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1.  Kapitel

in welchem Lilli Leitermeier, mein astrologischer Zwilling, einer günstigen Gelegenheit einfach nicht widerstehen kann.

Lilli Leitermeier und ich kamen vor fast dreizehn Jahren am selben Morgen um sieben Uhr siebzehn im Geburtshaus Nussdorf auf die Welt. Unsere Mamas kannten sich bereits von der Schwangerschaftsgymnastik her und konnten einander sehr gut leiden. Sie fanden es klarerweise total aufregend, »astrologische Zwillinge« geboren zu haben; weil es ja fast nie vorkommt, dass so etwas zwei Frauen passiert, die sich gut kennen. Und stockvernünftig, wie unsere beiden Mamas sind, beschlossen sie noch im Geburtshaus, sich die künftige Betreuung ihrer Babys zu teilen.

Montag, Mittwoch und Freitag war also dann meine Mama für Lilli und mich zuständig, Dienstag, Donnerstag und Samstag übernahm uns Lillis Mama. Am Sonntag kümmerten sich die Papas um uns. Jeder Papa um die eigene Tochter. So hatten unsere Mamas vier babyfreie Tage pro Woche, an denen sie arbeiten konnten. Meine Mama in der Werbeagentur, Lillis Mama in der Steuerberaterkanzlei. Bis zu unserem zweiten Geburtstag ging das so, dann kamen wir von Montag bis Freitag zur Hannelore, weil beide Mamas die Babypause für beendet erklärten. Sie wollten wieder »Vollzeit« arbeiten.

Die Hannelore ist eine hauptberufliche Tagesmutter. Acht Jahre waren Lilli und ich bei ihr. Zuerst den ganzen Tag, von acht bis achtzehn Uhr, manchmal auch länger, wenn die Mamas Überstunden machten und auch die Papas keine Zeit hatten, uns abzuholen. Später, als wir in die Volksschule gingen, waren wir nur am Nachmittag bei der Hannelore. Hin und wieder, wenn unsere Eltern am Abend ausgingen, übernachteten wir auch bei ihr.

Seit zweieinviertel Jahren sind wir nun in einem Gymnasium mit »Nachmittagsbetreuung«. Wir wären lieber weiterhin nach der Schule zur Hannelore gegangen, weil die Hannelore haben wir echt gern gehabt, aber unsere Mamas waren dagegen. Bei dem Radau, den drei kleine Tageskinder machen, haben sie uns erklärt, könnten wir uns schlecht aufs Lernen konzentrieren, und die Hannelore könnte uns auch nicht wirklich bei den Hausaufgaben helfen, weil sie dafür nicht genug Bildung hat. Außerdem kostet die Nachmittagsbetreuung, inklusive dem miesem Fraß, den man zu Mittag in der Schule bekommt, viel weniger, als die Hannelore verlangt hat. Unsere Mamas behaupteten zwar, »die Kostenfrage« spiele keine Rolle, aber das können sie der Frau Blaschek erzählen! Seit geraumer Zeit leben die beiden Damen nämlich nach dem Motto: Geiz ist geil! Weil sie sich einen Traum verwirklichen wollen, der sehr viel Geld kostet. Ein altes Bauernhaus im Burgenland wollen sie kaufen und supertoll renovieren. Eines, das so groß ist, dass es für zwei Kleinfamilien und dazu noch ein paar gute Freunde als Ferien- und Wochenenddomizil reicht. Mein Papa, glaube ich, hält von einem Bauernhaus im Burgenland nicht viel. Aber bei uns daheim wird meistens gemacht, was meine Mama will. Und bei der Lilli daheim ist es nicht anders.

Angefangen hat mein Problem mit Lilli – oder ihres mit mir? – vor gut einem halben Jahr. In einer Mathestunde, ein paar Wochen vor den großen Ferien. Wir schrieben die letzte Klassenarbeit des Jahres, und Lilli war – wie üblich – bereits fünfzehn Minuten vor dem Ende der Stunde mit allen vier Aufgaben fertig. Sie klappte ihr Heft zu, lehnte sich zurück, stopfte sich den Kaugummifladen, den sie hinter dem linken Ohr geparkt hatte, in den Mund, verschränkte die Arme über der Brust, linste Kaugummi kauend zur Deckenlampe rauf und gähnte dezent.

