Dimitri Benjamin Holzinger

RUHE

- das erste Buch aus der Stadt Ruhe
für die Oberwelt-

Nachdruck oder jede Art der Veröffentlichung, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung und Quellenangabe.

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheits­auf­nahme – verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie.

Im Internet abrufbar unter: http://dnb.ddb.de

Autor: Dimitri Benjamin Holzinger
Bilder: Tom Zabel
Einband: Tom Zabel, Dimitri Benjamin Holzinger

© amicus-Verlag 2012
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage 2012

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.amicus-verlag.de
Satz: www.DTPMEDIA.de Mathias Gawlich

ISBN 9783944039145

Ein kurzer Einstieg für Leseanfänger

Man unterscheidet wohlbekannt zwischen den Leseeinsteigern, den suchenden Leseratten und den hartgesottenen Bücherwürmern, welche sich nur so durch Bücher fressen. Die Leseeinsteiger sind im Umgang mit Büchern noch nicht sehr erfahren und können ihnen kaum etwas abgewinnen. Schließlich ist Lesen ja eine zeitaufwändige Angelegenheit und sicher will keiner seine Zeit sinnlos verschwenden. Um den Anfang zu erleichtern, habe ich eine kleine Leseanleitung verfasst. Wenn Sie mit diesem Buch beginnen, dann begeben Sie sich am besten an einen Ort, wo wenig Ablenkungsmöglichkeiten bestehen – zum Beispiel in die Natur, auf den Balkon, oder in ein ruhiges, gemütliches Zimmer. Musik neben dem Lesen ist nur für fortgeschrittenere Leser eine Erweiterung, um das jeweilige Buch zu untermalen. Es kann nämlich auftreten, dass die Musik die Wirkung des Buches verfehlt oder verfälscht. Dabei spricht man dann meist von einer Nebenwirkung. Bei Nebenwirkungen wenden Sie sich bitte an Ihren Verlag oder Apotheker „Äh, tschuldigung, Autor“. Diese Nebenwirkungen können für den Leseeinsteiger sehr oft ausschlaggebend sein, das Buch beiseite zu legen. Eine andere Nebenwirkung kann sein, dass das Buch zu anspruchsvoll ist, oder zu viele unbekannte Wörter enthält. Deshalb sollte ein Leseeinsteiger sich am besten von den jeweiligen Bücherverkäufern, oder schon begabteren Lesern beraten lassen. Auch die Langatmigkeit von Büchern ist eine mögliche Nebenwirkung. Das heißt, zu viele unnötige Details, komplizierte Umschreibungen, zu lange Sätze, ein unklarer Kontext und wenn zu wenig Aufmerksamkeit auf den Leser gerichtet wird.

„Hallo? … noch da?“

Bei den meisten Büchern wird einfach zu lange über ein und dieselbe Sache geschrieben, ausgeschmückt und in die Länge gezogen. Da könnte man als Leser durchdrehen. Es ist wie eine Folter; man will wissen, wie es weitergeht, aber dann kommt nochmal das Selbe, nur anders verpackt. Dieses Buch, welches vor Ihnen liegt, ist ein gutes Beispiel dafür. Viele Nebenwirkungen!

Aber um diese Nebenwirkungen zu überwinden, müssen Sie die „Geduld beim Lesen“ lernen. Natürlich denken viele sie hätten etwas besseres zu tun, als in einem Buch zu lesen, aber stimmt dies? Ist es nicht eine Art von Ruhe­pol, welcher nach uns schreit und man sich gerne zurückziehen würde, ­einen gemütlichen Platz aufsuchen und mit einem wunderschönen Buch in eine Welt zu flüchten, wo soviel mehr möglich ist als hier? Das ist nicht einfach, ich weiß. Doch wenn man sich überwindet und darauf einlässt, dann können Dinge passieren, die in uns heranwachsen und uns begleiten, wohin wir auch gehen mögen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Dank

