Einmal rund ums Glück

Paige Toon

Einmal rund ums Glück

Roman

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Paige Toon

Paige Toon wurde 1975 geboren. Als Tochter eines Rennfahrers wuchs sie in Australien, England und Amerika auf. Sieben Jahre lang arbeitete sie als Redakteurin beim Magazin Heat. Paige Toon lebt mit ihrer Familie in London.

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Daisy ist einfach sitzengelassen worden. Und das nicht von irgendeinem gewöhnlichen Typen, nein …

In Daisy Vergangenheit gibt es ein Geheimnis, dass sie selbst nicht ihrer besten Freundin Holly anvertrauen kann. Mit Männer und ihrer eigenen Familie will sie nichts mehr zu tun haben. Aber irgendwie muss das Leben ja weitergehen und am besten kann sie über alles hinwegkommen, wenn sie so weit wie möglich von zu Hause fort ist. Als sich ihr die Chance bietet, die Welt zu sehen, ergreift sie die sofort. Sie packt ihre Koffer und wird Hostess bei der Formel 1. Jetzt gleicht ihr Leben einem Wirbelwind: Brasilien, Italien, Australien, Monaco. Aber nichts kann Daisy davor bewahren, ihr Herz wieder zu verlieren … dieses Mal an einen Mann, der bereit ist, sein Leben und seine Liebe für die Gefahr, die Geschwindigkeit und den großen Erfolg zu riskieren.

Ein rasanter Liebesroman – traumhaft!

Impressum

Covergestaltung: bürosüd°, München

Coverabbildung: bürosüd°, München

© Paige Toon, 2009

Published by Arrangement with SIMON & SCHUSTER UK LTD.,

London, England

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Chasing Daisy«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

 

Für die deutschsprachige Ausgabe

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-400849-3

Weil Du mich inspirierst, mir Mut machst,

an mich glaubst …

 

… ist dieses Buch für Dich, Dad

Prolog

»Du Sohn einer … Figlio di puttana!« Dieser Idiot im gelben Ferrari drängt mich einfach ab! »Ja, dich meine ich, du hast mich schon verstanden, du testa di cazzo!«, schreieich, als der Wagen in die Tankstelleneinfahrt an der anderen Straßenseite einbiegt. Die Fensterscheibe gleitet herunter.

»Was redest du für einen Schwachsinn, du dumme Kuh?«

Wie kann er es nur wagen! Um ein Haar hätte er mich und meinen Roller mit seinem Angeberschlitten plattgefahren.

»Du hast mich fast umgenietet, du coglione

Mit verärgerter Miene steigt der Typ aus dem Wagen. »Col – was?«

»Coglione! Penner!«, schreie ich ihn von der anderen Straßenseite aus an.

»Geht das auch auf Englisch?«, ruft er zurück.

»Nein, wir sind hier nämlich in BRASILIEN, cretino

»Ich bin Brasilianer! Und was du da redest, ist kein Brasilianisch!« Er wirft die Hände fast theatralisch in die Luft.

Na gut, das ist Italienisch, wenn er es so genau nimmt. Ich fluche immer auf Italienisch. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.

O nein, er kommt rüber.

»Du hast mich fast umgefahren, du Arsch!« Wütend funkel ich ihn an.

»Schon besser«, sagt er sarkastisch. »Jetzt verstehe ich wenigstens, was du da von dir gibst.«

Mir fällt auf, dass der Kerl nicht schlecht aussieht. Olivbraune Haut, schwarze Haare, dunkelbraune Augen … Lass dich nicht ablenken, Daisy. Vergiss nicht, was du gerade tun wolltest. Nämlich, mich mächtig aufregen.

»Du hast mich fast umgebracht!«

»Ich hab dich nicht mal berührt«, spottet er. »Außerdem hast du nicht geblinkt. Woher soll ich ahnen, dass du da rüber willst?« Er weist auf die Tankstelle.

»Und wie ich geblinkt habe! Va fanculo!«

»Was?«

»Va fanculo!«

»Hast du gerade sagst, ich soll mich verpissen?« Der Typ macht ein ungläubiges Gesicht.

»Aha, du kannst also doch Italienisch!«

»Eigentlich nicht, aber den Ausdruck kenn ich. Va se lixar!«

»Was heißt das?«

»Fick dich selbst!«, sagt er wütend und macht Anstalten, zu seinem Wagen zurückgehen.

»Fick dich selbst? Was Besseres fällt dir nicht ein?«

Er wirft einen Blick über die Schulter, dem ich entnehmen kann, dass er mich für ernsthaft gestört hält, und öffnet die Tür seines Ferraris.

»Hey!«, rufe ich. »Ich bin noch nicht fertig!«

»Ich aber«, verkündet der Ferrarifahrer.

»Komm sofort zurück und entschuldige dich bei mir!«

»Entschuldigen?« Er lacht. »Du musst dich bei mir entschuldigen. Du hast beinahe mein Auto zerkratzt.« Er steigt in seinen Schlitten und schlägt die Tür zu. »Frau am Steuer – Ungeheuer!«, ruft er durch das noch geöffnete Fenster.

»Unverschämtheit! Du, du, du STRONZO!« Übersetzt: Schweinehund. »Hoffentlich bleibst du mitten in der Pampa liegen, und sie klauen dir die Kiste unterm Arsch weg!«, schreie ich ihm nach, als ich merke, dass er seinen Ferrari nicht betankt hat. Aber er kann mich schon nicht mehr hören. Ist längst über alle Berge. Also, manche Leute … grrr!

Was für eine Unverschämtheit von ihm zu behaupten, ich könnte nicht fahren! Ich bin immer noch aufgebracht. Natürlich nicht erbost genug, um auf meinen Hotdog zu verzichten. Ich fahre hinüber zur Tankstelle und ignoriere dabei geflissentlich die Blicke der Zuschauer, die unseren Wortwechsel verfolgt haben.

Dieses dämliche Fünf-Sterne-Hotel, in dem ich wohne! Weil man sich dort einfach weigert, Junkfood auf die Speisekarte zu setzen, musste ich mir einen Roller vom Team leihen und mich heimlich verdrücken.

Unter normalen Umständen hätte ich mich nicht davonschleichen müssen, aber ich arbeite in der Gastronomie, und zwar beim Caterer einer Formel-1-Mannschaft, und da kommt selbstverständlich nichts Ungesundes auf den Tisch. Eigentlich sollte ich ein leuchtendes Vorbild sein, aber ich bin schließlich Amerikanerin, Herrgott nochmal. Wie soll ich ohne den Dreck leben?

Zumindest halbe Amerikanerin. Geboren bin ich in England. Der Rest von mir ist heißblütig italienisch. Das ist die Seite, die man hier gerade in Aktion erleben konnte.

Eine Viertelstunde später kehre ich ins Hotel zurück, wo meine Freundin und Kollegin Holly an der Eingangstreppe auf mich wartet. Sie zischt mir zu, ich solle mich beeilen.

»’tschuldigung!«, flüstere ich zurück. »Musste dringend was besorgen!«

»Egal.« Sie winkt mich zu sich.

Da sehe ich im Augenwinkel etwas Gelbes auf dem Parkplatz. Einen gelben Ferrari. O nein!

»Schnell!«, drängt Holly. Das Herz sackt mir in die Hose.

Ich wusste, dass der Typ mir irgendwie bekannt vorkam. Er ist Fahrer. Rennfahrer.

