Rainer Hörmann

Immer wieder samstags

Was die schwule Welt zusammenhält

Impressum

© Querverlag GmbH, Berlin 2011

Erste Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung unter Verwendung eines Fotos von getty images.

ISBN 978-3-89656-522-8

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Querverlag GmbH und Salzgeber & Co. Medien GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin

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Widmung

Immer noch wahr:

„Nur ästhetisch lässt sich der Wunsch erfüllen, nicht so zu sein, wie man ist.“

Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos

Vorwort

Zum Samstag

Oder: Verbales Vorglühen

Immer wieder samstags kommt die Erinnerung … oder war es sonntags? Im Schlager von Cindy & Bert ist es der Sonntag, an dem sich das heterosexuelle Paar zu den Klängen der Musikanten aus Athen findet. Für Schwule scheint mir nach wie vor der Samstag ein guter Tag zu sein. Zum einen, um sich seines Andersseins zu erfreuen und zueinanderzufinden – selbst wenn dies mittlerweile eher beim satten Bass von House- und Techno-Musik geschieht. Zum anderen, um darüber nachzudenken, wie es denn derzeit so bestellt ist um die schwule Welt.

Wie schon im Vorgänger Samstag ist ein guter Tag zum Schwulsein hat mich die Frage interessiert, welche Themen und Tendenzen sich ausmachen lassen und wo und wie Debatten innerhalb der „Gemeinde“ und über sie stattfinden. Ich habe den Eindruck, dass mit aufgeblähten Pseudo-Themen wie der Medienjagd nach dem ersten schwulen Fußballspieler in der Bundesliga viel Energie verschwendet wird, die man besser auf eine Debatte über uns selbst, wie unsere Szene, unsere sozialen Netzwerke aussehen können bzw. könnten, verwendet.

Auch das andere Dauerthema – die Eingetragene Partnerschaft – bindet viel Energie. Allerdings in Form von Rechtsstreitigkeiten um Steuergleichheit und nicht, weil gefragt wird, wie die „Homo-Ehe“ möglicherweise ein Bild von „glücklichen und zufriedenen“ Schwulen und Lesben erzeugt, das gar nicht der Realität entspricht.

Auf dem Weg zur heiß begehrten „Normalität“ und im Klima einer gesellschaftlichen Liberalität greift eine Atmosphäre des „business as usual“ um sich, die ein Nach- und Hinterfragen gar nicht oder nur noch selten zulässt. Könnte es sein, dass mittlerweile „böse“ Schwule ausgegrenzt werden, damit die CSD-Party der „guten“ umso strahlender dasteht und mit Sponsorengeldern belohnt wird, weil wir so brav und anständig sind? Was geht von uns selbst verloren während der dauernden Hechelei nach Anerkennung?

Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, ist ein Anliegen dieses Buches. Die drei Begriffe Folklore, Ritual, Norm dienen mir dabei als Orientierung: Ist die geschichtliche Vielfalt der schwulen Welt auf dem Weg, zur bunten Folklore zu werden? Welche Rituale prägen unsere Kultur, unsere Politik, unser Selbstverständnis? Welchen Normen unterliegt das homosexuelle Leben?

Viele Themen, die ich in Samstag ist ein guter Tag zum Schwulsein beschrieben habe, halte ich noch immer für aktuell, etwa den Wunsch einer bestimmten Gruppe, „normaler“ als jeder Hetero zu sein, oder den anhaltenden – zumeist von Älteren gepflegten – Jugendwahn. In diesem Buch tauchen sie immer wieder auf.

Neben meinen eigenen Ansichten sind dieses Mal auch die von anderen Männern vertreten. Sie lassen ihre Gedanken und Erfahrungen in „mein“ Buch einfließen. Die Gesprächsform deutet an, dass sich im Dialog sehr gut über die schwule Welt nachdenken lässt – und dass es weder eine endgültige noch eine einzige Sicht der Dinge gibt. Noch nicht einmal samstags …

Kapitel 1

Die schwule Welt und ihre Folklore

Wie man durchs Jahr kommt

Folklore

Manchmal kommt einem die schwule Welt vor wie ein wunderbares Märchen. Die böse Hexe namens Diskriminierung ist – als wäre wie im Zauberer von Oz ein Kübel Wasser über sie geschüttet worden – zusammengeschrumpelt. Wir leben glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende vor uns hin und verpartnern uns neuerdings sogar mit unserem Traumprinzen. Wir haben den CSD als unser großes Fest und mit Ich bin, was ich bin, Y.M.C.A. oder neuerdings Born This Way von Lady Gaga immer ein fröhliches Liedlein auf den Lippen, um zu zeigen, dass in jedem von uns doch ein tapferes und zudem fleißiges Schneiderlein steckt. Äußerlich ist uns das sowieso anzusehen, weil wir ja immer angesagte Markenklamotten tragen, ins Fitnessstudio gehen und im Darkroom gerne mit dem Display unseres iPhones den Weg leuchten.

