Epub cover





Copyright © by Greg F. Gifune
All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.
By arrangement with Greg F. Gifune

KAPITEL 4

Etwas Unbedeutendes löste die Erinnerungen aus, und sie kamen in Bruchstücken zurück. Details wurden stärker, lebendiger und exakter, bis ein einzelner Moment in seinem Bewusstsein Halt fand.
  Schneeflocken.
  Erzähle mir, was du siehst, Seth.
  
Die Stille der Nacht war erschüttert worden, und er wurde wach, als hätte man ihn geschüttelt. Die anderen Menschen im Raum schliefen fest, konnten ihn also nicht gestört haben. Trotzdem war er sich sicher, jemand hätte genau das gerade getan. Seine Augen untersuchten die Umgebung, so gut das aus einer liegenden Position ging: Schatten, Mondlicht – sonst nichts. Aber hinter dieser Dunkelheit verbarg sich etwas. Etwas, das man nicht anfassen, sehen oder gar hören konnte, das aber da war. Ganz sicher.
  Er hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Stille. Nach einer Weile konnte er Geräusche ausmachen, Klänge, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Ein kaum wahrnehmbares Kratzen, das gelegentlich aus dem tiefen Zischen des Grundrauschens hervorbrach. Bewegung. Er war sicher, dass diese Geräusche von Bewegungen hervorgerufen wurden. Kleinen Bewegungen. Schleichenden Bewegungen.
  Waren sie draußen vor der Tür? Oder schon näher dran? Bereits im Zimmer?
  Seine anfängliche Verwunderung wurde langsam zu blankem Entsetzen. Sein Herz hämmerte wie wild in seinem Brustkorb, und sein Körper wurde von Krämpfen durchgeschüttelt und schließlich komplett steif. Mit großer Mühe schaffte er es, seinen Mund zu öffnen, aber mehr als gedämpftes Grunzen und Stöhnen brachte er nicht zustande.
  Die Geräusche (waren es Schritte?) wurden lauter, energischer. Kamen näher.
  Er verdrehte die Augen in dem Versuch, so viel wie möglich von dem Raum erkennen zu können. Er wusste, dass sein Bruder eben noch nur ein paar Meter von ihm entfernt geschlafen hatte, aber jetzt war die Stelle leer. »Raymond?«
  Eine unscharfe Form bewegte sich in der Nähe und erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie zischte außerhalb seines Sichtbereiches vorbei und änderte die Muster von Schatten und Mondlicht auf der gegenüberliegenden Wand.
  Inzwischen war er vollends der panischen Angst verfallen und versuchte noch einmal, zu schreien, aber außer einem kaum hörbaren Seufzen passierte nichts. Schlief er noch? War das vielleicht alles nur ein Albtraum? Auf mehrere Arten fühlte es sich wie ein Traum an – sowohl physisch als auch psychisch – und doch wusste er es; er wusste, dass er wach war. Er schloss seine Augen und presste sie fest zusammen, denn sehen wollte er nichts mehr.
  Nach einem Moment der Stille öffnete er sie dennoch langsam wieder. Dunkelheit kroch durch das Zimmer wie ein aufkommender Nebel. Raymond war noch immer fort, aber die anderen waren mit ihm zusammen in diesem Raum, völlig ungestört schlafend.
  Seth? Sag mir bitte, was du siehst.
  
Vor wenigen Sekunden war doch noch etwas hier gewesen, da war er sich ganz sicher. Etwas Böses. Etwas nicht Menschliches.
  Die Finsternis verschlang alles, aber dieses Mal kehrte seine Sehkraft zurück, allerdings fokussierte sie sich auf eine andere Nacht, Jahre zuvor. »Ich sehe Raymond.«
  Und was macht Raymond, Seth?
  
»Rennen … er … er rennt.«
  Rennst du auch?
  
»Ja.«
  Was siehst du sonst noch?
  
»Raymond weint. Er ist komplett panisch. Er – er hat so viel Angst, dass er komplett die Kontrolle über sich verloren hat.«
  Hast du auch Angst, Seth?
  
»Ich weiß nicht, ich … ich meine, es ist so, als wäre ich gar nicht wirklich da, aber … ja.«
  Ist es Tag oder Nacht?
  
»Nacht.«
  Was siehst du noch?
  
