freunde, er hat sich auch nie für Sport interessiert so wie ich in seinem Alter. Ich habe den Jungen einfach nicht verstanden. Wir haben Unsummen für Nachhilfelehrer bezahlt, und was hat es genützt? Er hat sein Abitur noch immer nicht in der Tasche – und wird es jetzt wohl auch nie bekommen.“

Geradezu klassisch scheint mir hier das Ablehnen jeglicher Verantwortung elterlicherseits für das Versagen des Jungen. Weder die Mutter noch der Vater ließen im Vorfeld des Prozesses erkennen, dass sie sich für die Taten ihres Sohnes mitverantwortlich fühlen. Der Druck, unter dem Schmidt-Werner seitens des Elternhauses gestanden hat, muss enorm gewesen sein – zu hoch für einen pubertierenden Jugendlichen.

Wir wissen aus einem psychologischen Gutachten, im Auftrag der Verteidigung erstellt, dass Schmidt-Werner ein leicht zu beeinflussender Jugendlicher ist, der zu depressiven Verstimmungen neigt und noch dazu in seiner Entwicklung ein „Spätzünder“ ist. So hatte er bis zum Zeitpunkt der Tat keinerlei sexuelle Erfahrungen. Die Verteidigung will eine latent homoerotische Anziehung in Bezug auf Hajo Webknecht festgestellt haben, eine These, die ich aus den mir vorliegenden Unterlagen nicht bestätigen kann. Tatsächlich scheinen mir die Interaktionen der beiden Täter von Schmidt-Werners Seite eher durch eine „Bewunderung“ der Person Webknechts geprägt zu sein. Laut Aussage Schmidt-Werners vor Gericht hatte Webknecht „(…) es drauf. Der war so selbstsicher, der wusste, was er will und wie man es bekommt. Und …“ (laut Gerichtsprotokoll folgt hier ein längeres Schweigen) „… ich glaube, der hat sich nichts daraus gemacht, dass ich ein Krüppel bin.“

Dieser Satz scheint mir entlarvend für die Beziehung zwischen Schmidt-Werner und Webknecht. Seit einem Unfall im Kindesalter, als er von einer Schaukel fiel und sich mehrere komplizierte Beinbrüche zuzog, hinkt Schmidt-Werner leicht. Unter seiner Behinderung hat er, wie schon erwähnt, in der Schule zu leiden. Er ist ein Außenseiter, der von seinen Klassenkameraden gemieden wird, nur eingeschränkt am Sportunterricht teilnehmen kann und der – so meine Hypothese – deshalb auch von seinen Eltern, wenn auch unbewusst, als mit einem Makel behaftet angesehen wird.

Die beträchtlichen Minderwertigkeitskomplexe hinsichtlich seiner Behinderung versucht er virtuell zu kompensieren. Im Laufe des Verfahrens stellte sich heraus, dass Schmidt-Werner sich mehrere Alter Egos erschaffen hat, mit denen er online in der Welt der Computerspiele unterwegs war. Die Figuren waren durchweg kraftstrotzende, kampferprobte und gewalttätige Killer. Nach eigenen Aussagen verbrachte er teilweise bis zu acht Stunden täglich vor dem Computer, womit sich die Frage nach einer Computersucht und einem erheblichen Realitätsverlust stellt. Dieser Themenkomplex ist jedoch während des Prozesses nur angeschnitten worden und hat bei der Urteilsfindung meines Wissens keine Rolle gespielt.

Die Wirklichkeit muss für jemanden mit Schmidt-Werners Hintergrund kalt, abweisend und kaum zu bewältigen gewesen sein. Er hungert nach Anerkennung, Akzeptanz und ist anfällig für Menschen und Situationen, die ihm Gelegenheit bieten, sich zu beweisen. Einen solchen Menschen traf er in der Nacht vom 26. auf den 27. März 2005 in der Gestalt von Hajo Webknecht, und die entsprechende Situation ergab sich, als die beiden im Verlauf dieser verhängnisvollen Nacht über die ARAL-Tankstelle „stolperten“, in der es dann zu dem schrecklichen Blutbad kam.

Prolog

„Macht jetzt voran, ihr drei! Es ist schon nach halb acht!“

Hauptkommissarin Maria Plasberg, bekleidet mit einem übergroßen, fliederfarbenen Bademantel, schmierte hektisch ein paar Schulbrote und verteilte sie auf drei Tupperdosen.

