Investieren wie Florian Homm:

Die einzige Lektion über Aktieninvestitionen, die Sie jemals brauchen werden

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1. EINE REIZENDE FAMILIE

Kein Preis ist zu hoch für das Privileg, sich selbst zu gehören.

Friedrich Nietzsche

Dein Heim gilt als vorbildliches Heim, dein Leben als vorbildliches Leben. Doch all diese Pracht, einschließlich deiner selbst … Es ist, als sei all das auf Treibsand gebaut. Es könnte ein Moment kommen, ein Wort gesprochen werden, und sowohl du als auch die gesamte Pracht werden einstürzen.

Henrik Ibsen

Mein Zuhause war nie ein vorbildliches Zuhause. Es war von Anfang an zerrüttet.

Mütterlicherseits lassen sich die Familienwurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen und schließen Peter Joseph Valckenberg ein, berühmter Weinexporteur und Bürgermeister der Stadt Worms (1813–1837), die zu den Freien Städten des Heiligen Römischen Reiches gehörte. Neben seinem Bürgermeisteramt war er ein cleverer Unternehmer, der die Weinberge rund um die Wormser Liebfrauenkirche erwarb und den dort angebauten und damals schon berühmten Wein, die Liebfrauenmilch, ins Ausland exportierte.

Im Stammbaum dieser mächtigen und einflussreichen Familie, die ihren Ursprung in Rheinland-Pfalz und Franken hat, sind auch einige Adlige vertreten. Ein Familienwappen beschreibt einen feuerspeienden Drachen, der ein Schild hält, das seltsamerweise mit einem Davidsstern verziert ist. Als ich einst in Boston einen Wappenring für meine damalige Frau anfertigen ließ, fragte mich der armenische Juwelier, ob ich den Judenstern behalten wolle, ob ich nicht eher das christlichere Pentagramm als geeignetere Alternative für ein nichtjüdisches Paar vorzöge. Meine Frau und ich sahen uns an und fingen gleichzeitig an zu lachen – und entschieden uns für den Davidsstern. Wir wollten die Geschichte nicht verzerren, nur um irgendeinen Anschein zu wahren.

War es möglich, dass Bürgermeister Valckenberg jüdische Ursprünge hatte? Necko würde sich im Grab umdrehen, wenn er mich jetzt hören könnte. Valckenberg wäre gewiss nicht der erste Deutsche mit jüdischen Vorfahren, der sich in den Industrieadel einkaufte und dabei seine jüdische Herkunft vergaß. Wir besitzen einige merkwürdige Familienporträts, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Dachboden unserer Nachbarn aufgetaucht sind und auf denen die wunderbare mexikanische Großmutter meiner Mutter Uschi abgebildet ist, die Maria Eva Peres hieß und kurz nach dem Ersten Weltkrieg ohne große Umstände aus dem ursprünglichen Familienstammbaum entfernt wurde. Meine Exfrau war davon überzeugt, dass meine Mutter und ich zum Teil jüdisches Blut haben.

Neben wohlhabenden Patriarchen mit versteckten semitischen Wurzeln gibt es Generationen von Warenhändlern, Textil- und Kohlebarone, ein Parlamentsmitglied, einen ehemaligen Widerstandskämpfer, der für die Alliierten spionierte, sowie eine zentrale Figur in Hitlers Nazideutschland: den Einzelhandelsmagnaten und Träger einer olympischen Goldmedaille – meinen Großonkel Dr. Josef Neckermann. Necko, wie wir ihn nannten, wurde mein Vorbild und war zudem mein De-facto-Großvater.

Meine Großeltern mütterlicherseits sowie meinen Onkel Mockel lernte ich nie kennen, weil sie 1948 entweder bei einem Autounfall starben oder Opfer eines Mordanschlags durch amerikanische Soldaten wurden. Genaues weiß man nicht. Meine Großmutter, Neckos Schwester, war Berichten zufolge eine elegante und attraktive Frau. Sie war in einer privilegierten Umgebung aufgewachsen, umsorgt von Hausmädchen, Köchen und Privatlehrern. Meine Großmutter war offen, gefühlsbetont und bodenständiger als mein Großvater. Beide liebten das gute Leben. Meine Großeltern führten eine offene Ehe, was damals ein völlig unvorstellbares Konzept war. Ihre Tagebücher und Briefe enthüllen jedoch eine intensive und glückliche Beziehung. Sie waren liberal, extrem tolerant und nachsichtig. Ihre Kinder genossen alle Privilegien und kannten kaum Einschränkungen. Zweifellos überschütteten ihre Eltern sie mit Liebe.

Mein Großvater, Dr. Hans Lang, promovierte in Jura und verschob in den Dreißigerjahren Waffen für die Opposition. Er schrieb zwei Artikel, in denen er die Nazis scharf kritisierte, und als Folge davon verlor er seine Anwaltslizenz. In seinen frühen Dreißigern zog er von Bayern nach Berlin und arbeitete erfolgreich als Textilproduzent und Großhändler. Nach dem Anschluss im Jahr 1938 wurde er ins logistische Hauptquartier der Reichswehr in Berlin berufen, wo er bis 1945 blieb. Verwandten zufolge hat er anscheinend die Alliierten während des gesamten Kriegs von einem heimlichen Kommunikationsstandort in Hofheim aus mit hochsensiblen Informationen versorgte. Er wurde nie eingezogen. Seine Sprachkenntnisse (Russisch, Ungarisch, Polnisch, Italienisch, Spanisch, Englisch, Griechisch und Serbokroatisch), sein großes Organisationstalent und seine breit gefächerten internationalen Kontakte waren für die Nazis einfach zu wichtig, um sie auf dem Schlachtfeld zu verschwenden. Diesen rätselhaften, opportunistischen Agent provocateur hätte ich gerne kennengelernt; er war sicher ein interessanter Mann.

Noch am selben Tag, an dem die Alliierten in seiner Heimatstadt einmarschierten, wurde er entnazifiziert. Normalerweise dauerte das bei einem hochrangigen Technokraten Monate, wenn nicht gar Jahre. Necko wurde zum Beispiel als Kriegsverbrecher verurteilt. Selbst nach seiner Haftentlassung unterlag er noch mehrere Jahre strengen Reise- und Arbeitsbeschränkungen. Mein Großvater wurde jedoch gleich nach dem Krieg zum hochrangigen Verbindungsoffizier zwischen dem Versorgungssystem der alliierten Mächte und den südlichen und mitteldeutschen Kommunen Deutschlands ernannt. In der Autobiografie meiner Tante (Kristin Feireiss, Wie ein Haus aus Karten, Ullstein Verlag) las ich, dass er einer der größten deutschen Schwarzmarkthändler seiner Zeit gewesen sein soll.

