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1. Auflage April 2013

© 2013
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Lektorat: Ursula Schmid-Spreer und Kerstin Lange

Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger

ISBN 978-3-943140-28-6 (epub)
Auch als Print erhältlich.

Inhalt

Anne Hassel - Wolfs Gedanken

Kerstin Lange - Fantasiegeschichten

Ursula Schmid-Spreer - Ein besonderes Geschenk

Simone Jöst - Schreib!

Josef Rauch - Mörderischer Frühling

Alex Conrad - Der Buchliebhaber

Dolores Pieschke - Ballade vom armen Poeten zu Nürnberg

Gerald Kaliwoda - Carpe Diem

Michael Kress - Fehlbesetzung

Florian Sußner - Richard-Wagner-Platz

Paul Pfeffer - Frühlingslyrik

Volkmar Kuhnle - Der rauchende Adler

Maike Frie - Kopfsache

Doris Preusche - Nichts für Weicheier

Gabriela Bley - Waagrecht und senkrecht

Sonja Birkhofer-Hoffmann - Ich bin genial

Petra Scheuermann - Die heilende Kraft der Suggestion

Leonhard F. Seidl - Goldrausch

Ella Daelken - Koinzidenz

Anna Banfhile - Mord literarisch gelöst

Klaus Köllisch - Frühlingserwachen

Jennifer Mürmann - Zwischenmenschliche Begegnungen

Jürgen Edelmayer - Habermann

Elisabeth Gerber - Hasas Äpfelchen

Katrin Langmuth - Quallenburger

Roy Francis Ley - Die Verführung eines Schriftstellers

Ludwig Dippold - Alles nur ein Spiel

Dirk Mühlinghaus - Die Stimmen der toten Dichter

Elisa Knoener - Den Frühling sehn

Günter Wirtz - Der Mann mit dem Gedicht

Claudia Luz - Zehn toughe Schreiberlein

Kriminalinski - Nürnberger Himmelfahrtskommando

Anja Rechenbach - Nürnberger Papierrosen

Brigitte Vollenberg - Tödliche Emanzipation

Olga Baumfels - Das Loblied des Schuhmachers

Autorenvitae

Anne Hassel
Wolfs Gedanken

„Na, wohin so eilig, Kleine“, fragte der Wolf und versperrte dem Mädchen den Weg. „Das geht dich gar nichts an“, antwortete dieses zickig und versuchte sich an dem großen Tier vorbeizudrängen.

„Halt! Wie sprichst du denn mit mir? Weißt du nicht, dass man höflich und respektvoll mit anderen umzugehen hat?“ Noch immer rückte der Wolf keinen Zentimeter zur Seite. „Und außerdem, wie siehst du denn aus? Du bist doch schon zehn Jahre alt, wenn ich mich recht erinnere. Deine Großmutter sagte es vor nicht allzu langer Zeit. Also – in dem Alter noch mit solch einem roten, albernen, unmodernen Käppchen herumzulaufen, das wäre mir zu dumm!“

„Rot! Albern! Unmodern! Du hast keine Ahnung! Rot ist die absolute Trendfarbe in diesem Jahr, albern bist du, weil du mir den Weg versperrst und unmodern ist nur dein Fell – grau, zottelig und unansehnlich. Außerdem finde ich es heute, obwohl Frühling ist, noch ziemlich kalt und ich möchte nicht krank werden und dann eventuell einmal so alt aussehen wie du! Also, troll dich endlich!“, fauchte das Mädchen.

„Gut, du hast gewonnen“, ant­wortete der Wolf. „Aber verrate mir mal, wo du so schnell hingehen möchtest. Deine Großmutter ist nicht in ihrem Haus, das habe ich vorhin schon herausgefunden, als ich sie kurz besuchen wollte. Natürlich nur zu einem Plausch, wie du dir sicherlich vorstellen kannst. Sie sei mit ihren Freundinnen zu einem Wellnesswochenende nach Nürnberg unterwegs, berichtete mir der Förster, den ich wenig später traf. Bestimmt kennst du auch diese große Stadt mit der interessanten Burg, dem Sinwellturm und vielen anderen berühmten Sehenswürdigkeiten. Wie ich weiter erfahren habe, wird deine Großmutter erst in ein paar Tagen zurückkommen.“

„Ich weiß! Deshalb hat sie ja auch ihr Haus während dieser Zeit vermietet.“ „Vermietet?“ Der Wolf kam dem Mädchen gefährlich nahe und es wich zurück.

