Zsolnay E-Book

 

Andrew Miller

 

Friedhof der

Unschuldigen

 

Roman

 

Aus dem Englischen

von Nikolaus Stingl

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel Pure bei Sceptre, London.

 

ISBN 978-3-552-05657-2

© 2011 by Andrew Miller

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

2. E-Book-Auflage 2017

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Michael Hofstetter, unter Verwendung einer Illustration von © Roy Knipe

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Zum Gedenken an meinen Vater, Dr. Keith Miller,

und an meine Freunde Patrick Warren

und George Lachlan Brown

Teil 1

Es wird eine Zeit kommen, da wird die

Sonne nur freie Menschen bescheinen, die keinen

anderen Herrn als ihre Vernunft kennen.

 

Marquis de Condorcet

1

EIN JUNGER MANN, jung, aber nicht blutjung, sitzt irgendwo in einem Vorzimmer, in irgendeinem Flügel im Schloss von Versailles. Er wartet. Er wartet schon lange.

Im Zimmer brennt kein Kaminfeuer, obwohl man schon die dritte Oktoberwoche schreibt und es so kalt ist wie an Mariä Lichtmess. Seine Beine und sein Rücken sind ganz steif – von der Kälte und der dreitägigen Reise durch die Kälte, zuerst mit Cousin André von Bellême nach Nogent, dann in der Kutsche, die überfüllt war mit derbgesichtigen Menschen in Wintermänteln, Körbe auf dem Schoß und Gepäckstücke unter den Füßen, einige in Begleitung von Hunden, einer mit einem Hahn unter dem Mantel. Dreißig Stunden bis nach Paris und in die Rue aux Ours, wo sie beim Aussteigen auf Pflastersteine und Pferdeäpfel traten und leicht schwankend, auf unsicheren Beinen, vor dem Büro des Postunternehmers standen. Dann heute morgen von dem Quartier aus, das er in der Rue – wie hieß sie gleich? – genommen hatte, in aller Frühe auf einem Mietklepper nach Versailles und hierher, an einem Tag, der vielleicht der wichtigste in seinem Leben ist, vielleicht aber auch zu gar nichts führt.

Er ist nicht allein im Zimmer. Ihm gegenüber sitzt ein Mann um die Vierzig in einem schmalen Lehnstuhl, den Überrock bis zum Kinn zugeknöpft, die Augen geschlossen, die Hände im Schoß gekreuzt, einen großen und recht alt aussehenden Ring an einem Finger. Ab und zu seufzt er, ist ansonsten jedoch vollkommen still.

Hinter diesem Schläfer und zu beiden Seiten von ihm erheben sich Spiegel vom Parkett bis zu dem mit Spinnweben überzogenen Stuck der Decke. Der Palast ist voller Spiegel. Es muss, wenn man hier lebt, unmöglich sein, sich nicht hundertmal am Tag selbst zu begegnen, jeder Flur ein Quell von Eitelkeit und Zweifel. Von den Spiegeln vor ihm, deren Glas von Staub getrübt ist (irgendein müßiger Finger hat den knolligen Schwanz eines Mannes und daneben eine Blume, die eine Rose sein könnte, gezeichnet), geht ein grünliches Licht aus, als wäre das ganze Gebäude versunken, untergegangen. Und dort ist auch, Teil des Wracks, seine eigene braungewandete Gestalt zu sehen, das Gesicht in dem fleckigen Glas nicht hinreichend deutlich, um sprechend oder charakteristisch zu wirken. Ein blasses Oval auf einem abgeknickten Körper, einem Körper in einem braunen Anzug, der Anzug ein Geschenk seines Vaters, das Tuch zugeschnitten von Gontaud, der, wie die Leute gern sagen, der beste Schneider von Bellême, in Wahrheit aber nur der einzige ist, denn Bellême ist ein Städtchen von der Art, wo ein guter Anzug zusammen mit den Wertgegenständen eines Mannes – Bettwärmer aus Messing, Pflug und Egge, Sattel- und Zaumzeug – vererbt wird. Er sitzt an den Schultern etwas eng, fällt an den Schößen etwas weit, ist an den Ärmelaufschlägen etwas wuchtig, insgesamt aber solide gefertigt und in seiner Art vollkommen korrekt.