„Ich ess das nicht! Das ist sooooooo peinlich!“ Ruth, ihre neunjährige Tochter, beäugte das belegte Brot, während sie ihren Anorak überstreifte, und zog einen Flunsch. „Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die so was von zu Hause mitbringt.“ Sie sah ihre Mutter anklagend an. „Alle meine Freundinnen kriegen Geld von ihren Eltern, um sich in der Pause was zu kaufen!“

„So weit kommt’s noch!“, schnaubte Plasberg und krempelte die Ärmel um, damit sie nicht ständig in der Butter hingen. „Du würdest das Geld doch nur in Gummibärchen und Schokolade investieren. Hier, das auch!“ Sie drückte Ruth einen Apfel in die Hand und brüllte im selben Atemzug Richtung oberes Stockwerk, wo ihr siebzehnjähriger Sohn und dessen gleichaltrige Freundin noch immer mit der Morgentoilette beschäftigt waren. „Niklas! Nina! Seid ihr endlich so weit?“

Niklas kam im Sweatshirt, seiner Lieblings-Baggyjeans und ungeschnürten Turnschuhen die Treppe heruntergepoltert. Nina Sternbrück, großgewachsen und dunkelhaarig, folgte ihm langsamer. Jetzt, im fünften Monat, ließ sich ihre Schwangerschaft kaum noch verbergen, die Rundung unter ihrem Pull­over war für geübte Augen nicht zu übersehen. Auch wenn ihre Eltern – die die ungeplante Schwangerschaft ihrer einzigen Tochter anfangs vehement abgelehnt und sie zu einer Abtreibung gedrängt hatten – mittlerweile begannen, sich in das Unvermeidliche zu fügen, fühlte sich das Mädchen in Plasbergs Patchwork-Familie noch immer wohler als in dem elitären Marienburger Bungalow, den ihre Familie besaß. Und so blieb sie, mit dem Einverständnis der Kommissarin, ein Dauergast in dem kleinen Reihenhaus in Köln-Porz.

„Vorsicht, Stufe!“ Niklas griff nach der Hand seiner Freundin, um ihr über den letzten Treppenabsatz zu helfen.

Unwillig schüttelte Nina die Hand ab. „Ich bin schwanger, Niklas, nicht altersschwach!“

„Sorry, ich wollte doch nur …“ Plasbergs Sohn seufzte und sah seine Mutter hilfesuchend an.

Nina war schon seit Tagen unleidlich.

Die Kommissarin schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie konnte sich noch sehr gut an ihre eigenen Schwangerschaften erinnern und an die Phasen, in denen ihre Hormone verrückt spielten und sie ihren Ex-Mann wegen jeder Kleinigkeit angefaucht hatte. Es war besser, den Stimmungsschwankungen von Nina so wenig Beachtung wie möglich zu schenken; auch das würde vorübergehen. Von einigen Tagen mit Übelkeit und Erbrechen abgesehen war Ninas Schwangerschaft bisher erstaunlich komplikationslos verlaufen. Plasberg hoffte inständig, dass es so bleiben würde.

Sie räusperte sich, um den aufflackernden Streit der Jugendlichen zu überspielen. „Wenn ihr noch Kaffee trinkt, kommt ihr endgültig zu spät.“

„Aber –“

„Nichts aber. Steht rechtzeitig auf, dann könnt ihr auch in Ruhe frühstücken. Und jetzt seht zu, dass ihr Land gewinnt!“ Sie händigte den beiden ihre Tupperdosen aus und schob sie zusammen mit Ruth aus dem Haus. „Wir sehen uns heute Abend!“

