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Deutsche Erstausgabe

© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2013

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Umschlaggestaltung: Franziska Harvey

E-Book-Umsetzung: 2013

ISBN 978-3-86272-323-2

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1. Kapitel

»Salami? Igitt!«, rief Lea und hielt mit zwei spitzen Fingern angewidert eine Scheibe Wurst in die Höhe. Käse klebte daran und zog einen dünnen Faden bis zum Teller, auf dem die Pizza lag. »Ich esse keine Salami! Ich bin Vegetarierin!«

Mutter Iris warf ihr einen mahnenden Blick zu, doch Lea kniff die Augen kampfbereit zusammen.

»Was ist eine Vegi…trararierin?«, fragte ihre kleine Schwester Flummi und kaute dabei fröhlich vor sich hin.

»Vegetarier essen kein Fleisch«, erklärte Lea und schaute Flummi auffordernd an. Doch Flummi mampfte weiter und begriff nicht, was Lea von ihr wollte. Erst als Lea ihr unter dem Tisch gegen das Bein trat und sie mit einem dramatischen Augenrollen bedachte, verstand Flummi, was sie zu tun hatte. Sie spuckte das Stück Salami-Pizza, das sie schon zu einem weichen Klumpen gekaut hatte, auf den Teller und sagte: »Ja, genau. Igitt. Ich bin nämlich auch Vege…dingsda.«

Beide schauten nun zu Dennis, ihrem älteren Bruder. Ihr Blick war eine klare Aufforderung, es ihnen gleichzutun. Doch Dennis aß seine Pizza weiter, ohne eine Miene zu verziehen.

»Und du?«, fragte Lea ermahnend. »Bist du nicht auch …?«

»Genau«, stimmte Flummi zu. »Du bist doch auch Vegi…, äh, … Vegatrara…, du isst doch auch kein Fleisch, oder?«

Dennis blieb völlig cool. Lea und Flummi wurden unruhig. Machte Dennis etwa nicht mit? War er ein Verräter? Dann schluckte ihr Bruder das Stück Pizza herunter und sagte: »Ich bin kein Vegetarier. Im Mittelalter war Fleisch oft das Einzige, was die Leute zu essen hatten. Ich gehe in meinem Rollenspiel ja auch auf die Jagd und erschieße mit Pfeil und Bogen manchmal einen Hirsch und dafür bekomme ich dann 500 Punkte und steige einen Level auf. Also, ich mag Fleisch.«

Lea funkelte ihn mit wütenden Augen an, und Flummi versuchte, ihm energisch gegen das Bein zu treten, so wie Lea es bei ihr gemacht hatte. Doch Flummis gerade mal achtjährige Beine waren zu kurz, um Dennis zu erreichen, und zappelten bloß hilflos in der Luft herum.

»Aber«, fuhr Dennis fort, »die Pizza schmeckt trotzdem nicht gut. Die ist labbrig. Und schlecht gewürzt. Ich esse die nur, weil ich total hungrig bin. Sie ist widerlich, diese Pizza! Ich quäle sie mir total rein.« Dennis verzog theatralisch das Gesicht, als hätte er einen Hundehaufen im Mund, kaute aber weiter.

 

Iris seufzte. Das ging schon die ganze Zeit so. Ihre drei Kinder benahmen sich heute unmöglich und zeigten sich von ihrer schlechtesten Seite. Sie taten einfach alles, um Arne, der die Pizza mit vielen frischen Zutaten und großer Mühe zubereitet hatte, zu zeigen, dass er in diesem Haus nicht erwünscht war.

»Oh, das tut mir aber leid«, sagte Arne. »Normalerweise mögen die Leute meine Pizza.« Und zu den Mädchen gewandt, so fügte er hinzu: »Und ich wusste nicht, dass ihr beide kein Fleisch esst. Das hat mir eure Mutter nicht gesagt.«

»Weil es auch gar nicht stimmt«, schimpfte Iris. »Das haben die eben gerade mal so beschlossen. Kümmere dich einfach nicht darum. Die Pizza ist sehr, sehr lecker.«

 

Iris hatte geahnt, dass es ein Problem geben würde, wenn sie ihren Kindern Arne vorstellte. Doch sie hatte nicht erwartet, dass es so schlimm werden würde. Selbst Flummi benahm sich heute unmöglich. Dabei war ihre jüngste Tochter doch ein kleiner Sonnenschein. Flummi war eigentlich immer gut gelaunt, quietschmunter, offen für alles Neue und reizend zu jedem Menschen, den sie traf. Zweifelsohne hatte Lea sie dazu angestachelt, Arne zu ärgern.