»Es schneit. So ein leichter, fluffiger Schnee. Eigentlich ist das ganz schön. Ich versuche, mir den Schnee anzusehen, weil er so schön ist, aber … aber Raymond schreit und rennt und weint, und er wirkt so verloren, so … er ist so außer sich vor Angst!«
  Wovor hat er solche Angst, Seth?
  
»Ich weiß nicht.«
  Wie alt ist er in dem Traum, Seth? Wie alt ist Raymond?
  
»Klein, sieben oder acht. Er ist acht.«
  Und du?
  
»Ich weiß nicht, ich kann mich selbst ja nicht sehen, aber … es fühlt sich an, als wäre ich auch jung.«
  Du bist vier Jahre älter als Raymond, Seth. Bist du in dem Traum auch vier Jahre älter als Raymond?
  
»Ich weiß nicht, ich glaube schon. Ja – so muss es sein. Ich muss zwölf sein.«
  Was siehst du noch?
  
»Wir rennen … wir rennen durch den Schnee. Er ist in dem Zustand aufgewacht, er – er hatte diese … Probleme.«
  Probleme?
  
»Das habe ich doch schon erzählt … als Kind hatte er nachts diese furchtbaren Panikattacken. Er ist mitten in der Nacht aufgewacht und war einfach total außer sich vor Angst. Er war doch nur … ein kleiner Junge.«
  Wann hat das angefangen, Seth?
  
»Als er so sieben oder acht war.«
  So alt, wie in dem Traum.
  
»Ja.«
  Wann ist das zum ersten Mal passiert, erinnerst du dich?
  
»Nein, ich … ich kann mich nicht an das erste Mal erinnern. Vielleicht …«
  Vielleicht was, Seth?
  
»Vielleicht ist das hier das erste Mal.«
  Aber du bist nicht sicher?
  
»Nein, aber … ich glaube, es könnte so sein.«
  Wo sind eure Eltern in dem Traum?
  
»Ich weiß nicht, ich – ich weiß nur, dass sie nicht da sind. Sie können uns nicht helfen.«
  Was siehst du jetzt?
  
»Schnee. Raymond rennt und weint, er schreit um Hilfe und ich bin neben ihm.«
  Kannst du erkennen, wo ihr seid?
  
»Nein, es ist … einfach Nacht. Finstere Nacht. Er rennt, stolpert und kämpft darum, im Schnee die Balance zu behalten.«
  Wohin rennt er, Seth?
  
»Ich … ich weiß es nicht.«
  Ist es in der Nähe des Hauses, in dem ihr aufgewachsen seid?
  
»Ja, das – das muss es sein.«
  Ist es das erste Mal, Seth? Ist das, was du siehst, das erste Mal, wo es passiert ist?
  
»Ich weiß nicht. Es kann sein, aber ich – ich weiß es nicht.«
  Okay. Was passiert als Nächstes?
  
»Nichts.«
  Nichts? Der Traum hört einfach auf?
  
»Wie am Ende eines Filmes, wo es dann so …«
  … dunkel wird?
  
»Ja.«
  Endet der Film dort, Seth, im Dunklen? In der Finsternis?
  
»Ja.«
  Wie oft hast du Raymond hinter dem Haus gefunden, als ihr klein ward? Wie oft ist er schlafgewandelt oder von seinen Albträumen aufgewacht, und dann schreiend aus dem Zimmer gerannt?
  
»Ich weiß nicht. Es war einfach so oft.«
  Wann hat das aufgehört?
  
»Als wir etwas älter waren.«
  War das vor oder nach dem Tod eurer Eltern?
  
»Weit davor. Raymond war immer noch sehr klein. Wir beide waren es. Als unsere Eltern starben, waren wir schon erwachsen.«
  Und diese Vorfälle haben einfach aufgehört, die nächtlichen Panikattacken?
  
»Ja.«
  Und seitdem hatte er sie nicht mehr?
  
»Nicht, dass ich wüsste, aber ich sehe Raymond jetzt auch nicht mehr so oft, er steckt ständig in Schwierigkeiten. Wir haben auch als Erwachsene nicht viel darüber geredet. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass er sie noch hat. Er hat nie wieder etwas in dieser Richtung erwähnt.«
  Was kannst du mir noch über den Traum sagen?
  