In der zurückbleibenden Stille lehnte sich die Kommissarin für einen Moment an die Eingangstür und schloss die Augen. Das Frühstück der Kinder und ihren Aufbruch zur Schule zu organisieren war ein täglich sich wiederholender logistischer Großeinsatz. Doch das war es nicht, was sie jeden Morgen atemlos zurückließ. Da war noch immer eine leise, unterschwellige Unruhe, dass den Kindern wieder jemand auflauern könnte. Wie vor fünf Monaten, als sie stundenlang in Lebensgefahr geschwebt hatten – auf dem Weg von der Schule entführt von einem jungen Mann kaum älter als Niklas, der keinen anderen Ausweg gesehen hatte, sich vor den Ermittlungen der Kommissarin zu schützen, als ihre Kinder in seine Gewalt zu bringen. Alle Psychologen der Welt konnten ihr wieder und wieder sagen, dass es nicht ihre Schuld gewesen war – dass solche Dinge passierten. Sie, Maria Plasberg, wusste es besser. Sie hatte versagt. Weil sie ihren Job nicht richtig gemacht hatte, weil sie dem Täter nicht schnell genug auf die Spur gekommen war, hatten ihre Kinder Todesängste ausstehen müssen, waren geschlagen und mit Schusswaffen bedroht worden. Nur das beherzte Eingreifen ihres Kollegen Torsten Brinkhoff hatte Schlimmeres verhindert – und doch den Tod eines Menschen herbeigeführt, denn der Täter war durch seine eigene Kugel gestorben. Ruth und Niklas hatten erstaunlich schnell wieder in ihren Alltag zurückgefunden, aber sie … sie musste sich noch immer zwingen, eine Normalität vorzutäuschen, die sie so vielleicht niemals wieder empfinden würde – genau wie Brinkhoff. Der letzte Fall hatte bei ihnen beiden Narben hinterlassen.

Plasberg fuhr sich unwillig über die Augen und blickte auf die Uhr. Ihr Chef, Erster Kriminalhauptkommissar Heribert Eikner, hatte für diesen Montagmorgen um halb neun Uhr eine der regelmäßigen Besprechungen mit den Leitern der drei Mordkommissionen anberaumt. Kaum noch genug Zeit, um sich selbst in ein paar Klamotten zu werfen. Die Küche und den restlichen Haushalt konnte sie zum Glück Hatice Yilmaz überlassen. Ohne ihre resolute Putzkraft, die sie letzten Herbst engagiert hatte, um zwei Mal wöchentlich den Haushalt auf Vordermann zu bringen, wäre sie längst nicht mehr imstande, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Die Kommissarin hatte Yilmaz vor einigen Monaten bei Ermittlungen kennengelernt und sich gezwungen gesehen, viele ihrer Vorurteile über Migranten zu revidieren. Yilmaz nahm kein Blatt vor den Mund, führte ihr eigenes, erfolgreiches Reinigungsunternehmen und wurde dabei von ihrem Mann unterstützt.

Maria Plasberg hastete ins Schlafzimmer, schob die Tür ihres Kleiderschranks auf und runzelte die Stirn. Im Kollegenkreis war sie bekannt für ihre unorthodoxen Outfits; außerdem wurde hinter vorgehaltener Hand darüber getratscht, dass sie über fünfzig verschiedene Handtaschen ihr Eigen nannte – ein Gerücht, über das Plasberg nur lachen konnte. Tatsächlich waren es mittlerweile um die achtzig, verstaut in einer riesigen, mit Intarsien versehenen Eichentruhe aus dem 19. Jahrhundert, die sie von ihrer Urgroßmutter geerbt und die darin ihre Aussteuer aufbewahrt hatte. Um Platz für das Truhen-Monstrum zu schaffen, hatte die Kommissarin das Doppelbett an die Wand schieben müssen, aber nachdem Eric vor einigen Jahren sie, Haus und Kinder verlassen hatte, um ein paar Straßen weiter mit seiner neuen Familie ein neues Leben anzufangen, war es nicht so wichtig, dass man nur von einer Seite ins Bett gehen konnte.

Die Truhe und deren Inhalt war Plasbergs ganz persönliche Schatzkiste und der einzige Luxus, den sie sich leistete. Andere Frauen kauften Schuhe oder gingen ins Fitnessstudio, wenn sie sich mit der Welt nicht im Einklang fühlten, die Kommissarin wechselte einfach jeden Tag ihre Handtasche. Nicht, dass es etwas half – Plasbergs Launen waren genauso sprichwörtlich wie ihre Kleiderauswahl –, aber solange die Aufklärungsraten der von ihr geleiteten Ermittlungen die höchsten im ganzen Rheinland waren, brauchte sich die 45-jährige Kommissarin keine Sorgen um ihre Außenwirkung zu machen. Hoffte sie jedenfalls.

Nach kurzem Zögern entschied sich Plasberg für ein weißes Kostüm mit feinen schwarzen Längsstreifen. Eine gleichfarbige Handtasche, allerdings mit Querstreifen, die Niklas ihr letzten Monat bei ebay ersteigert hatte, komplettierte ihr Erscheinungsbild. Ein eiliger Blick in den Spiegel, ein kleiner Moment des Zweifels, ob sie nicht vielleicht doch zu sehr wie ein Zebrastreifen aussah, und ein etwas hilfloses Herumzupfen an ihren kurz geschnittenen, feuerroten Haaren, dann war die Leiterin der Mordkommission 3 beim Kriminalkommissariat 11 der Kölner Kripo bereit für den Dienst.