»An den Gerüchten ist nämlich doch was dran«, sagt Holly und schiebt mich erwartungsfroh in die Lobby.

In dem Augenblick sehe ich, wie der Ferrari-Macker mit unserem Teamchef zur Hotelbar geht.

»Luis Castro hat bei uns unterschrieben!«, quietscht Holly. Ich gehe hinter einer Topfpalme in Deckung.

Mist, verdammter. Kacke, Scheiße.

Jetzt hilft auch kein Italienisch mehr.

Kapitel 1

»Wag es nicht!«, warnt Holly, und ich widerstehe dem übermächtigen Drang, unter den nächsten Tisch zu kriechen.

Wir sind in Australien, in Melbourne. Es ist Saisonauftakt, und Luis Castro hat gerade den Gästebereich betreten. Ich hoffe verzweifelt, dass er in den vergangenen fünf Monaten vergessen hat, was zwischen uns vorgefallen ist, denn bis Anfang November, wenn es zum Rennen auf seiner Heimatstrecke wieder nach Brasilien geht, werden wir ständig miteinander zu tun haben.

Es gibt keinen Weg dran vorbei – irgendwann muss ich ihm gegenübertreten, aber das braucht doch nicht ausgerechnet jetzt zu sein. Bitte nicht jetzt!

»Daisy!«, dröhnt Frederick. »Kannst du etwas für mich erledigen?«

Mein Chef! Mein Retter! Ich danke dir viele tausendmal!

»Wie erleichtert du aussiehst«, bemerkt Holly und schneidet eine Grimasse, während ich in Richtung Küche davonhusche.

»Wo willst du hin?«, fragt Frederick verdutzt, als ich mich unter seinem gegen den Türrahmen gelehnten Arm hindurchducke.

»Nur hier rein«, erwidere ich schelmisch und mache eine präsentierende Handbewegung in Richtung Küche, die idealerweise außerhalb von Luis’ Blickfeld liegt.

Frederick sieht mich verständnislos an, spricht aber trotzdem weiter. »Catalina möchte Popcorn haben. So einen Mist gibt es bei uns nicht. Besorg ihr was an der nächsten Bude.« Er gibt mir Geld.

»Klar, Chef«, sage ich strahlend.

Er sieht mir fragend nach, während ich aus der Küche stürme und mit gesenktem Kopf den Gästebereich durchquere.

Catalina ist die Frau von Simon. Simon Andrews ist der oberste Chef, der Leiter des Rennstalls. Frederick – Frederick Vogel – ist mein direkter Vorgesetzter. Er ist der Chefkoch.

Frederick ist übrigens deutsch. Und Catalina ist Spanierin. Simon ist Engländer, und Holly, wo wir schon mal dabei sind, kommt aus Schottland. Internationale Besetzung bei uns, was?

Der australische Grand Prix findet im Albert Park statt. Gestern habe ich gesehen, wie ein Popcorn-Stand auf der anderen Seite des grün schimmernden Teichs aufgebaut wurde. Ich schnappe mir einen Roller und fahre los.

Es ist Freitag, noch zwei Tage bis zum Rennen, aber es sind bereits zahlreiche Zuschauer da, die das Freie Training verfolgen wollen. Ich fahre diesmal vorsichtig und atme die frische, sonnige Luft ein. Es ist Ende März. Im Gegensatz zu Europa und Amerika, wo jetzt alles langsam zu sprießen beginnt, sind wir hier in Australien mitten im Herbst. Fürs Wochenende wurde Regen vorausgesagt, doch im Moment ist der Himmel fast wolkenlos. Die Hochhäuser von Melbourne erheben sich in der Ferne, und hinter mir erstreckt sich das funkelnde, kühle blaue Meer.

Ich rieche den Popcorn-Stand, bevor ich ihn sehe. Das Aroma von Salz und Butter weht mir in einer leichten Brise entgegen. Hmm, Junkfood … Während der Verkäufer hinter der Theke die flockigen weißen Kügelchen in eine Tüte schaufelt, überlege ich, ob ich wohl auch ein bisschen für mich im Transportfach des Rollers unterbringen kann, komme jedoch zu dem Schluss, dass ich mir das nicht erlauben kann.

Ich bezahle das Popcorn und stopfe Fredericks Wechselgeld in die Hosentasche, dann schließe ich das Fach unter dem Sitz des Rollers auf. Mist, die Tüte ist bis zum Rand gefüllt, das Popcorn wird herausfallen. Ich muss das Papier oben irgendwie umknicken. Ich könnte auch nach einer zweiten Tüte fragen und sie darüberstülpen, oder … ich könnte einfach ein bisschen wegessen! Klar, das ist die einzige einleuchtende Lösung.

Ich lehne mich gegen den Roller und mampfe drauflos. Der Popcorn-Verkäufer beobachtet mich belustigt. He, was guckst du so blöd? Ich starre ihn so böse an, dass er den Blick abwendet, doch das Grinsen kann er sich nicht verkneifen. Ich stopfe mir die nächste Handvoll in den Mund. Das Popcorn ist so warm und so … so perfekt poppig. Wahrscheinlich habe ich jetzt genug gegessen. Höchstens noch ein ganz klein bisschen … Gut, das reicht. Schluss jetzt! Aus! Voller Bedauern falte ich die Tüte zu und verstaue sie unter dem Sitz, dann starte ich den Roller.

Wenn heute schon so viele Zuschauer hier sind, wird es am Tag des Rennens brechend voll sein, denke ich, während ich einer Gruppe Fußgänger ausweiche. Weiter vorn entdecke ich zwei Männer, die unsere Overalls tragen. Als ich vor einer der großen Tribünen abbiegen will, wird mir klar, dass es unsere Fahrer sind, und einer von ihnen ist Luis.

In der Kurve verliert mein Hinterrad den Halt auf dem Schotter und bricht seitlich aus. Der ganze Roller beginnt zu rutschen, und ich kann förmlich hören, wie die Zuschauer auf der halb gefüllten Tribüne alle gleichzeitig den Atem anhalten, während ich vor ihnen über den Asphalt schlittere.

»Boah!« Will Trust – der andere Fahrer unseres Teams – springt zur Seite. Luis bleibt stehen, leicht gebückt, als wolle er mich auffangen.

»O mein Gott!«, ruft eine Australierin, als der Roller direkt vor dem Fahrer liegen bliebt. »Sie hätte beinahe Luis Castro erwischt!«

Sie spricht seinen Namen »Luis« aus, nicht »Luisch«, wie es richtig wäre. Auch wenn ich den Spinner nicht leiden kann, stört es mich, wenn man seinen Namen nicht richtig ausspricht.

»Das ist mal was anderes, sonst fährt er nämlich gerne mich an«, gebe ich zurück und stehe auf.

Sofort wird mir klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die falsche Aussprache der Frau hat mich so abgelenkt, dass ich dummerweise unsere Auseinandersetzung an der Tankstelle erwähnt habe. Vielleicht hat Luis Castro ja nicht zugehört. Schnell klopfe ich mir den Staub von der Hose. Ich merke, dass sein Blick auf mir ruht.

»Du bist das«, sagt er.

Verdammt.

»Du bist das Mädchen auf dem Roller.«

»Ähm, jetzt nicht mehr«, versuche ich witzig zu sein und weise auf das umgekippte Fahrzeug. Ich bücke mich, um es hochzuheben.