Auch wenn sie das Verhalten ihres Nachwuchses unerhört fand: Iris verstand es schon, dass ihre Kinder Arne nicht einfach so akzeptierten. Sechs Jahre war es her, dass ihr Mann, der Vater der Kinder, gestorben war. Flummi erinnerte sich nicht an ihn, sie war damals noch zu klein gewesen. Aber Lea und Dennis taten es sehr wohl. Und dass ihre Mutter nun einen neuen Freund hatte, fanden sie gar nicht gut. Die Kinder hatten das Gefühl, als wollte Arne ihren Papa ersetzen.

 

»Dürfen wir auf unsere Zimmer gehen?«, fragte Lea mit giftigem Tonfall.

»Aber ich hab noch Nachtisch gemacht«, wandte Arne ein. Er war von Beruf Koch und bereitete tatsächlich fabelhafte Speisen zu. Die Kinder hätten es niemals zugegeben, aber es kostete sie eine große Überwindung, die Pizza nicht zu essen. Es war die leckerste Pizza, die sie je probiert hatten.

»Echt? Nachtisch? Was denn?«, fragte Flummi, die für einen Moment vergaß, dass sie sich ja darauf geeinigt hatten, diesen unverschämten Kerl, der ihre Mutter angebaggert hatte, schnellstmöglich zu vergraulen.

Arne lächelte: »Schokoladenpudding mit frischen Himbeeren, dazu eine Kugel Vanilleeis und Maracuja für jeden.«

Flummi bekam große Augen und leckte sich die Lippen.

»Mmmh …«, machte sie genüsslich, verwandelte es dann aber in ein »… Mmmmmist-Nachtisch! Totaler Mist! So was esse ich nicht!«, als ihr Lea erneut unter dem Tisch gegen das Bein trat.

Die Kinder standen gleichzeitig auf und verließen das Wohnzimmer. Arne schaute Iris an, als sie protestieren wollte, und schüttelte den Kopf. Er wollte keinen Streit, das würde die Kinder nur noch mehr gegen ihn aufbringen. Iris seufzte und nahm Arnes Hand.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Eigentlich sind es wirklich sehr liebe Kinder.«

»Tatsächlich?«, grinste Arne und hob skeptisch die Augenbrauen.

»Na ja«, lachte Iris verlegen. »Sie sind schon etwas speziell manchmal. Auf ein bisschen Chaos sollte man bei den dreien jedenfalls immer gefasst sein.«

»Ach, das wird schon«, sagte Arne. »Wir werden uns bestimmt noch anfreunden. Gib ihnen einfach ein bisschen Zeit.«

 

Arne war ein optimistischer Mensch. »Mit Geduld und Spucke kriegt man alles hin«, war sein Lebensmotto. Doch da kannte er die Pauli-Kinder nicht. Sie waren fest entschlossen, diesen Möchtegernpapa so schnell wie möglich zu vergraulen – und wenn die Pauli-Kinder sich etwas in den Kopf setzten, dann brauchte man fast übermenschliche Kräfte, um sie davon wieder abzubringen. Alle drei hatten ihren ganz eigenen Kopf.

Lea zum Beispiel wollte Künstlerin werden. Und neuerdings hatte sie zudem ihre Leidenschaft für Musik entdeckt. Ihre Familie fand das wenig erfreulich – um es vorsichtig auszudrücken –, denn Lea war längst nicht so musikalisch, wie sie glaubte. Genau genommen war sie so musikalisch wie eine gehörlose Sumpfkröte. Was sie aber nicht davon abhielt, im Wohnzimmer regelmäßig selbst komponierte hochkünstlerische »Sinfonien« auf selbst gebauten Instrumenten wie dem Klopümpel-Cello und der Bananen-Glitschtrommel aufzuführen. Diese Musikdarbietungen klangen dann ein bisschen so, als würde jemand einen Elch würgen, während er dabei mit den Füßen rostigen Sperrmüll gegen die Wand schiebt. Doch Dennis, Flummi und Mama Iris applaudierten stets freundlich und lobten Lea für ihre Auftritte. Denn im Hause Pauli herrschte die feste Überzeugung, dass man Dinge ausprobieren sollte. Selbst wenn einem dabei fast das Trommelfell platzte.