Seth nahm den Arm weg, den er sich über die Augen gelegt hatte. Seine Augen fokussierten auf die niedrige Decke über ihm, eine menschliche Präsenz spürte er nur vage im Grenzbereich seines Sichtfeldes. Er verschränkte die Arme über seiner Brust, als würde er im Sarg liegen, nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen wieder. Es schien ihm einfacher, in die Dunkelheit zurückzukehren. »Das ist alles.«
  Er hörte, wie ihr Stuhl auf dem plüschigen Teppich rutschte, wie ihr Rock knisterte, als sie die Beine übereinanderschlug. Sie sah ihn jetzt an, das konnte er spüren; ihre grünen Augen starrten über ihre Schildpattbrille, den kleinen Notizblock hielt sie wie immer in ihren zierlichen Händen. »Möchten Sie vielleicht lieber über etwas anderes sprechen?«, fragte sie in ihrer samtweichen Stimme, die er gleichzeitig lieben und hassen gelernt hatte. Sie war immer so überaus fordernd und hatte passive Aggressivität quasi zu einer Kunstform erhoben. »Schließlich ist das alles nicht wirklich ein Traum. Das wissen Sie, Seth, oder?«
  »Ja.« Er seufzte. »Es ist eine Erinnerung.«
  »Es ist nicht ungewöhnlich«, sagte sie, wobei sie eine Kunstpause machte, bevor sie den Satz beendete, »Erinnerungen in Form von Träumen zu verarbeiten. Manchmal ist das leichter.«
  Seth öffnete seine Augen und drehte den Kopf nach rechts, um seine Aufmerksamkeit auf sie zu verlagern. Sie trug einen neuen Rock – den kannte er noch nicht – und neue Pumps. In den gesamten zwei Monaten, die er jetzt schon hierher kam, hatte sie nie das gleiche Outfit zweimal getragen. »Damals war es ein ganz normales Vorkommnis, aber in letzter Zeit gehen mir diese Erinnerungen immer wieder durch den Kopf.«
  »Aber diese Vorfälle haben genau so plötzlich aufgehört, wie sie begonnen hatten, ja?«
  »Ja.«
  »Halten Sie es für möglich, dass einer von Ihnen, oder sogar Sie beide, wissen, was diese Panikattacken ausgelöst hat, aber Sie sich einfach nicht daran erinnern können – oder wollen?«
  »Ja, das halte ich durchaus für möglich.«
  »Und als Erwachsene haben Sie und Ihr Bruder nie über diese Erlebnisse gesprochen?«
  »Nein, nicht wirklich.« Er musste schlucken, aber sein Mund war staubtrocken. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich aufrichten zu müssen, und er folgte dem Impuls. Ein leichter Kopfschmerz begann hinter seinen Augen zu klingeln. Er schwang die Füße von der Liege und nahm eine sitzende Haltung ein. »Raymond hatte … Probleme … so war es einfach. In dieser Zeit konnte man nie wissen, was nachts mit ihm passieren würde.« Seth rieb sich die Schläfen und schaute dann zu Boden. »Ich habe nie jemanden so angsterfüllt gesehen.«
  »Wie haben Sie sich da gefühlt Seth? Ihren Bruder so erleben zu müssen?«
  »Hilflos. Ängstlich. Verwirrt. All das, was man erwarten würde.« Er starrte auf den Teppich. »Meine Eltern brachten ihn zu Ärzten, sogar zu einem Kinderpsychiater und Schlafspezialisten, aber nichts hat geholfen.«
  »Haben sie denn auch jemals etwas Ähnliches für Sie getan, Seth?«
  Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. »Raymond war derjenige mit den Problemen.«
  »Natürlich, aber das hatte doch auch Auswirkungen auf Sie.« Sie hob eine Augenbraue. »Zeuge dieser Vorfälle zu werden und mit dieser ständigen Anspannung zu leben, muss doch eine traumatisierende Wirkung auf Sie gehabt haben, meinen Sie nicht?«
  Doktor Farrow sah in ihrem kurzen Rock mit passender Jacke besser aus als je zuvor. Die hautfarbene Bluse, die sie darunter trug, gewährte einen kleinen Ausblick auf ihren BH aus Spitze, der durch ihre üppigen Brüste gut ausgefüllt schien. Professionell, aber sexy – das war ein Look, der ihr sehr gut stand. Seth fragte sich, warum es so wichtig für sie war, Ihr berufliches Auftreten mit solch einem Sex-Appeal zu verbinden. Wie haben Sie sich da gefühlt? Diese Frage würde er ihr auch gerne einmal stellen. Seine Augen wanderten an ihren übereinandergeschlagenen Beinen herunter und endeten auf einem leicht wippenden Fuß, von dem der Schuh nur von den Zehen gehalten herunterhing. Der Anblick ihrer Ferse in der Nylonstrumpfhose war auch irgendwie sexy, auch wenn Seth sich gar nicht sicher war, inwiefern.