Meine Mutter und verschiedene Verwandte vermuten, er habe während des größten Teils des Krieges als Spion für die Alliierten gearbeitet, vor allem die Amerikaner, was seine umgehende Entnazifizierung und seine bemerkenswerten Privilegien nach dem Krieg erklären würde. Seine »offiziellen« Unternehmen erwirtschafteten Millionen. Es ist anzunehmen, dass seine heimlichen Geschäfte noch profitabler waren. »Er lebte ein sehr gefährliches Leben«, meinte seine Mutter, und seine Tochter Tini sagte: »Mein Vater hatte zahlreiche mächtige Feinde.« Genau wie ich versuchte er, seine persönlichen Risiken abzusichern. Während ich mit der dunklen Seite paktierte, mächtigen kurdischen Führern und später der IRA, zählte mein Großvater den Frankfurter Polizeipräsidenten zu seinen »bevorzugten« Geschäftspartnern, um sich abzusichern. Ein Partner, dem ein Vermögen geboten wurde, verbrachte dafür drei Jahre im Gefängnis, um meinen Großvater herauszuhalten.

Der deutsche Schwarzmarkthandel war entsprechend der alliierten Zonen aufgeteilt. Die Franzosen waren im Westen aktiv, die Engländer im Norden und die Amerikaner in Mittel- und Süddeutschland. Da die Russen, was das Warenangebot betraf, nicht viel zu bieten hatten, waren in der Ostzone alle Gruppen vertreten. Nur wenige Deutsche genossen im Schwarzmarkthandel eine herausragende Stellung, schon gar nicht als unabhängige Händler. Angesichts seines umfassenden Logistikverständnisses und seiner Kontakte zu hochrangigen Vertretern des amerikanischen Versorgungssystems fiel es meinem Großvater naturgemäß leicht, amerikanische Waren an seine Landsleute zu verhökern. Das würde auch erklären, wie ein Mann, dessen Imperium vom Krieg zerstört wurde, in nur drei Jahren zu einem Nabob aufsteigen konnte. Er trug Mäntel aus russischem Zobel, fuhr die teuersten Autos und lebte in einer palastartigen Residenz. Ohne den geringsten Zweifel war Hans Lang ein Magnat, der am Rande oder sogar jenseits der Legalität lebte – genau wie ich.

Wenige Jahre nach dem Krieg machte der Schwarzmarkt unter finanziellen Aspekten gut ein Drittel der gesamten Wirtschaftsaktivität aus. Zuverlässigen Quellen zufolge waren seine Hauptkonkurrenten nicht andere deutsche Schwarzmarkthändler, sondern Schwarzmarktorganisationen, die von amerikanischen Militärs der mittleren Führungsebene und von Angehörigen der Special-Operations-Einheiten in München, Heidelberg, Würzburg, Nürnberg, Stuttgart und Frankfurt geleitet wurden. Diese Organisationen beschäftigten Deutsche nur für niedere Arbeiten, zum Beispiel Verpackung und Einzelvertrieb. Hans Lang hatte seine eigene Organisation mit großen Warenlagern und anderen kleineren Vertriebseinrichtungen in der gesamten amerikanischen Besatzungszone. Beide Gruppen beschafften einen Großteil ihrer Waren von anderen ähnlichen Einrichtungen. Das führte regelmäßig zu Konflikten und nicht selten kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zwar war mein Großvater nicht schutzlos, dennoch verlor er bei organisierten Plünderungen seiner Lager Warenlieferungen an seine mächtigeren und besser vernetzten amerikanischen Kontrahenten. Waren Hans Lang und der größte Teil seiner Familie Opfer eines unglücklichen Unfalls? Das ist äußerst unwahrscheinlich. Ein schwerer, großer US-Armeelastwagen fuhr Langs Opel buchstäblich platt. Wahrscheinlich waren alle Insassen auf der Stelle tot, als sie von dem Lastwagen überrollt wurden. Dann setzte der Lastwagen zurück, schleifte das Auto fast 30 Meter über die Autobahn und schob es anschließend über einen Abhang am Straßenrand. Damit war sichergestellt, dass der Unfall mit Fahrerflucht oder der absichtliche Mord an Hans Lang und dem größten Teil seiner Familie eine Zeit lang unbemerkt blieb, sodass den Tätern genügend Zeit blieb, zu verschwinden. Die Ermittlungen der deutschen Polizei wurden an die US-Militärpolizei übergeben, weil die Reifenspuren und Lackpartikel darauf hinwiesen, dass der Unfall das Ergebnis eines Zusammenpralls mit einem sehr großen und schwer motorisierten US-Armeelastwagen war.

Da der amerikanische Lastwagen beträchtlich beschädigt worden sein musste, hätte eine einfache Überprüfung des Fuhrparks völlig ausgereicht, um herauszufinden, welches Fahrzeug in den »Unfall« verwickelt war und wer zu dem fraglichen Zeitpunkt am Steuer gesessen hatte. Nichts dergleichen geschah jedoch. Die Amerikaner machten sich nicht einmal die Mühe, auf die Bitte zur Aufklärung der deutschen Polizei zu antworten. Sie hatten den Krieg gewonnen und wie alle Sieger konnten sie ungestraft tun und lassen, was sie wollten. Ende der Geschichte!

Meine Mutter sagt mir immer, wie sehr ich sie an ihren Vater erinnere. Meine sprachlichen Fähigkeiten, meine körperlichen Merkmale, mein Gesichtsausdruck und meine Haltung gegenüber extrem widrigen Situationen sowie meine Gesten wiesen große Ähnlichkeit mit meinem Großvater auf. Meine Mutter sieht ihren Vater nicht als skrupellosen Profiteur, sondern als brillanten Mann und fürsorglichen Vater, einen Verfechter des freien Marktes, einen Rebellen und schlimmstenfalls als risikofreudigen Draufgänger, der alles tat, um in verzweifelten Zeiten das Wohlergehen seiner Familie und Freunde zu sichern.

An der Beerdigung in Würzburg nahmen Tausende von Menschen teil. Nachdem meine Mutter und ihre beiden Schwestern nun Waisen waren, wurden sie von Necko und seiner Frau Annemie aufgenommen. Necko übernahm auch die Kontrolle über das Vermögen der Familie Lang. Der Vermögensverwalter, der für meine Mutter und meine Tanten eingesetzt wurde, war ein langjähriger Angestellter in Neckos Unternehmen.

Je mehr ich mich mit unserer Familiengeschichte beschäftige, desto mehr erkenne ich, dass meine Mutter und Tanten im Neckermann-Clan wie Kinder zweiter Klasse behandelt wurden. Sie wurden nicht wirklich geliebt. Ihr Geld dagegen schon. Meine Mutter durfte trotz der vielfältigen Appelle des Schuldirektors nicht an der Universität studieren. Stattdessen musste sie Schneiderin werden – ein Beruf, den sie nicht einen einzigen Tag in ihrem Leben ausgeübt hat.