„Für ein Autorentreffen. Siehste, das ist dir nicht bekannt.“

„Autorentreffen?“, fragte der Wolf.

Burg: Sinwellturm, Freiung und Walpurgiskapelle

Burg: Sinwellturm, Freiung und Walpurgiskapelle

„Ja, noch nie et­was davon gehört? Du bist wirk­lich nicht up to date! Na ja, wenn man auch immer nur im Wald lebt und dort kleinen Mädchen und alten Frauen auflauert!“

„Nein“ Verlegen drehte sich der Wolf von einer Seite zur anderen.

„Also, da treffen sich Leute, die schreiben. Sie …“

„Ach die meinst du!“, unterbrach der Wolf das Mädchen und schüttelte sich. „Das sind die Menschen, die immer nur diesen Unsinn über uns verbreiten. In ihren Büchern gibt es die schrecklichsten Geschichten über uns nette, friedliche Tiere und hartnäckig werden wir schon seit Jahrhunderten diffamiert! Hinterhältig, grausam und gemein seien wir.“

„Wird schon was dran sein“, meinte das Mädchen schnippisch. „Aber jetzt lass mich endlich vorbei!“

„Erst wenn du mir verrätst, was du in deinem Korb spazieren trägst.“

„Na gut! Ein wenig zu essen und viel, viel Rotwein. Du glaubst gar nicht, was die Autoren alles vertragen können. Vielleicht benötigt man das ja, um gute Geschichten schreiben zu können.“

Oder um selbst lecker zu schmecken, so eingelegt in einer delikaten Rotweinsoße, frisch und knackig, eine echte Alternative zur zähen Großmutter, dachte der Wolf und grinste hinterhältig. „Du kannst gehen“, sagte er und gab den Weg blitzschnell frei.

Kerstin Lange
Fantasiegeschichten

„Das Zimmer ist noch nicht fertig. Ihr Gepäck nehme ich gerne in Verwahrung. Eine gute Stunde dauert es“, sagte die Rezeptionistin und reichte mir einen Stadtplan. „Nutzen Sie die Frühlingsluft für einen Spaziergang.“ Sie lachte über das ganze Gesicht.

Der Stadtplan war überflüssig. Ich kannte Nürnberg, war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, bis ich an den Niederrhein zog. Ich ging geradeaus, ließ mich treiben, wollte sehen, wie sich die Stadt im Laufe der Jahre verändert hatte. Ich betrachtete die Menschen, vertrieb mir die Zeit mit Beruferaten. Wer war Autor? Wen würde ich auf dem morgigen Autorentreffen wiedersehen? Vielleicht diesen Mann, der gerade an einem Würstchenstand ein Paar Nürnberger Bratwürstl verlangte. Er sah aus wie ein Künstler. Trug rote Socken zu seinen braunen Lederschuhen. Ständig schaute er sich um und beobachtete die Menschen. Bestimmt dachte er sich Geschichten aus. So, wie ich es auch immer tat. Aber vielleicht war er auch ein Taschendieb? Ich stellte mir vor, wie ich auf ihn zu ging, laut Diebstahl rufen würde und er sich ertappt fühlte. Ich grinste, schüttelte dann aber den Kopf. Ich hatte viel zu viel Fantasie. Schon immer gehabt. Es machte alles etwas erträglicher, wenn es mal nicht so lief, wie man es sich wünschte.

Um mich herum herrschte ein Stim­mengewirr in vielen unterschiedlichen Sprachen. Immer wieder stieß ich gegen jemanden, entschul­digte mich mehrfach und bog schließlich genervt in eine Seitenstraße. Nach ein paar Metern lag die Pegnitz vor mir. Ich blieb stehen, als ich eine Bank erblickte, und nahm Platz.

„Ein schöner Tag“, hörte ich plötzlich eine Stimme neben mir. Ich drehte mich um und sah einen älteren Herrn, der sich ebenfalls setzte. Auf den ersten Blick wirkte er ganz normal, erst auf den Zweiten bemerkte ich drei Plastiktüten, die er krampfhaft neben sich hielt, den säuerlichen Geruch, der von ihm ausging. Die fleckige Hose, die bessere Zeiten gesehen hatte. „Ja“, antwortete ich, „ein schöner Tag.“ Die anschließende Stille war nicht unangenehm. Wir saßen und schauten. Alles war gut.