  »Seth?«, sagte sie, um seine Tagträume zu beenden. »Würden Sie mir da zustimmen?«
  Seine Augen fanden ihre. Sie hatte seine anzüglichen Blicke eindeutig bemerkt, aber es schien ihr nichts auszumachen. Wahrscheinlich war sie als attraktive Frau einfach daran gewöhnt. Sie sah aus wie eine typische Vorzeigeehefrau, die sich auf schicken Cocktailpartys in exklusiven Klubs zuhause fühlte; eine Frau, die gut behütet aufgewachsen war und auch heutzutage keinen Mangel befürchten musste. Etwas weniger nett gesagt: Sie war sicherlich immer verwöhnt worden. Trotzdem machte sie das noch lange nicht zu einem dummen Blondchen. Frau Doktor war schlau, akademisch gebildet. Die vielen gerahmten Diplome an der Wand ließen daran keinen Zweifel. Sie war die Art Frau, die ihr Aussehen und ihren Körper einsetzen konnte, wenn sie es wollte, aber niemals, weil sie es musste. Ihr Verstand war sicherlich die schwerste Waffe in ihrem Arsenal, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so schien. Auf eine Art half das auch, ihre etwas eingebildet wirkende Art zu erklären. Und wenn Seth genauer hinsah, richtig genau hinsah, dann konnte er unter ihrer sorgfältig präsentierten Oberfläche noch ganz andere Dinge entdecken. Er sah Leidenschaft, Spuren einer Frau, die ihre Lebenszeit nutzte, Menschen wie ihm zu helfen. Er fragte sich, wie so oft, worüber sie mit ihrem Ehemann in ruhigen, zweisamen Momenten redete. Er fragte sich, wie sie im Bett war. Was für Geräusche sie machte, wie ihre Augen dabei aussahen, mit welchem Muster sie atmete. Obwohl er nicht wusste, wie lange sie verheiratet war, musste es schon eine ziemlich lange Zeit sein. So wie bei ihm.
  »Ja, das hatte sicherlich eine Wirkung auf mich«, sagte er schließlich. »Es hatte eine Wirkung auf die ganze Familie. Wie könnte es auch anders sein?«
  »Genau.« Sie ließ ihre Antwort eine Weile im Raum stehen. »Hat Raymond Ihnen jemals gesagt, was diese Panikattacken seiner Meinung nach hervorgerufen hat?«
  »Er hat immer behauptet, er wüsste es nicht.«
  »Und die Ärzte, zu denen Ihre Eltern ihn geschickt haben?«
  »Das ist ja schon Jahrzehnte her. Ich schätze mal, die Mediziner wussten damals noch nicht so viel über Panikattacken wie heute. Sie hatten natürlich eine ganze Menge von Begründungen, aber die meisten gingen in die Richtung von posttraumatischen Störungen oder einfach Geisteskrankheit. Ich habe nie daran geglaubt, und er auch nicht.«
  »Können Sie mir sagen, wieso?«
  »Weil es nur nachts passiert ist.« Seth schaute zu ihr hinüber. »Leute sind nicht nachts verrückt und werden dann komplett zurechnungsfähig und rationell, sobald es Tag ist, nur um in der folgenden Nacht wieder durchzudrehen.«
  »Nein?«
  »Eigentlich müssten Sie mir das sagen können, Sie haben den Doktortitel!« Seth versuchte, seine beginnende Angst hinter einem süffisanten Lächeln zu verbergen. »Ich zumindest habe noch nie von so etwas gehört.«
  »Tatsächlich gibt es aber eine ganze Reihe von Störungen, die mit Dunkelheit in Verbindung stehen, und manche davon treten auch grundsätzlich nur nachts auf. Viele Menschen, auch Erwachsene, haben Angst vor der Dunkelheit, Seth.«
  »Es war mehr als nur Dunkelheit.«
  Sie schwieg für eine ganze Weile, als würde sie den Wahrheitsgehalt seiner Aussage abwägen. »Wäre es Ihrer Meinung nach zutreffend zu behaupten, dass die Vorfälle in Ihrer Vergangenheit – in Verbindung mit dem Tod Ihrer Eltern – die Grundlage für das bilden, was Ihnen jetzt im Kopf herumspukt?«