»Warte, ich mache das.« Will Trust kommt zu mir und richtet den Roller wieder auf. »Alles in Ordnung?«, fragt er und sieht mich mit seinen klaren blauen Augen an.

Ich zerfließe fast vor Ehrfurcht. »Ja, sicher, alles klar«, erwidere ich und erröte. In Wirklichkeit ist gar nichts klar. Meine rechte Hand brennt wie der Teufel, weil ich mit ihr über den Schotter gerutscht bin, und ich habe ganz wackelige Knie.

»Lass mal sehen!« Will nimmt meine Hand in seine, biegt meine Finger mit dem Daumen zurück und streicht über meine Handfläche. Er beugt sich vor und begutachtet den Kratzer. Ich beobachte ihn und werde ganz unruhig dabei. Das hellblonde Haar fällt ihm in die Stirn. Ich spüre den unbändigen Drang, es ihm aus dem Gesicht zu streichen …

»Doch, klar bist du das«, wiederholt Luis.

Ist der immer noch da? Mist.

Ich schaue mich um und merke, dass sich ziemlich viele Menschen um uns versammelt haben, die mir zusehen und sich an meinem Missgeschick ergötzen. Zum Glück interessieren sie sich mehr für die Fahrer als für mich. Die Fahrer jedoch …

»Du bist das Mädchen von der Tankstelle, damals in Brasilien«, erinnert sich Luis.

Will lässt mich los und sieht uns fragend an. »Kennt ihr euch?«

Ich dehne meine Hand. Noch immer spüre ich seine Finger auf der Haut.

»Ja, sie ist mir letztes Jahr in São Paulo fast in den Ferrari gefahren«, sagt Luis.

»Ich bin dir in deinen Ferrari gefahren?« Empört komme ich wieder zur Besinnung. »Du hast mich fast umgebracht!«

»Ha!«, lacht er mir ins Gesicht. »Das ist ja albern. Außerdem kannst du nicht fahren. Damals hab ich gesagt: Frau am Steuer – Ungeheuer, und heute hast du’s aufs Neue bewiesen.«

»Du … du … du …« Nach Worten ringend, funkel ich ihn böse an.

»Heute bin ich aber kein coglione, oder?«

»Nein, aber du bist ein testa di cazzo«, murmel ich vor mich hin. Die Bedeutung ist dieselbe. Wörtlich übersetzt heißt es Sackgesicht. Ich grinse.

»Was hast du gerade gesagt?«, will Luis wissen. »Was hat sie gesagt?«, fragt er Will.

Will zuckt belustigt mit den Schultern und bückt sich, um den Staub vom Roller zu wischen. Mir fällt wieder ein, was gerade passiert ist.

»Ist aber kein Kratzer dran, oder?« Ich hocke mich neben Will und untersuche das Fahrzeug.

»Ist nicht so schlimm«, beruhigt er mich.

»Hoffentlich wirft Simon mich nicht raus …«

»Simon wird das gar nicht merken. Der hat viel zu viel um die Ohren.«

»Simon entgeht nichts«, wirft Luis hilfreich ein.

Will verdreht die Augen. Obwohl ich Angst habe, gefeuert zu werden, flattert mein Herz.

»Will, können wir jetzt endlich weiter, oder was?« mischt sich Luis wieder ein.

»Ja klar. Kommst du zurecht, ähm …« Er sucht nach dem Namen, der in goldenen Buchstaben auf mein weißes Teamshirt gestickt ist.

»Daisy«, stelle ich mich vor. »Ja, mach dir keine Sorgen, das geht schon.«

»Ich habe dich schon mal gesehen. Du bist eine von den Hostessen, stimmt’s?«, erkundigt er sich. »Du arbeitest im Service, oder?«

»Mein Gott, jetzt geht das los«, brummt Luis.

Will und ich sehen ihn fragend an.

»Wahrscheinlich mischt sie mir Gift ins Essen«, bemerkt er.

»Bilde dir bloß nichts ein«, bricht es aus mir heraus. »Der Aufwand wäre mir für dich echt zu groß.«

Ein Streckenposten kommt auf uns zu. Er ist so braungebrannt, dass er fast orange aussieht. »Alles in Ordnung bei Ihnen, Miss?«, fragt er mit australischem Akzent.

»Dann gehen wir jetzt mal«, sagt Will und zwinkert mir zu. Ich merke, dass mein Gesicht ganz heiß wird, und wende mich deshalb schnell dem Streckenposten zu.

Der orangene Kerl stellt nach kurzer Zeit fest, dass ich weder eine Gefahr für mich noch für andere darstelle, und entlässt mich. Vorsichtig und ohne Gas zu geben, rolle ich zurück in unseren Gästebereich. Ich war Ewigkeiten weg.

Ich stelle den Roller ab, hole die Tüte heraus, die nun nicht mehr voller Popcorn ist, gehe hinein und suche Catalina. Ich schaue mich im Raum um. Obwohl heute erst Freitag ist, sind doch einige Leute da. An den Tischen sitzen Gäste: Sponsoren, Frauen oder Freundinnen der Fahrer und hin und wieder ein Bekannter oder Verwandter eines Teammitglieds. Größere Rennställe laden auch gerne mal Prominente ein, aber Simon kennt scheinbar keine berühmten Leute.

Ah, da ist sie ja.

Catalina sitzt am Tisch neben einem stark gebräunten Hungerhaken mit schulterlangen Locken. Die beiden haben Ähnlichkeit miteinander, und beim Näherkommen höre ich, dass sie Spanisch sprechen. Ich frage mich, ob sie Schwestern sind. Holly weiß es bestimmt. Holly weiß alles.

»Hallo, Catalina! Frederick sagt, du wolltest das hier?« Ich halte ihr die Tüte hin.

»Was ist das?« Ihr Tonfall ist so erbarmungslos wie ihr Blick. »Ah, Popcorn«, sagt sie, als sie die zerknüllte Tüte erblickt. »Wo ist denn der Rest?«, will sie wissen.

»Ähm, der passte nicht in mein –«

»Hast du das etwa gegessen?«

»Es passte nicht in mein –«

»Leg’s einfach hin«, unterbricht sie mich schnippisch und weist vor sich auf den Tisch.

Die Verpflegung bei uns ist hervorragend, deshalb verstehe ich eh nicht so recht, warum sie Popcorn haben will. Obwohl, das stimmt nicht. Popcorn ist einfach nicht zu schlagen. Aber ich würde es hinterher nicht auf der Toilette wieder rauswürgen, so wie sie es angeblich tut, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt.

Ich kehre in die Küche zurück.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, ruft Frederick.

»Ich hatte einen kleinen Unfall«, erkläre ich.

»Du riechst aber, als hättest du was gegessen …« Er beugt sich vor und zieht die Luft geräuschvoll durch seine extrem großen Nasenlöcher ein. »Popcorn!«

Frederick sieht aus wie ein Gangster im Comic: große Nase, fettiges schwarzes Haar. Er ist sehr lang und unglaublich sehnig. Ich merke, dass er mich argwöhnisch beäugt.

»Ach, wirklich?«, sage ich unschuldig. Ärgerlicherweise hat Frederick einen hervorragenden Geruchssinn. Für einen Koch mag das wohl nützlich sein, aber in Momenten wie diesem …

»Was für einen Unfall?«, will er wissen.

Beklommen führe ich ihn nach draußen zum Roller.