Wir anderen rechneten noch vor uns hin, und Armin, der hinter mir saß, röchelte und schnaufte vor Anstrengung gottserbärmlich und stank. War er aufgeregt, schwitzte er, und sein Schweiß roch nach überreifem Münsterkäse. Meistens merkte man das nur, wenn man ihm zu nahe kam, doch diesmal waberte diese Münsterzumutung bis zu mir. Für Armin ging es nämlich um die Wurst! Er brauchte unbedingt ein Genügend, um ins Zeugnis kein Nichtgenügend zu bekommen.

Ich fing gerade die letzte Rechenaufgabe an, da sagte die Dr. Bär, unsere Mathelehrerin: »Leitermeier, wäre es nicht angebracht, deine Arbeit in der verbleibenden Zeit auf etwaige Fehler hin zu kontrollieren?«

Lilli schaute zum Lehrertisch zur dort thronenden Dr. Bär und sagte: »Nicht nötig.«

Die Dr. Bär hievte ihre hundert Kilo Lebendgewicht vom Lehrersessel hoch, trippelte auf das Pult von Lilli und mir zu und quengelte dabei sichelmündig: »Leitermeier, musst du unbedingt vor deinen Klassenkollegen unsolidarisch deine Überlegenheit demonstrieren?«

Lilli glotzte die näher kommende Dr. Bär verblüfft an und zischelte mir zu: »Wieso bin ich unsolidarisch? Ist die Tanzbärin jetzt schon komplett gaga?« (Den Spitznamen hat die Dr. Bär übrigens deswegen, weil sie mit ihren Dickfüßchen immer so kleine Schrittchen macht und herumtänzelt, wenn sie an der Tafel steht und uns etwas vorrechnet.)

Die Dr. Bär machte dicht vor unserem Pult Halt. »Was passt Ihnen denn jetzt schon wieder nicht an mir? Ich tu doch überhaupt nichts!«, rief Lilli empört zu ihr hoch.

Worauf sich die Dr. Bär zu Lilli runterbeugte und fragte: »Würde es dir gefallen, wenn du sehen müsstest, wie sich jemand genüsslich zurücklehnt, während du selbst noch Probleme mit dem Lösen der Aufgaben hast?«

Lilli zog ein Papiertaschentuch aus der Pultlade und wischte damit über den dunkelblauen Heftdeckel. Den hatte die feuchte Aussprache der Dr. Bär mit Spuckebläschen gesprenkelt.

»Und wie soll ich mich solidarisch verhalten?«, fragte sie, mit einer Hand wischend, mit der anderen auf mich deutend. »Wenn ich der Marlen solidarisch die letzte Gleichung ansage, passt Ihnen das doch sicher auch nicht. Oder?«

»Spare dir solch inferiore Bemerkungen!«, keifte die Dr. Bär.

Lilli knüllte das Taschentuch zusammen, stopfte es ins Pultfach, blickte mit Unschuldsaugen zur Dr. Bär hoch und fragte: »Bitte, was heißt in-fee-riii-ooor?«

»Raus mit dir! Verlasse sofort die Klasse«, rief die Dr. Bär und grapschte sich Lillis Heft. »Du störst die anderen bloß beim Arbeiten!«

»Aber gern«, murmelte Lilli, nahm ihr Englischheft aus dem Pultfach, klemmte einen Kugelschreiber dran und ging langsam und kopfschüttelnd aus der Klasse.