Meine Tante Jula, die laut den Neckermann-Standards degeneriert, eine hilflose Seele und Versagerin war, wurde aus der Familie verbannt. Meine Tante Tini durfte ihre eigene Schwester nicht zur Hochzeit einladen, falls sie nicht ebenfalls aus der Familie ausgeschlossen werden wollte. Wer waren Necko und Annemie, dass sie ihre eigenen Stieftöchter beziehungsweise Nichten verbannten und bedrohten? Echte Eltern lieben bedingungslos. Sie erpressen ihre Kinder nicht und schließen sie nicht aus. Ihre Türen und Herzen sind immer offen. Es war keine Überraschung, dass Neckos Erbe nach seinem Tod nicht in sieben gleiche Teile unter allen Kindern aufgeteilt wurde. Vorhersagbarerweise erbten Neckos und Annemies eigene Kinder, Evi, Johannes und Peter, 99 Prozent des Vermögens.

Emotionale Bedürfnisse wurden regelmäßig ignoriert und potenzielle Skandale unter den Teppich gekehrt. Jeder Hinweis auf ein Problem wurde ignoriert, bemäntelt und nie wieder erwähnt. Die Besessenheit der Neckermanns von ihrem öffentlichen Image ließ keinen Raum für Schwäche und menschliche Unvollkommenheit. Dem vergleichbar ließ mein Streben nach Reichtum wenig Zeit und Energie für die emotionalen Bedürfnisse meiner Frau und meiner Kinder.

Väterlicherseits sind die Ursprünge meiner Familie weitaus prosaischer und reichen ungefähr 1.000 Jahre zurück. Die Familie, die im Mittelalter angeblich als Waffenträger und Schläger für lokale Raubritter arbeitete, schaffte es, sich eine anständige Existenz als Allround-Handwerker, Klempner und Elektriker zu erkämpfen. Typische Weihnachtsgeschenke von unseren Großeltern waren zwei Paar Socken für jedes Enkelkind. Ihre Verwendung war jedoch stark eingeschränkt, da sie ewige Gefangene im Haus meiner Großeltern blieben und nur getragen werden durften, wenn wir auf Besuch waren. Sobald wir nach Hause fuhren, mussten die Socken bis zum nächsten Besuch an ihre Bewacher zurückgegeben werden. Ich liebte diese Socken.

Ich erinnere mich an die Beerdigung meines Großvaters Willi, weil ich dabei eine blutige Lippe bekam. Hunderte von Menschen nahmen an der Feier teil, darunter viele alte Nazis. Zahlreiche ältere Frauen weinten, als hätten sie gerade ihren Erstgeborenen an Charles Manson verloren. Meine ältere Schwester Barbara und ich waren Teil der Kondolenzreihe, zu der auch meine Eltern gehörten, die wesentlich jüngere Witwe meines Großvaters (meine Stiefgroßmutter Sophie), die Enkelkinder und einige entferntere Verwandte. Meine Schwester und ich empfanden weder Leid noch Schmerz. Wir waren froh, dass der Alte endlich aus unserem Leben verschwunden war. Tatsächlich kannten wir ihn zu gut, als dass wir ihn betrauert hätten. Er hatte versucht, das Erbe meines Vaters an sich zu reißen, war ein fürchterlicher Geizkragen und hatte nie ein freundliches Wort für irgendjemanden, der gesellschaftlich unter ihm stand. Er verkaufte neue Waschmaschinen, aus denen er den neuen Motor ausbaute und durch einen gebrauchten ersetzte, wobei er den neuen Motor behielt. Wenn die Waschmaschine kurz nach Auslieferung kaputtging, berechnete er dem Kunden den Einbau des neuen Motors plus eines saftigen Installationszuschlags. Der Mann war ein Betrüger in Kleinformat – ganz anders als ich.

Ich betrachtete die ganze Szene als eine gigantische Komödie. Alle lokalen Hyänen waren erschienen, um ihrer Leithyäne die letzte Ehre zu erweisen. Was mir mehr als alles andere auf die Nerven ging, waren die Trauermienen und die herzergreifenden Händedrücke. Es fiel mir schwer, ein Pokerface zu machen. Während ich die Menge ungläubig anstarrte, wandte sich meine Schwester zu mir, zwickte mich in den Arm und flüsterte mir zu: »Reiß dich zusammen und hör auf, so pietätlos zu sein. Zeig den Schmerz, den du in deinem Innern fühlst und lass deinen Tränen freien Lauf, Florian.« Währenddessen erzählte uns der Pfarrer, dass Willis grenzenlose Großmut und seine Energie unser aller Leben bereichert hätten. Barbara bewegte sich nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt und sagte: »Weine für Willis verlorene Liebe. Er stand für das, was an uns Deutschen am besten ist: Disziplin, Organisation, Gehorsam, Muskeln so hart wie Kruppstahl, schnell wie der Blitz und zäh wie Leder.« Sie zitierte einen Spruch aus einer Rede Hitlers, die er 1935 vor der Hitlerjugend in Nürnberg gehalten hatte. Mit ihrem Spott traf sie den Nagel auf den Kopf. Willi hatte Jahre in französischen Kriegsverbrecherlagern verbracht, bevor er nach dem Krieg schließlich zurückkehrte, und der Vater seiner zweiten Frau war der Nazi-Bürgermeister unserer Heimatstadt Oberursel.

Anschließend schlug Barbara die Hacken zusammen wie ein Feldwebel der SS und tat so, als wolle sie vor der Menge salutieren. Da konnte ich mich nicht mehr halten und fing vor unterdrücktem Lachen an zu schluchzen, was von außen wie ein Weinkrampf aussah. Die Leute um uns herum fürchteten, der Tod meines Großvaters sei zu viel für mich. Ein äußerst besorgtes Paar in den Neunzigern kam auf mich zu und drückte fest meinen Arm und meine Hand, um mich zu beruhigen. Entweder würde ich in lautes, hysterisches Lachen ausbrechen, in die Hose pinkeln oder beides.

Um das zu verhindern, biss ich mir so fest auf meine Unterlippe, dass sie anfing zu bluten, und zwar ziemlich stark. Der Blutgeschmack hatte eine umgehende ernüchternde Wirkung. Als ich die ersten Tropfen herunterschluckte, gelang es mir, mich zusammenzunehmen und jeden Blickkontakt mit meiner Schwester, den Trauernden und dem netten alten Paar zu vermeiden. Ich starrte dumpf auf meine billigen, polierten schwarzen Schuhe und ordnete meine Gedanken und Gefühle. Einige Minuten später entschuldigte ich mich, indem ich sagte, ich fühle mich nicht wohl, fand eine Parkbank und las die lokale Zeitung, die ich mitgebracht hatte, für den Fall, dass ich mich bei der Beerdigung langweilen sollte.