»Könnte schlimmer sein«, knurrt er, nachdem er den Schaden begutachtet hat.

»Was ist passiert?« Holly kommt besorgt um die Ecke, wo wir neben dem Roller knien und die Kratzer untersuchen.

Ich erkläre es ihr, und sie reißt die Augen weit auf, als sie hört, wer mein Publikum war.

»Gut, das reicht«, unterbricht Frederick uns. »Zurück an die Arbeit! Drei Sack Kartoffeln warten darauf, von dir geschält zu werden, Daisy.«

Ich sehe, dass Holly Gebäck dekorieren darf. Ich bekomme immer die langweiligen Aufgaben.

»He«, sagt Holly später, als Frederick kurz aus der Küche verschwindet. In den letzten zehn Minuten habe ich geistesabwesend zugesehen, wie sie einen Biskuitteig in große Würfel geschnitten und diese mit Schokoladenguss zugekleistert hat. »Ein paar von den Jungs wollen heute Abend auf die Piste gehen. Hast du auch Lust?«

»Klar. Wohin?«

»Nach St Kilda«, sagt Holly und taucht einen schokoladenüberzogenen Würfel in Kokosflocken.

»Was machst du da eigentlich?« Ich bin neugierig geworden.

»Was denn?«

»Mit dem Kuchen.« Ich weise mit dem Kinn auf die pelzig wirkenden Würfel.

»Das sind Lamingtons«, erklärt sie. »Eine australische Spezialität.«

Wir orientieren uns bei unserem Angebot immer an dem Land, in dem wir gerade sind, was manchmal sehr spezielle Kombinationen ergibt.

»Also wegen heute Abend …« Sie lehnt sich gegen die Arbeitsplatte und wischt sich die Kokosflocken von den Händen.

»Wo ist denn St Kilda?«, frage ich.

»Das ist ein total angesagter Stadtteil auf der anderen Seite vom Park.«

»Kommen wir denn rechtzeitig hier weg?«

»Das müsste eigentlich klappen. Wir hatten heute Frühschicht, und das halbe Team muss heute Abend eh zu dieser Sponsorenveranstaltung, deshalb dürfte nach halb neun keiner mehr hier sein. Ich brauch dringend was zu trinken.« Holly zurrt ihren gebleichten blonden Pferdeschwanz fester.

»Ich könnte auch einen Drink vertragen. Besonders nach der Sache heute …«

»Das musst du mir noch mal in Ruhe erzählen«, sagt sie. »Aber nicht jetzt«, fügt sie hinzu, als Frederick zurückkommt. Wir senken die Köpfe und arbeiten weiter.

 

»Du hast ihn schon wieder als Idiot beschimpft? In Gegenwart von Will?« Mit aufgerissenen Augen schlägt Holly die Hand vor den Mund und lacht dann durch die Finger.

Die Luft ist feuchtschwül, wir sitzen vor einem Pub in St Kilda. Von der Rennstrecke sind wir zu Fuß hergekommen, über die Fitzroy Street mit ihren Cafés, Restaurants und Bars, deren lärmende Gäste sogar auf der Straße stehen.

»Er hat es verdient«, sage ich flapsig.

»Wer hat was verdient?« Pete, einer unserer Mechaniker, lässt sich auf einen gerade frei gewordenen Stuhl neben uns fallen. Ein paar von den »Jungs«, wie Holly sie immer nennt, sind zu uns gestoßen. Es ist zehn Uhr abends, und sie sind gerade erst von der Rennstrecke gekommen, schwören aber, noch vor zwölf zurück ins Hotel zu gehen. Als sie das letzte Mal behaupteten, früh ins Bett gehen zu wollen – das war zum Saisonende in Shanghai –, trieben sie sich bis drei Uhr früh in der Stadt herum. Als Simon Wind davon bekam, war er nicht wirklich begeistert.

»Sie hat sich heute mit einem Roller direkt vor Will und Luis auf die Nase gelegt«, erklärt Holly.

»Holly!«, mahne ich.

»Früher oder später werden sie es ja doch erfahren«, sagt sie und kichert in Richtung Pete.

»Ach, davon hab ich schon gehört«, sagt er wegwerfend.

»Das hast du schon gehört?«, frage ich gedemütigt.

»Ja, ja, Luis kam damit an. Er meinte, du hättest ihm fast die Beine gebrochen.«

»Ihm die Beine gebrochen?«, explodiere ich. Die Demütigung verwandelt sich augenblicklich in Verärgerung. »Figlio di puttana!«

»Hurensohn«, übersetzt Holly für Pete. Sie kennt genauso viele italienische Schimpfwörter wie ich. Einer der unbestreitbaren Vorteile, wenn man mit mir arbeitet.

»Wortwörtlich heißt es ›Sohn einer Hure‹«, erkläre ich pedantisch und schimpfte dann weiter. »Das ist doch echt die Höhe!«

Pete lacht nur, hebt die Augenbrauen und trinkt einen Schluck von seinem Bier.

»Nimm’s nicht so schwer«, beruhigt mich Holly. »Bis morgen haben das alle vergessen.«

»Quiiiiietsch … Wumm!« Ein weiterer Mechaniker zieht einen Stuhl an unseren Tisch heran und ahmt dabei schrille Unfallgeräusche nach. »Super Auftritt, Daisy«, sagt er lachend.

»Vielen Dank auch, Dan. Vielen Dank für deine Unterstützung«, gebe ich mürrisch zurück.

Im Vergleich zu Pete, der mit seinen ein Meter neunzig ein Riese ist, wirkt Dan ziemlich klein, aber beide sind breitschultrig und muskulös, anders als Luis und Will, die beide um die eins achtzig sind und einen schlanken Körper haben. Für so einen Formel-1-Wagen muss man schmal und fit sein.

Zwei weitere Mechaniker sausen am Tisch vorbei und tun so, als würden sie mit quietschenden Reifen zum Stehen kommen.

»Habt ihr nichts Besseres zu tun?«, rufe ich ihnen hinterher.

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und beobachte, wie eine Gruppe hübscher Mädchen von achtzehn, neunzehn Jahren vorbeistolziert. Ich komme mir alt vor, dabei bin ich erst sechsundzwanzig. Und ich weiß, dass ich älter wirke. Die Leute sagen immer, das liege an meiner Ausstrahlung. Ich denke, es liegt an meinen hohen Absätzen. Ich bin eins fünfundsiebzig groß, verlasse das Haus aber nur auf mindestens sieben Zentimeter hohen Absätzen. Zumindest in Amerika war das immer so. Seit ich diesen Job habe, trage ich auch mal flache Schuhe. Ich bin nämlich den ganzen Tag auf den Beinen und kein besonders großer Fan von Folter. Außerdem ist Holly mit ihren eins fünfundfünfzig ziemlich klein, und ich sehe neben ihr sowieso schon wie ein Riese aus.

»Super!«, unterbricht Dan meine Gedanken. Er ist mit seinem Handy beschäftigt. »Luis kommt gleich vorbei. Er hatte keinen Bock mehr auf den Sponsorenabend.«

Ach, du lieber Himmel! Bis jetzt hatte ich ja meinen Spaß. Nun müssen wir uns einen neuen Laden suchen, dabei ist es überall schon total voll.

»Er bleibt also seinem Ruf treu«, bemerkt Holly.