Die Dr. Bär mag Lilli einfach nicht. Was irgendwie sonderbar ist, denn normalerweise mögen Lehrer eine Schülerin, die in ihrem Fach Klassenbeste ist, doch sehr gern. Ich vermute, die Dr. Bär ist auf Lilli böse, weil sie mitgekriegt hat, dass Lilli in den Pausen manchmal viel bejubelte Tanzbärinimitationen hinlegt. Da stopft sie sich zwei Rucksäcke unter die Klamotten, einen als Fettpo und einen als Fettbauch, und dann kritzelt sie windschiefe Zahlen und Buchstaben an die Tafel und wischt dran rum und bessert aus und wischt wieder und bessert aus und jammert mit Tanzbärinstimme: »Da hat sich wohl ein kleines Fehlerteufelchen eingeschlichen!«

Die Dr. Bär verrechnet sich an der Tafel nämlich ziemlich oft und wird beim Fehlersuchen total nervös und werkt so lange mit dem klatschnassen Tafelfetzen herum, bis kein Schwein mehr erkennt, was auf der Tafel steht, und in der Klasse die allgemeine Ratlosigkeit ausbricht.

In der Pause nach der Mathearbeit, es war die Fünfzehn- Minuten-Pause, verglich ich zuerst meine Ergebnisse mit den anderen, die meine Gruppe gehabt hatten, und freute mich, dass ich anscheinend drei von den vier Aufgaben völlig richtig hatte, dann versuchte ich den Armin ein bisschen zu trösten. Der war dem Heulen nahe, weil er sich sicher war, keine einzige Aufgabe richtig hingekriegt zu haben.

»Jetzt krieg ich eine Nachprüfung im Herbst«, sagte er mit Zitterstimme. »Und die schaff ich doch auch nicht. Und dann muss ich in die Hauptschule gehen, weil mein Papa kein Geld für Nachhilfestunden, die nichts nützen, rauswerfen will. Und meine Mama kein Geld dafür hat. Aber ich will nicht von euch weg, ich will bei euch bleiben.«

Warum der Armin nicht von uns wegwollte, war mir ein echtes Rätsel. Niemand in der Klasse mochte ihn so richtig, keinen einzigen Freund hatte er. Eine Freundin schon gar keine! Er war durch und durch ein öder Langweiler. Unsportlich, witzlos, mindestens zehn Kilo übergewichtig und senk-spreiz-plattfüßig, zudem hat er Henkelohren, einen leichten Silberblick, Hasenzähne, Sommersprossen und statt einer richtigen Nase einen radieschengroßen Knopf. Niemand wollte neben ihm sitzen, der zweite Platz an seinem Pult fand keinen Abnehmer. Nie wurde er von jemandem aus der Klasse zu einer Party eingeladen. Wenn beim Sport die Mannschaften gewählt wurden, blieb er immer als Letzter übrig. An den Wandertagen latschte er als Schlusslicht hinterher, keiner gab ihm das Poesiealbum zur gereimten Verewigung, und ob er fehlte oder in der Klasse anwesend war, interessierte niemanden. Und wäre er nicht hinter mir gesessen, hätte ich ihn auch garantiert nicht zu trösten versucht. Aber so ein grauslicher Unmensch, dass ich Tränen-Rotz-Geschniefe dicht an meinem Genick einfach ignorieren kann, bin ich auch wieder nicht. Dabei hätte ich es genauso gut ignorieren können und mich dem schweißigen Münsterodeur nicht hautnah aussetzen müssen, denn Trost für Armin habe ich sowieso keinen gewusst. Und ihn zu fragen, warum er nicht von uns wegwill, wäre mir zu unhöflich erschienen.

Jedenfalls hörte ich mir das verzweifelte Gebrabbel vom Armin an, bis die Mausi, unsere Englischlehrerin, in die Klasse kam. Da erst fiel mir auf, dass Lilli noch immer nicht zurückgekommen war. Der Mausi fiel es natürlich auch auf. Und mit der Mausi ist diesbezüglich eh nicht gut Kirschen essen. Die hat es überhaupt nicht gern, wenn man zu spät in ihrer Stunde erscheint. Wer erst nach ihr die Klasse betritt, kann mit einer spontanen Vokabelprüfung rechnen. Und da Lilli in Englisch eine gewaltige Niete ist und von den neuen Vokabeln garantiert keine einzige hätte übersetzen können, meldete ich mich und log: »Bitte, Frau Professor, die Lilli Leitermeier hat ganz dringend aufs Klo gehen müssen. Ihr war plötzlich mulmig im Bauch.«