 

Dennis war zwei Jahre älter als seine elfjährige Schwester. Und er träumte von Abenteuern. Unentwegt. Dennis liebte Rollenspiele am Computer, wo er stundenlang durch Wälder und Schluchten streifen, Trolle und Monster besiegen und in der virtuellen Taverne mit Magiern und Elfen über seine Heldentaten reden konnte. Früher hatte Dennis fast den ganzen Tag vor dem Monitor verbracht, doch seit er eine Freundin hatte, kam er öfter auch mal an die frische Luft. Ayse, so hieß Dennis’ Freundin, war Pfadfinderin und hatte ihm gezeigt, dass echte Wälder noch mehr Spaß machten als künstliche. Und dass ein Mädchen aus Fleisch und Blut ein viel besserer Gefährte war als ein zweiköpfiger Oger, der Feuer aus seinen Fingern schießen konnte.

Dennis wäre trotzdem zu gerne ein Held wie aus den Rollenspielen. Doch dafür fehlte ihm leider das Geschick. Als er neulich mit dem Taschenmesser einen Pfeil schnitzen wollte, musste seine Mutter mit ihm in die Notaufnahme fahren, wo seine Handfläche mit sechs Stichen genäht wurde. Die Narbe zeigte Dennis seitdem so stolz vor, als wäre sie eine alte Kriegsverletzung.

 

Flummi schließlich, fast neun Jahre alt, war ein Hochgeschwindigkeitskind. Immer in Bewegung und dabei immer gut gelaunt. Jeder Mensch mochte Flummi, weil Flummi jeden Menschen mochte. Flummi, die eigentlich Alexandra hieß, aber ihren Namen nicht leiden konnte, wollte später einmal zum Zirkus. Oder ins Fernsehen. Vor ein paar Wochen hatte sie sich mit Leas Hilfe per Video bei dieser erfolgreichen Castingshow im Fernsehen beworben, wo der Typ mit der näselnden Stimme und den hässlichen Hemden immer alle Leute beleidigte. Leider kam eine Absage. »Liebe Alexandra«, hatten die Fernsehleute geschrieben, »wir sind sehr beeindruckt, dass du durch die Nase rülpsen kannst, während du mit Klopapierrollen jonglierst. Leider ist das nicht die Art von Darbietung, die wir für unsere Sendung suchen.«

»Die haben bloß Angst, dass du allen die Show stiehlst«, hatte Lea ihre kleine Schwester getröstet. »Die wissen genau, dass niemand eine Chance gegen dich hätte. Und dann wäre die Sendung ja langweilig, weil nur du toll bist und alle anderen pillepalle. Deshalb haben die dich abgelehnt.«

»Egal«, hatte Flummi gesagt. »Ist nicht wichtig. Gibt noch mehr Chancen.« Und dann hatte sie laut durch die Nase gerülpst.

 

Tatsächlich waren die drei Pauli-Kinder in der kleinen Stadt, in der sie lebten, bekannt wie bunte Hunde. Weil sie immer wieder verrückte Sachen anstellten – und natürlich wegen der Sache mit Tante Heidrun!

Tante Heidrun war die Babysitterin der Pauli-Kinder gewesen. Die zickige Schwester ihrer Mutter, die auf ihre Nichten und ihren Neffen aufpassen sollte, während Iris am Nordpol auf Forschungsreise war. Tante Heidrun war so angenehm wie Nasenbluten. Sie hatte keinerlei Humor, war geizig, grantig und giftig. Der erste Tag mit ihr war furchtbar gewesen. Doch dann hatte Flummi ihre Tante mithilfe eines geheimnisvollen Buches, das sie von drei seltsamen blonden Frauen in Kimonos bekommen hatte, versehentlich hypnotisiert. Und plötzlich hielt sich die olle Schachtel für Pippi Langstrumpf! Die halbe Stadt stand kopf, als Tante Pippi-Heidrun völlig durchknallte, die Kinder in der Schule heimsuchte und dort ein totales Chaos veranstaltete, durch die Stadt tobte, ein Zirkuspony klaute und ein ganzes Kaufhaus verwüstete. Schließlich hatten die Pauli-Kinder es aber geschafft, den Spuk rückgängig zu machen.