Wer’s glaubt, wird selig – und darum unternehmen die schwule Welt und ihre Protagonisten mittlerweile einiges, um auch die letzten grauen Eintrübungen im bunten Bild der heilen Welt zu retuschieren. So gereinigt, kann es an Interessierte teuer verkauft werden. Das Versprechen von Glück und Freiheit, die Legenden vom Kampf um Anerkennung und Toleranz, dazu nackte Oberkörper und im Hintergrund die schmucke Drag Queen – das sind die Zutaten einer fröhlichen Folklore, in der es sich gutgehen lässt.

Nun ist gegen Brauchtum nichts einzuwenden. Unheimlich wird es immer dann, wenn dessen Elemente und Rituale zur bloßen Hülle erstarren und als billiger Mummenschanz aufgeführt werden. Die schwule Welt ist voll von ganz eigenen Ritualen, Festen und Erzählungen – teils geschichtlich aufgeladen, teils in heftigstem Sturm verteidigt. Doch sie ist auf dem besten Weg, ihre Geschichte(n) zur billigen Folklore verkommen zu lassen. Wo die Normalität Einzug hält und für das Maß aller Dinge gehalten wird, ist für das Besondere kein Platz mehr. So entschwindet ein wahrer Schatz in den Fluten des Hauptstromes, des Mainstreams. Statt alte Goldmünzen auf dem Grund des Rheins zu suchen, schaut man lieber auf die Börse: Gewinne werden durch ungedeckte Wechsel auf die Zukunft erzielt.

Folklore meint ursprünglich die (mündlich) überlieferte Weisheit bzw. das Wissen eines Volkes; das Deutsche hat dafür den schönen Begriff der Volkskunde. In einem engen, eher wissenschaftlichen Sinne meint Folklore Märchen, Volkslieder, Sprüche, aber auch altertümliche Praktiken wie Musik oder Tanz. Wikipedia hält folgende Erläuterungen bereit:

Folklore kann religiöse oder mythologische Elemente enthalten, befasst sich aber normalerweise mit den profanen Überlieferungen des täglichen Lebens. Sie vereint häufig das Reale und das Übersinnliche in einem erzählerischen Miteinander. Andererseits kann Folklore für eine Darstellung verwendet werden, die keinen theologischen oder erbaulichen Inhalt hat, sondern nützliche weltliche Überlieferungen in der Art von Regeln oder Rezepten. Diese weltliche Überlieferung kann Elemente des Fantastischen aufweisen (wie Magie, übernatürliche Wesen oder personifizierte Gegenstände). […] Folklore bezieht sich darüber hinaus auf Rituale und Brauchtum innerhalb der Zyklen von Jahreszeiten und Lebensaltern (Geburts-, Heirats-, und Bestattungszeremonien) und auf Festtagsbräuche. […] Folklore findet ihren materiellen Niederschlag in lokalen Varianten des Kunsthandwerks, der Architektur oder in Schmuck, Kleidung und Speisen.1

Im umgangssprachlichen Gebrauch steht Folklore eher für kulturelle Traditionen eines Volkes, einer bestimmten Volksgruppe allgemein, und zumeist nimmt man sie wahr im Kontrast zu den eigenen Bedingungen und Lebensumständen der westlichen, postindustriellen Welt. Will sagen: Folklore kann schön, exotisch, belebend sein, aber auch hochgradig peinlich und deplatziert. Ob das denn überhaupt immer so stimmt, was einem als folkloristische Tradition aus völkisch-geschichtlichen Tiefen präsentiert wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Bei Folklore denke ich immer an Griechenland. (Und auch die sonntäglichen Erinnerungen von Cindy & Bert verdanken sich zufälligerweise den Musikanten aus Athen!)