Kaum hatte ich es gesagt, ging die Klassentür auf und Lilli kam herein. Ich räusperte mich, um Lilli auf mich aufmerksam zu machen, legte beide Hände auf meinen Magen und verzog leidend das Gesicht. Lilli kapierte, verzog auch leidend das Gesicht und sagte, während sie zu unserem Pult ging: »Bitte, ich habe leider ein bisschen kotzen müssen!« Dann ließ sie sich leise stöhnend auf ihren Sessel plumpsen.

Alle Kinder in der Klasse – außer mir natürlich – nahmen ihr die schreckliche Kotzübelkeit ab und schauten mitleidig zu unserem Pult. Und die Englisch-Mausi war von Lillis Leidensmiene derart beeindruckt, dass sie fragte, ob sich Lilli vielleicht im Schularztzimmer zur Leibesentspannung ein Stündchen auf das Ruhebett legen will. Oder ob sie sich nicht wenigstens im Sekretariat von der Frau Brunner, unserer Schulsekretärin, eine Portion Baldriantropfen verabreichen lassen will. Baldriantropfen sind nämlich unser Schulallheilmittel. Egal ob man Bauchweh, Kopfweh oder sonst ein Weh hat, sie werden einem angeboten.

Lilli lehnte beides heldenhaft ab. »Danke, es geht ohnehin schon wieder«, hauchte sie in Richtung EnglischMausi. Und mir flüsterte sie zu: »Wenn ich dir erzähle, was ich gerade getan habe, bist du platt.«

In der Pause nach der Englischstunde wollte ich natürlich, dass mir Lilli Bericht erstattet. Aber sie flüsterte geheimnisvoll: »Nicht jetzt, Marlen. Zu Mittag erzähle ich dir dann alles. Ich kann echt nicht riskieren, dass uns jemand belauscht. Sonst bin ich nämlich dran!«

Nach einem grausigen Mittagessen, pampige Tomatensuppe mit Reis und staubtrockenen Grießschmarrn mit picksüßem Apfelkompott hatte es gegeben, ging ich mit Lilli in den Schulhof raus. Wir setzten uns auf das niedrige Mäuerchen beim Fahrradabstellplatz, wo sich untertags keine Menschenseele aufhält, und ich forderte ungeduldig: »Jetzt schieß aber endlich los, Lilli, mach es nicht gar so spannend!«

»Ich hab einen echten Coup gelandet«, sagte Lilli, von einem Ohr bis zum anderen grinsend. »Wirklich schade, dass alles geheim bleiben muss. Weil dafür würde mir das Verdienstkreuz erster Klasse in Platin mit Diamanten gebühren.«

Und dann erzählte mir Lilli, was sie getan hatte, und ich war, wie von ihr vorausgesagt, platt. Platter als platt sogar, denn was sich Lilli da geleistet hatte, war sagenhaft! Würde es tatsächlich ein Verdienstkreuz für unverfrorene Schülerfrechheit geben, wäre Lilli zumindest eine aussichtsreiche Kandidatin dafür gewesen.