  Seth zuckte nervös. Seine Handflächen schwitzten bereits. »Ja.«
  »Und jetzt meinen Sie, es könnte eine Verbindung zwischen diesen aktuellen Träumen und Erinnerungen mit dem Urlaub geben, den Sie mit Raymond vor …« Sie legte eine kurze Pause ein, um auf ihren kleinen Notizblock zu schauen, »… einem Jahr gemacht haben?«
  »Ich glaube, dass es möglich ist. Ich habe Raymond seitdem nicht gesehen. Wir haben ein paarmal telefoniert, und einmal hat er mir einen Brief geschrieben. Ich mache mir seitdem Sorgen um ihn, ich – ich meine, ich mache mir eigentlich immer Sorgen um Raymond, er …«
  »Er hat Schwierigkeiten.«
  »Das ist noch milde ausgedrückt.«
  »Würden Sie mir gerne etwas über diesen Urlaub erzählen?«
  Seth schloss seine Augen; ein fruchtloser Versuch, die aufflackernden Bilder vom Gesicht seines Bruders in jener Nacht zu unterdrücken. »Es kam mir vor, als hätte er den Verstand verloren.« Er wartete einen Moment, bis die Worte ihre Wirkung getan hatten, und erinnerte sich selbst an die Abmachung, alle Vorkommnisse bezüglich Christy zu verschweigen. Sie hatten vereinbart, niemals jemandem davon zu erzählen, und er wollte sein Wort nicht brechen. »Wir waren nur einen Tag da, und nachts ist er aus der Hütte verschwunden, ohne jemals eine verständliche Erklärung dafür zu liefern. Es war gerade ein Schneesturm im Gange, den die Meteorologen eigentlich für später angekündigt hatten. Wir hatten das Ganze voll abgekriegt, und Raymond ist einfach da raus gegangen.« Als Antwort kam nur Schweigen, also fuhr Seth fort, und erzählte die Vorkommnisse jener Nacht, so weit es ging.
  Als er damit fertig war, fragte sie: »Meinen Sie, es könnte vernünftige Erklärungen für dieses Verhalten geben, Seth?«
  »Ja, ich – ich habe mir ja selbst schon einige zusammengereimt«, gab er zu, »aber nichts fühlt sich richtig an. Eigentlich fühlt sich gar nichts an dieser Nacht richtig oder echt an. Heute genau so wenig wie damals. Ich war nie in der Lage, dieses Gefühl loszuwerden. Im Laufe der Zeit ist es sogar schlimmer geworden.«
  »Meinen Sie, dass dadurch vielleicht Ihre schlimmen Kindheitserinnerungen wiedergekommen sind? Weil Ihr Bruder wieder nachts nach draußen gegangen ist, wie ein Kind, das vor Albträumen davon läuft?«
  »Ganz sicher.«
  Sie nickte leicht. »Lassen Sie uns einen Moment das Thema wechseln. Nach dem Tod Ihrer Eltern war Raymonds Leben von anhaltenden Problemen geprägt, aber bei Ihnen lief es gut.«
  »Ja, überwiegend schon.«
  »Bei Raymond wurde es aber nicht besser.«
  »Nein.«
  Ziemlich abrupt fragte sie: »Sind Sie in einer besonders religiösen Familie aufgewachsen?«
  »Nicht wirklich. Mein Vater war ein Hippie. Oder ein Ex-Hippie, schätze ich. Er hatte seine eigene Sicht auf alle Dinge, Religion eingeschlossen. Mutter Erde und so weiter.« Ein Moment des Nachdenkens verging, bevor er weiterredete. »Meine Mutter war katholisch erzogen worden, ist dann aber in ihren Zwanzigern zum Kongregationalismus übergetreten. Sie ist regelmäßig in die Kirche gegangen, hat im Chor gesungen und so weiter. Trotzdem habe ich sie nie als besonders religiös empfunden – eher als offen für Spirituelles. Sie hatte so eine Ausstrahlung für mich.«
  »Wie war das bei Ihnen und Raymond?«
  »Als ich klein war, spürte ich eine starke Verbindung zu Gott. Ich hatte einen fast unerschütterlichen Glauben. Aber als Erwachsener bin ich eher pragmatisch geworden. Raymond war hingegen immer sehr spirituell geprägt, damals wie heute.«
  »Sprechen Sie bitte weiter.«