Zu den leisen Klängen von Sirtaki-Musik blickt das innere Auge auf kleine weißgekalkte Häuschen am Inselrand unter einem wolkenlosen blauen Himmel. In der Taverne serviert der bärtige Wirt ungefragt Ouzo und in der Hitze reitet die obligatorische schwarz gekleidete alte Frau auf dem Esel die engen Gässchen hinauf.

Am Beispiel der zu touristischen Werbezwecken gepflegten, aber leicht durchschaubaren Griechenland-Träume lässt sich der Übergang von Folklore zum Folklorismus bzw. „Fakelore“ gut zeigen.2

Es bedarf nicht nur einer gigantischen Schuldenkrise, um diesem Traum Risse zu verpassen. Auch die schwule Sicht auf das Ursprungsland der Demokratie und des homoerotischen Männerkultes hat mittlerweile gelitten. In einer Dokumentation über schwule Urlaubsziele in einem der privaten TV-Sender gibt es eine schöne Szene, in der sich ein sonnengebräuntes älteres Schwulenpaar auf Mykonos beschwert, dass sich alles zum Nachteil verändert hätte. Wo früher noch homosexuelle Avantgarde mit Armani herrschte, wärmen sich jetzt Jungschwuppen in H&M-Klamotten den Hintern. Griechische Helden mit zotteligem Bartgekrause dürften so ziemlich das Letzte sein, wovon sie, frisch rasiert und die Beinhaare epiliert, träumen, und bestimmt ziehen sie den Tanz zu bassbetonter House-Musik jedem Sirtaki vor.

Das Beispiel alberner Griechenland-Folklore passt auch deswegen gut, weil man die Transformation der schwulen Welt zu einem Arrangement global wiedererkennbarer Versatzstücke am besten in der Tourismusbranche studieren kann.

Sicher ist Folklorisierung über weite Strecken eine Konsequenz der Kommerzialisierung der schwulen Welt. Zum Zwecke der optimalen Vermarktung werden Zielgruppen definiert, deren „Bedürfnisse“ unter der Oberfläche von „Vielfalt“ und „Individualität“ weitestgehend standardisiert werden müssen. Man denke an globale Fast-Food-Ketten, die garantieren, dass der Burger überall auf der Welt gleich schmeckt. Doch die beargwöhnte Verflachung der Szene ist mit dem – ohnehin recht müßigen – Vorwurf der Kommerzialisierung allein nicht zu erklären. Wenn „schwule Kultur“ nur noch in Form zotiger Witze im Indianer-, wahlweise Star-Trek-Fummel (durch einen Heterosexuellen) ein großes Publikum interessiert, dann ist das auch Folge eines Interessenwandels und veränderter Ansprüche der Menschen. Eine kleine Zutat aus dem Reich der homosexuellen Lebenswelt scheint völlig auszureichen, um ein Produkt, das sich an ein heterosexuelles Publikum wendet, für den schwulen Markt kompatibel zu machen.

Die Folklorisierung ist eine Reaktion auf die hochgradige Individualisierung und Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft insgesamt und der schwulen Welt im Besonderen. Das Spiel von halbgaren Mythen, Splittern von Geschichte und bunten Wunschbildern gaukelt einen gesellschaftlichen Zusammenhalt vor, der nicht mehr selbstverständlich ist. Folklore ist der Kitt, der Menschen zusammenzubringen vermag und ihnen Vertrautes signalisiert. Im Guten wie im Schlechten. Der Umschlag zur Fakelore ist genau dort zu beobachten, wo Menschen zur „Zielgruppe“ werden, wo das Versprechen auf Vertrautes (wie auch auf Vertrauenswürdiges) ein Mittel für ganz andere Interessen ist. Bei einigen künstlich aufgepeppten Urlaubsangeboten mag das noch leicht zu durchschauen sein. Bei Veranstaltungen (Ritualen), die aus der schwulen Bewegung selbst entstanden sind, ist das schon ganz anders.