Pegnitz am Wespennest

Pegnitz am Wespennest

„An Tagen wie diesen denke ich an früher“, sagte er plötzlich. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Was kam denn jetzt? Früher, was meinte er damit?

War er ein ehemal­iger Banker, Wirt­schafts­boss, Anwalt oder ähnliches? Hat­te er sich verspekuliert, gezockt, war er ein Spieler oder seine Familie Opfer eines Entführers geworden? Während ich nach weiteren Möglichkeiten suchte, sprach er weiter.

„Damals hatte ich einen Job, eine Frau und ein Haus. Ich habe gar nicht gewusst, wie gut es mir ging. Musste mir nie Gedanken machen, wo ich übernachten könnte, ob es Frost geben würde und wie ich meinen Besitz vor anderen sichere.“

Mir fiel immer noch nichts ein.

„Tja, dann wurde alles anders. Nicht von einem Tag auf den anderen. Es geschah langsam, schleichend. Aber der Tag, an dem alles anfing, ist mir ins Gedächtnis gebrannt. Zehn Jahre ist es her.“

Mein Interesse war geweckt. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man Menschen reden lassen sollte. Und als Autorin interessierten mich Schicksale. Ich witterte den Verkaufsschlager: Schicksalsjahre eines Bankers – von der Bestsellerautorin Johanna Kraut.

„Auf den Tag genau“, fuhr er fort und lächelte. „Ich war Lehrer an der Realschule, hier in der Innenstadt.“

Meine Mundwinkel wanderten nach unten. Lehrer! Was konnte ein Lehrer Interessantes berichten? Dann stutzte ich. Er sprach von meiner Schule. Ich betrachtete ihn genauer, erkannte ihn aber nicht. Ein wenig unsicher lächelte ich zurück.

„Ich erwischte einen Schüler beim Abschreiben.“

„Das ist nicht Ungewöhnliches, oder?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, an sich nicht. Passiert häufig. Aber der Tag hatte für mich schlecht begonnen. Kaum geschlafen, Komisches geträumt, mich mit meiner Frau gestritten. Ich war nicht gut drauf. Aufsicht bei einer Klassenarbeit für einen Kollegen zu übernehmen, schien mir in Ordnung. Und dann erwischte ich dieses Mädchen beim Abschreiben. Sie schaute mir ins Gesicht ohne ein Bewusstsein für Unrecht. Ich dachte, lass sie mal. Aber sie machte weiter. Ignorierte mich und lugte wieder zum Nachbarn hinüber. Dann kam es zu einem Augenduell. Wer ist der Stärkere? Wer hat die schlechteren Nerven und gibt auf? Ich konnte in ihrem Gesicht lesen, wie in einem offenen Buch. Spott. Verachtung. Der blöde Lehrer. Ich nahm ihr das Heft weg, gab ihr eine Sechs.“

Mein Lächeln wurde schmaler.

„Ich dachte, damit sei die Sache erledigt. Aber sie kam nach der Stunde zu mir und bat um eine Unterredung. Sie weinte. Was ihre Eltern sagen würden. Ich ließ mich weich klopfen. Bot ihr an, dass sie die Arbeit nachschreiben könne.“

Mein Lächeln gefror. Ich schaute ihm ins Gesicht, suchte nach Emotionen. Weder seine Stimme noch seine Mimik wirkten verbittert.

„Sie wusste nichts. Es war lächerlich, was sie sich für Antworten ausdachte. Die Sechs war gerechtfertigt. Das sagte ich ihr auch.“

„Und was hat sie gemacht?“

„Sie hat mich angeschaut, wieder ein paar Tränen herausgepresst. Sie würde sitzen bleiben. Die strengen Eltern. Ich hab ihr geraten, sich auch mal vorzubereiten, man müsse auch was tun, um gute Noten zu schreiben. Und dann ...“ Er wurde leiser, erzählte stockend weiter.