Nach einigem Nachdenken und angesichts der Tatsache, dass sie mich enterbt hatten, kam ich zu dem Schluss, dass Sophie und Willi Homm kleinkarierte, elende, heuchlerische, kleinbürgerliche ehemalige Nazis waren. Folglich verdienen sie keine weitere Aufmerksamkeit.

Als meine Mutter meinen Vater Jochen heiratete, hätte der Gegensatz nicht größer sein können. Jochen war der Prototyp eines Ariers: eine Statur von 1,94 Metern, blaue Augen, blond, athletisch, ein herausragender Sportler, Skifahrer, Tennisspieler und Fechter. Er kam aus einer Kleinunternehmerfamilie. Meine Mutter war ein Mitglied der Oberschicht. Als Favorit der Hitlerjugend hatte man meinen Vater 1944 aufgefordert, Hitlers Leibwache zu verstärken, aber er lehnte ab. Im Frühjahr 1945 wurden mein Vater und seine Staffel aus 14- bis 16-jährigen Jungen aufgerufen, nach Berlin zu marschieren, um den Führer beim Endsieg zu unterstützen. Mein Vater und ein Freund machten sich im Morgengrauen aus dem Staub. Seine Klassenkameraden starben entweder im Endkampf oder in russischen Bleiminen nach dem Krieg. Zu desertieren war die richtige Entscheidung gewesen.

Nach außen wirkte mein Vater charmant. Er war jedoch mit allen Wassern gewaschen, berechnend und kaltblütig. Sein Sinn für Humor und Flirts war äußerst ausgeprägt, zumindest an deutschen Standards gemessen. Die Frauen scharten sich um ihn wie Motten um das Licht. Er hatte auch eine väterliche, fürsorgliche Seite, die mit der Zeit aber nachließ. Ich erinnere mich daran, dass er eine ganze Nacht an meiner Bettkante verbrachte, nachdem ich mir eine fürchterlich schmerzhafte Verletzung am Knöchel zugezogen hatte. Außerdem arbeitete er Tag und Nacht, um meine private Schul- und Hochschulausbildung zu bezahlen. Ich begleitete ihn oft auf Geschäftsreisen, auf denen er mir seine Weltsicht nahebrachte. Er sagte mir, wie ich an die Spitze der Pyramide gelangen konnte. Er war fürsorglich, sogar aufmerksam, aber von dem Zeitpunkt an, als ich mein Studium an der Universität von Harvard aufnahm, begannen sich unsere Prioritäten dramatisch auseinanderzuentwickeln. Genau wie Necko war Jochen zunehmend am gesellschaftlichen Aufstieg interessiert, wohingegen ich zunehmend daran interessiert war, meine Fähigkeiten zu entwickeln und mir einen Lebenslauf zu erarbeiten, mit dem ich meinen zukünftigen Reichtum maximieren konnte. Anders als mein Vater und mein Großonkel waren mir meine Reputation und mein gesellschaftlicher Status völlig egal, solange sie nicht mit meinen Plänen kollidierten, Milliardär zu werden. Drei Generationen unkluger Männer hatten ihre Seelen und Familien für Geld und sozialen Status verkauft.

Jochen nahm nicht an meiner Hochzeitsfeier 1989 im Schweizer Gruyère teil – ich hatte den Fehler begangen, mich anders als meine Geschwister während des Scheidungsprozesses meiner Eltern nicht vollständig von meiner Mutter loszusagen –, sondern beobachtete die Feierlichkeiten mit seiner Geliebten von der Schlossmauer aus. Während des Scheidungskriegs versuchte ich, meine Eltern gleich zu behandeln und zu beiden Kontakt zu halten. Als sein Lieblingskind vergab mir mein Vater nie, dass ich mich nicht auf seine Seite schlug. Er fand mein Verhalten illoyal und fühlte sich betrogen. Das Ende vom Lied war, dass ich meinen Vater verlor. Ich könnte dem Teufel meine Seele verkaufen, aber ich weigerte mich, meine Mutter aufzugeben. Ich habe immer einen angeborenen Sinn für Fairness gehabt. Außerdem bin ich nicht erpressbar, weder mit Geld noch mit Gefühlen.

Unsere Hochzeitsgeschenke bestanden in einer falschen Rolex, die 25 Dollar gekostet hatte, und einer ebenso falschen Gucci-Handtasche aus Thailand für Susan, die von einem seiner Wasserträger überbracht wurden. Ich war aufgebracht und wütend. Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich zu meinem Vater aufgesehen. Weise wie meine Exfrau stets war, war sie davon überzeugt, dass meine ausgedehnten Ausflüge in die Jugendkriminalität, meine Wut, mein ausgeprägter Medienfokus und später meine oft feindseligen Geschäftspraktiken allesamt verzweifelte Versuche waren, mit meinem Vater zu kommunizieren und seine Aufmerksamkeit und Liebe zu gewinnen. 15 Jahre lang habe ich versucht, auf ihn zuzugehen, aber er hat jeden Kontakt abgelehnt. Ich schrieb Briefe, sandte Familienfotos und rief ihn an. Jochen hat nie geantwortet. Er kennt nicht einmal seine Enkelkinder. Susan sagte unseren Kindern, Jochen sei vor Jahren gestorben. Im übertragenen Sinne hatte sie recht. Vor zehn Jahren gab ich meine Bemühungen auf, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Ich habe mich mit der Tatsache ausgesöhnt, dass mir nach dem Tod meiner Schwester und mit einem Bruder, der nicht das geringste Interesse an mir hat, mit Ausnahme meiner Mutter wenig Familie übrig geblieben ist. Unabhängig davon steht meine Tür für meinen Vater und meinen Bruder jederzeit offen.

Meine Mutter sah aus wie Sophia Loren. Sie war ziemlich groß, hatte wohlgeformte Kurven, hohe Wangenknochen, auffällig dunkle Haut und gewelltes, kastanienbraunes Haar. Sie ist hochintelligent, ernst, misstrauisch, introvertiert und reserviert. Es dauert ungefähr zwölf Jahre, bis sie mit einem anderen Menschen warm wird. Sie beschwerte sich immer, sie habe so wenige Freunde, aber ihre Bemühungen, Freundschaften zu schließen, waren bestenfalls von zweifelhafter Natur. Ich versuchte ihr zu helfen, indem ich ihr Dale Carnegies Buch Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden schenkte. Sie las es und sagte: »Anderen in den Hintern zu kriechen ist unterwürfig und falsch. Carnegie ist unaufrichtig und ein Spinner. Außerdem verlangt eine derartige Arschkriecherei zu viele charakterliche Verrenkungen von mir. Lieber bin ich unglücklich als jedermanns Liebling.« Ohne Zweifel ist meine Mutter authentisch. Sie kam zu unserer Hochzeit, beschenkte uns großzügig und schüchterte die besten Freunde meines Vaters ein und brachte sie auf die Palme. Sie machte einige ziemlich beeindruckende Szenen, aber das war für mich in Ordnung. »Sie ist meine Mutter, sie kann machen, was sie will«, lachte ich, während ich sie dabei beobachtete, wie sie ihre Lieblingsziele ins Visier nahm und terrorisierte.