Folgendes war geschehen: Lilli, von der Dr. Bär rausgeworfen, geht den Flur runter, zum Treppenhaus. Weil dort, gegenüber der Treppe, ein Fenster mit einem breiten Fensterbrett ist, auf dem man bequem sitzen kann. Sie setzt sich aufs Fensterbrett und macht ihre Englischhausaufgaben fertig. Lilli macht Hausaufgaben meistens erst in der Pause vor der Stunde, für die sie sie braucht, fertig. Dann ratscht die Pausenglocke die Schulstunde aus, und gleich danach kommt die Tanzbärin, von unserer Klasse her, zur Treppe. In den Armen hält sie den Stapel Mathehefte. Das oberste Heft ist das von Armin, weil er seine Arbeit als Letzter abgegeben hat. Lilli erkennt das Heft gleich, denn nur Armin hat sein blaues Matheheft in einen quietschgrünen Plastikschutzumschlag gesteckt, allen anderen war das zu viel des Aufwands. Die Tanzbärin erklimmt die Treppe. Auf dem Treppenabsatz im Halbstock ist sie, da saust ein stämmiger Knabe wie der geölte Kugelblitz die Treppe runter und prallt ungebremst auf die üppige Vorderfront der Dr. Bär. Ein entsetzter Empörungsschrei entringt sich der bärschen Brust, der Heftestapel entgleitet den bärschen Armen, und alle Hefte – bis auf eines – kommen rund um die Gesundheitslatschen der Dr. Bär zu liegen. Eines, das mit dem quietschgrünen Plastikschutzumschlag, flutscht die Stufen runter und landet unter Lillis baumelnden Beinen. Quietschgrünes Plastik ist eben gleitfähiger als blauer Karton! Der stämmige Knabe stammelt zerknirscht Entschuldigungen, sammelt hurtig die verstreuten Hefte ein und überreicht sie der Dr. Bär. Die keift noch schnell eine Rüge, dann stampft sie, unwillig murmelnd, weiter treppauf. Dass ihr ein Heft fehlt, hat sie nicht gemerkt.

Lilli steigt vom Fensterbrett, greift nach dem quietschgrünen Heft und denkt sich: Jetzt kann ich der fiesen, ungerechten Tanzbärin auch noch das Heft vom Armin nachtragen! Aber dann denkt sie sich: Warum eigentlich? Ist doch ihre Schuld, wenn sie nicht merkt, dass ihr ein Heft fehlt. Hätte sie halt nachgezählt! Und schließlich denkt sie sich: Das ist die gerechte Strafe! Ein Lehrer, der ein Heft verschlampt, kriegt Probleme, und wenn es um ein Klassenarbeitsheft geht, kriegt er besonders große Probleme! Zuerst hat Lilli vor, das quietschgrüne Heft einfach hinter den Heizkörper unter dem Fenster verschwinden zu lassen. Der Heizkörper reicht bis zum Boden, und dass unser Schulwart dem schmalen Spalt zwischen Heizkörper und Wand seine säubernde Aufmerksamkeit schenken könnte, ist ziemlich ausgeschlossen. Der kehrt ja nicht einmal die Fußböden. Doch dann fällt Lilli ein, dass Armin möglicherweise und ganz wider Erwarten diesmal genug Punkte für ein Genügend zusammengebracht haben könnte. Wenn das so wäre, sagt sie sich, müsste sie leider ihre gerechte Strafe bleiben lassen. So unsympathisch ihr der Kerl auch ist, dass er wegen ihr eine Nachprüfung bekommt, will sie denn doch nicht. Also geht sie flugs aufs Mädchen-WC, schließt sich in eines der Kabäuschen ein und schaut nach, was der Armin geschafft hat. Fünfzehn Punkte, schätzt sie, könnte man ihm bei Nachsicht aller Taxen geben. Aber zwanzig Punkte sind mindestens für ein Genügend nötig. Und wie sie sich die Rechnerei vom Armin im Detail so anschaut, kommt ihr eine tolle Idee. Lilli neigt nämlich seit eh und je dazu, Unerlaubtes und Verbotenes zu tun. Auch wenn es ihr gar nichts bringt. Sie hat einfach Lust dazu, falls sich eine »günstige Gelegenheit« ergibt. Und aus dem quietschgrünen Heft springt ihr diese »günstige Gelegenheit« direkt ins Auge. Da muss man, sagt sie sich, bloß aus etlichen Minussen Plusse machen und über etliche Plusse minus schreiben und ein paar Zahlen durchstreichen und die richtigen Zahlen drüberschreiben und ein paar as zu bs ausbessern, und ein paar bs zu as machen, und schon sind zwei Aufgaben völlig richtig und zwanzig Punkte sicher, und das Genügend ist garantiert.