Eine CSD-Parade ist selbstverständlich schwule/lesbische Folklore im besten Sinne! Zur Fakelore wird sie dort, wo etwa zeitgenössische Event-Kultur die Wurzeln und die Herkunft so überformt, dass diese kaum noch sichtbar werden. Die Umbenennung des CSD in „Pride“ ist solch eine Fakelore, die nur dazu dient, Vermarktungen global anschlussfähig zu machen. Als Marke ist Pride vollkommen sinnentleert, weil der antizipierte Stolz sowohl auf Homosexuelle als auch auf jede andere Zielgruppe zugeschnitten werden kann. Schon folgt die Präzisierung durch ein Adjektiv: Gay Pride, Hetero Pride, White Pride … Anders als Christopher Street Day verweist Pride auf kein geschichtliches Ereignis, sondern auf ein Gefühl, eine Haltung. Pride ist auf einen passiven Konsumenten zugeschnitten: Stolz hat man. So einfach! Beim Christopher Street Day könnte man eventuell daran erinnert werden, dass vor dem Stolz auch die Tat liegen muss, das, wofür man gerungen hat. Oder aus Sicht von uns Nachgeborenen, die von diesen Taten profitieren: Als geschichtliche Tradition, als Überlieferung erinnert der CSD daran, dass die Freiheit zur Homosexualität errungen werden musste und nicht vom Himmel fiel. Beim Pride wird zwar Stolz beschworen, aber nicht als Resultat eines konkreten Handelns vermittelt. Im Hinblick auf den Kommerz formuliert: Als von seinem Ursprung losgelöstes Allerweltsgefühl ist Stolz so billig, dass man sich auch noch ein zweites Bier leisten kann. Und darauf kommt es den Eventmanagern an, nicht auf die Vermittlung von Wissen, Hintergründen oder gar auf eine Debatte um das Gestalten von Zukunft mit einer schwulen Geschichte im Rücken, auf die man tat-sächlich stolz sein könnte.

Insofern ist es nicht unwichtig, wer CSD-Paraden organisiert und was auf ihnen präsentiert wird. Doch selbst wenn ihre bunte Folklore im besten Sinne der billigen Fakelore einer Maschinerie nicht entkommen kann, gerade der Christopher Street Day bleibt der höchste Feiertag im schwulen Kalender.

Rituale und Festtagskalender

Religion hat, mehr als das spirituelle Gefühl, das wir heute mit dem Wort verbinden, mit dem Einhalten des Festtagskalenders zu tun, mit dem Erfüllen der vorgeschriebenen kultischen Handlungen, mit Ritualen. Die schwule Welt hat viel mit Religion zu tun. Nicht, wie neuerdings von genervten Kulturredakteuren unterstellt wird, weil Homosexualität zum ideologischen Götzen-Kult geworden sei. (Eine Unterstellung, auf die ich in einem späteren Kapitel genauer eingehen werde.) Mit Religion hat Homosexualität dann etwas zu tun, wenn man über „Community“ nachdenkt, darüber, in Gemeinschaft mit anderen Homosexuellen zu leben. Dann unterliegt dem ein Glaube, dass unsere Sexualität ein über diese hinausgehendes, verbindendes Moment besitzt. Daran kann man zweifeln und die Meinung vertreten, dass Schwule außer dem Sex nichts gemeinsam haben. Dagegen spricht die Existenz zahlreicher Aktivitäten und Vereine der schwulen Welt, in denen es nicht um Sex geht.3

Mit Religion verbindet die schwule Welt aber auch, dass sie zunehmend als exakt festgelegte Abfolge von Ritualen und Festtagen realisiert wird. Allen voran natürlich der CSD! Wobei der Christopher-Street-Tag mittlerweile zu einem Christopher-Street-Halbjahr geworden ist. Von April bis September reihen sich die Termine aneinander. Wer es sich halbwegs leisten kann, feiert heutzutage auf zwei oder drei Paraden: die Parade vor der eigenen Haustür und mindestens eine anderswo. Wer sich politisch engagiert, kann nach Warschau reisen oder fliegt zum Euro-Pride nach Rom. Berliner nehmen in großer Zahl am Kölner CSD teil und umgekehrt.

Das nomadenhafte Umherziehen in der Republik beschränkt sich aber längst nicht auf den CSD. Ledertreffen, Chortreffen, Gay Games, Bärenparty, Filmfestival und zum Jahresausklang Glühwein auf dem schwulen Weihnachtsmarkt. Wobei letzteres Beispiel bislang durch eher verunglückte Umsetzungsversuche in Erinnerung geblieben ist. Trotzdem steht es exemplarisch für eine Tendenz, analog zu gesamtgesellschaftlichen Ritualen eine spezifisch schwule Variante zu finden. Abgesehen von solch kommerziellen Interessen, gehört Weihnachten tatsächlich in den schwulen Kalender, weil kaum ein Homosexueller dem Ritual Familie entgehen kann. Gerade nach dem Coming-out und auch nach dem Finden eines Partners gehört das winterliche Fest fast unweigerlich zu den härtesten Prüfungen, die die Toleranz – die eigene wie die der Herkunftsfamilie – zu überstehen hat.