Ihr Stil, ihr Geld, ihr Intellekt und ihre Tradition verheirateten sich mit der reinen kaufmännischen Energie und dem nackten gesellschaftlichen Ehrgeiz meines Vaters. Welch verrückte und symbiotische Verbindung. Der Fairness halber muss gesagt werden, dass mein Vater das Erbe meiner Mutter weise verwendete, um ein regionales, mittelständisches und hoch profitables Bauunternehmen aufzubauen, das dazu beitrug, unsere teure Ausbildung zu bezahlen.

Ihre Kinder waren natürlich Giganten. Meine Schwester war größer als 1,80 Meter, mein Bruder Hajo misst 2,07 Meter und ich zwei Meter. Mit seinen stählernen blaugrauen Augen, seinem blonden Haar und seiner blassen Haut, dem runden Kopf und seinem massiven Körperbau wirkt mein Bruder wie ein feuchter Nazitraum, wohingegen meine Schwester und ich eher überdimensionierten lateinamerikanisch-arabischen Hybriden glichen. Hajo machte sein Diplom an der London School of Economics und ist Ingenieur. Er arbeitete mehrere Jahre mit meinem Vater, bevor er Antiquitätenhändler wurde. Hajo verfügt über außerordentliche mathematische Fähigkeiten und war in seiner Jugend ein begabter Maler. Er mochte mich nie, möglicherweise weil mein Vater mir mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm. Er war hocherfreut, als sich mein Vater während seines Scheidungskriegs von mir abwandte. Einmal sagte er zu mir, man könne seine Freunde aussuchen, aber nicht seinen Bruder.

Meine Eltern, die beide keine Universität besucht hatten, legten großen Wert auf Bildung, Kultiviertheit und ausgiebige Reisen. An meinem zwölften Geburtstag schenkte mir mein Vater Egon Cortis Buch Der Aufstieg des Hauses Rothschild, das ich innerhalb von zwei Tagen verschlang und immer behielt. Neckos eingefleischt katholische Familie fand es merkwürdig, dass ein Nichtjude an dieser Welt ein solches Interesse hatte, dass er sogar darin arbeiten wollte, denn für sie war es eine rein jüdische Welt. Und so führte mein nonkonformistisches Naturell dazu, dass ich mich fasziniert fragte: »Was machen die Juden, was wissen sie, wie kann ich es lernen?« Dieses Thema lag im wahrsten Sinne sehr nahe, denn die Rothschilds stammen aus dem jüdischen Bezirk Frankfurts. Ich sagte zu mir, falls ich mich entschied, Kinder zu haben – vorzugsweise Jungen –, dann würde ich sie in die ganze Welt schicken, um genauso ein bombastisches Finanzimperium aufzubauen, wie der Geldwechsler Mayer Amschel Rothschild um die Ecke.

Mein Vater sagte mir auch: »Je näher du dem Geld kommst, desto leichter ist es, an Geld zu kommen.« Diese grundlegende Lektion erschien mir äußerst logisch. Die erste Saat für eine Karriere in der Finanzwelt war erfolgreich gelegt. Bis dahin hatte ich in den harten Wintern Rehe mit Walnüssen gefüttert und im Frühjahr die Flüsse und Seen um Oberursel mit Bachforellen aufgefüllt, weil ich die Vorstellung hatte, Förster beziehungsweise Wildhüter zu werden. Dieser Berufswunsch verblasste schnell.

Was unseren sozialen Status anbetraf, gehörten wir zur oberen Mittelschicht, während die Neckermann-Seite zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite gehörte. Als Teil von Neckos Familienentourage wurden wir zu vielen High-Society-Anlässen eingeladen, bei denen ich zahllose Promis kennenlernte. Meine moralische Bildung war jedoch eher gering und defizitär, um nicht zu sagen machiavellistisch. Meine Mutter war eine notorische Fremdgängerin. Einer ihrer Liebhaber war nur zwei Jahre älter als ich. Einmal verbrachte ich ein nervenaufreibendes Wochenende mit ihr in meinem Londoner Haus, in dem sie auf seine Ankunft wartete. Er tauchte nie auf, und ich musste mehrere Tage lang den Psychiater spielen.

Meine Mutter war nicht in jeder Beziehung das Modell der perfekten Ehefrau. Uschis äußerst liberale Einstellung gegenüber ihrer eigenen sexuellen Erfüllung erklärt sich durch ihre Kindheit und Jugend. Ihre Eltern hatten eine offene Ehe geführt. Nach meiner Heirat spornte mich Uschi offen dazu an, vor meiner Frau mit anderen Frauen zu schlafen. Sie glaubte fest daran, dass ein wenig amouröse Abwechslung meiner Ehe und meinem Sexualleben guttun würde.

Mein Vater war nicht so sehr an Sex und Freundschaft interessiert, sondern wesentlich mehr an Reichtum und Status. Er war absolut skrupellos im Geschäft, genau wie Necko und ich. Er würde ohne mit der Wimper zu zucken einen Mitarbeiter feuern, der seit 20 Jahren bei der Firma war, wenn das seinen wirtschaftlichen Zielen zu diesem Zeitpunkt nutzte. Er sah keinerlei Nutzen darin, bei seinen Mitarbeitern beliebt zu sein. Er war gefürchtet. Das schien besser zu funktionieren. Er konnte brutal rational und erstaunlich kontrolliert, berechnend und fast völlig gefühllos sein.

Mir fällt dabei ein, dass über 90 Prozent meines Erfolgs im Eigenhandel und im Hedgefondsmanagement mit der Fähigkeit zusammenhängen, unproduktive Gefühle auszuschalten und mich ausschließlich auf rationale, faktenbasierte und auf den ersten Blick oft unlogisch erscheinende Analysen und Lösungen zu konzentrieren. Allerdings teilte ich nie die zynischen Ansichten meines Vaters. Ich glaube fest daran, dass gut bezahlte Mitarbeiter, die gut behandelt werden, produktiver sind. Außerdem sind herausragende Mitarbeiter fast nicht zu ersetzen. Die Kosten der Schulung und Einarbeitung sowie die Suche nach neuen qualifizierten Kräften ist üblicherweise äußerst frustrierend, zeitaufwendig und teuer. Das Beste ist, die Stars so lange wie möglich zu halten und dafür zu sorgen, dass sie zufrieden sind.