Also setzt Lilli ihre tolle Idee in die Tat um, wobei zum Glück ihr Kugelschreiber den gleichen Farbton hat wie der von Armin, und gerade wie die Schulglocke die Pause ausratscht, ist sie mit der »Verbesserung« fertig und verlässt das WC. Eigentlich hat sie bloß vor, das Heft wieder dorthin zu legen, wo es nach dem Rutsch über die Treppe gelandet ist. Was dann mit ihm passiert, sagt sie sich, ist nicht mehr ihre Sache. Aber gerade wie sie das Heft vor dem Fenster deponieren will, keucht ein Mann vom Schultor her aufs Treppenhaus zu. Er trägt ein großes Tablett mit Sandwiches drauf und fragt atemlos: »Wo ist denn hier das Lehrerzimmer?«

Lilli deutet nach oben und sagt, das ist im zweiten Stock, da muss er zuerst ins Sekretariat rein und da ist links im Sekretariat eine Tür, dahinter ist das Lehrerzimmer. Der Mann schnauft, dass er in zweiter Spur parkt, gleichzeitig fängt vor der Schule ein irres Hupkonzert an, und da hat Lilli wieder eine tolle Idee. Sie fragt den Mann, ob er bloß liefert oder auch kassieren muss, und er antwortet, dass er bloß liefert, bezahlt ist schon, und Lilli sagt freundlich: »Dann trag ich halt das Essen rauf, damit Sie wegfahren können.«

Der Mann sagt »Danke, das ist wirklich lieb von dir, da ersparst du mir viel Ärger«, überreicht Lilli das Sandwichtablett und wieselt dem Schultor zu. Lilli deponiert Englischheft und Kugelschreiber auf dem Fensterbrett, dann jappelt sie in den zweiten Stock rauf, das quietschgrüne Heft unter dem Sandwichtablett. Weil es ein schwülheißer Tag ist, steht – von wegen kühlendem Durchzug – die Tür zum Sekretariat sperrangelweit offen, die Tür vom Lehrerzimmer auch. Lilli sagt zur Frau Brunner: »Ich soll die Sandwiches abliefern«, und geht ins Lehrerzimmer. Kein einziger Lehrer ist drin. Es hat ja längst geläutet. Alle Lehrer sind schon in die Klassen gegangen. So viel saumäßiges Glück zu haben, ist direkt unheimlich, denkt Lilli und schaut sich suchend um. Lang muss sie nicht suchen. Der Heftestapel liegt auf dem großen Tisch, beim Platz der Dr. Bär.

»Stell das Tablett auf den großen Tisch!«, ruft die Frau Brunner hinter ihr her. »Aber nicht grad dorthin, wo die Sonne draufscheint!«

»Mach ich«, ruft Lilli zur Frau Brunner raus, stellt das Tablett ab, zieht das quietschgrüne Heft drunter hervor, flitzt zum Heftestapel, legt das quietschgrüne Heft obendrauf, überlegt es sich anders und schiebt es mitten in den Stapel. Dann marschiert sie aus dem Lehrerzimmer, durch das Sekretariat, auf den Flur hinaus, springt die Treppe runter, nimmt ihr Englischheft und ihren Kugelschreiber vom Fensterbrett und kehrt in unsere Klasse zurück.

»Ist das vielleicht keine reife Leistung und eines Verdienstordens würdig?«, fragte mich Lilli, als sie fertig berichtet hatte. Ich nickte. Ich nickte meistens zu dem, was Lilli sagte. Und ich widersprach selten. Nicht, dass ich mich nicht getraut hätte. Aber irgendwie fand ich seit Babytagen so ziemlich alles, was Lilli tat, super.

»Blöd ist nur«, meinte Lilli, »dass ich damit ausgerechnet dem Armin, diesem dumpfen Kotzbrocken, geholfen habe! Hätte nicht das Heft von der Rosi über die Treppe flutschen können? Die Rosi steht auch zwischen Genügend und Nichtgenügend, und um die täte es mir Leid, wenn sie im nächsten Jahr nicht mehr bei uns wäre!«