Vorwort

Stille, nichts außer Stille und Ruhe

Kapitel 1 „Meister der Unwissenheit“

Kapitel 2 „Die Begegnung“

Kapitel 2.1 „5493“

Kapitel 3 „Die Integration“

Kapitel 4 „Die Geschichte“

Kapitel 4.1 „Bei den Stummen“

Kapitel 4.2 „Ruhe finden“

Kapitel 4.3 „Die Nachricht“

Kapitel 4.4 „Auf nach Ruhe“

Kapitel 4.5 „Die Lichtung“

Kapitel 5 „Eine neue Kultur“

Kapitel 5.1 „Die Idee“

Kapitel 6 „Gebiet der Steine“

Kapitel 6.1 „Die Mission“

Kapitel 7 „Ein nettes Haustier“

Kapitel 7.1 „Tagebucheintrag Nr. 1“

Kapitel 8 „Happy Island“

Kapitel 9 „Illusion oder Realität?“

Kapitel 9.1 „Tagebucheintrag Nr. 2“

Kapitel 10 „Trödel“

Kapitel 11 „Nobodhi“

Kapitel 11.1 „Schnell, schneller, schwupp“

Kapitel 12 „Guten Morgen“

Kapitel 13 „Der Magnul“

Nachwort

Stille, nichts außer Stille und Ruhe

Sucht euch einen Platz, wo es ruhig und still ist, und lasst euch ganz einfach Zeit mit diesem Buch. Dieses Buch soll beruhigen (Soll! ???) und der lauten und stressigen Welt ein wenig Gelassenheit spenden. Die Welt scheint von Satellitenbildern aus betrachtet, wie von einem Virus befallen, welcher nicht mehr aufzuhalten scheint. Die Maschinen haben längst die Kontrolle über die Menschen übernommen. Die Wolkenkratzer wachsen wie Unkraut aus der Erde, umgeben von ­einer riesigen Smogwolke, die nicht mehr aufhört zu wachsen und mittendrinnen die Menschen, welche nicht mehr in der Lage sind diese Krankheit zu heilen. Um zu leben, brauchen die Menschen Geld und um Geld zu bekommen, müssen die Menschen sich dem System unterordnen und mit dem hohen Konkurrenzdruck mithalten. Die Menschen sind also ständig in Bewegung, nicht nur um Geld zu verdienen, sondern auch um dem Tod zu entkommen und sich immer vor Augen zu führen, dass sie leben. Wenn sie Zeit haben sich zu entspannen, wenden sie sich an Fernsehgeräte oder Computer, um die Ruhe zu beseitigen, vor welcher sie solche Angst haben. Falsch ist, dass sie so sehr an der Vergangenheit hängen, dass die Maschinerie der Moderne sie daran hindert geistig zu wachsen und sie nur mit Greifbarem versorgt. Ruhe ist genau das, was Menschen aus unserer heutigen Zeit fehlt und wovor die Meisten zurückschrecken, keine Zeit dafür haben oder erst gar nicht die Möglichkeit. Überall ist Musik, sind Stimmen, Geräusche, Reize, Plakate, Werbungen, ohne Ende. Wie soll man sich da nur entspannen?

(Informationen, Informationen, Infos, Infos, In, Is und Infos in Informationen.)

Sie werden überall aufgesaugt, beantwortet, verarbeitet, verändert, falsch verstanden und ausgespuckt.

Wir Menschen agieren als lebendige Staubsauger, welche durch ­ihren Drang nach mehr unersättlich weiterlaufen, bis sie sich selbst verschlucken. Dies mag vielleicht ein eigenartiges Bild sein, doch unser Universum entspricht einem ähnlichen Bild. Es dehnt sich immer weiter aus, kreiert und verschlingt. Dies ist die Grundvoraussetzung von Leben: sich in die Hände unserer Schöpfung zu legen. Sie mit aller Kraft nach außen zu leiten und unsere Dankbarkeit mithilfe der materiellen Welt mit Verspieltheit und Kreativität auszudrücken.

