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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheits­auf­nahme – verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie.
Im Internet abrufbar unter: http://dnb.ddb.de

Autorin: Verena Binder
Einbandgestaltung: Tatjana Heiner, Verena Binder

© amicus-Verlag 2012
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage 2012
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

www.amicus-verlag.de

ISBN 9783944039220

Das Wort ist das Schreiben und Schreiben ist …

… Gedanken denken.

Sie verstehen,

sie verwerfen,

sie suchen

und finden,

sie schreiben

und löschen,

sie sagen

und vergessen,

während man doch an sie denkt.

… einen Charakter schaffen.

Ihn lieben lernen,

ihn hassen lernen,

ihm Persönlichkeit geben,

ihm Gefühle schenken

ihm Gedanken zuspielen,

ihn leiden und lachen sehen,

weinen und schreien

und eins mit ihm werden,

während er doch ein ganz Anderer ist.

… anderen etwas geben.

Etwas zum Lachen,

etwas zum Weinen,

etwas zum Nachdenken,

etwas zum Fluchen,

etwas zum darin Verlieren

und daraus Gewinnen,

etwas, das andere berührt

und sie bewegt,

während sie mit jedem Wort und jedem Satz wachsen.

… mit der Sprache zu spielen.

Mit ihr nachdenklich machen,

mit ihr Freude schaffen,

mit ihr Lösungen suchen

mit ihr Verwirrung stiften,

mit ihr harte Urteile fällen

und sanfte Emotionen ergreifen,

mit ihrem Klang Atmosphäre erzeugen

und ihre Bedeutung nutzen,

während wir wissen, wie unterschiedlich diese sein kann.

… Vielfältigkeit spüren.

Im Stil anderer,

wenn sie planen

oder spontan schreiben,

wenn sie Komplexes hervorbringen

oder ganz Einfaches,

wenn sie neue Themen finden

und alte neu erforschen,

wenn sie verschiedene Worte benutzen,

während wir alle stolz unserem Individuum näher kommen.

… sich selbst finden.

Sich stetig entwickeln,

Neues ausprobieren,

in Geschichten versinken,

aus Texten lernen,

Erlebtes verarbeiten,

die eigene Stärke finden,

sie verwenden

und sehen wie sie sprießt,

während sie ganz langsam zu einem Teil des Selbst wird.

… ein Handwerk, das eine Herausforderung an dich selbst darstellt.

Schreibe, wenn es dein Weg ist.

Schreibe, wenn es dir gut tut.

Schreibe, wenn du es lernen willst.

Schreibe, wenn du nach deiner Identität suchst.

Schreibe weiter, auch wenn du sie gefunden hast.

Schreibe weiter, auch wenn du glaubst, nicht besser zu werden.

Schreibe weiter, auch wenn es dir schlecht geht.

Schreibe weiter, auch wenn du glaubst, dein Weg ist zu Ende,

denn du kannst immer mit einem Wort beginnen.

Was ist es

Was ist es, was uns weiter treibt,
was uns Mut gibt, uns Aufgaben
und Problemen zu stellen?

Was hält uns auf unserem Weg,

fängt uns auf, wenn wir fallen?

Gefühle?

Gedanken?

Freunde?

Familie?

Es ist unser Herz.

Unser Herz,
das jeden dieser Teile vereint.

Doch … kann man
auf dem richtigen Weg bleiben,
wenn einer dieser Teile zerbricht?

Für Kasia droht das Leben zu zerbrechen. Ihre Eltern zogen sie mit größter Liebe auf, ihren großen Bruder verehrte sie, er war ihr Idol, er war immer für sie da – immer, bis zu dem Tag, an dem er starb. Er und mit ihm seine Eltern. Er war schuld, er bereute, er tötete, er starb.

Und sie … Kasia war allein. Die Welt war – und ist es immer noch – von Kriegen zerrüttet. Während die Großen so viel Macht haben wollen, wie sie nur können, und das mit aller Gewalt durchsetzen, leiden die Kleinen immer mehr.

Acht Jahre alt ist sie. Die Nachbardörfer sind abgebrannt. Niemand kümmert sich um das verwaiste Kind, keiner will eine weitere Last mit sich nehmen. Als sie weinend auf einem Stein im abgebrannten Hof ihres Elternhauses saß, drei Tage ohne Essen, während ihre Welt zerbricht und die in die Dunkelheit ihrer Seele gezogen wird, eröffnet sich ein neuer Weg in ihrem Leben.

„Warum weinst du?“

Kasias Augen blicken auf. Ein Junge steht vor ihr, nicht viel älter als sie selbst, mit zerrissener Stoffhose und durchlöchertem Hemd. Er lächelt sie an, trotz des mitgenommenen Körpers, verdreckt und mit blauen Flecken und Wunden übersät.

„Hier!“, lächelt der kurzhaarige Junge und bietet dem Mädchen ein Stück Brot an.