„Sie wurde völlig hysterisch. Raufte sich die Haare, jammerte, dass sie ihrem Vater keine Sechs beichten konnte. Sie war wie von Sinnen. Ich hielt ihre Arme fest, dann begann sie zu schreien. Die Schminke war verschmiert. Sie hatte sich im Gesicht mit einem Fingernagel verletzt und blutete. Ich hielt ihre Arme fest, damit nicht noch mehr passierte. Dann tobte sie noch mehr, schrie lauter. Das hörte eine Kollegin, die ins Klassenzimmer stürzte. Das, was sie sah, gab sie später zu Protokoll.“

Er erzählte lebendig. Ich sah die Szene vor mir. „Und dann?“

„Ich fühlte mich schuldig, als ich den Gesichtsausdruck meiner Kollegin sah. Und beschrieb, was geschehen war. Das Mädchen schwieg. Dann sagte sie, dass ich nicht versucht habe, sie zu vergewaltigen. Bis dahin war dieser Begriff gar nicht gefallen. Aber dass sie nur diesen Satz sagte und ansonsten stumm blieb, reichte meiner Kollegin. Aber es gab ja keine Beweise gegen mich, keine Anklage. Man kannte das Mädchen als Lügnerin. Ich dachte, die Sache sei erledigt.“

„Was ist mit dem Mädchen passiert?“

„Die Eltern haben sie von der Schule genommen. Fanden das Gerede schrecklich. Soweit ich weiß, ist sie zu Verwandten gezogen. Die Mutter und der Stiefvater kamen schon länger nicht mehr mit ihr klar.“

„Was haben Sie getan?“

„Tja, Leute reden. Meine Schülerinnen wollten nicht mehr mit mir alleine in einem Raum sein. Ich wurde gemieden. Nicht nur ich, meine Frau ebenso. Freunde luden uns nicht mehr ein. Ella hat mich dann verlassen. Sie sagte, wir hätten uns auseinander gelebt. Aber das war es nicht. Sie traute mir nicht mehr, fragte sich immer, ob nicht doch etwas an dem Gerede dran war. In dieser Zeit fand ich Trost im Alkohol. Kam oft zu spät zum Dienst. Niemand stand zu mir. Es hieß, es müsse etwas dran sein an dem Gerede, sonst wäre meine Frau ja nicht gegangen und ich hätte keinen Grund mich so gehen zu lassen.“

Vor meinem inneren Auge sah ich ihn als Lehrer. Aber ich sah auch eine junge Schülerin, die verzweifelt versuchte, nicht sitzen zu bleiben. Die von der Familie abgeschoben wurde, als Querulantin, Lügnerin und Betrügerin abgestempelt. Ich sah ein blondes Mädchen vor mir, die Angst vor Schlägen und anderen Bestrafungen von ihrem Vater hatte.

Die Stimme des Mannes holte mich zurück in die Wirklichkeit.

„Ich bin gegangen. War sowieso alles egal. Pension, ade. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Wenn ich mich als Nachhilfelehrer anbot, wurde dankend abgelehnt. Ich konnte und wollte nicht mehr. Hab noch mehr getrunken. Das Haus an die Bank verloren, als die Raten nicht mehr gezahlt werden konnten. Dann bin ich weg, wollte woanders neu anfangen. Ich dachte, in der Fremde schaffe ich es.“

Ja, das kenne ich. Gar nicht so einfach.

Hatte ich das laut gesagt?

Der Fremde antwortete: „Gar nicht so einfach, ja, da haben Sie recht. Ich bin dann zurück nach Nürnberg. Lebe jetzt auf der Straße – es ist okay. Niemand erkennt mich. Zu viele Jahre der Verwahrlosung. Sie sehen ihr ähnlich.“

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Röte überzog mein Gesicht.

„Aber es bringt nichts. Das Weglaufen meine ich. Neu anfangen kann man immer“, antwortete der Mann.

Ich stand auf, verabschiedete mich, ohne ihn noch einmal anzuschauen. Mit langsamen Schritten entfernte ich mich von der Bank. Ich blickte zum Himmel. Sah die Wolkenformationen, dachte mir Fantasienamen für sie aus und überlegte Geschichten dazu. Wie immer, wenn die Erinnerungen an meinen Vater allmächtig wurden. Wenn ich das Blut der aufgeplatzten Lippen schmeckte, wenn er den Gürtel nahm und auf mich einschlug. Bis zu dem Tag, als ich dachte, er schlüge mich tot. Als er erfuhr, dass ich abgeschrieben hatte.