Ich bin eine Art Gegenpol zu dieser Menschheit, die nach außen arbeitet. Ich lebe 2222 Meter unter der Erde in einem Hochsicherheitsbunker. Ich bin vollkommen abgeschottet von unnützen Informationen, Abgasen und dem ganzen Chaos. Das Sonnenlicht wird durch kleine künstliche Sonnen in meinem unterirdischen Höhlensystem wiedergegeben. Das erlaubt mir sogar Wiesen und Pflanzen aller Art zu züchten. Es gibt Hallen mit unterschiedlichen Klimata und Bewässerungssystemen. Diese Hallen können, angefangen von Kakteen bis hin zu Palmen, Buchen und Fichten beinhalten. Ein Paradies, das den Menschen der Oberwelt für immer verschlossen bleiben wird. Ich bin der Kaiser der Stadt Ruhe und kontrolliere alle Gebiete. Jedes Gebiet hat einen Gebietsdirektor, welcher dafür sorgt, dass es den Einwohnern gut geht. Es gibt alle zwei Monate einen Tag, an welchem sich alle treffen und Vorschläge zur Verbesserung abgeben. Diese Vorschläge werden dann von dem Gebietsdirektor eingesammelt, analysiert und meistens auch durchgesetzt. Die Bewohner der Stadt Ruhe werden die Ruhigen genannt. Sie sind sehr zufrieden und immer freundlich – ganz im Gegensatz zur Oberwelt. Dort sind die meisten leicht reizbar, unfreundlich und eingebildet, jeder sorgt für sich selbst und wenige umarmen sich und wenn doch, dann viel zu selten! Hier umarmt sich jeder, jeder interessiert sich für jeden und jeder liebt jeden.

Nun ein kleines Beispiel, um zu zeigen, wie anders wir hier unten zu leben pflegen:

Eines Tages ging ich in der Stadt spazieren, da begegnete mir Reimund. Er war wie immer sehr beschäftigt und berichtete mir schnell und kurz über seine neue Erfindung:

„Guten Reim, Herr Ruh. Gestern hab’ ich eine neue Maschine erschaffen. Die Maschine nennt sich Gedankenerweiterungsapparat und ist wirklich nicht fad. Man wirft ein Wort hinein und heraus kommen 10.

Wirfst du zehn hinein, kommt heraus ein Reim. Der Output ist des Inputs Input und Dazuputs. Das ist sehr brauchbar. Fällt einem ‚mal beim Schreiben nichts mehr ein, dann haut man da ein Wort hinein und was dabei herauskommt, das ist immer fein.“

In der Stadt Ruhe ist die höfliche Anrede nicht mit „Sie“, wie auf der Oberwelt. Nein, jeder versteht etwas anderes unter höflich. So ­wollen manche nur „geduzt“ oder in Reimen angesprochen werden. Bei manchen muss man sich nach jedem Satz einmal im Kreis drehen, während der Andere wieder etwas sagt. Es gibt Menschen, die wollen, dass man nach jedem Satz einen Satz sagt, welcher keinen Sinn ergibt. Um zu wissen, wie man jemanden möglichst höflich anredet, fragt man das Gegenüber: „Wie höflichst man sich?“ Dieses Höflichsen nimmt ­einem jegliche Hemmung vor Gesprächen mit unbekannten Ruhigen. Außerdem führt es zu einer angenehmen Nebenerscheinung, nämlich die Gespräche werden interessanter, aufgelockerter und führen manchmal in noch nie zuvor betretene Tiefen. Auch wenn es anfangs als nervig erscheinen mag, gewöhnt man sich sehr schnell daran und kann bei manchen längeren Gesprächen mit absurden Höflichsen sogar in Ekstase fallen. Und wenn jemand keine Lust auf ein Gespräch hat, lässt er sich ein so kompliziertes Höflichsen einfallen, dass der Andere das Weite sucht oder auch findet. Bei Menschen, welche sich schon besser kennen, fällt dieses Höflichsen manchmal weg.