Sie spielt darauf an, dass Luis ein bekannter Partylöwe und Weiberheld ist. Es ist sein erstes Jahr in der Formel 1. Davor fuhr er in der amerikanischen IRL, der Indy Racing League, und gewann dreimal hintereinander den berühmten Indy 500, was auch der Grund dafür ist, dass er mir entfernt bekannt vorkam – nicht dass ich mich früher je für Autorennen interessiert hätte. Eigentlich waren alle der Meinung, dass Luis sich ein bisschen zusammenreißen und bedeckt halten müsste, wenn er für den »Seriösen Simon« arbeitet, aber offensichtlich pfeift er auf solche Erwartungen.

»Ich dachte, ihr wollt heute früh ins Bett?«, sage ich.

»Er ist der Fahrer.« Dan zuckt mit den Schultern. »Ich kann ihn nicht hängenlassen. Noch ein Glas?«

»Ähm …« Ich will mich gerade entschuldigen und mit Holly weiterziehen, da kommt sie mir zuvor.

»Klar!« Sie hebt ihr Glas mit dem Rest Bier. »Noch mal dasselbe!«

»Was soll das?«, beschwere ich mich bei ihr, kaum dass Dan und Pete die Getränke holen gegangen sind. »Ich will nicht hier bleiben, wenn der Blödmann gleich kommt.«

»Ach, hör auf, Daisy, ist doch nett hier. Vielleicht ist es sogar mal ganz gut, wenn du Luis privat kennenlernst.«

»Ich will ihn aber nicht privat kennenlernen! Er ist ein Arsch. Ich will woanders hin.«

»Bitte, nur ein Bier! Vielleicht kommt Will ja mit?«, überlegt sie.

Als ich Wills Namen höre, durchfährt mich ein sonderbarer Schauer.

»Glaube ich nicht«, erwidere ich, bekomme allerdings leise Zweifel. »Der ist doch viel zu pflichtbewusst, um am Abend vor dem Qualifying was trinken zu gehen.«

»Vielleicht. Aber könnte auch sein, dass er zur Abwechslung mal eine Auszeit nimmt. Ein paar Bier mit den Jungs trinken, verstehst du? Ist doch gut fürs Zusammengehörigkeitsgefühl …«

Ein winziger Hoffnungsschimmer flackert in mir auf. Dan bringt uns die Gläser und gesellt sich dann zu Pete und den anderen Mechanikern auf den Bürgersteig.

Unsere bisherigen Fahrer haben beide Ende letzten Jahres aufgehört, so dass wir diese Saison mit zwei Neulingen begonnen haben, was ungewöhnlich für einen Rennstall ist. Anders als Luis fährt Will schon seit zwei Jahren in der Königsklasse. Die Engländer sind total aus dem Häuschen wegen ihm, weil er so jung ist, gut aussieht und auch noch Talent hat. Es war ein genialer Schachzug von Simon, Will für unser Team zu gewinnen. Bis jetzt habe ich ihn ein paarmal an der Rennstrecke gesehen, war ihm aber noch nie richtig nah. Bis gestern.

»Hast du ihn schon mal im Hauptquartier gesehen?«, frage ich Holly.

»Wen?«, fragt sie.

»Will.«

»Ach so. Ja, hin und wieder. Er war ein paarmal da, um am Rennsimulator zu üben.«

»Am Rennsimulator?«

»Der sieht aus wie eine Playstation, nur hat er die Originalgröße des Cockpits. Da drin prägen die Fahrer sich die jeweilige Streckenführung ein. Ist wirklich cool. Pete hat mich vor ein paar Wochen mal fahren lassen.«

»Ach so.«

»Warum fragst du nach Will?«, kommt sie auf meine ursprüngliche Frage zurück.

»Och, nur so …«

»Du findest ihn gut, oder?« Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Nein!«, leugne ich.

»Natürlich! Du wirst ganz rot!«

»Werde ich nicht.«

»Doch! Ich dachte, du wärst fertig mit Männern?«

»Bin ich auch«, antworte ich.

»Verrätst du mir irgendwann mal den Grund?«

Ich schüttel den Kopf und trinke einen Schluck.

»Warum nicht?«, fragt sie mich zum ungefähr tausendsten Mal. Kommt mir jedenfalls so vor.

»Geht nicht«, erwidere ich.

»Warum nicht? Hast du Angst, dein Ex spürt dich auf und tritt dir in den Hintern?«

Ich schweige.

Sie macht ein betroffenes Gesicht. »Das ist doch nicht wahr, oder? Du liebe Güte, Daisy, wenn das stimmt, tut mir das so leid! Ich würde mich niemals drüber lustig machen, wenn –«

»Ich bin kein Opfer häuslicher Gewalt«, unterbreche ich sie verdrossen. »Ich will nur einfach nicht darüber sprechen.«

»Hm. Gut.« Sie ist verstimmt und fügt hinzu: »Na, Will hat ja eh eine Freundin, der ist sowieso tabu.«

»Er hat eine Freundin?« Ich versuche locker zu klingen, doch meine Enttäuschung ist riesengroß.

»Na klar! Wieso weißt du das nicht? Die beiden stehen doch ständig in allen Zeitschriften.«

»Ich lese keine Zeitschriften.«

»Was? Wie kann man so was nicht mitbekommen?«

»Wieso? Was ist denn das Besondere an denen?«

»Sie ist seine Sandkastenliebe.«

Mein Mut sinkt. Holly erzählt weiter, unempfänglich für meine Pein. »Will und seine Freundin stammen aus demselben Ort. Die Presse schreibt doch die ganze Zeit, dass er mit ihr durch Dick und Dünn geht und bei den ganzen Boxenludern nie in Versuchung kommt.«

Das wird ja immer besser …

»Sie arbeitet für eine Wohltätigkeitsorganisation, die sich um Kinder kümmert.«

»Denkst du dir das alles aus?« Ungläubig schaue ich Holly an.

Sie lacht. »Nein, das ist wahr. Tut mir leid.«

»Egal, ich bin ja fertig mit den Männern, wie du schon sagtest.«

Und das stimmt wirklich. Mir wurde in Amerika das Herz gebrochen, und ich hatte das Gefühl, das verdammte Land verlassen zu müssen, weil ich nirgends hingehen konnte, ohne den Mistkerl zu treffen.

Zum wiederholten Male: Ich komme gut allein zurecht. Doch, ich komme wirklich gut alleine klar.

Und mit Sicherheit werde ich niemanden anschmachten, der eine Freundin hat. Das ist nicht mein Stil.

Ich sehe, dass Holly ihr Lipgloss vom Bierglas wischt und es auf ihre Lippen zurücktupft.

»Für den ganz besonderen Look«, necke ich sie.

»Du bist ganz schön scharfzüngig für eine Amerikanerin, weißt du das?«, gibt sie zurück, während Pete sich wieder auf einen Stuhl am Tisch fallen lässt.

»Ich bin gebürtige Engländerin«, erinnere ich Holly.

Meine Mutter ist Italienerin, mein Vater Brite, doch als ich sechs Jahre alt war, zog die ganze Familie nach Amerika. Dort habe ich fast zwanzig Jahre gelebt, dann bin ich nach England zurückgekehrt und habe einen Job als Kellnerin in der Cateringfirma von Frederick und seiner Frau Ingrid in London angenommen. Im letzten Oktober fragte mich Frederick, ob ich nicht Lust hätte, als Hostess zu den letzten drei Formel-1-Rennen der Saison mitzukommen. Als Hostess sollte ich im Service arbeiten und dafür verantwortlich sein, dass das Team und die Gäste gut versorgt sind, aber ich helfe auch in der Küche aus, wenn es nötig ist. Solche Gelegenheiten – die Welt zu sehen und dafür auch noch Geld zu bekommen – bieten sich nicht alle Tage, deshalb sagte ich natürlich zu.