Stumm nickt sie, nimmt an und beißt ab.

„Bist du alleine?“

Wieder nickt Kasia.

„Ich auch …“

Ihr Blick wendet sich an den Jungen, dessen Lächeln verschwindet.

Er setzt sich neben sie. „Iss weiter.“

Wieder dieses Lächeln. Es löst ein Gefühl in Kasia aus, das sie schon verloren geglaubt hatte. Geborgenheit, Vertrauen. Sie nimmt einen Bissen.

„Wie heißt du?“, fragt der Junge, doch das Mädchen schweigt.

„Du hast sie wohl sehr gern gehabt?“, flüstert er sanft.

„Kasia“, haucht das Mädchen, „Ich heiße Kasia, und du?“

„Sivan“, lächelt der Junge. „Du kannst ja doch sprechen.“

„Ja“, flüstert Kasia.

Unfreiwillig zucken ihre Muskeln. Sie lächelt.

„Ich bin schon zehn!“, erzählt Sivan stolz und zeigt erhobenen Hauptes auf sich.

Der Junge beginnt zu lachen, als er das Kichern des Mädchens neben sich hört.

„Willst du hier nicht weg?“, fährt der Zehnjährige fort, „Ich hab gehört, wenn man es schafft über das große Wasser zu kommen, gibt es keinen Krieg mehr.“

„Wirklich?“, haucht Kasia.

„Ja. Mein Bruder war dort. Er sagt, dort sieht alles ganz anders aus. Da sind die Bäume noch grün und es gibt ganz viele Blumen. Man muss keine Angst haben und es kommen keine Krieger und Soldaten. Ich will da hin!“

„Ja … das wäre schön“, bestätigt das Mädchen leise und nimmt den letzten Bissen des Brotes, „wo ist dein Bruder jetzt?“

„Dort, wo es noch schöner ist als auf der anderen Seite des Meeres.“

„Es gibt einen Ort, an dem es noch schöner ist?“

„Ja. Dort gibt es gar keinen Schmerz mehr.“

„Da will ich auch hin! Wie ist dein Bruder dorthin gekommen? Über die hohen Berge?“

„Mein Bruder … ist tot.“

Der Schock durchfährt Kasia wie ein eiskaltes Messer, doch der Junge scheint gelassen. „Was ist … mit deiner Familie?“

Wortlos starrt das Mädchen auf den Boden vor ihren Füßen. Von dem Gras, welches hier noch vor vier Tagen wuchs, gibt es keine Spur mehr.

„Wenn du es nicht erzählen möchtest, ist es auch gut“, lächelt Sivan.

Kasia beginnt mit zitternder Stimme zu erzählen, was geschehen war.

Vor drei Tagen kam ihr Bruder nach Hause. Er musste im Krieg kämpfen, ihrem Vater war es nur gestattet, zu Hause zu bleiben, weil er krank war und für den Kampf untauglich. Nach kurzen, gehetzten Worten der Begrüßung rief er seine Warnung aus: „Schnell, versteckt euch! Die Soldaten kommen, sie werden hier alles zerstören!“

Kasias Mutter packte das Mädchen, öffnete eine Türe zu einem winzigen Raum im Keller und erklärte ihr, sie müsse ganz leise sein und dürfe nicht herauskommen. Dann schloss sie die Türe. Das Mädchen wusste nicht, wie lange sie dort unten saß und wartete. Irgendwann hörte sie einen Schrei. Sie wusste, dass sie ihrem Bruder wehgetan hatten. Sie fühlte es.

Ein paar stumme Tränen perlen über Kasias Wangen, ehe sie weiter­erzählt.

Darauf folgten weitere Schreie, von Schmerz durchdrungen. Sie taten ihm immer mehr weh. Dann war alles still. Sie hörte ihre Mutter weinen und die Tür öffnete sich. Ihr Bruder setzte sich stumm vor sie, seine Augen waren ganz rot und Blut rann links von seinem nicht mehr vorhandenen Ohr. Vorsichtig streckte er seine Arme aus.

„Remo … deine Hand“, hauchte Kasia.

„Macht dir keine Sorgen, meine Süße“, lächelte ihr Bruder, während er sie hoch nahm und an sich drückte.

Sie spürte das Blut an den verstümmelten Fingern seiner rechten Hand.

„Hör mir zu“, flüsterte Remo und trug seine Schwester langsam aus dem Raum, „Wenn ich dich wieder auf den Boden lasse, schließt du die Augen, hältst deine Ohren zu und singst das Lied, das Mama immer mit uns gesungen hat. Du darfst nicht nachsehen, egal was ist, versprichst du mir das?“

Kasia nickte. „Ja, aber Remo …“

„Versprich es mir!“, schärfte der junge Mann seine Stimme.