Jedenfalls war bei Reimund das Höflichsen mit Reimen verbunden, wobei es mir oft sehr schwer fällt mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Doch meist sind diese Gespräche dann sehr schön ausgeschmückt und zeigen eine Vielzahl an positiven Wendungen, die man nur erlangen kann, indem man ein Wort findet, welches sich reimt. Als Beispiel: „Gestern ging ich die Einkaufsstraße entlang und traf einen mir bekannten Mann. Als ich ihn sah, wurde mir klar, es war kein Mann sondern ein Dromedar. Wie kam es dann wohl nur zu solch einer ­komischen Verwechslung der Lage, ganz einfach, weil ich in Reimen gesprochen habe.“ So kommen teilweise Sätze vor, die gar keinen Sinn ergeben und dadurch das Gespräch immer wieder in andere Richtungen lenken. Reimund war Spezialist in solchen Sachen. Er kann einen so verwirren und faszinieren, dass man nach einem Gespräch nicht mehr weiß, um was es überhaupt geht. Aber es gibt weitaus schlimmere Menschen, welche nur in Rätseln sprechen, wobei man Kopfweh bekommen kann und manchmal sogar tagelang beschäftigt ist, diese Rätsel zu entschlüsseln. Am Schluss kommt man dann darauf, dass derjenige nur sagen wollte, wie schön das Wetter heute ist. „Mir ist so als dürstete es mich nach Luft von der Oberwelt und seiner vergasten Atmosphäre, denn die Kälte hier macht mir das Denken schwer“, so ungefähr sah das dann aus. Er meinte damit nur, dass es ihm zu heiß ist, dass er deshalb nicht mehr denken kann und dass ihm sein Spaziergang in der frischen Luft ganz gut tut. Die frische Luft kommt natürlich nicht von oben, sondern von unseren Wäldern und Pflanzen. Maschinen, welche Abgase erzeugen, sind bei uns verboten. Unsere Fortbewegungsmittel sind daher keine Autos wie oben, aber trotzdem sind sie sehr schnell und vielseitig. Es gibt Rollbahnen, welche Fahrzeuge nur durch Fallgeschwindigkeit an tiefere Orte bringen. Diese Geräte sind auf der Rückseite mit einem Seil befestigt, welches Fahrstühle wieder nach oben befördert. Um den Wagen wieder nach oben zu befördern, werden schwere Gegenstände mit dem Lift nach unten transportiert, um den Wagen mit der Schnur zurückzuziehen. Eine raffinierte Technik, welche die Forscher schon vor einigen tausend Jahren entwickelt hatten, als sich unsere Stadt noch auf der Oberfläche befand. Die Entstehungsgeschichte von Ruhe liegt sehr lange zurück. „Unsere“ Gattung von Mensch war schon vor 10000 Jahren fortgeschrittener, als die der Menschen von der Oberwelt. Unsere Stadt lag damals an einem Hang, an der Küste des Pazifischen Ozeans. Über die genaue geographische Lage darf ich nichts verraten. Ein bisschen entfernter des Hanges befand sich ein Forschungslabor mit dem Namen Ruhe. Dieses war unter der Erde, um Informationen der Wissenschaft geheim zu halten. Eines Tages kam ein großer Sturm und zerstörte die halbe Stadt. Daraufhin erkannten die Einwohner, wie gefährlich die Naturkatastrophen auf der Oberfläche sind. Der Chef des Forschungslabores Ruhe zeigte sich hilfsbereit und schlug vor, dass die Einwohner sich unter die Oberfläche begeben. Alle Einwohner fingen an Tunnel zu bauen und unterirdische Wohnbereiche auszuhöhlen. Um Trinkwasser zu erzeugen, bauten sie Kanäle, die das Wasser des Pazifischen Ozeans anzapfen und mit bestimmten biologischen Reaktionen reinigen und entsalzen. Irgendwann war es dann soweit, wir begaben uns in die Unterwelt, in die ungewisse Dunkelheit. Aber wir wollten den anderen Lebewesen der Oberwelt noch etwas hinterlassen. So schrieben wir eine Tafel mit 10 Geboten, welche sie befolgen sollten, um bessere Lebensverhältnisse zu schaffen. Ob sie je befolgt wurden, kann man nicht sagen. Denn unsere Botschafter berichten immer nur über die schlechten Verhältnisse der Oberwelt. Auf der Oberwelt werden wir als Hölle bezeichnet, in welche man kommt, wenn man Schlechtes tut, zum Beispiel unseren 10 Geboten nicht Folge leistet. Wenn das nicht absurd ist? Denn eigentlich ist oben die Hölle und unten Ruhe und Zufriedenheit. Ich glaube nicht, dass diese Menschen unsere Gebote richtig verstanden haben.