In Deutschland nur mäßigen Erfolg haben neuere Versuche, einen nationalen Coming-out-Day einzuführen; dagegen ist der Welt-Aids-Tag am 1. Dezember für die meisten Schwulen auch unter veränderten Vorzeichen immer noch präsent. Das eine mag dadurch begründet sein, dass in Deutschland eine andere Haltung hinsichtlich „Privatleben“ herrscht als etwa in den USA. Das andere ist sicher eine Folge der massiven Auswirkungen der Aids-Epidemie – sowohl auf die Community als auch auf das Leben jedes einzelnen Schwulen.

Manche der wiederkehrenden Ereignisse sind einem Fetisch geschuldet. So etwa die Ledertreffen, die mit dem zu Ostern in Berlin oder dem im August in Hamburg einige traditionsreiche Veranstaltungen aufzuweisen haben. (Und wer weiß, vielleicht erleben die ruhmreichen Nächte auf der Cap San Diego an den Landungsbrücken noch das ersehnte Revival.) Ihnen hinzu gesellt sich neuerdings das Folsom-Treffen Anfang September in Berlin, das als importierte Marke überaus erfolgreich ist und seine „Tradition“ effektivem amerikanischem Marketing verdankt. Anders als beim Treffen zu Ostern hat man hier nicht im Kleinen und Verborgenen als Idee einer lebendigen Vereinskultur angefangen, sondern von Anfang an – mit allem Risiko – auf Mega-Event gesetzt.

Aus der „Bewegung“ heraus entstanden ist beispielsweise auch die Verleihung des Teddy, des lesbisch-schwulen Filmpreises im Rahmen der Berlinale. Begonnen als Treffen eines eingeschworenen Grüppchens von Cineasten im schwulen Buchladen, ist es heute eine Gala-Veranstaltung. Vielleicht weniger „bewegt“, aber ähnlich verhält es sich mit dem „schwulen Tag“ auf dem Münchner Oktoberfest. Anfangs ein Geheimtipp, sind die Karten fürs Bräurosl heute im Internet innerhalb von Sekunden ausverkauft (und mit dem Erfolg dieser Veranstaltung kamen die schrecklichen Begriffe „rosa Wiesn“ und „Gay Sunday“).

Natürlich hängt das eigene Schwulsein nicht vom Besuch all dieser Festlichkeiten ab. Und natürlich ist nicht allein der Besuch solcher Feste ein Ritual. Wenn man liest, wie viele Homosexuelle sich auf eine CSD-Parade vorbereiten, wenn man selbst erfahren hat, welche Vorkehrungen im Vorfeld für eine kerlige Figur auf dem Ledertreffen zu treffen sind, wenn man sieht, wie sich „die“ Schwulen Samstag für Samstag für den Abend stylen, dann wird klar, dass es auch im Alltag eine Vielzahl von Ritualen und Praktiken gibt, die von vielen geteilt werden und Homosexualität tatsächlich herstellen. (Angesichts des meist verächtlichen Geredes vom schwulen Lifestyle wäre es eine spannende Untersuchung, wie sich aus den Gesten, Gedanken, Taten und Abläufen des Alltags tatsächlich ein schwuler Lebensstil herausbildet.)

Wenn aber sich schwules Leben zunehmend im Rahmen einer solchen „Feiertagsstruktur“ abspielt, gibt es dann noch ein „normales“ Leben, den ganz gewöhnlichen schwulen Alltag?