Sehr viele Leute hatten den Trubel miterlebt, doch keiner von ihnen wusste genau, was geschehen war. Der ganze Vorfall war ein Mysterium geblieben, über das in den folgenden Tagen viel geredet und gemutmaßt wurde, das aber niemand wirklich erklären konnte. Tante Heidrun konnte sich nach ihrer Rückverwandlung an nichts mehr erinnern, und die Pauli-Kinder hatten sich geeinigt, ihrer Mutter nichts über die geheimnisvollen Hintergründe der Ereignisse zu erzählen. Sie würde sich nur Sorgen machen. Oder sie würde den dreien die irre Geschichte schlichtweg nicht glauben und sie womöglich zu einem Psychiater schicken. Nein, was genau hinter dem Abenteuer mit Tante Heidrun und den durchgeknallten Kimono-Drillingen steckte, blieb ihr Geheimnis. Seitdem waren Dennis, Lea und Flummi noch enger, als sie es ohnehin schon gewesen waren. Niemand kam zwischen sie! Auch nicht so ein blöder Arne mit seiner verdammt leckeren Pizza!

2. Kapitel

Verdammt, die Erwachsenen waren clever! Sie wedelten mit den tollsten Ködern vor ihren Nasen herum. Zuerst war da diese leckere Pizza, die sie nicht essen durften, und der Super-Nachtisch, den sie ablehnen mussten – und jetzt erzählte ihnen ihre Mutter, dass sie am Samstag alle in den Vergnügungspark gehen würden.

»Die haben eine neue Wasserrutsche«, verkündete Mama, »und die größte Holzachterbahn Europas!«

Dennis, Lea und Flummi waren hin- und hergerissen. Ein Tag im Vergnügungspark wäre natürlich super, aber der einzige Grund, warum ihre Mutter diesen Ausflug vorschlug, war ja ganz offensichtlich, dass sie sich an Arne gewöhnen sollten. Denn der würde natürlich mitkommen.

»Ich hab schon was vor«, sagte Lea. »Ich muss …, äh, … das ganze Wochenende für die Mathearbeit üben.«

Ihre Mutter betrachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Erstens«, sagte Mama, »hast du erst letzte Woche eine Mathearbeit geschrieben, und zweitens übst du nie für Arbeiten. Was die zahlreichen Vieren in deinem Zeugnis erklärt.«

»Hab ich Mathe gesagt?«, stammelte Lea. »Ich meine Englisch.«

Mama schüttelte seufzend den Kopf und schaute ihre anderen Kinder an: »Und was ist mit euch?«

Dennis und Flummi zögerten.

»Die haben da auch eine Zirkusshow«, lockte Iris ihre jüngste Tochter.

Flummis Augen begannen zu glänzen.

»Okay. Ich komme mit«, sagte Flummi und schaute schuldbewusst zu Boden, als Lea sie wütend anfunkelte.

»Und einen Abenteuer-Kletterpfad haben sie auch«, sagte Iris zu ihrem Sohn.

Dennis verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja«, sagte er, »ich bin dabei. Aber mit deinem blöden Arne rede ich kein Wort!«

»Mir fällt gerade ein, dass die Englischarbeit erst übernächste Woche ist«, beeilte sich nun Lea zu sagen. »Ich kann also doch mitkommen. Aber ich rede auch nicht mit Arne!«

»Ich auch nicht«, sagte Flummi, »und was genau machen die da bei dieser Zirkusshow? Haben die auch eine Seiltänzerin?«

Iris schaute ihre Kinder enttäuscht an.

»Hört mal zu«, sagte sie. »Ich verstehe ja, dass ihr ein Problem damit habt, dass ich einen Freund habe. Aber ihr müsst mir glauben, dass Arne niemals euren Vater ersetzen kann und das auch gar nicht will. Es ist nur so, dass …«

»Ich muss aufs Klo!«, rief Lea und rannte die Treppe hinauf, ohne ihre Mutter weiter anzuhören.

»Ich auch!«, rief Flummi und raste hinterher.

Iris schaute Dennis an, der ihr als Einziger weiterhin gegenüberstand.

»Und du?«, fragte sie sarkastisch. »Musst du nicht auch aufs Klo?«

»Wir haben nur eine Toilette«, antwortete Dennis trocken. »Da können wir uns ja schlecht alle drei gleichzeitig draufsetzen.«

 

Die Kinder gaben sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die ersten Stunden im Vergnügungspark hatten sie einen Riesenspaß. Sie aßen Zuckerwatte, amüsierten sich auf der Wasserrutsche, fuhren mit dem Autoskooter und johlten in der Schiffsschaukel. Lea fuhr vier Mal mit der Looping-Achterbahn durch den Tunnel und kreischte dabei unglaublich laut.