Es war frisch draußen, die Märzsonne hatte noch nicht besonders viel Kraft, und Plasberg fröstelte, als sie vor die Tür trat. Aber immerhin, ein stahlblauer Himmel versprach einen trockenen, angenehmen Tag – endlich eine Abwechslung zu den letzten Wochen, in denen graue, gewitterschwere Wolken in einer schier endlosen Abfolge über das Rheinland gejagt waren und ihr die Stimmung vermiest hatten.

Auf der Regenrinne über der Tür tschilpte eine Amsel, als ob es für sie kein Morgen gäbe. Der Vogel suchte das Haus schon seit Tagen heim, pünktlich zu jedem Sonnenaufgang besetzte er eine erhöhte Stelle – den Dachfirst, die Antenne, den Kamin – und begann zu singen, was das Zeug hielt, mehrere Stunden lang. Die Kommissarin klatschte in die Hände, aber die Amsel ließ sich nicht verscheuchen, im Gegenteil: Die schwarzgefiederte Nervensäge legte den Kopf schief, musterte sie mit undurchdringlichem Blick und setzte den Gesang umso energischer fort.

„Frau Plasberg?“

Sie fuhr zusammen, unterdrückte einen Fluch und bückte sich umständlich, um den Schlüsselbund vom Boden zu sammeln, der ihr vor Schreck aus der Hand gefallen war. Der Mann musste an sie herangeschlichen sein, sie hatte jedenfalls nicht bemerkt, dass er plötzlich hinter ihr stand.

„Ziehen Sie Leine. Ich kaufe nichts an der Haustür“, gab sie missgelaunt zu Protokoll.

„Nein, ich … das ist ein Missverständnis …“

Die Kommissarin seufzte. „Ich hab’s eilig. Was ist?“

„Mertens, Steffen Mertens, wir sind Nachbarn. Ich … wir wohnen zwei Häuser weiter.“ Der Mann drängte sich neben sie unter den Dachvorsprung und deutete auf ein weiß verputztes Einfamilienhaus schräg gegenüber, in dessen Vorgarten neben einem Beet voller Tulpen ein Pflaumenbaum die ersten Triebe des Frühjahrs in die Sonne reckte. „Clara und Ruth gehen in dieselbe Schule.“

„Clara?“

„Meine Tochter.“

Jetzt endlich fiel bei Plasberg der Groschen. Ruth war schon öfter drüben bei den Mertens’ zum Spielen gewesen. Mit Heike Mertens, der Mutter von Clara, wechselte sie hin und wieder ein paar Worte, wenn sie sich im Supermarkt oder auf der Straße trafen, den Vater von Ruths pummeliger und etwas vorlauter Freundin hatte sie allerdings noch nie zu Gesicht bekommen. Sie glaubte zu wissen, dass er von Beruf Anlageberater oder etwas ähnlich Diffuses war.

„Hat Ruth etwas angestellt?“ Es war das Naheliegendste; bei nachbarschaftlichen Gesprächen ging es meist um die Kinder, und fast immer hatte irgendwer irgendwas ausgefressen, wie sie aus leidvoller Erfahrung wusste.

Aber Mertens schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um Ruth, es geht um …“ Unwirsch schüttelte er den Kopf und setzte neu an. „Sie sind doch Polizistin, ja?“

Bei Plasberg schrillten alle Alarmglocken. Köln-Porz war ein Dorf, und im Laufe der Jahre hatte sich in der Siedlung zwangsläufig herumgesprochen, welcher Beschäftigung sie nachging. Leider setzten die meisten Anwohner Polizei mit der Zuständigkeit für Ruhestörung, Übertreten der Geschwindigkeitsbegrenzung oder ähnlichen Lappalien gleich und Plasberg hatte schon mehr als einmal klarstellen müssen, dass sie nicht der Schutzmann um die Ecke war, schon gar nicht in ihrer Freizeit. „Ich arbeite bei der Kripo. Mordkommission. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen behilflich –“

„Ich werde bedroht“, unterbrach Mertens sie schnell. „Jemand droht damit, mich umzubringen.“