Holly und ich mochten uns auf Anhieb. Außerhalb der Saison arbeitet sie in der Kantine des Firmenhauptsitzes in der englischen Grafschaft Berkshire. Es nennt sich zwar Kantine, ist aber tatsächlich eher so was wie ein Drei-Sterne-Restaurant. Holly und ich haben uns letztes Jahr in Japan kennengelernt, wo wir eines Abends in der Hotelbar mehrere Krüge Sake vernichteten. Die Krüge sind zwar klein, aber dieser Reiswein hat es in sich. Um zehn Uhr waren wir total knülle, und was wir uns eine Woche später in China zu Gemüte führten, möchte ich hier lieber nicht ausbreiten.

Nach Brasilien bot Frederick mir an, ein Jahr zu bleiben und eine komplette Saison mitzureisen. Keine Ahnung, was über ihn gekommen war, aber: Yeah!

Seit Ewigkeiten nestelt Holly jetzt schon in ihrer Tasche herum und zieht jetzt endlich eine Tube rosa Lipgloss hervor, tupft sich etwas auf die Lippen und wirft mir einen unverhohlen selbstgefälligen Blick zu.

Ehrlich gesagt, könnte ich das auch gebrauchen. Nur für den Fall, dass Will sich dazu herablässt, uns Gesellschaft zu leisten. Ach, was denke ich da? Nein, nein, NEIN!

Egal, was soll’s! »Darf ich auch mal?« Ich habe nur sehr wenig Willenskraft. Ich tupfe mir auch ein wenig Gloss auf die Lippen, dann streiche ich das lange dunkle Haar hinter die Ohren und warte.

Nur wenige Minuten später hält ein Taxi vor dem Pub, und zwei Damenfüße in High Heels steigen anmutig heraus.

Ich erkenne die Frau. Catalina hat sich im Gästebereich mit ihr unterhalten … War das nicht ihre Schwester?

Nach ihr steigt Luis aus dem Wagen. Ich recke den Hals, kann aber keinen Will entdecken. Im ersten Moment bin ich enttäuscht, dann rede ich mir ein, es sei besser so.

»Uiuiui«, höre ich ein paar Typen hinter mir johlen. Luis grinst sie an.

»Wer ist das da bei ihm?«, frage ich Holly.

»Alberta, Catalinas Cousine«, gibt sie zurück.

Schwester … Cousine … ist doch fast dasselbe.

»Er arbeitet sich in die Familie vom Chef vor, was?«, bemerke ich ironisch und sehe, wie Luis der Frau die Hand auf den unteren Rücken legt und sie durch die Menge lotst.

»Sieht so aus«, erwidert Holly.

Er erreicht unsere kleine Gruppe und wird von den Mechanikern begeistert begrüßt, die größtenteils hinter unserem Tisch auf dem Bürgersteig stehen. Holly und ich bleiben sitzen, aber Pete erhebt sich, beugt sich vor und klopft Luis auf den Rücken. Holly hebt die Hand lächelnd zu einem angedeuteten Gruß, nur ich ertrage es nicht, ihn anzusehen, und tue stattdessen so, als würde ich eine Fliege aus meinem Weinglas fischen.

»Hallo!«, höre ich ihn demonstrativ laut in meine Richtung grüßen.

»Oh, hi«, entgegne ich, als würde ich ihn erst jetzt bemerken.

»In letzter Zeit noch einen Roller zu Schrott gefahren?«

Die Kerle um ihn herum brechen in lautes Lachen aus, ein paar ahmen Unfallgeräusche nach.

»Ha ha«, sage ich und wende mich wieder dem imaginären Insekt in meinem Glas zu.

Einer der Männer hebt einen Stuhl über die Köpfe der Leute am Nebentisch, stellt ihn neben mich und macht eine einladende Handbewegung in Richtung von Alberta. Umgehend bietet Pete seinen Stuhl Luis an.

»Nee, schon gut«, sagt Luis. »Ich stehe genauso gern.«

»Schon in Ordnung, ich geh an die Theke«, sagt Pete. »Was möchtest du trinken?«

Luis zieht ein Bündel Geldscheine hervor. »Die Runde geht auf mich«, sagt er.

»Das ist viel zu viel, Junge!« Pete schiebt Luis’ Geld zur Seite.

»Nein, nimm es!«, beharrt Luis. »Steckt es in das – wie nennt ihr das? – Sparschwein.«

Pete beäugt das Geld skeptisch.

»Nimm es!« Luis drückt es ihm in die Hand.

»Willst du eine Flasche Schampus?«, fragt Pete ihn.

»Nein, für mich bitte ein Bier.«

»Den Champagner hebt er sich fürs Rennen auf …«, kommentiert Alberta mit rauer Stimme.

Luis lacht nur. »Möchtest du welchen?«, fragt er sie.

»Hätte nichts dagegen«, erwidert sie kokett.

»Na, dann, Pete, hol eine Flasche. Brauchst du noch mehr?« Er greift nach seiner Brieftasche.

»Nein, auf keinen Fall!«, wehrt Pete hastig ab und hält die Geldscheine hoch. »Das ist genug für ein ganzes Haus! Mädels? Noch mal dasselbe?«

»Ich nicht, vielen Da––«

»Wir helfen gerne beim Schampus!«, ruft Holly. »Daisy, jetzt sei nicht so ein Spielverderber«, flüstert sie mir zu, als Pete verschwunden ist.

»Und, hat Frederick dir heute Ausgang gegeben?« Luis schaut mich direkt an.

Ich nicke.

Ich spüre, wie Albertas schokoladenbraune Augen auf mir ruhen, und bin überrascht, wie kalt ihr Blick ist, wo die Farbe ihrer Pupillen doch so warm ist. Bei ihrer Schwester ist das genauso. Cousine, meine ich. Egal. Die dämlichen Hühner sind verwandt, mehr muss ich nicht wissen.

»Hab gehört, er soll ein richtiger Schleifer sein …«, bemerkt Luis.

Ich antworte nicht.

»Ich bin Holly!« Holly macht der unangenehmen Situation ein Ende und gibt erst Alberta, dann Luis die Hand.

»Arbeitest du mit ihr zusammen?«, fragt Luis und nickt in meine Richtung.

»Ja, als Hostess.« Mit einem warmherzigen Lächeln unterbindet Holly jeglichen weiteren Kommentar, den Luis mit Sicherheit gerade abgeben wollte. »Wie war die Sponsorenveranstaltung?«, fragt sie in einem Tonfall, der vor Freundlichkeit nur so überschäumt. Ich habe keine Ahnung, wie sie das fertigbringt.

»Langweilig«, sagt Luis.

»Ah, vielen Dank.« Alberta tut, als sei sie beleidigt.

»Anwesende Personen natürlich ausgenommen.«

Ich will gerade den Finger in den Hals stecken und würgen, als ich merke, dass sie die Hand auf seinem Bein hat. Ich bin sprachlos.