»Wenn du so viel Angst hast, mit der Achterbahn zu fahren, warum steigst du dann immer wieder ein?«, fragte Dennis.

»Ich kreische nicht, weil ich Angst habe«, behauptete Lea. »Es ist ein künstlerisches Musikexperiment, wie die Geschwindigkeit der Bahn und die Wände des Tunnels die Schallwellen meiner Stimme verändern.«

Dennis lachte spöttisch. »Das ist die originellste Ausrede, die ich je gehört habe, du Schisser.«

Lea wollte weiter über Schallwellen und Tonfrequenzen schwadronieren, sah aber an Dennis’ Gesicht, dass er ihr kein Wort glauben würde. Deshalb grinste sie verlegen und sagte: »Na ja, und ein bisschen Angst hab ich auch. Aber es ist diese gute Angst, verstehst du? Die Angst, die Spaß macht.«

Das verstand Dennis. Er nickte und sagte mit einer getragenen Stimme, die jeden Professor beeindruckt hätte: »Wer Angst hat, ist nicht automatisch ein Feigling. Denn nur wer Gefahren erkennen und einschätzen kann, ist in der Lage, echte Heldentaten zu begehen, denn …«

»Ziiiiiiirkuszelt!!!!«, kreischte Flummi und unterbrach Dennis’ altkluge Abhandlungen, die er auf irgendeiner Website über die größten Helden der Weltgeschichte gelesen hatte.

 

Flummi raste in das große Zelt, das auf einer Wiese aufgebaut war, und schlängelte und drängelte sich durch die Menschenmassen, die zur Vorstellung hineinströmten. Ihrer Familie blieb gar nichts anderes übrig, als ihr so schnell wie möglich zu folgen.

»Eure kleine Schwester hat ja ein flottes Tempo drauf«, sagte Arne lächelnd, während er sich durch die Sitzreihen schob, doch Dennis und Lea lächelten nicht zurück.

»Wäre es dir lieber, wenn sie kriecht?«, sagte Lea zickig.

»Wenn dir die Geschwindigkeit unserer Schwester nicht passt, ist das nicht unser Problem«, meinte Dennis giftig.

»Ich hab doch gar nicht gesagt, dass es mich stört. Ich wollte doch nur …«, begann Arne sich zu rechtfertigen, aber Lea und Dennis hörten schon nicht mehr hin und drängten weiter.

Iris seufzte. Sie war schon den ganzen Tag auffallend still und sehr enttäuscht darüber, dass ihre Kinder jeden von Arnes Versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, so unhöflich abschmetterten. Etliche Male hatte er vergeblich versucht, ein Gespräch mit den Kindern anzufangen. Iris legte den Arm um die Hüfte ihres Freundes und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Das wird schon noch. Es ist eben eine sture Bande.«

Lea, die sah, dass ihre Mutter diesen Kerl jetzt auch noch küsste, kniff wütend die Augen zusammen. Was bildete der sich ein? Schlich sich einfach so in ihre Familie! Dem würde sie es zeigen!

 

Als einige Minuten später die Zirkusvorstellung begann, war die Familie Pauli über das ganze Zelt verteilt. In dem Gedrängel hatten sich alle in verschiedene Richtungen bewegt. Lea und Dennis saßen in der achten Reihe, Iris und Arne standen deshalb im Gang. Flummi dagegen hatte sich energisch durchgewuselt und in der ersten Reihe einfach zwischen zwei Leute gequetscht. Sie war dann so zappelig hin und her gerutscht, dass es den beiden zu unruhig wurde und sie freiwillig ihre Plätze geräumt hatten.

Flummis Augen wurden groß und glänzend, als aus einem Lautsprecher eine Fanfare ertönte und die Vorstellung begann.

Zuerst trat ein Jongleur auf, den Flummi nicht besonders interessant fand, weil er nicht mal durch die Nase rülpsen konnte. Dann kam eine Frau, die drei Pudel dabeihatte. Die Hunde führten ulkige Kunststücke vor und Flummi lachte aus vollem Hals. Und dann kam tatsächlich eine Seiltänzerin. Flummi war begeistert. Seit einem Jahr studierte sie im Garten auf einem Seil, das ihre Mutter knapp über Bodenhöhe gespannt hatte, Kunststücke ein. Sie freute sich riesig darauf, eine echte Seiltänzerin zu sehen und sich den ein oder anderen Kniff von ihr abschauen zu können.