Üblicherweise traf mein Vater morgens um halb sieben Uhr auf dem Firmengelände ein und wies jeden scharf zurecht, der es wagte, weniger als 15 Minuten vor dem offiziellen Arbeitsbeginn um sieben Uhr aufzutauchen. Die meisten Mitarbeiter kamen ebenfalls um halb sieben. Eine zusätzliche halbe Stunde unvergüteter Arbeit von einhundert Mitarbeitern konnten sich leicht zu einem zusätzlichen Jahresgewinn von 100.000 D-Mark aufaddieren – in einem Jahrzehnt war das eine Million, ohne Aufzinsungseffekt. Eine Million D-Mark war vor dreißig Jahren ein stattliches Vermögen. In der Harvard Business School zeigte einem niemand, wie man Millionär wurde, indem man seine Mitarbeiter jeden Tag einige Minuten extra schuften ließ. Wenn das bedeutete, dass man die Mitarbeiter etwas öfter anschreien musste als üblich, dann lohnte sich der Aufwand eindeutig. Wenn ein Lieferant oder Subunternehmer nicht die Mittel hatte, Anwälte zu engagieren, erhielt er möglicherweise kein Geld, und wenn er sie hatte, erhielt er möglicherweise weitaus weniger als erwartet. Mein Vater wusste, wie man mit harten Bandagen kämpft. Und das wusste ich auch.

Zwei Dinge waren für Jochen von größter Bedeutung. Erstens: Wenn man zweifelhafte Dinge tat, um voranzukommen, war das in Ordnung, solange man seine Spuren verwischte und sich niemals erwischen ließ. Zweitens: Immer eine perfekte Fassade der Respektierlichkeit wahren. Dieser Fokus auf skrupellosem sozialem Aufstieg ohne jede Rücksicht auf andere hat definitiv meine Psyche versaut. Wahrscheinlich erklärte es auch, warum ich niemals zuließ, dass Drogen oder Regelverstöße meinen Aufstieg behinderten. Image und sozialer Status waren für meinen Vater einfach alles. Er war eitel, äußerst diszipliniert und emotional unterkühlt. Meine Mutter war emotional und unbeständig. Nach ungefähr einem Jahrzehnt einer ziemlich zivilen Koexistenz zum beiderseitigen Nutzen begannen sie, mindestens einmal pro Woche heftig zu streiten. Beide unterstützten als Eltern jedoch weiterhin intensiv unseren Aufstieg, solange wir auf den ihnen wichtigen Gebieten Erfolg hatten.

Neben einer ausgeprägten Erziehung in Amoralität war die weitere feste Säule meiner Jugend die ständigen erbitterten Auseinandersetzungen zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Und sie fanden keineswegs hinter verschlossenen Türen statt, sondern in Gegenwart von uns Kindern und später auch in Gegenwart anderer Verwandter und Freunde.

Angesichts der gewalttätigen Natur unseres Zuhauses wurde Brutalität zu einer Form des Selbstausdrucks. Mein Bruder und ich trugen ungeheure Kämpfe aus, bei denen wir alle Waffen von faustgroßen Steinen, Spaten, Luftgewehren, Messern, Schaufeln bis hin zu Äxten einsetzten, um uns gegenseitig den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Mein Körper und mein Kopf weisen zahlreiche Narben auf. Unseren letzten Kampf trugen wir aus, als wir beide schon an der Universität studierten. Ich gewann um Längen.

Hajos und mein verdientermaßen schlechter Ruf als gewalttätige Schlägertypen blieb uns bis Anfang 20 erhalten. Außerdem waren alle Homm-Kinder chronische Ladendiebe. Ich begann im zarten Alter von elf Jahren, mich in Einbrüchen zu versuchen, und verschaffte mir damit genügend Geld, um mehrere Angelruten und für meine Freunde und mich Schokolade für mehrere Monate zu kaufen.

All das soll nicht heißen, dass ich keinen Sinn für Richtig und Falsch gehabt hätte, denn den hatte ich. Ich war der loyalste Freund, den man sich wünschen konnte, und ein gefürchteter Feind. Aber weil sich mein Sinn für Gut und Schlecht in einem generell amoralischen Kontext mit einem Mangel an Aufsicht verband, führte das zur Entwicklung eines eher eigenwilligen moralischen Kompasses. Aber die Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit sind selten einfach und unkompliziert.

Ich ging zur Frankfurt International School, weil die öffentliche Schule in Oberursel politisch unglaublich links war und meine Eltern nicht wollten, dass mein Bruder und ich überzeugte Kommunisten wurden wie Barbara, die Mitglied des maoistischen Kommunistischen Bunds Westdeutschlands, kurz KBW, war. Der ehemalige Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, wurde in Oberursel umgebracht, und Ulrike Meinhof stammte ebenfalls aus Oberursel. Im Wesentlichen handelte es sich bei den Terroristen um Kinder wohlhabender Familien aus der Mittel- und oberen Mittelschicht. Das führte zu einigen lebhaften Familiendiskussionen. Als mein Vater meine Schwester in seinem Mercedes zur Schule fuhr, bestand sie darauf, 500 Meter vor dem Schultor auszusteigen, damit niemand sah, dass sie aus einer Familie von »Kapitalistenschweinen« stammte. Alle liefen in Militärparkas herum und hielten sich für Castro oder Che Guevara auf Mission in Bolivien.

Ich konnte mich überhaupt nicht dafür erwärmen und fand das Ganze eher witzig. Zwar misstraute ich den rücksichtslosen, zielstrebigen Stützen des deutschen Wirtschaftswunders, aber zumindest waren diese geld- und statusgeilen Opportunisten konsistent und authentisch. Die meisten Oberschichtskinder, die Mao-Shirts und extrem teure, modische Militärstiefel und Parkas trugen, lebten von einer üppigen Apanage ihrer Eltern. Ihre revolutionären Anwandlungen waren hohl und unaufrichtig. Sie waren genauso falsch wie die Rolex, die mir mein Vater zur Hochzeit schenkte. »Wenn sie nicht so jämmerlich wären, wären sie fast lustig«, war mein unwiderrufliches Urteil. Ich war ein intellektuell und spirituell ziemlich distanziertes Kind und als Jugendlicher dachte ich: »Was sollen diese ganzen sinnlosen Diskussionen? Warum sind die alle immer so bierernst?« Offensichtlich brauchten die Eltern mal einen Monat harte Fabrikarbeit und ihre Kinder einen Besuch in der DDR oder ein Leben in Russland, um aufzuwachen und die Realität zu erkennen. Ich hatte beides getan.

Barbara hatte mit Rebellen in Zentralamerika gelebt und gearbeitet. Ich respektierte das. Vielleicht färbte ein wenig dieses linken Gedankenguts auf eine Weise auf mich ab, derer ich mir nicht bewusst war. Als ich später in London arbeitete, wohnte ich nicht in Belgravia, South Kensington oder Mayfair, wo meine Kollegen residierten, sondern ich entschied mich für Hackney – eine äußerst raue Gegend. Mehrere meiner Freunde und Basketballkumpels aus dem Viertel waren halbseidene Figuren: Gebrauchtwagenverkäufer (sprich Autodieb), Zigarettenverkäufer (sprich Schmuggler) und tüchtige Geschäftsleute (sprich Hehler).