Pete kehrt mit einem Tablett voll mit Bier für die Männer zurück, außerdem stehen Champagner, Gläser und ein Eiskühler darauf. Holly und ich helfen ihm, alles abzuladen, damit er das leere Tablett zurückbringen kann.

Ich höre den Korken ploppen, und Luis füllt den Champagner geschickt in drei Gläser, die er uns nacheinander reicht.

»Nein, danke«, sage ich und befingere den Stiel meines Weinglases. Da müssen doch noch ein paar Schluck Shiraz drin sein.

»Lass bloß nichts verkommen!«, sagt Luis.

»Ich trinke deinen, Daisy«, erbietet sich Holly, und ich schiebe ihr das Glas über den Tisch zu.

»Es ist genug für alle da.« Luis zieht das Glas wieder zurück und wendet sich an Alberta.

Ich werfe ihm einen derart angeekelten Blick zu, dass er mit Sicherheit spürt, wie sich meine Augen in seinen Schädel bohren. Dann schaue ich unwillkürlich nach unten und kann beobachten, wie Albertas Hand in die Nähe von Luis’ Schritt gleitet. Dieses verdorbene Aas! Schockiert schaue ich Holly an. Kurz darauf kratzt ein Stuhl über die Pflastersteine, und als ich mich umdrehe, steht Luis auf.

»Wo willst du hin?«, fragt Alberta, die Stirn verärgert gerunzelt.

»Auf die Toilette«, erwidert Luis.

»Dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden«, sagt sie einschmeichelnd, und ich fühle mich so überflüssig wie die Fliege in meinem Glas.

»Ich muss mal pinkeln«, sagt Luis mit Nachdruck und unterbindet damit jegliches Vorhaben, das Alberta für einen gemeinsamen Ausflug zum Urinal geplant haben mag. Sie lässt sich wieder auf den Stuhl fallen und sieht ihm nach.

»Warst du schon mal bei einem Grand Prix?«, wechselt Holly höflich das Thema.

»Natürlich«, antwortet Alberta abweisend.

»Siehst du dir gerne Autorennen an?«

»Deshalb bin ich nicht hier.«

»Aha? Weshalb denn dann?«

»Wegen dem Spaß! Dem Glamour!« Sie streckt die Arme aus, eine übertriebene Geste.

Glamour? Ich verzichte darauf, sie auf den besoffenen Jugendlichen hinzuweisen, der gerade in den Rinnstein kotzt.

Alberta trinkt einen großen Schluck Champagner und greift nach der Flasche.

»Warte, das mache ich«, erbietet sich Holly und bringt ihre Kellnerfähigkeiten zur Anwendung. Alberta nimmt das nachgefüllte Glas ohne jeden Dank entgegen und setzt sich wieder. Sie schlägt die Beine übereinander, so dass ihr Minirock noch höher rutscht.

Gelangweilt wende ich den Blick ab, unfähig, mich wie Holly auf das Spiel einzulassen. Da sehe ich, dass Luis wieder nach draußen kommt. Alberta richtet sich auf dem Stuhl auf und ist sichtbar enttäuscht, als er stehen bleibt und sich mit den Mechanikern unterhält. Ich weiß, wie sie sich fühlt. Ich würde alles dafür geben, mit Holly abzulästern, statt vor diesem Prototyp einer Tussi jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.

»Bist du schon lange Catalinas Cousine?«, fragt Holly voller Unschuld.

Ich sehe sie an und breche in Lachen aus. Ihr wird klar, was sie gerade gesagt hat, und sie wiehert hysterisch mit.

»Ich hab zu viel getrunken!«, kreischt sie und hält mit der einen Hand das Champagnerglas, mit der anderen das Bierglas hoch.

Alberta starrt uns beide böse an, steht auf, schnappt sich die Champagnerflasche aus dem Eiskühler und gesellt sich zu Luis.

»Komm, Holly, können wir nicht irgendwo anders hingehen?«

»Ja, okay«, erklärt sie sich einverstanden, trinkt den Rest des Biers, kippt den Champagner hinterher, und steht auf.

Wir schlängeln uns durch bis zur Straße, schieben uns an den Nachtschwärmern vorbei, die sofort auf den Tisch zustürzen, um unsere frei gewordenen Stühle in Beschlag zu nehmen.

»Wir sind weg! Bis dann, Jungs!«, ruft Holly den Mechanikern zu.

»Weicheier!«, gibt Pete zurück.

»Wir gehen nicht ins Hotel, wir gehen feiern, du Looser!«, ruft Holly, und ich zerre an ihrem Arm und versuche lachend den schwarzäugigen Blick von Luis zu ignorieren, als wir in der Menge verschwinden.

Kapitel 2

»Ich fühle mich, als hätte sich ein Stachelschwein auf meinen Augen gewälzt«, stöhnt Holly.

»Ich fühle mich, als hätte ein Stachelschwein mein Augenlid hochgezogen und mir eins von diesen piksenden Dingern ins Auge gestochen«, gebe ich zurück.

»Ich fühle mich, als hätte ein Stachelschwein mein Augenlid hochgezogen und fünf von seinen STACHELN, so heißen die Dinger nämlich, in mein Auge ge…«

»Mädels!«, schimpft Frederick.

Sofort verstummen wir. Wir hatten gestern Abend so einen Spaß – da lohnen sich die Kopfschmerzen. Wir haben zwei Mädels kennengelernt, die für ein anderes Team arbeiten, und die beiden haben uns überredet, mit ihnen in der klapprigen kleinen Achterbahn im Luna Park zu fahren, St Kildas Vergnügungspark direkt am Meer. Es war echt aufregend – ich hatte Angst, wir würden von den Schienen fliegen –, aber es hat verdammt viel Spaß gemacht. Dann wollten die Mädels an den Strand und schwimmen gehen, aber Holly und ich fanden, es sei besser, ins Bett zu gehen, da wir sowieso nur drei Stunden Schlaf bekommen würden.

Jetzt zeigt die Uhr absurde fünf Uhr morgens an, und wir sind schon an der Rennstrecke und bereiten das Essen für die Tageskarte vor. Holly mischt Müsli mit verschiedenen Obstsorten und Nüssen, während ich das Fett vom Schinken schneide. Ich habe ja gesagt, ich bekomme immer die miesen Aufgaben.

»Wie es Luis heute Morgen wohl geht«, überlege ich laut, als Frederick uns einen Moment lang allein lässt, um zwei andere Servicemitarbeiter zu schikanieren, ein Ehepaar aus Deutschland namens Klaus und Gertrude. Die beiden sind echt komisch, wenn man sich mit ihnen unterhält, aber erschreckend effizient beim Arbeiten.

»Machst du dir jetzt schon Sorgen um Luis’ Wohlergehen?« Holly sieht mich mit erhobener Augenbraue an.

»Nein«, erwidere ich genervt.

»Ich nehme an, er fühlt sich wie der King nach seiner Nummer gestern Nacht«, meint Holly.

»Glaubst du, sie haben es getan?« Ich bemühe mich, locker zu klingen.

»Ich weiß, dass sie es getan haben«, sagt sie unheilvoll. »Um drei Uhr morgens kam Alberta aus Luis’ Zimmer und sah aus wie eine Katze, die gerade eine Maus gefressen hat.«

»Woher weißt du so was bloß immer?« Ehrfürchtig schüttel ich den Kopf.