Doch schon nach der ersten Minute war klar, dass Flummi nicht beeindruckt sein würde. Was die Seiltänzerin darbot, war ziemlich läppisch. Sie hatte ein hübsches Kleid an und hielt einen bunten Sonnenschirm mit lustigen Bommeln in der Hand, den sie wild herumschwenkte, während sie auf dem Seil balancierte. Das sah zugegebenermaßen ziemlich drollig aus, obwohl sie den Schirm eigentlich dazu benutzte, ihr Gleichgewicht zu halten. Das Publikum klatschte nur halbherzig und die Kinder rutschten gelangweilt auf ihren Plätzen hin und her. Da beschloss Flummi, der armen Frau zu helfen.

»Hallo!«, rief sie laut, als sie aufsprang und auf das Seil zulief. Die Seiltänzerin bekam einen solchen Schreck, dass sie ins Schwanken geriet und vom Seil stolperte.

»Du musst das mehr aus der Hüfte machen«, sagte Flummi und hopste auf die kleine Trittleiter. Ehe sichs die Artistin und das Publikum versahen, stand Flummi auch schon auf dem Seil.

»O mein Gott!«, rief Arne. »Was machen wir denn jetzt?«

Iris war völlig entspannt und zuckte mit den Achseln. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass Flummi und ihre Geschwister verrückte Dinge anstellten.

»Abwarten«, sagte sie. »Und mal ganz ehrlich: Die Seiltänzerin war echt schlecht. Flummi macht das bestimmt besser.«

Arne schaute Iris erstaunt an.

Das Publikum rief laut »Ooooh!« und »Aaaah!«, als Flummi auf dem Seil einen Sprung machte. Einige Zuschauer fragten sich bestimmt, ob Flummi wirklich ein verrücktes kleines Mädchen war, das der Seiltänzerin, die schmollend auf dem Boden stand, die Show stahl. Oder ob dieses quirlige Kind nicht womöglich ein Bestandteil des Zirkusprogramms war.

Flummi verbeugte sich, was sehr schwer ist, während man auf einem Seil steht, und wand sich dann der beleidigten Seiltänzerin zu.

»Du musst das so mit der Hüfte machen, so wobbeldiwobbel«, erklärte sie hilfsbereit und schwenkte die Hüfte wie ein alter Rock-and-Roll-Sänger. Das Publikum lachte. Die Seiltänzerin, die es unmöglich fand, dass ein kleines Mädchen ihr etwas erklären wollte, und die absolut keine Lust hatte, wobbeldiwobbel zu machen, ging zum Rand der Manege, wo zwei Angestellte des Freizeitparks standen und nicht so recht wussten, was sie tun sollten.

»Holt das kleine Biest da runter«, zischte die Seiltänzerin.

»Wieso?«, fragte einer der Angestellten.

»Ja, die macht das doch gut«, sagte der andere.

Die Seiltänzerin stapfte wütend aus dem Zelt.

»He!«, rief Flummi ihr nach. »Wo gehst du denn hin? Ich wollte dir doch erklären, wie man das richtig macht!«

Das Publikum lachte.

Lea und Dennis applaudierten, weil sie es einfach herrlich fanden, wie ihre kleine Schwester sich einfach mal kurz entschlossen zum Star der Show machte.

Flummi zuckte mit den Schultern und sagte: »Na, dann zeig ich es euch mal. Okay?«

Das Publikum klatschte laut und begeistert.

Und dann turnte und wirbelte, hopste und baumelte Flummi auf dem Seil herum. Fünf Minuten lang erstaunte sie das Publikum, bis sie schließlich mit einem großen Satz vom Seil sprang und sich in alle Richtungen verbeugte. Der größte Applaus, den dieses Zirkuszelt je erlebt hatte, brandete auf.

Dennis und Lea lachten und klatschten, ebenso wie Iris und Arne.

Flummi strahlte zufrieden und wollte gerade zurück auf ihren Platz gehen, als sie plötzlich eine Stimme hörte, die ihr nur zu bekannt war.

»Huhu, lustiges kleines Mädchen!«, rief eine Frau.