Soviel zu Oben und Unten. Ich will euch nun eine Geschichte erzählen, welche sich vor nicht sehr langer Zeit in Ruhe abgespielt hatte.

Kapitel 1 „Meister der Unwissenheit“

Der Meister der Unwissenheit sammelte ohne zu wissen, was es für einen Sinn für ihn ergab, unwesentliches Gedankengut, oder besser gesagt Gedankenschlecht. Seine Hände vollgeladen mit Manuskripten aus dem 16. Jahrhundert und allerlei unnützen Sachen, wie Hologrammen, Magazinen und Seiten, machte er sich auf den Weg in seinen Unwissenheitsbunker. In diesem Bunker versuchte er die verschiedensten Gedanken auszusortieren und so zu umzuschreiben, dass ein Meisterwerk der Unwissenheit herauskam. Wer dafür Verwendung finden sollte, spielte für ihn keine Rolle, denn für ihn befand sich darin eine große Sinnhaftigkeit. Was machte dies für einen Sinn, wenn der Meister der Unwissenheit sinnlose Gedanken aufschrieb und darin auch noch einen Sinn fand? Wer hielt dies für sinnvoll auch noch dafür zu bezahlen? Keiner, außer er wahrscheinlich. Es gab aber auch Menschen, die manche Schriften von Intellektuellen und von begabten Schriftstellern für sinnlos abstempelten. Einer dieser begabten Schriftsteller klingelte um punkt 12 Uhr am 5. Dezember 2048 an der Tür des Meisters. Der Meister war momentan vertieft in sein letztes Buch. Er hatte gerade eine Stelle gefunden, die so sinnlos war, dass sie wieder Sinn ergab. Ein Satz, welcher in keinster Weise plausibel erklärbar war, bereitete ihm gerade übelste Kopfschmerzen: „Wir machen Gedanken, an die jeder denkt, und auch die Gedanken, an die niemand denkt, machen wir so, dass jeder an sie denkt.“ Dieser Satz ergab auf den ersten Eindruck hin keinen Funken an Sinnhaftigkeit, aber bei genauerer Betrachtung war genau das Gegenteil der Fall. Doch die Mehrheit hatte wohl keine Zeit für solche absurden Verstrickungen in Gedankenwelten. Wie sollte man denn überhaupt Gedanken, an die niemand denkt, so verändern, dass danach wieder jemand an sie denkt. Dann wären die Gedanken, an welche niemand denkt, gleichzeitig die Gedanken, an die jeder denkt. Dann würde doch jeder jeden existierenden Gedanken denken und dies zur gleichen Zeit.

Als würde dieser Satz nicht schon ausreichen, um ihn in den Wahnsinn zu treiben, solange dies auch noch ging, so kam noch hinzu, dass genau in diesem Augenblick diese Gestalt vor der Tür lungerte und um einen höflichen Eintritt in seine so zerstreute Welt bat.

(Man sollte vielleicht noch vermerken, dass auf der Tür groß geschrieben stand „Gehirn bitte draußen lassen!!!“)

„RING RING“ – „Verdammte Klingel, wer störet mich zu so später Stunde?!“ Er ging zur Tür und lugte durch das Guckloch. Draußen stand ein in einen schwarzen Mantel gehüllter Mann, dessen ganzes Gesicht von einer tiefen unsympathischen Kapuze verdeckt war. Sein Mantel war durchnässt von dem deprimierenden Regen, welcher uns schon seit über zwei Wochen das Leben erschwerte. Für gewöhnlich ließ der Meister sich während des Schreibens nicht stören, aber da er gerade vor einem ihm im Moment unlöslichen Problem stand, wie so oft, öffnete er seine Tür und munkelte irritiert: „Bitte, wer?“ In ­einer leicht eingeschüchterten Stimme antwortete der Fremde: „Mein Name ist Dunken, ich bin gekommen, um Unwissenheit zu erfahren.“

„Unwissenheit!!! kann man nicht erfahren, aber ich kann Ihnen eine Tasse Tee anbieten.“