  Seth lächelte gequält. »Unsere Großmutter, die Mutter unseres Vaters, war der einzige Teil unserer Großeltern, den wir kennengelernt haben. Die Eltern unserer Mutter waren schon sehr alt und sind gestorben, als Raymond und ich sehr klein waren. Ich kann mich leider nicht bewusst an sie erinnern. Unsere Nana war die religiöseste Person in der ganzen Familie, aber sie kam auch aus der alten Welt – Italien – und glaubte eine ganze Menge von diesem Hokuspokus. Sie und Ray waren immer sehr vertraut, viel mehr als ich es war. Ich fühlte mich damals stärker von klassischer Religion angezogen und ging gerne mit meiner Mutter in die Kirche. Nanas exzentrischer Glaube passte viel besser zu Raymond als zu mir. Sie sagte immer, er sei etwas Besonderes.«
  »Und was glauben Sie, hat sie damit gemeint?«
  »Vielleicht einfach nur, dass er ihren Blödsinn glaubt. Zumindest hörte er ihr zu. Aberglaube, Magie und so weiter.« Seth dachte einen Moment nach und sammelte seine Erinnerungen. »Nachdem Raymonds nächtliche Panikattacken aufgehört hatten, ist er noch introvertierter geworden, und das noch vor dem Tod unserer Eltern. Er hat sich benommen, als wüsste er irgendwas, als könnte er Dinge sehen, die sonst niemand sehen kann. Er hat manchmal gesagt, dass er Dinge wüsste, bevor sie passieren; dass ihn manchmal dunkle Vorahnungen plagten. Ich habe ihm das natürlich nicht geglaubt, und meine Skepsis muss er gespürt haben, da er mit mir nur sehr selten davon sprach. Nana war die Einzige, die ihn dazu ermutigt hat, und manchmal dachte ich, dass das Rays Probleme noch schlimmer gemacht hat. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vor sich ging, aber es war sicher so einiges.«
  »Gute oder schlechte Dinge?«
  »Beunruhigende Dinge.«
  »Hatte es Raymond als Kind schwer deswegen?«, fragte sie. »Mal ganz abgesehen von den eigentlichen Panikattacken.«
  »Ja.« Ein Schauer aus Schuldgefühlen durchfuhr ihn. »Er war ein komisches Kind, immer ein Außenseiter, er hatte kaum Freunde. Ich meine, ich war schon nicht sehr beliebt, habe nie zu den angesagten Leuten gehört, aber für Ray war es noch um einiges schlimmer. Es war traurig, aber er war so anders als alle anderen, dass er immer herausstach. Die Grundschule war schon nicht einfach, aber auf der Highschool wurde es dann extrem schwierig. Sie dachten, er hätte Lernschwierigkeiten und Aufmerksamkeitsdefizite, weil er immer so abwesend schien. Raymond konnte direkt vor einem sitzen, aber manchmal schien es, als wäre er Millionen Meilen entfernt. So ist er heute noch manchmal.«
  »Und haben Raymonds Probleme in der Schule auch für Sie Konsequenzen gehabt, Seth?«
  Seth schloss die Augen und konzentrierte sich, bis sein Gehirn die Erinnerungen verdrängt hatte, mit denen er in diesem Moment nicht konfrontiert werden wollte. »Es war hart«, sagte er. »Er war mein kleiner Bruder, was konnte ich schon machen? Aus irgendeinem Grund sah er immer zu mir auf, er wollte, dass ich für ihn da bin. Um auf ihn aufzupassen und ihn im Extremfall zu verteidigen.«
  »Und, haben Sie das gemacht?«
  Eine weitere Welle von Schuldgefühlen überkam ihn, diesmal so heftig, dass ihm fast schwindelig wurde. »Irgendwann hat Ray gelernt, alleine seinen Mann zu stehen, aber er hat es übertrieben. Er geriet in Schlägereien, nahm Drogen und trank zu viel.«
  »Was würden Sie sagen, welche Gefühle es bei Ihnen hervorgerufen hat, wie andere Menschen Raymond wahrnahmen?«
  »Sie dachten alle, er wäre ein Spinner, ein Verrückter, aber …« Seth brauchte einen Augenblick, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. »Für mich war es auch schwer. Vor allem, als wir noch jung waren. Ich stand immer unter dem Druck, alles richtig zu machen, nach ihm zu schauen, sein Verhalten zu erklären. Es ging immer um ihn.«
  Sie nickte. »Erzählen Sie mir mehr darüber.«
  Seth zuckte mit den Schultern, er fühlte sich bedrängt. »Es war einfach schon immer so. Ich schätze mal, wenn man jemanden mit Problemen in der Familie hat, dreht sich immer alles nur um diese Person. Alles steht irgendwie mit ihnen in Verbindung. Ich habe mich nicht nur für mein Leben verantwortlich gefühlt, sondern auch für das von Raymond. Und das wurde noch stärker, nachdem unsere Eltern umgekommen waren. Da war er dann wirklich verloren und hat sich zum ersten Mal von mir entfernt. Es klingt furchtbar, aber manchmal ist es leichter, von ihm getrennt zu sein. Das verschafft mir erst einmal Erleichterung, aber die hält nicht lange – denn dann bekomme ich deswegen Schuldgefühle.«