Ursula Schmid-Spreer
Ein besonderes Geschenk

Zögerlich betrat Nina den Laden. Nur mal schauen, nichts kaufen, dachte sie. Das Geld war knapp, denn als Zimmermädchen verdiente sie nicht viel. Es roch angenehm nach Rosen. Im Hintergrund hörte sie leise klassische Musik.

„Wie schön Ihr Laden ist – so schön.“

Ninas Augen leuchteten. Der Verkäufer nickte geschmeichelt. Der Mann erinnerte sie an ihren Großvater. Stämmig war dieser gewesen, groß gewachsen und sein weißes Haar reichte ihm bis zum Kinn. Interessante Geschichten konnte Opa erzählen.

„Ich möchte auch solche Geschichten schreiben können, Opa. Hilfst du mir dabei?“

Ninas Großvater ermunterte sie immer wieder, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und an ihrem Schreibstil zu feilen. Sie hatte schon mehr als zehn Geschichten an diverse Zeitschriften geschickt. Bisher waren alle abgelehnt worden. Nina seufzte tief.

„Wir geben uns Mühe“, holte sie der Verkäufer aus ihren Gedanken. „Sehen Sie sich ruhig um.“

Sie bewegte sich vorsichtig zwischen all den hübschen Dingen. Wie eine geschmückte Puppenstube sah das Geschäft aus. Altes und Neues harmonierten miteinander. Achtsam nahm sie einen Kugelschreiber. Er wirkte wie eine altmodische Feder, lag leicht in ihrer Hand. Zu teuer für sie.

„Dieses Kästchen hier ist im Angebot. Ist es nicht großartig? Was es wohl verbirgt?“ Der Mann tat geheimnisvoll.

Nina betrachtete das Kästchen entzückt. Mit Ehrfurcht machte sie es auf. Die Kiste war mit rotem Samt ausgeschlagen. Ein Brief lag darin. Braunstichiges altes Papier, verschnörkelte Handschrift, Sütterlin. Ein Liebesgedicht, die Worte berührten sie. Behutsam legte sie den Brief zurück und schloss das Kästchen.

Sie sah auf den Preis. „Ich kann es mir leider nicht leisten.“

Sie stellte es fast zärtlich auf die Anrichte zurück.

„Vielen Dank.“ Nina wandte sich zum Gehen.

„Warten Sie, die Schatulle ist wie für Sie gemacht. Wie für Sie bestimmt. Nehmen Sie sie bitte, sie gehört Ihnen.“

„Aber nein, ich kann doch nicht …“

„Doch, Sie können. Etwas Geheimnisvolles für eine geheimnisvolle Frau. Lassen Sie mir die Freude.“

Der grauhaarige Mann, der Nina so an ihren Opa erinnerte, legte die Schatulle in Ninas Hand. „Viel Freude damit.“

Ehe sich Nina versah, stand sie auf der Straße. Ihre Finger tasteten über das Holz. Sie war außer sich vor Freude. „Ich habe so ein edles Gebilde doch gar nicht verdient. Das ist viel zu schön für mich.“

Königstraße mit Nassauer Haus und Kaiserburg

Königstraße mit Nassauer Haus und Kaiserburg

Langsam ging sie die Königstraße entlang. Gönnte der Lorenzkirche einen kleinen Blick und schlenderte weiter in
Richtung Hauptmarkt.
Sie atmete tief die Frühlingsluft ein. Ihr Entschluss stand fest. „Ich werde Chrissi eine Freude machen“, murmelte sie.

Chrissi war ihre beste Freundin. War immer für sie da. Wie oft hatte sie sich schon bei ihr ausgeweint. Nina ging eilig zum Supermarkt, in dem diese arbeitete. Geduldig wartete Nina, bis die Kasse geschlossen wurde.

„Chrissi du warst mir in der letzten Zeit eine wichtige Vertraute. Einfach meine beste Freundin. Ich möchte dir dieses Kästchen schenken, bitte nimm es an.“

Behutsam drückte ihr Nina die Schatulle in die Hand.

„Du bist ja verrückt! Wirklich? Ich danke dir sehr.“

Die beiden Frauen umarmten sich. Nina war glücklich, als sie das strahlende Gesicht ihrer Freundin sah.