In den „Events“ nur den bösen Kommerz zu sehen, tut ihnen Unrecht. Denn die Veranstaltungen dienen der Vergesellschaftung, sie sind Anlass für Schwule, zusammenzukommen, und sie strukturieren den Ablauf des Jahres mit einer erstaunlichen Verlässlichkeit. Nicht zu unterschätzen ist, wie sie das Bild von schwuler und lesbischer Öffentlichkeit prägen, sowohl nach innen als auch nach außen. Doch der Teufel steckt im Detail:

So rücken zunehmend Gottesdienste als Auftakt von CSD-Veranstaltungen in den Vordergrund. In Köln veranstaltete 2011 die Metropolitan Community Church einen „Open-Air-CSD-Gottesdienst“; keine sechs Stunden später fand der „CSD-Festgottesdienst“ in der Antoniterkirche statt. Mit Erfolg, zumindest wenn man der Mahnung in der Vorankündigung Glauben schenken will: „Rechtzeitig kommen: es wird voll.“ Das ökumenische Rogate-Kloster St. Michael zu Berlin lud zur Vesper als Auftakt zum schwul-lesbischen Stadtfest. Eine Woche später wurde vom Kirchenkreis Berlin Stadtmitte zu einem Gottesdienst am Vorabend des CSD eingeladen – in Kooperation mit dem Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg. Und natürlich ließ es sich der im Wahlkampf befindliche Bürgermeister Klaus Wowereit nicht nehmen, auch eine kurze Predigt zu halten.

Das Ritual CSD hat also auch für konkret religiöse Rituale Platz. Was aber hat es eigentlich zu bedeuten, wenn sich plötzlich ein Schwulenverband des Glaubens bemächtigt? Wo bleibt eigentlich die HuK (Homosexuelle und Kirche) bei dem Ganzen? Was passiert mit „unserem“ Ritual CSD, wenn sich die Amtskirchen seiner bemächtigen?

Gerade die Verbrüderung von LSVD und Kirche zeigt, wie Rituale benutzt werden, um eine zunehmend konservative Politik durchzusetzen. Wird also nach der Homo-Ehe der sonntägliche Kirchenbesuch zum Nachweis, dass man ein guter Schwuler ist?

Die Rituale, die Feiertage der schwulen Welt sind Mittel der Vergesellschaftung – und die Räume, wo sich ein anderes Phänomen zeigt: die zunehmende Normierung der schwulen Welt.

Normierung

Anderen vorschreiben, wie sie sein sollten, was sie zu tun und zu lassen haben – wahrscheinlich wird das so gern getan, weil es ein gewisses Machtgefühl, einen Hauch der Überlegenheit vermittelt. Etwas theoretischer gesprochen, ist Normierung in einer auf Funktionalität ausgerichteten Gesellschaft unerlässlich und ein permanenter Vorgang. Wo kämen wir hin, wenn jeder nur das tun würde, wozu er gerade Lust hat? Die seit einiger Zeit geführten Debatten um „Werte“ sind eigentlich Versuche, Normen (Regeln, Gesetze) zu finden oder wieder durchzusetzen, um eine angeblich auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzuhalten. Dabei ist auch klar: Wer sich den Normen nicht fügen will, gehört nicht dazu.

In der schwulen Welt existiert eine Sensibilität für Normen, zumindest für einen bestimmten Teil von ihnen. Homosexuelle sind in einer Gesellschaft, in der Heterosexualität die Norm ist, eine Minderheit. Früher wurde diese „Vorherrschaft“ massiv mit Gewalt und sozialem Terror durchgesetzt, in den letzten Jahren hat sich das gewandelt und in einem Klima der Liberalität können auch Schwule und Lesben ihren Platz finden. Gegner sehen darin den Untergang des Abendlandes, suggerieren, mit einem „Schulfach Schwul“ würden Kinder zur Homosexualität verführt.4 Eine Boulevard-Zeitung hatte sich über Aufklärungsmaterialien für Schüler mokiert, die reißerische Überschrift fand sich dann im Berliner Wahlkampf prompt auf dem Flugblatt gegen „Unmoral“ einer von türkischstämmigen Muslimen gegründeten Partei wieder. (Ein Sprecher erklärte später gegenüber dem Internetportal queer.de, man habe selbstverständlich Respekt für Lesben und Schwule!)5 Vertreter der katholischen Kirche und einige Autoren des deutschsprachigen Feuilletons werden nicht müde, gegen eine postulierte Übermacht von Homosexuellen in der Gesellschaft anzugehen, sie sehen die Norm Heterosexualität als Teil einer Leitkultur, die „traditionelle“ Ehe und Familie propagiert, gefährdet. Homosexuelle werden offen oder indirekt für den behaupteten Zerfall der Gesellschaft verantwortlich gemacht und sollen – wenn es schon die Gesetze hierzulande verbieten, uns umzubringen – wieder aus der Öffentlichkeit verschwinden, um keinen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben einer heterosexuellen Mehrheit ausüben zu können.