Flummi drehte sich entsetzt in die Richtung, aus der die Stimme kam. Auch Dennis und Lea erkannten diese ganz spezielle Stimme sofort und bekamen schreckensgeweitete Augen. Und richtig: Da stand, mitten in der Manege, als wäre sie aus dem Nichts aufgetaucht, eine der Kimono-Drillzwillinge!

Es war eine der drei absolut identisch aussehenden Frauen, die ihnen vor einem halben Jahr den ganzen Tante-Heidrun-Schlamassel eingebrockt hatten. Die Frauen waren auf den ersten Blick einfach nur ulkig, redeten und machten merkwürdiges Zeug – aber sie waren irgendwie auch unheimlich. Flummi jedenfalls hatte keine Lust, noch einmal so ein Chaos wie mit Tante Heidruns Pippi-Langstrumpf-Verwandlung zu erleben, und rief laut: »Geh weg!« Doch die Kinomo-Frau lächelte weiter, trippelte mit drolligen kleinen Schritten auf Flummi zu und nahm sie in den Arm.

»Unser neuer Star!«, rief die Kimono-Frau, die in ihrem bunten japanischen Kleid tatsächlich aussah, als würde sie ein Zirkuskostüm tragen. Sie reckte Flummis Arm in die Höhe und das Publikum applaudierte noch einmal.

Auch Iris und Arne schlugen lachend die Hände zusammen, denn die beiden hatten die Kimono-Frauen noch nie gesehen und wussten nicht, was die Kinder wussten: Wo auch immer eine dieser Frauen auftauchte, passierte zweifelsohne etwas Unglaubliches!

»Wie heißt du denn?«, fragte die Kimono-Frau und Flummi sagte wütend: »Das weißt du genau, du verrückte, irre, verrückte … Tussi!«

Das Publikum lachte und die Kimono-Frau rief: »Nicht nur eine Seiltänzerin, sondern auch noch ein Clown! Haha! Bravo!«

Flummi versuchte sich aus dem Griff der Kimono-Frau zu befreien, doch der verrückte Zwilldrilling hielt Flummi so fest, als wären seine Hände Schraubzwingen.

»Weißt du etwa nicht, wie du heißt?«, fragte die Kimono-Frau. »Hast du vergessen, wer du bist?«

»Quatsch«, sagte Flummi.

»Das ist nämlich sehr ärgerlich, wenn man vergisst, wer man ist. Sehr, sehr ärgerlich. Da hilft dann eigentlich nur eins: eine Ohrfeige. Das schüttelt das Gehirn zurecht und die Erinnerung kommt zurück. Soll ich dir vielleicht eine Ohrfeige geben?«

»Wehe, Sie schlagen meine Tochter!«, rief Iris laut aus dem Publikum und wollte gerade in die Manege stürmen, als die Kimono-Frau beschwichtigend die Hand hob.

»Nur ein kleines Späßchen, keine Panik«, sagte sie und wandte sich dann wieder Flummi zu, die mit verschränkten Armen vor ihr stand. Die Kimono-Frau lächelte sie an und sagte mit zuckersüßer Stimme: »Wenn du mir nicht verrätst, wie du heißt, dann nennen wir dich einfach Hildegard von Lauthäuser-Schnarrenstulle, ist das okay?«

»Ich heiße nicht Hildenstulle, ich heiße Flummi!«, rief Flummi wütend.

»Flummi. Schön«, sagte die Kimono-Frau. »Ich kannte mal ein anderes Mädchen, das hieß auch Flummi. Aber dann hat die kleine Flummi ihren Namen eines Tages in der U-Bahn liegen lassen und musste sechs Wochen lang warten, bis ihr die Behörde einen neuen Namen gab. Seitdem heißt sie Uschi.«

Das Publikum lachte so laut, dass niemand hörte, wie Flummi zischte: »Lassen Sie mich gehen!«

»Sollen wir ihr nicht helfen?«, flüsterte Dennis Lea besorgt zu, doch die schüttelte den Kopf. »Warten wir erst mal ab, was passiert. Sie wird Flummi bestimmt nicht vor all den Leuten hier etwas antun.«

Und richtig: Die Kimono-Frau schlug Flummi nicht, würgte sie nicht, entführte sie nicht, bedrohte sie nicht – sondern sie schenkte ihr etwas. Sie schenkte ihr sogar etwas sehr Wertvolles!

»Ich habe hier eine Überraschung für unseren Überraschungsstar des Tages!«, rief die Kimono-Frau und zauberte von irgendwoher eine kleine Kiste herbei.