Als Chrissi am Abend müde und hungrig nach Hause kam, lag ein großer Zettel im Flur. „Auflauf steht im Ofen, guten Appetit.“

Chrissi freute sich. Ihre Mutter hatte für sie gekocht. Als sie ins Wohnzimmer ging, stand eine Vase mit frischen Maiglöckchen auf dem Tisch.

„Was täte ich nur ohne dich!“ Ohne lange zu überlegen, nahm Chrissi das Kistchen, schnappte sich ihre Hausschlüssel und ging die zwei Stockwerke nach oben. Dort wohnte ihre Mutter.

„Mama, du bist einfach die Allerbeste. Wenn ich dich nicht hätte! Ich möchte dir diese Schatztruhe schenken. Sie passt wunderbar zu deiner Einrichtung. Du machst mir eine Freude, wenn du sie annimmst.“

Chrissi drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, öffnete den Deckel und sah den Brief. Fast andächtig nahm Chrissis Mutter das Papier heraus und las aufmerksam vor.

„Das ist ein wundervoller Liebesbrief. Wer den wohl geschrieben hat? So schöne Worte müsste mal ein Mann zu mir sagen“, meinte Chrissi.

„Warte ab, mein Mädchen. So einen Poeten wirst du sicher auch einmal kennenlernen.“

Mutter und Tochter verbrachten einen sehr gemütlichen Abend miteinander. Das Schatzkästlein stand auf dem Wohnzimmertisch. Die Kerzen spiegelten sich in dem Verschluss.

„So gemütlich zusammensitzen – das sollten wir wirklich öfter machen, Mama!“

Am nächsten Tag spürte Chrissis Mutter ein Kratzen im Hals. Als sie husten und gleichzeitig niesen musste, ahnte sie, dass eine Erkältung kam. Sie ging zu ihrem Hausarzt, um sich ein Medikament verschreiben zu lassen. Sie wusste selbst nicht, warum sie das Kästchen in ihre Handtasche steckte.

„Frau Lenz, Sie sehen aber gar nicht gut aus. Erkältung?“

Als Chrissis Mutter nickte, meinte die Sprechstundenhilfe: „Ich nehme Sie kurz vor, denn ich möchte ja nicht, dass sie mir noch alle anderen Patienten anstecken.“

Cäcilia Lenz wusste sehr genau, dass dieser Einwand nur vorgeschoben war. Frau Susanne hatte einfach ein gutes Herz. Frau Lenz konnte schlecht sitzen, da sie ein Stützkorsett trug. Cäcilia dachte nur einen kleinen Moment nach. Dann zog sie das Kästchen aus der Tasche und legte es Susanne in die Hand.

„Das ist eine kleine Aufmerksamkeit für Sie. Bitte nehmen Sie das Geschenk an. Sie tun mir immer so viel Gutes und heute möchte ich Ihnen eine Freude bereiten.“

„Oh, ist das schön, genau das Richtige für meine Ohrringe. Ich danke Ihnen vielmals.“

Susanne gab der älteren Dame die Hand, die sie fest in der ihren hielt. Beide Frauen strahlten.

Der Tag verging schnell. In einer der ruhigen Minuten öffnete die Sprechstundenhilfe das Kistchen. Sie nahm den Brief heraus, begann zu lesen. Ein großes Glücksgefühl überkam sie. Den Rest des Tages verbrachte sie beschwingt und mit einem Lächeln auf den Lippen. Gerade als die Sprechzeit zu Ende war, kamen eine junge Frau und ein Mann.

„Sie ist ausgerutscht und hingefallen“, sagte der Mann, der die Frau gebracht hatte und deutete auf die Kopfwunde. Ich muss leider weg.“

Frau Susanne kümmerte sich fürsorglich um die Verletzte. „Es wird ein bisschen weh tun. Das haben wir gleich.“ Die Frau schrie vor Schmerzen auf, als die Sprechstundenhilfe die Wunde reinigte.

„Der Kopf tut mir so weh und auch der Arm. Mir ist so kalt.“ Die Patientin zitterte am ganzen Körper. Sie weinte.