Holly lächelt geheimnisvoll. »Ich gebe meine Quellen nie preis. Auf jeden Fall wird Luis großen Ärger mit Simon bekommen, wenn er heute beim Qualifying nicht alles auf eine Karte setzt.«

»Seid ihr immer noch nicht fertig?«, fährt Frederick uns an, der nach dem Rechten sieht.

»Doch, Chef«, rufen wir im Chor.

»Dann ab nach draußen zum Bedienen, aber dalli!«

Zehn Minuten später reiße ich mich heldenhaft zusammen, damit mir vom Geruch des gebratenen Specks nicht übel wird. Da kommt ein zerzauster Luis durch die Tür in den Gästebereich. Er ist unrasiert und trägt eine Sonnenbrille, dabei weiß jeder, dass Simon von seinen Fahrern verlangt, gepflegt herumzulaufen.

Luis steuert direkt auf uns zu.

»Was kann ich für dich tun?«, flötet Holly ihn an.

»Nur einen Kaffee. Einen starken«, sagt er.

»Letzte Nacht erfolgreich gewesen, hm?« Ich werfe ihm einen kühlen Blick zu.

»Du hast ein dermaßen freches Mundwerk«, erwidert er nicht gerade erfreut.

Ich muss vorsichtig sein. Eigentlich darf ich mit einem Fahrer nicht so sprechen, doch wenn es Luis ist, kann ich einfach nicht anders.

»Du siehst auch nicht gerade frisch aus«, fügt er hinzu.

»Ah, vielen Dank auch, der Herr. Du weißt anscheinend, wie man eine Frau glücklich macht.«

»Gestern Nacht wurde mir das jedenfalls versichert.«

Mit offenem Mund starre ich ihn an. Er nimmt seinen Kaffee entgegen und schlendert unbekümmert davon.

»Hast du gehört, was er gerade gesagt hat?« Meine Stimme ist eine Oktave höher als sonst.

»Ja klar hab ich das gehört. Aber du forderst es ja auch wirklich heraus.« Holly verdreht die Augen.

»Ich wusste sofort, dass Alberta ein Boxenluder ist, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe«, behaupte ich empört.

»Wieso stört dich das überhaupt?«, fragt Holly. »Du kannst den Kerl doch eh nicht ausstehen.«

»Er ist ein Arsch«, gebe ich zurück, nur für den Fall, dass meine Gefühle im Geringsten bezweifelt werden könnten.

»Aber er sieht total heiß aus«, bemerkt sie.

»Was?«, spotte ich. »Wie kommst du denn darauf?«

Holly lacht nur. »Oh, guck mal, dein Traumprinz naht.« Sie weist mit dem Kinn zur Tür, ich schaue kurz auf und sehe Will hereinkommen.

Er steuert geradewegs auf die Theke zu, sieht aber irgendwie anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Ich hätte schwören können, dass sein Gesicht vorher runder war.

»Alles klar?«, fragt er.

Holly stößt mich unauffällig an, als ich nicht sofort meine Stimme finde. »Hi! Was kann ich für dich tun?«, frage ich freundlich, wieder zum Leben erwacht.

»Das sieht lecker aus«, sagt er mit Blick auf den Frühstücksspeck. »Aber ich nehme besser was davon.« Er weist auf Hollys Müsli.

Sie stellt ihm das Müsli zusammen, und ich fühle mich abgewiesen.

»Gestern Abend mit den Jungs unterwegs gewesen?« Will schaut mich fragend an.

»Woher weißt du …? Ah, ich seh ein bisschen fertig aus, was?«

»Nein, ich hab nur von ein paar Kollegen gehört, dass ihr in der Stadt unterwegs wart. War’s nett?«

»Super«, erwidere ich, happy vom Scheitel bis zu meinen rosa lackierten Zehennägel. Er hat sich mit anderen über mich unterhalten!

»Wo wart ihr?«

»In St Kilda. Das ist direkt auf der anderen Seite vom –«

»Kenn ich.«

»Magermilch, Halbfett- oder normale Milch?«, unterbricht Holly ihn und weist auf die silbernen Milchkrüge.

»Halbfett.«

Sie gießt Milch in seine Schale, er nimmt sie ihr ab.

»Möchtest du einen Kaffee oder was anderes trinken?«, frage ich.

»Einen O-Saft, danke.«

Ich reiche ihm ein Glas. Meine Hand zittert ganz leicht.

Er grinst und weist mit dem Kinn darauf. »Kommt das von deinem Unfall mit dem Roller oder vom Alkoholentzug?«

Nein, das liegt daran, dass ich dir so nah bin. Aber ich lüge und sage, dass wahrscheinlich der Alkohol schuld sei.

»Du hättest mitkommen sollen!«, kann Holly sich nicht verkneifen zu sagen.

»Nee«, sagt er.

»Dafür ist er zu ehrgeizig.« Ich lächle ihn warmherzig an. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Holly und weiß genau, dass sie kurz davor ist, loszuprusten.

Will hebt belustigt die Augenbrauen und entfernt sich, die Schale mit Müsli und das Saftglas in den Händen. »Ich fang mal besser hiermit an. Bis später«, sagt er.

»Na, klar!«, strahle ich ihn an.

»Noch offensichtlicher geht’s nicht, Daisy«, tadelt mich Holly, als er fort ist.

»Ha ha«, brumme ich.

Der Gästebereich liegt direkt hinter der Garage unseres Teams, auch Box genannt. Als später das Qualifying in vollem Gange ist, erlaubt Frederick uns, rüberzugehen und zuzusehen.

In der Box herrscht ein Gedränge wie im Bienenstock. Techniker in schwarz-weiß-goldenen Overalls drängen sich um Luis’ Wagen. Ich meine Dan zu sehen, der sich über den Frontflügel beugt, aber er ist schwer zu erkennen. Alle Mechaniker stecken von Kopf bis Fuß in Schutzanzügen, so dass man sie kaum voneinander unterscheiden kann. Da merkt Dan, dass ich ihn beobachte. Er winkt mir zu und macht sich dann wieder geschäftig ans Werk.

Will ist gerade auf der Strecke. Wir stehen hinten in der Garage, wo wir auf sechs Monitoren aus jedem Winkel verfolgen können, was draußen vor sich geht.

»Hey!«

Vor mir steht ein großer breiter Mechaniker. Er trägt einen Helm. Ich spähe hinein und erkenne Pete. Er ist der Chefmechaniker von Wills Wagen.

»Wie läuft’s?«, rufe ich, um den donnernden Lärm der Wagen zu übertönen, die jenseits der Boxenmauer über die Gerade rasen.

»Wie geschmiert!«, schreit er zurück. »Wow!«

Mehrere Kollegen, die ebenfalls auf die Monitore starren, stimmen in seinen Jubel ein. Ich sehe hoch und stelle fest, dass Will auf Platz eins vorgerückt ist, »Pole-Position« genannt.

»Super!«, rufe ich.

»Ein bisschen hat er noch vor sich«, schreit Pete mir zu, dann zu seinen Kollegen: »Er kommt rein!«

Alle stürzen nach draußen in die Boxengasse. Als Will hereinfährt, startet Luis’ Wagen aus der Box nebenan.

Bei Luis ist eine Cockpitkamera installiert, und wir können verfolgen, wie er die Kurven nimmt und seine Reifen über die Fahrbahnbegrenzung rumpeln, weil er die schnellste Linie, die Ideallinie, fährt.