Dieser im Getto hausende Investmentbanker war ein logisches Ergebnis meines respektlosen Naturells und meiner Blutsverwandtschaft mit meiner Schwester Barbara. Das war meine Art, mich mit dem »Lumpenproletariat« abzugeben und gegen die Erwartungen meiner Gleichgestellten zu rebellieren. Ich war nicht bereit mich anzupassen und widerstandslos das hohle Gebaren der Aufwärtsmobilen anzunehmen. Ich war in echtem Reichtum groß geworden. Wir lebten in einem Anwesen mit 17 Zimmern und einem Innenschwimmbad, einer Sauna, einer Bibliothek, einer ansehnlichen Kunstsammlung sowie Innen- und Außenkaminen. Necko lebte in diesem Mammutanwesen auf acht Hektar erstklassigem Grundbesitz, der fast ein eigenes Dorf bildete und zwei Weltklasse-Reithallen enthielt – eine überdachte und eine offene – sowie einen Hubschrauberlandeplatz und einen Atombunker, in dem sich bequem 20 Personen unterbringen ließen. Leute, die mit materiellen Gütern um sich warfen, konnten mich daher nicht ohne Weiteres beeindrucken. Die meisten Yuppies prahlten mit ihren neuesten Lifestyle-Errungenschaften: ihren Lieblingsautos, Fünf-Sterne-Hotels, der Party von Lord Sowieso und ihrer neuesten Eigentumswohnung am Eaton Square. Hätten sie von Lear-Jets, 60-Meter-Jachten, Gemäldesammlungen alter Meister oder Palästen am Ufer des Comer Sees mit eigenem Jachthafen gesprochen, hätte ich vielleicht zugehört. Meine hartgesottenen Freunde aus Hackney waren weitaus amüsanter. Es war viel witziger, Paul und Billy zuzuhören, wenn sie mir erzählten, wie sie Roland »Tiny« Rowlands1 Rolls-Royce vor dem berühmten Londoner Nachtklub Annabel’s gestohlen oder heiße Bräute aus dem East End in dampfenden After-Hour-Clubs angemacht hatten.

Als Kind war ich an Angeln, Walnüssesammeln – die ich im Winter an Rehe verfütterte –, Einbrüchen in Gartenhäuschen und einsame Häuser im Wald und Ladendiebstahl mit meinen Geschwistern interessiert – alles typische Jugendrebellionen, vor allem wenn man bedenkt, wie wenig wir seit dem Alter von fünf oder sechs Jahren beaufsichtigt wurden. Mein Wohnsitz in Hackney oder einem schäbigen Teil von Brooklyn mit meiner Cajun-Freundin Collette war ebenfalls das Ergebnis unserer schrägen Erziehung sowie der politisch linksgerichteten, antimaterialistischen Strömungen, denen wir Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre ausgesetzt waren.

In der Mittelstufe setzte sich meine Clique ausschließlich aus den unbeliebtesten Kindern zusammen. Ich war der Anführer dieser Gesellschaft aus frustrierten Ausgestoßenen, eines ziemlich bunten Haufens. Zack hatte mehr Pickel als Haare auf dem Kopf und war ständig in Schwierigkeiten, weil er der Köchin in der Cafeteria an die Titten fasste. Er hatte eindeutig Probleme, seine erwachende Sexualität mit den üblicherweise akzeptierten Verhaltensweisen in Einklang zu bringen. Scotty war ein untersetzter Zwerg, wenngleich ein sehr intelligenter, der von den älteren Sportlern ständig malträtiert wurde. Ursula war eine 1,80 Meter große schielende, magersüchtige Baumlatte, die einen erbärmlichen Anblick bot und unverständlich vor sich hin lispelte. Dann war da noch ein Schwarzer, Raymond, der weder springen, Basketball spielen noch tanzen konnte, um sein Leben zu retten. Ich war wahrscheinlich noch der beliebteste unter den unbeliebtesten Schülern. Diese Kinder waren meine besten Freunde und ich war ihr loyaler Beschützer und Rächer.

Einige der böseren meiner schäbigen Taten gingen natürlich nicht straffrei aus. Angesichts unseres ständigen schlechten Betragens bis zum Alter von 14 Jahren waren mein Bruder und ich die inoffiziellen Hausmeister der Frankfurt International School. Zudem machten meine Eltern intensive Bekanntschaft mit den lokalen Geschäftsinhabern, da sie uns ständig wegen Ladendiebstahls herauspauken mussten.

Schulfotos waren regelmäßig eine Katastrophe. Zwischen sechs und 14 Jahren haben wir auf jedem Foto entweder Wunden oder zumindest Kratzer und blaue Flecken im Gesicht. Es nahm derart schlimme Formen an, dass uns unsere Eltern zu Weihnachten Boxhandschuhe schenkten, um eine dauerhafte Entstellung oder Behinderung zu vermeiden. Das stellte sich als großartige Idee heraus, weil es uns ermöglichte, unsere rohen Körperkräfte zu strukturierteren und effektiveren Kampftechniken weiterzuentwickeln, ohne frühzeitige technische Knock-outs, lähmende Verletzungen oder dauerhafte Hirnschäden davonzutragen. Zu unserem Glück bewährten wir uns im Sport: Leichtathletik, Fußball, Skifahren, Basketball und Tennis. Das dämpfte unsere schwelenden aggressiven Impulse beträchtlich.

Ich verbesserte meine kämpferischen Fähigkeiten ganz erheblich, als ich in der nahe gelegenen US-Kaserne Camp King mit den amerikanischen GIs Basketball spielte. Damals hatten viele junge amerikanische Straftäter die Wahl, entweder ins Gefängnis oder zur Armee zu gehen. Die intelligenteren unter ihnen gingen zur Armee anstatt zu Hause im Gefängnis zu hocken, aber das machte aus ihnen noch lange keine Engel oder Heilige. Ungefähr die Hälfte der in Deutschland stationierten GIs hatte in den USA eine Strafakte und viele kannten nur einen Weg der Konfliktlösung: den nonverbalen. In gewisser Weise war der Besuch dieser Kaserne eine Art familiärer Initiationsritus. Camp King war nach dem Krieg zunächst ein Durchgangslager für Kriegsgefangene gewesen und auch mein Vater kannte diesen Ort gut, weil er nach dem Krieg dort amerikanische Waren beschaffte, die er anschließend an seine Landsleute verscherbelte. Außerdem war er dort gelegentlich als Übersetzer tätig. Es war vollkommen logisch, dass ich einen Teil meiner Jugend auf diesem Militärstützpunkt mit den Brothers verbrachte und nach Getto-Manier kämpfte, mit der Attitüde eines amerikanischen Innenstadtkinds Basketball spielte und mir Tonfall und Ausdrucksweise der GIs aneignete. Und was äußerst wichtig war: Auch Necko hatte an diesem Ort zu tun gehabt, und deshalb ließen meine Besuche in Camp King auch eine größere innere Verbundenheit mit meinem Großonkel entstehen.