Susanne dachte nicht lange nach, ging schnell zum Tresen, holte das Kistchen: „Das ist wie für Sie gemacht, Nina“, sagte Susanne nach einem Blick auf die Versichertenkarte. „Da stecken Sie jetzt ihren Kummer rein. Sie werden sehen, es ist eine geheimnisvolle Schatztruhe. Ihre Schmerzen werden gleich verschwinden. Es ist nämlich ein magisches Kästchen.“

„Für mich?“ Ungläubig betrachtete Nina das Geschenk, das ihr bekannt vorkam. Susanne nickte. „Sie brauchen es mehr, als ich. Bitte nehmen Sie es an.“

Als sich Nina aufrichtete, spürte sie die Schmerzen kaum noch. Jetzt wusste sie, dass das Kästchen wirklich nur für sie bestimmt war. Während sie zärtlich über die Oberfläche strich, hörte sie die Stimme ihres Opas: „Alles wird gut.“

Als Nina nach Hause kam, öffnete sie gleich den Briefkasten, nahm einen Brief heraus. Noch im Treppenhaus las sie: Herzlichen Glückwunsch, Ihre Geschichte hat uns so gut gefallen, dass …

Simone Jöst
Schreib!

Zehn Minuten. Das sind sechshundert Sekunden, die mir bleiben, um meine Haut zu retten. Die Zeit ist viel zu knapp bemessen. Meine Finger zittern. Mir wird übel, wenn ich daran denke, was mein Versagen auslösen wird. Die goldene Feder des Füllers ruht auf dem linierten Papier, bereit den Schwüngen meiner Hand zu folgen, Linien und Striche niederzuschreiben, die sich auf wundersame Weise zu einem Ganzen fügen sollen. Doch anstatt zu tun, was von mir verlangt wird, starre ich auf den leeren Briefbogen vor mir und kann keinen klaren Gedanken fassen.

„Mach schon!“, brüllt der Mann hinter mir und drückt den Lauf seiner Pistole fester gegen meinen Kopf. Er riecht nach Schweiß und Alkohol. Sein Gestank und die Angst, dass ich den Nachmittag nicht überleben werde, machen es mir unmöglich Worte zu formulieren, die ihren Sinn erfüllen sollen. Totenstarre.

„Schreib endlich!“

Der Lauf der Pistole wandert an meine Schläfe. Ich kann die Waffe aus dem Augenwinkel sehen. Kaltes Metall, das mich sekundenschnell zu kaltem Fleisch verwandeln wird, wenn ich nicht gehorche.

„Bitte, verstehen Sie doch, ich ... ich kann das nicht“, wimmere ich und wende den Kopf in Richtung meines Peinigers, schaue ihn flehentlich an und weiß, dass er nicht auf mich hören wird. Ich will nicht sterben. Die geforderten Buchstaben sträuben sich in meinem Geist. Sie weigern sich eine Einheit zu bilden und wie kleine Soldaten in Reih und Glied tapfer über das Papier zu marschieren, Spuren zu hinterlassen, die alles verändern könnten. Mein Blick schwenkt zur Wanduhr hinüber. Mir bleiben nur noch neun Minuten.

„Du sollst schreiben, habe ich gesagt“, drängt der Mann und bohrt die Pistole noch fester gegen meine Schläfe. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Schultern ein wenig in die Höhe, darauf gefasst dem Tod jeden Moment gegenüberzutreten. In meiner Fantasie streift dessen eisiger Atem bereits um meinen Hals. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

„Ich kann das nicht“, wiederhole ich.

„Ich kann das nicht!“, äfft der Mann mich nach. „Lass den Unsinn! Wer von uns beiden ist hier ein Autor? Du oder ich?“

„Ich.“ Meine Stimme ist leise, klingt brüchig.

„Dann tu, was ich dir sage!“

Tiergärtnertorplatz mit Kaiserburg

Tiergärtnertorplatz mit Kaiserburg

Mein Schreibtisch steht am Fenster, und wenn ich hinausschaue, kann ich die Nürnberger Burg sehen. Meine Gedanken versuchen aus der Kammer zu entfliehen und folgen meinem Blick nach draußen. Aus den Zweigen der Bäume sprießen zartgrüne Blätter und recken sich noch knittrig den warmen Sonnenstrahlen des Frühlings entgegen. Touristen schlendern in kurzen Är­meln zur Burg hinauf und schlecken an den ersten Eiswaffeln der Saison. Wie ich sie um ihre Unbekümmertheit beneide. Sie ahnen nicht, welch grausames Martyrium ich keine hundert Meter von ihnen entfernt in meiner Stube durchleide. Meine Zunge ist trocken, klebt an meinem Gaumen.