  »Hätten Sie denn mehr tun können, um ihm zu helfen? Und könnten Sie heute noch mehr tun?«
  »Man kann doch immer mehr tun.«
  »Empfinden Sie so?«
  »Ich habe große Schuldgefühle, wenn es um Ray geht.«
  »Warum Schuld?«
  »Auf eine Art habe ich ihn gehasst. Es hat mich wütend gemacht, dass er so war, wie er war … wie er ist. Aber egal, was ich tat, er schaute immer zu mir auf und benahm sich so, als könne er immer auf mich zählen.«
  »War das falsch?«
  »Teilweise.«
  »Haben Sie ihn denn jemals im Stich gelassen?«
  Seth schaute auf den Boden aber antwortete nicht.
  »Seth?«
  »Ich liebe meinen Bruder«, sagte er schließlich.
  Sie schaute ihn eine Weile prüfend an, bevor sie fortfuhr. »Haben Sie oder Ihr Bruder nach dem Tod Ihrer Eltern professionelle Hilfe in Anspruch genommen?«
  »Nein. Wir haben einfach versucht, so gut wie möglich alleine damit klarzukommen.«
  »Hat Sie das auf einer spirituellen Ebene verändert?«
  Seth nickte langsam. »Es hat meinen Glauben zerstört.«
  »Und war dieser Verlust Ihres Glaubens endgültig?«
  »Ja«, sagte er ernst, »das war er.«
  Für eine Weile kehrte Stille in den Raum ein. »Sie sagten, dass Sie nicht glauben, dass Raymond als Kind an einer psychischen Krankheit litt, glauben Sie–«
  »Emotionale Probleme ja, möglicherweise, aber ich glaube nicht, dass er wirklich krank war.«
  »Und als Erwachsener? Glauben Sie, dass Raymond heute an einer psychischen Erkrankung leidet?«
  »Es wäre auf jeden Fall möglich.« Statt Augenkontakt herzustellen, betrachtete Seth die Diplome an der Wand. »Ich glaube, Raymond leidet unter vielen Dingen.«
  Das tun wir alle, dachte er.
  Doctor Farrow kritzelte kurz etwas auf ihren Block, dann legte sie ihn auf den Glastisch zwischen ihnen. »Das wäre es dann für heute«, sagte sie sanft. »Ich fürchte, die Zeit ist um. Aber ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken, wie alles, was wir heute besprochen haben, in Zusammenhang steht. In Ordnung?«
  Seth nickte.
  Sie stellte beide Füße auf den Boden und rückte näher an ihn heran. »Ich kann das nicht für Sie machen. Ich kann nur helfen.« Beiläufig wischte sie sich eine Strähne blonden Haares aus dem Gesicht und lächelte ihn aufrichtig an. »Aber Sie sind derjenige, der die Drecksarbeit machen muss.«
  »Das verstehe ich.«
  Ihr Lächeln verschwand ganz allmählich, volle Lippen senkten sich über die makellosen Zähne. »Ich komme in zwei Wochen aus dem Urlaub zurück. In der Zwischenzeit vertritt mich Doktor Kowalski. Ich habe aber direkt danach schon einen Termin für Sie vorgesehen. Versuchen Sie trotzdem, das Beste aus dieser kleinen Pause zu machen, okay?«
  Seth nickte, ohne zu erwähnen, dass er selbst für die nächsten zwei Wochen Urlaub haben würde. »Wohin geht es denn? Irgendwas Nettes?«
  »Allerdings, auf die Caymaninseln!« Anscheinend machte sie sich Hoffnungen, dass er ihr Reiseziel weiter kommentieren würde, aber da kam nichts. »Gut, also wie gesagt, wenn sie irgendwelche Probleme haben, ist Doktor Kowalski für Sie da. Sollte es zu einem absoluten Notfall kommen, können Sie meinen Telefondienst anrufen, die wissen dann, wie man mich erreicht. Aber ich denke, Sie schaffen das auf jeden Fall.«
  Es ging ihm ziemlich gegen den Strich, wenn sie so etwas sagte. Also ob er im Leben ohne ihre Hilfe überhaupt nichts auf die Reihe kriegen würde. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss wieder ins Büro.«
  »Wir sehen uns dann in ein paar Wochen«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Lassen Sie es sich gut gehen.«