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Während ich in Camp King mit den GIs Basketball spielte und Ebonics – afroamerikanisches Englisch – lernte, durchlief meine ältere Schwester eine sehr harte Phase an der Universität. Sie hatte von Jura zu Psychologie gewechselt, woraufhin meine Eltern ihr sämtliche finanzielle Unterstützung strichen. Nach ihrer Auffassung hatte Barbara Jura oder Betriebswirtschaft zu studieren und nicht irgend so ein exzentrisches Zeug wie Seelenklempnerei. Um den finanziellen Ausfall wettzumachen, arbeitete sie als Barfrau in diversen zwielichtigen Kaschemmen und hatte in der Folge viel zu viele Liebesabenteuer, die ihre sowieso schon zerbrechliche emotionale Konstitution und ihr ebenso zerbrechliches Selbstwertgefühl beschädigten.

Ihre Mitgliedschaft in politisch suspekten Gruppierungen lassen eine tief greifende politische Neurose vermuten. Ihre Selbstzweifel als Ergebnis eines Übermaßes an ätherischer Introspektion wurden von einem politisch linksgerichteten Freund und Trust-Fund-Kid2 verschärft, der manisch-depressiv war und unter Schizophrenie litt. Nach sieben Monaten mit zu viel Sex, zu wenig Geld und zu viel Seelenklempnerei begab sich meine Schwester freiwillig in eine neurologische Heilanstalt, um eine ausgiebige Tiefenanalyse zu machen. Viele Jahre später, als ich mit ihr über diese dunkle Phase sprach, antwortete sie schlicht: »No risk, no fun.«

Erstaunlicherweise bemerkten meine Eltern schließlich ihr offensichtliches Leid und ihren verzweifelten Ruf nach Aufmerksamkeit und Bargeld. Auf ihre eigene seltsame Art liebten sie uns, wenn auch innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten. Sie hatten ganz eindeutig Mühe, ihre ehrlichsten Gefühle auszudrücken, und fürchteten zudem, andere könnten denken, ihre Tochter sei eine Verrückte. Was würden die Leute sagen?

Wie auch immer, jedenfalls planten wir, Barbara aus dem Irrenhaus zu befreien. Als wir dort eintrafen, ließ meine Schwester rohes Fleisch fressende Zombies wie ehrfürchtige Mennoniten auf einer Landwirtschaftsausstellung aussehen. Barbara, die unter dem Einfluss von schweren Beruhigungsmitteln stand und ein völlig aufgedunsenes Gesicht hatte, erzählte uns, sie würde dreimal am Tag mit Medikamenten vollgepumpt und hasse diesen Ort, habe aber nicht den Mut, um ihre Entlassung zu bitten. Sie hatte es einige Male versucht, mit dem einzigen Ergebnis, dass ihre Dosis an Antidepressiva deutlich erhöht wurde. Man überzeugte sie davon, dass es einer jahrelangen Analyse bedürfe, um sie von ihrem Ödipuskomplex zu befreien, und jede Unterbrechung der Behandlung in diesem Stadium einem Selbstmord gleichkäme. Nun, drei Tage vor unserem Besuch hatte sie tatsächlich versucht, wie ein Adler vom Balkon der dritten Etage zu fliegen, nachdem sie eine scheußliche pharmakologische Mischung ausgekotzt hatte.

Mein Vater hatte den Anstaltsleiter mit einem 100-Mark-Schein davon überzeugt, dass Barbara einen Spaziergang durch den angrenzenden Park machen und den Sonnenuntergang sehen wollte, und ich blieb im »Nervensanatorium« als eine Art Garantie für ihre Rückkehr.

Kurz bevor an diesem kalten Dezembersonntag die Nacht hereinbrach, war Barbara aus dem Krankenhaus entführt und ich musste bei den »Insassen« bleiben. Es dauerte fast drei Stunden, bis der leitende Psychiater begriff, dass Barbara möglicherweise nicht zurückkehren würde. Um Zeit zu gewinnen, erzählte ich ihm, wahrscheinlich seien mein Vater und Barbara zum Abendessen in ein nettes Restaurant gegangen, um sich eine Pause von dem drogenverseuchten Futter in seinem Schuppen zu gönnen.

Unterdessen nutzte ich meine Mußestunden, um mich mit meinen neuen Freunden bekannt zu machen. Mindestens jede dritte Person war auf jeden Fall geistig gesünder als ich. Sie waren auf Veranlassung ihrer Kinder, Eltern oder Ehepartner eingewiesen worden und zumeist aus Gründen, die mit Erbangelegenheiten, Unterhalt, Pflegekosten etc. zu tun hatten. Ausnahmsweise war ich ehrlich erschüttert. Angesichts der Unmengen an Medikamenten, die diese Leute mit dem Abendessen verabreicht bekamen, machte ich mir ein wenig Sorgen, dass dies die deutsche Version von Roach Motel – einer Klebefalle für Kakerlaken – sein könnte. Man kommt immer rein, aber nie mehr raus.

Um acht Uhr geleitete mich der Leiter dieses Lagers in eine schallgedämpfte, gepolsterte Zelle, um mir mitzuteilen, dass Barbara ihre Entlassungspapiere nicht unterschrieben habe und somit nicht nur für sich selbst, sondern auch für die ethischen Standards, die Legitimität der Verfahren und den Ruf der Institution eine ernsthafte Gefahr darstelle. Bis sie zurückkehre, um die Papiere zu unterschreiben, würde man mich daher als Geisel behalten. Ich war schockiert und tief erschrocken. Diese Typen wollten mich gegen Barbara eintauschen wie irgendwelche Gefangene der FARC, die verzweifelt auf einen Gefangenenaustausch an der panamaisch-kolumbianischen Grenze hoffen. »Wann fangen sie wohl damit an, mich mit diesen Pillen zwangszufüttern?«, dachte ich.

Nachdem sich der Leiter in sein Büro zurückgezogen hatte, wahrscheinlich um irgendwem Morphin in die Hauptschlagader zu spritzen oder irgendwelche Alzheimerpatienten zu quälen, unternahm ich meine erste Ardennenoffensive. Ich trommelte rund 15 meiner neuesten Freunde zusammen – zumindest diejenigen, deren Hirn noch nicht völlig von Drogen vernebelt war – und erklärte ihnen, was geschehen war. Ich war überrascht, wie mitfühlend und wütend diese vermeintlichen Irren waren, vor allem diejenigen, die auf Basis irgendwelcher betrügerischer Gerichtsprozesse eingewiesen worden waren, eingefädelt von habgierigen Verwandten.