»Ich brauche jetzt nur noch zwei Freiwillige, die unserer Flummi-Uschi hier helfen, die Überraschung zu bekommen. Wer hat Lust, mir zu helfen?«

Mehrere Dutzend Kinderfinger reckten sich in die Höhe. »Hier!« und »Ich!« riefen die Jungen und Mädchen, doch die Kimono-Frau schaute starr zu Lea und Dennis, die ebenso starr zurückschauten.

»Ihr da!«, rief die Kimono-Frau. »Ihr seht aus wie sehr gute Freiwillige. Kommt her!«

Die anderen Kinder senkten enttäuscht die Finger, während sich Lea und Dennis zögernd erhoben. Dann gingen sie zu Flummi und der Kimono-Frau.

»Und Ihr heißt …? Wartet … Lasst mich raten!«, sagte die Kimono-Frau. »Ich hab’s! Ihr beide seid … Rumpelstilzchen und Dr. Feinbein. Stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Dennis cool. »Ich bin Dr. Feinbein, und meine Diagnose ist, dass Sie verrückt sind.«

Das Publikum johlte, und die Kinder erkannten, dass die Kimono-Frau sich nur schwer ein Grinsen verkneifen konnte. Lea warf ihr einen giftigen Blick zu.

Sie würden sich nicht von dieser Frau terrorisieren lassen!

Nicht schon wieder!

Was hatte die Kimono-Frau vor?

Was war in der kleinen Kiste, die sie in der Hand hielt?

»Herr Doktor! Wütende kleine Märchenfigur!«, rief die Kimono-Frau und hielt die Kiste hoch. »Öffnet nun die Box und schaut nach, was für eine Überraschung unsere Seiltanz- Uschi von mir bekommt!«

Iris und Arne waren mächtig gespannt, was nun passieren würde. Das ganze Publikum starrte Lea, Dennis, Flummi, die Kimono-Frau und die kleine Kiste an.

Dann legten Dennis und Lea gleichzeitig die Hand auf die Box und öffneten sie. Alle Leute im Zelt zuckten zusammen, als mit einem lauten Knall ein Puppenkopf an einer Sprungfeder aus der Box geschossen kam. Nach dem ersten Schreck folgte ein großes Gelächter, und die Kimono-Frau zog einen Briefumschlag, den die Puppe in ihrem Mund hatte, heraus. Sie öffnete den Umschlag und hielt einen Zettel in die Höhe.

»Unsere Fluschi gewinnt eine Reise für fünf Personen nach Lanzarote! Flug, Unterkunft in einem schicken All-Inclusive-Resort und Ausflüge vor Ort! Applaus!«

Das Publikum applaudierte. Iris und Arne schauten einander ungläubig an, ebenso wie Flummi, Lea und Dennis, die nun mit dem Gutschein in der Hand zu ihrer Mutter und ihrem unerwünschten Freund gingen. Als sie sich noch einmal zu der Kimono-Frau umdrehten, war sie verschwunden, als hätte sie sich binnen einer Sekunde in Luft aufgelöst.

Fassungslos starrten die drei auf den Gutschein.

Eine tolle Reise? Keine Katastrophe, keine Magie, kein Geheimnis? Einfach nur zwei Wochen auf einer schönen spanischen Insel in einem All-Inclusive-Hotel? Wo war der Haken?!

 

»Ich kann es immer noch nicht glauben!«, sagte Iris vergnügt auf der Rückfahrt. »Meine kleine Flummi gewinnt für uns eine tolle Reise! Ich könnte dich knutschen, Töchterchen! Das hast du super gemacht!«

»Und dabei habe ich erst einen Schreck bekommen, als du einfach so in die Manege gerannt bist«, meinte Arne und lachte.

Sie fuhren in Arnes Auto – ein cooler Geländewagen, den Dennis unter anderen Voraussetzungen total großartig gefunden hätte. Iris saß auf dem Beifahrersitz. Sie drehte sich zu Lea, Dennis und Flummi um, die auf der Rückbank saßen, und war überrascht zu sehen, dass ihre Kinder todernst dreinschauten.

»Was ist denn mit euch los?«, wunderte sie sich. »Freut ihr euch gar nicht?«

»Ich …«, begann Lea zaghaft. »Ich stehe ja nicht so auf Klub-Urlaub.«

»Und Spanien …«, fügte Dennis an. »Das soll ja nicht so toll sein als Urlaubsland.«

Iris traute ihren Ohren nicht.