***

Nachdem Seth die ruhige, sterile Lobby durchquert und den Parkplatz erreicht hatte, wehte ihm ein kalter Wind entgegen. Sein Gehirn, das immer noch in der Vergangenheit steckte, reagierte darauf mit kurzen Fetzen von Erinnerungen. Bilder, wie er mit Raymond durch eine kalte Nacht rannte. Er versuchte, ihn einzuholen, um ihm zu sagen, dass alles in Ordnung war. Aber selbst jetzt, so viele Jahre später, war er sich nicht sicher, ob alles in Ordnung war. Manche Menschen, zum Beispiel Doktor Farrow, schoben die Schuld auf obsessive oder neurotische Denkmuster und stressbasierte Ängste, die Folgen einer nie behandelten Depression oder anderer mentaler Probleme, aber Seth war sich da nicht so sicher.
  In der Nacht, in der ihre Eltern gestorben waren, hatte sich alles verändert. Obwohl die nächtlichen Panikattacken, die Raymond als Kind hatte, bereits aufgehört hatten, eskalierten seine anderen Probleme in Folge. Er trieb weiter in seine Schwierigkeiten ab – Doktor Farrow würde sie »Verhaltensanomalien« nennen – und der kleine Junge, der er einst war, trudelte hinab in die Vergangenheit, wie ein Stück Abfall, das hilflos von einem gnadenlosen Wind weggetragen wurde. Und während um Raymond herum alles zerbröckelte, ertrank Seth in einer Flut aus Schuldgefühlen und Hilflosigkeit. Er war wütend auf sich selbst, auf Gott, auf die ganze Welt. Er versuchte, seine Gefühle so gut es ging abzuschotten, um überhaupt weiter machen zu können. Wie ein orientierungsloser und erschöpfter Schwimmer, der von der Strömung mitgerissen wird, gab er einfach nach und ließ sein Leben treiben. Er war sich sicher, dass das der einzige Weg war, sein Überleben zu ermöglichen, und damit hatte er recht.
  Ein merkwürdiges Phänomen, das Überleben.
  Der Tod hatte das, was von ihren Leben übrig war, in Stücke geschlagen, die wie Scherben auf sie herunterprasselten und nur Trümmer und Verwüstung hinterließen, wo einst etwas Gesundes, Schönes gewesen war. Und die Nacht in der Hütte hatte alles nur schlimmer gemacht, noch sinnloser und unlogischer als je zuvor.
  Während des letzten Jahres waren die dunklen Gedanken und die formlosen Erinnerungen an diese finstere Nacht immer kraftvoller geworden. Es hatte ganz langsam angefangen, aber immer mehr an Fahrt gewonnen, bis zu einem Punkt, wo Seth wirklich an eine Geisteskrankheit zu glauben begonnen hatte. Falls dem so wäre, würde er dann in die gleiche bodenlose Grube stürzen, die bereits seinen Bruder verschlungen hatte?
  An manchen Tagen hatte er das Gefühl, das wäre längst geschehen.
  Als Seth sein Auto erreichte, blieb er stehen und schaute in den Himmel.
  Ein Sturm braute sich zusammen.

KAPITEL 5