Nach einer Weile saßen sie in der verrauchten, dunklen Wohnung auf einer alten Lederbank. An den Wänden der Wohnung waren beschriebene Seiten aufgeklebt, in allen nur erdenklichen Variationen von Schriften, Sprachen, Dialekten. Dazwischen befanden sich Formeln, Pläne, alte Karten und noch weiteres nicht identifizierbares Gekritzel. Der Boden war mit allerlei Krempel so überhäuft, dass man den Fußboden nicht mehr sah. Doch eigentlich lag es an dem Meister der Unwissenheit selbst, dass viele den Überblick, nicht nur für die Umgebung, sondern auch über ihre Gedanken verloren. Nur die stille Anwesenheit dieser Persönlichkeit vermochte es, alle Besucher so zu irritieren, dass sie im Nachhinein ihr ganzes Leben umstrukturierten.

„Was haben denn all diese Gegenstände hier für einen Zweck?“, flüsterte Dunken mit einem verlorenen Gesichtsausdruck in den Boden hinein.

„Hmmmmmmm…“ Unwissenheit nippte an seiner Tasse Tee. „Schmeckt Ihnen dieser Tee? Ist er Ihnen zweckhaft genug, oder wollen Sie mehr Zweckhäftigkeit hinein? Dies ließe sich leicht einrichten.“ Der Meister kam schnellen Schrittes auf ihn zu, nahm ihm die Tasse aus der Hand und leerte sie auf den Fußboden. „Nun sehen Sie, der Daoismus! Der Zweck des Gefäßes liegt in der Leere, beziehungsweise jetzt nicht mehr.“ Er schmunzelte kurz und sprach weiter. „So hat man die Fülle für den Zweck, und für den Gebrauch die Leere. Dies ist doch altbekannt. Die Lehre des Gefäßes beziehungsweise der Zweck des Gefäßes. Zweck zwack zwick …“