„Kann ich bitte einen Schluck Wasser bekommen?“

„Lenk nicht ab. Tu was ich dir befohlen habe!“

Die kalte Pistolenmündung schmerzt auf meiner Haut. Morgen werde ich einen runden Bluterguss an genau jener Stelle haben, falls es für mich überhaupt noch ein Morgen geben wird. Mir ist schlecht und ich frage mich, was der Mann tun wird, wenn ich seine Folter einfach beende? Jetzt und hier. Wenn ich mich seinem Befehl widersetze? Ein Blick in seine dunklen Augen, die mich grimmig auf meinem Stuhl festnageln, beantwortet meine Frage. Mein Untergang wäre in diesem Fall so sicher wie das Amen in der Kirche. Alles in mir sträubt sich gegen die Worte, die ich schreiben soll. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Am liebsten möchte ich weinen, doch diese Blöße gebe ich mir nicht. Nein, er soll nicht sehen, welche Gefechte ich in meinem Inneren kämpfe. Er ist brutal. Ich kenne ihn und er zögert nicht, mich zu drangsalieren, wenn ich ihm nicht gehorche. Acht Minuten.

Der Zeiger meiner Wanduhr springt Sekunde um Sekunde weiter, kennt kein Erbarmen mit meiner gequälten Seele. Das Ticken wird mit jedem Moment lauter und je mehr ich mich darauf konzentriere, desto störender empfinde ich es.

„Ich kann nicht schreiben, wenn die Uhr tickt.“ Ein verzweifelter Versuch, von dem Eigentlichen abzulenken. Warum schlittere ich aber auch immer wieder in solche Situationen? Es ist heute das dritte Mal, dass ich seine Waffe an der Schläfe spüre.

„Sieben Minuten, beeil dich.“

Ich schaue zur Uhr und schlucke. Ticktack, ticktack, ticktack. Die Zeit verrinnt wie Sand zwischen meinen Fingern und ich kann sie nicht aufhalten. Der goldene Füller liegt bleischwer in meiner Hand. Er ist ein altes Erbstück, das ich nur für besondere Zwecke aus seiner Schatulle hole. Jetzt ist ein besonderer Moment. Ich setze die Feder auf das Papier und fahre vorsichtig darüber hinweg. Eine blaue Linie aus Tinte folgt meiner Handbewegung. Zuerst ist es ein zaghaftes Ausprobieren von Worten, die sich wie durch Zauberei zu einem Ganzen fügen. Ich vergesse den Mann, seine Pistole, das Ticken der Uhr. Mir ist es egal, wie viel Zeit ich für das benötige, was ich niederschreiben soll. Es spielt keine Rolle mehr. Ich versinke in einem Rausch und schreibe immer schneller. Meine Finger verkrampfen sich, bis ich irgendwann nicht einmal mehr den Schmerz spüre und nur noch den Befehl des Mannes ausführe. Ich fülle Seite um Seite und lege sie zum Trocknen auf meinem Schreibtisch ab, bis dieser unter einer Collage aus Schriftstücken verschwindet.

Der Mann wird mir nichts mehr zuleide tun. Er hat sein Ziel erreicht und ich auch. Erleichtert folge ich dem Tempo meiner Hand, die unentwegt über das Papier jagt und wie in Trance Buchstaben, Silben, Wörter und Sätze notiert. Rechtschreibfehler und die richtigen Formulierungen werden zur Nebensache. Meine Finger schmerzen und mein Nacken ist steif. Steht der Mann noch hinter mir? Ruht seine Waffe noch an meinem Kopf? Ich weiß es nicht und es ist mir auch gleichgültig. Das Schreiben reißt mich wie ein kleines Ruderboot in Stromschnellen mit sich fort und beflügelt meine Fantasie. Eine Idee trägt mich zur nächsten, zaubert Bilder in mein Kopfkino, die mich die Realität und die Bedrohung, die von dem Mann ausgeht, vergessen lassen.

Die Zeit verrinnt und ich bemerke dies erst, als ich aufblicke und die Sonne am Horizont hinter den Häusern versinken sehe. Feine Wolkenschlieren färben sich orange und tauchen meine Kammer in ein merkwürdiges Licht, das zu meiner Stimmung passt. Ich habe es geschafft. Mein Untergang ist für dieses Mal aufgeschoben.