Erst jetzt musterte Plasberg ihr Gegenüber genauer. Steffen Mertens war vielleicht in ihrem Alter, glatt rasiert, seine dunklen, krausen Haare begannen sich zu lichten. Er überragte die Kommissarin um mehr als einen Kopf – aber das tat eigentlich fast jeder; sie hätte sonst was darum gegeben, wenigstens 1,70 Meter groß zu sein – und er erinnerte sie unwillkürlich an die grauen Herren aus Momo. Mertens sah aus wie der Prototyp eines Zeitdiebes: unauffällig bis zur Selbstverleugnung, ein weiches, merkwürdig konturloses Gesicht, das man schon nach wenigen Minuten vergessen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie sein Äußeres am Abend korrekt hätte wiedergeben können. Tatsächlich trug er auch noch einen grauen, maßgeschneiderten Anzug, der darauf hindeutete, dass er sich auf dem Weg zur Arbeit befand. Nur ein heller Fleck auf der blauen Krawatte störte den seriösen Gesamteindruck. Plasberg tippte auf Joghurt. In Mertens’ Hand befand sich eine schmale Aktenmappe, aus der er jetzt einen Briefbogen herauszerrte.

„Hier, sehen Sie? Ich bilde mir das nicht ein!“ Seine Finger zitterten leicht, als er der Kommissarin den Zettel unter die Nase hielt.

Plasberg verabschiedete sich innerlich von dem Vorhaben, doch noch pünktlich zu Eikners Besprechung zu erscheinen, nicht jedoch von dem Vorsatz, den lästigen und irgendwie unangenehmen Nachbarn abzuwimmeln. Für einen Moment rätselte sie, woran es lag, dass sie Mertens auf Anhieb nicht mochte – vielleicht die wässrigen und trotz seiner Erregung fast ausdruckslosen Augen? –, dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf das Papier gelenkt.

Du wirst für deine Schuld bezahlen.

Der Satz war mittig auf das DIN-A4-Blatt geschrieben worden, ohne Unterschrift oder jeden weiteren Hinweis auf den Absender. Das Papier entstammte offensichtlich einem x-beliebigen Tintenstrahldrucker, die Schrift war in gewöhnlichen Arial-Lettern gesetzt.

„Das ist keine Drohung, das ist eine Feststellung“, rutschte es Plasberg heraus.

„Wie bitte?“

Die Kommissarin hätte sich ohrfeigen können, mit ihrer Bemerkung hatte sie den Mann nur noch nervöser gemacht. „Der Absender hat darauf verzichtet, den Satz in mehr als normaler Schriftgröße zu schreiben, auch Fettdruck hat er weggelassen“, erklärte sie und klimperte ungeduldig mit dem Schlüsselbund, in der Hoffnung, Mertens würde ihren Wink verstehen. „Und am Ende des Satzes hat er einen Punkt verwendet, kein Ausrufezeichen.“

Aber ihr Nachbar schien für subtile Botschaften nicht empfänglich zu sein. „Ist das gut oder schlecht?“ Seine Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich … meint er es ernst oder nicht?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Aber –“

„Herr Mertens, was genau wollen Sie von mir? Ich muss zum Dienst und ich bin jetzt schon zu spät!“ Plasberg schulterte ihre Handtasche und machte Anstalten, sich an dem Mann vorbeizudrängen. Mertens jedoch hielt sie fest, etwas, worauf Plasberg hochgradig allergisch reagierte. „Sie lassen mich sofort los!“, fauchte sie ihn an.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, dann ließ ihr Nachbar unwillig seine Hand fallen. Plasberg konnte die Abdrücke seiner Finger auf ihrem Arm spüren.

„Ich wollte nicht … Entschuldigung“, stieß er hervor. „Aber ich weiß nicht, was ich machen soll.“

Die Kommissarin ging zu ihrem Wagen, und Mertens folgte ihr wie ein Hund. Anscheinend hatte er nicht vor, sich abschütteln zu lassen. „Wann haben Sie den Brief denn bekommen?“, fragte sie.

„Vor zwei Tagen, ganz normal mit der Post.“

„Dann gehen Sie am besten mit dem Umschlag und dem Brief zur nächsten Polizeidienststelle und erstatten Anzeige gegen Unbekannt. Vielleicht sind ja Fingerabdrücke drauf.“ Die Kommissarin hielt es zwar für fast ausgeschlossen, dass sich auf einem solchen Untergrund Fingerabdrücke nachweisen lassen würden, aber diese Erkenntnis behielt sie wohlweislich für sich. Sollten sich doch die zuständigen Kollegen mit ihrem Nachbarn befassen. Sie hatte weiß Gott andere Dinge zu tun.