Zitternd rang sich Kasia zu einer Antwort. „Ich versprech’s …“

„Ist das die Kleine?“, fragte einer der Soldaten kichernd, „ein hübsches Ding.“

„Lass deine dreckigen Finger von ihr“, knurrte Remo, ehe er ­seine Schwester absetzte und dieser flüsternd befahl, „Los, halte dein Ver­sprechen!“

Kasia nickte, voller Angst setzte sie sich auf den Boden, schloss die Augen und presste ihre Hände auf die Ohren. Sie begann leise das Lied zu singen, zitternd, im Kampf um die Tränen. Dennoch hörte sie jedes Wort und jeden Schrei.

„Mach endlich, Bursche!“

Ein Schrei der Mutter, Kasia hörte sie weinen.

„Und jetzt die Alte!“

Ein Geräusch, wie ein Schlag ins Gras, wie eine Sense, die durch das Getreidefeld saust.

„Lasst sie aus dem Spiel! Wenn ihr ihr auch nur ein Haar krümmt!“

„Gut, wie du willst, wir lassen sie. Aber dafür, richte deine Waffe gegen dich!“

„Versprecht es!“

„Ja, wir versprechen es, mach schon!“

Ein Stich. Ein Schlag. Stille.

„So und jetzt zu der Kleinen“, lachte einer der Soldaten.

„Hey! Wir haben’s ihm versprochen, der Kleinen tun wir nichts!“, rief ein anderer.

Kasias Augen waren noch immer geschlossen, ihre Hände versuchten vergeblich ihre Ohren zu schützen.

„Wen interessiert’s? Der Typ ist tot!“, brüllte der erste Soldat.

Kasia hörte seine stumpfen Schritte, die sich mit jedem Mal tiefer in die sandige Erde zu bohren schienen. Sie spürte die kalte, kräftige Hand an ihrem Kopf, die sie sogleich ruckartig auf den Boden warf. Das Mädchen schrie, öffnete die Augen und sah dem blutverschmierten, dicken Körper entgegen.

„Lass das Kind!“, schrieen einige Soldaten zeitgleich, liefen auf den Dicken zu und rissen ihn von dem Mädchen.

Der dicke Soldat stieß die anderen von sich, stand wutentbrannt auf und stampfte zu Kasia. Er ließ seine Handfläche schwungvoll auf die Wange des Mädchens preschen, ehe er sich abwandte ohne Kasia auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Gehen wir, die nächste nehm’ ich mir vor und keiner von euch hält mich davon ab!“, rief der Dicke, nahm sich eine Fackel der anderen Soldaten, warf diese direkt in die offene Tür des Hauses und ging – ­lachend, gefolgt von den wortlosen anderen.

Kasia lag dort, weinend, schluchzend. Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur dort lag, ehe sie sich aufrappelte und wortlos weinend auf die leblosen Körper ihrer Familie starrte. Hinter ihr das brennende Haus.

Nur Kasias Schluchzen durchdringt die Stille. Sivan erhebt sich wortlos, nimmt Kasias Hand von ihrem Gesicht und zieht sie auf die Beine, „Hey …“

Er legt seine Arme sanft um das zerbrechliche Mädchen. „Hab keine Angst, ich bin bei dir.“

Es dauert eine Weile, bis ihre Tränen erneut versiegen. „Glaubst du, mein Bruder ist auch an dem schönen Ort?“

„Ganz bestimmt“, versichert Sivan lächelnd, „und deine Mama und dein Papa auch. Und sie wünschen sich von Herzen, dass du glücklich wirst.“

„Ganz bestimmt?“

„Ganz bestimmt. Das hat mir mein Papa immer gesagt, als ich um Opa geweint hab. ‚Die Toten wollen den Frieden der Lebenden.’ Ja, genau das hat er zu mir gesagt! Und jetzt? Möchtest du mit mir zu der anderen Seite des Meeres?“

„… ist das in Ordnung?“, erwidert Kasia mit leerem Blick auf den verbrannten Hof.

„Ja. Glaub mir, hier kannst du nicht mehr glücklich werden. Aber die Toten wollen, dass du glücklich wirst. Es ist in Ordnung. Ich bin bei dir.“

„… Danke“, lächelt Kasia.

Sivan nimmt das Mädchen bei der Hand: „Komm, es ist nicht weit bis zum Hafen!“

Wenn die Zeit still steht,

wenn die Beine einen nicht tragen wollen,

und wenn die Flügel sich nicht mehr spannen,

dann gibt es irgendwo einen Lichtschimmer.

Diesen zu suchen, diesen zu finden,

mag schwierig scheinen,

doch man kann es schaffen.

Wenn man das Licht gefunden hat,

dann gibt es Mut,

dann gibt es Wärme,

dann gibt es Vertrauen,

dann gibt es Liebe.

Dann vergeht die Zeit schneller,

die Beine laufen weiter,

und die Flügel tragen dich höher.

Der Gefangene der Erinnerung