„Zweck, zwack, zwuck…“, äffte Dunken ihn so leise nach, dass nicht mal er es hörte. Dunken erhob sich ruckartig, beugte sich nach vorne und hob einen Würfel vom Boden auf. Er blies den Staub herunter und betrachtete ihn. „Ein Würfel ohne Funktion, wie eine Kugel, nur dass sie nicht rund ist.“ „Stimmt nicht ganz, denn eine Kugel hat eine Funktion, genauso wie der Würfel, denn der Würfel hat die Funktion der Kugel. Sie ist zwar für uns vollkommen unbrauchbar, aber die Kugel wäre nicht die Kugel, wenn sie ein Würfel wäre. Natürlich hat diese Kugel auch jemand erschaffen müssen. Eine Kugel entsteht nicht aus dem Nichts. Wenn das, welches diese Kugel erschaffen hatte, keinen Sinn in der Erschaffung gefunden hätte, dann hätte es sie nicht erschaffen, also gab es wohl einen Grund dafür, nämlich es wollte etwas Sinnloses schaffen, denn andernfalls wäre sie ein Würfel geworden, was nicht gleich bedeutet, dass dadurch der Würfel sinnlos wäre. So ist der Sinn in mancherlei Dingen nicht gleich, in diesen Dingen offensichtlich, sondern der Sinn hat sich möglicherweise, wie bei so vielen Werdegängen, in der Verworrenheit verirrt, irgendwo verfangen, ist darin zurückgeblieben. Doch ist dieser Sinn noch immer allgegenwärtig und lässt sich nicht mehr in Frage stellen, um nochmals zur Erschaffung zurückzukommen … Vielleicht wurde die Kugel geschaffen, damit das Erschaffende eine Empfindung von Bewegung und somit das Leben spürt und um etwas zu bewirken, etwas zu machen und möglicherweise um Bewegung zu schaffen, ­etwas Bewegtes, welches sich ausbreitet und diesen Vorgang wiederholt und diesen Fluss des Schaffens dadurch Ehre erweist. Am Anfang war dann wohl der Grund zu leben und der Drang nach Veränderung. Das ist das Schöne an dieser Kugel, diese Grundlosigkeit und Einfachheit. Aber da wir leben, sind solche Sachen unbrauchbar und werden wegen ihrer Sinnlosigkeit weggeworfen. Ich jedoch sammle schon seit über 30 Jahren solche Sachen und alle haben sie für mich eine Bedeutung und rufen verschiedenste Gedankengänge in mir hervor. Auch wenn man den Zusammenhang nicht verstehen kann, dieser Würfel lässt eine angenehme Ruhe auf mich wirken und zeigt mir die unendlichen Weiten des Universums. So kann ich Sachen darin erkennen, welche ganz tief in mir verborgen liegen und gar nicht mit Worten fassbar sind! Es sind Sachen wie Ecken und Kanten, die sich erst durch die Form des Würfels in mir formieren und eine abstrakte Struktur entwickeln. So zeigt es mir Fehler, welche ich während meiner Arbeit mache, und hilft mir andererseits auch wieder einiges richtig zu stellen. Ob man es glaubt oder nicht, ein solcher Würfel birgt alle Geheimnisse unserer Menschheit. Man sieht ja schon bei dem goldenen Schnitt, was eine einzige Form für große Ausmaße annehmen können. Da dieser Würfel die Zahlen von eins bis sechs nicht enthält, ist es doch einleuchtend, dass so ein Würfel die Wahrscheinlichkeit für großes Glück bringt. Man muss nur ein paar mal würfeln und es zeigt sich immer das gleiche Ergebnis, nämlich nichts. Darauf lässt sich schlussfolgern, dass die Wahrscheinlichkeit an Kraft verliert und hierbei eine Rolle der Asymmetrie aufweist. Das lässt sich natürlich nur anhand weiterer Überprüfungen feststellen. Man könnte zum Beispiel den Würfel mit einer Lupe immer näher heranzoomen, wobei man dann mit Staunen feststellen würde, dass die Ecken rund sind. Das hätte zu bedeuten, dass es überhaupt keinen Würfel gibt und dass das Ergebnis nur durch unsere schlechte Sicht verfälscht wurde. Umgekehrt lässt sich dieses Experiment auch des Öfteren in der Natur sehen, zum Beispiel Schneeflocken, welche rund scheinen, doch kantige, eckige Wasserkristalle besitzen. Interessant wird es aber erst, wenn man mit der Tatsache spielt, dass unsere Räume auch eine würfelähnliche Struktur aufweisen. Warum? Ganz einfach, weil gerade Flächen und Ecken unserem Bewusstsein von Raum entsprechen. Wenn man über das Thema Raum spricht, kommt sofort der Kubus daherspaziert. Es gibt ihn dreidimensional, aber auch vierdimensional, der dann Hypercube genannt wird, welchen es übrigens auch mit fünf Dimensionen gibt, zumindest theoretisch. Um festzustellen, ob es ein Hypercube ist, müsste man da schon hinein sehen können. Manchmal befrage ich den Würfel, er verrät mir die Zukunft und die Vergangenheit, welche ich zwar weiß, aber sie immer wieder vergesse. Er antwortet mir leider nie, das ist das einzige Problem, wie soll er denn auch, er besitzt nun mal keinen Mund. Deshalb spricht er immer die Wahrheit und wenn man ganz genau hinhört, dann kann man das Meer rauschen hören. So ein Würfel besitzt viele, viele Geheimnisse, die alle auf eine eigenartige Weise zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen.“ Unwissenheit wurde langsam immer leiser, bis man nur noch ein Murmeln vernehmen konnte, welches unglaubliche Freude und Zufriedenheit verströmte. Dunken hingegen war eher schon bei der Hälfte von Unwissenheitserklärung weggetreten und war gerade wieder am Wachwerden. Er warf den Würfel verdutzt auf den Haufen Schrott (wobei Unwissenheit kurz hochschreckte) und atmete tief die staubige verrauchte Luft ein. Dann nahm er aus seiner Manteltasche eine Zigarettenpackung und zündete sich ohne zu fragen eine an. „Unlogisch, das ergibt keinen Sinn, solls natürlich auch nicht. Aber sind Sie dann nicht unmittelbar davor verrückt zu werden ?“