„Sie können mir nicht helfen?“ Mertens stand schon wieder neben ihr, so dicht, dass sie seinen Atem auf ihrem Nacken spürte und sein Aftershave roch. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.

„Haben Sie denn einen Grund, sich zu fürchten?“ Sie öffnete die Fahrertür ihres alten, verrosteten Golfs – entgegen aller Erwartungen war ihr Auto im Januar doch noch einmal durch den TÜV gekommen, allerdings erst, nachdem sie mehrere hundert Euro in die notwendigsten Reparaturen gesteckt hatte. „Ich meine, haben Sie irgendetwas verbrochen, dass jemand so wütend auf Sie ist?“

„Nein, natürlich nicht!“ Der drängende Unterton in Mertens’ Stimme war kaum zu überhören. Der Mann hatte wirklich Angst. „Ich habe keine Ahnung, was das soll!“

„Es gibt nichts, was man in irgendeiner Form als ‚Schuld‘ interpretieren könnte?“

Mertens schüttelte sofort den Kopf. „Ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nie etwas zuschulden kommen lassen!“

Die Kommissarin hätte beinahe laut aufgelacht. Wenn jemand so energisch auf seine Tugend pochte, dann war meist etwas faul. Nicht einmal sie als Polizistin war vor Gesetzesübertretungen gefeit – oder besser gesagt, gefeit davor, ertappt zu werden. Erst letzte Woche hatte sie ein Knöllchen kassiert, als sie mit ihrem Wagen im Halteverbot gestanden hatte. Schuld war immer nur eine Frage der Definition.

„Hören Sie, Herr Mertens, ich kann Ihnen nicht helfen“, versuchte sie das Gespräch zu einem Ende zu bringen. „Ich bin der falsche Ansprechpartner. Wir haben unsere Vorschriften, ich kann nicht einfach …“ Sie seufzte erneut. „Sie müssen sich mit meinen Kollegen auf der Polizeiwache hier in Porz in Verbindung setzen. Ihre Anzeige wird aufgenommen, Ihre Aussage protokolliert und dann wird man sich darum kümmern. Im Übrigen würde ich mir an Ihrer Stelle nicht allzu viele Sorgen machen. Im Zweifelsfall ist das ein übler Scherz von ein paar übermütigen Kindern oder einem missgünstigen Geschäftspartner, im schlimmsten Fall vielleicht ein Erpressungsversuch und –“

„Erpressung? Wieso Erpressung?“

Plasberg deutete auf den Bogen Papier, den Mertens noch immer in der Hand hielt, stieg ins Auto und steckte den Schlüssel in das Zündschloss. „Steht doch da. Sie sollen für Ihre Schuld bezahlen. Könnte man doch auch als finanzielle Forderung interpretieren. Vorausgesetzt, an der ganzen Sache ist wirklich was dran, was ich damit nicht behaupten will.“ Plasberg ließ den Motor an und wollte die Fahrertür zuschlagen, aber Mertens hielt die Tür fest.

„Das ist keine Erpressung, da droht jemand, mich umzubringen!“, sagte er. Wieder suchten seine Augen Plasbergs Blick. „Sie müssen mir helfen!“

„Ich muss gar nichts! Und dass Ihnen jemand nach dem Leben trachtet, halte ich nicht für erwiesen.“

„Wie können Sie so etwas –“

Der Kommissarin platzte endgültig der Kragen. „Herrgott nochmal, Herr Mertens, wollen Sie mich nicht verstehen oder können Sie nicht? Ich bin erst zuständig, wenn Sie tatsächlich tot sind! Und jetzt lassen Sie die Tür los. Ich muss zum Dienst!“

Sie trat aufs Gaspedal und atmete erleichtert auf, als sie Mertens im Rückspiegel immer kleiner werden sah. Geistesabwesend rieb sie ihr schmerzendes Handgelenk. Am Abend würde sie mit Ruth reden müssen. Vielleicht war es besser, wenn sie sich in den nächsten Wochen nicht mit Clara zum Spielen verabredete. Dem Mann war es zuzutrauen, dass er seinen Ärger über die Abfuhr an ihrer Tochter ausließ.