Er streicht über seine Schenkel, die Knochen seiner Knie, dann beugt er sich zu seinem linken Knöchel hinunter, um etwas von seinem Strumpf zu rubbeln. Er hat darauf geachtet, die Strümpfe so sauber wie möglich zu halten, aber in was kann man nicht alles hineintreten, wenn man im Dunkeln aufbricht und sich zu einer Stunde, wo noch keine Lampen brennen, durch Straßen bewegt, die man nicht kennt? Er kratzt mit dem Daumennagel daran. Matsch? Hoffentlich. Er schnuppert nicht an seinem Daumen, um sich zu vergewissern.

Ein kleiner Hund hat seinen Auftritt. Seine Krallen finden auf dem Boden keinen Halt. Aus großen, verschleierten Augen sieht der Hund ihn kurz an, dann geht er zu der Vase, der hohen, vergoldeten Amphore, die in einem der verspiegelten Winkel des Zimmers zur Schau gestellt wird oder vergessen worden ist. Er schnuppert daran, hebt das Bein. Vom Flur aus lockt ihn eine Stimme – die einer schon etwas älteren Frau. Ein Schatten geht an der offenen Tür vorbei; das Geräusch über den Boden streichender, seidener Säume klingt wie einsetzender Regen. Der Hund trippelt hinter ihr her, sein Wasser schlängelt sich von der Vase auf die übereinandergeschlagenen Beine des Schlafenden zu. Der jüngere Mann betrachtet es, wie es über die unebene Parkettfläche navigiert, wie selbst Hundepisse den unveränderlichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt …

Während er es noch betrachtet (an diesem Tag, der vielleicht der wichtigste in seinem Leben ist oder zu gar nichts führt), öffnet sich die Tür zum Büro des Ministers mit einem Knacken wie beim Bruch jener Siegel, die man an den Türen verseuchter Häuser anbringt. Eine Gestalt, ein Diener oder Sekretär, eckig, mit gelben Augen, bedeutet ihm mit einem leichten Heben des Kinns, dass er jetzt vorgelassen wird. Er rappelt sich hoch. Der Ältere hat die Augen aufgeschlagen. Sie haben kein Wort miteinander gewechselt, wissen nicht, wie der jeweils andere heißt, und es verbindet sie nichts außer drei kalten Stunden an einem Oktobervormittag. Der Ältere lächelt. Es ist der schicksalergebenste, eleganteste Ausdruck der Welt; ein Lächeln, das wie die Blüte ausgedehnter, selbstgenügsamer Gelehrsamkeit erscheint. Der Jüngere nickt ihm zu und schlüpft dann rasch durch die halboffene Bürotür, als fürchtete er, sie könnte wieder vor ihm zugeschlagen werden, plötzlich und für immer.

2

»DER HEILIGE AUGUSTINUS«, sagt der Minister, der eine halb gegessene Makrone zwischen zwei Fingern hält, »lehrt uns, dass die den Toten geschuldeten Ehren hauptsächlich dazu dienten, die Lebenden zu trösten. Nur das Gebet sei wirksam. Wo man den Leichnam beisetze, sei belanglos.« Er widmet sich wieder der Makrone, stippt sie in ein Glas Weißwein, lutscht daran. Ein paar Krümel fallen auf die Papiere, die sich auf seinem riesigen Schreibtisch stapeln. Der Diener, der hinter dem Stuhl seines Herrn steht, betrachtet die Krümel mit so etwas wie berufsbedingtem Kummer, macht aber keine Anstalten, sie zu entfernen.

»Er war Afrikaner«, sagt der Minister. »Der heilige Augustinus. Er muss Löwen und Elefanten gesehen haben. Haben Sie schon einmal einen Elefanten gesehen?«

»Nein, Exzellenz.«

»Es gibt hier einen. Irgendwo. Ein großes, melancholisches Tier, das von Burgunder lebt. Ein Geschenk des Königs von Siam. Als es zur Zeit des Großvaters Seiner Majestät hier eintraf, versteckten sich sämtliche Hunde im Palast einen Monat lang. Dann gewöhnten sie sich an ihn und begannen, ihn zu verbellen und zu hetzen. Wäre er nicht an einen versteckten Ort gebracht worden, hätten sie ihn vielleicht getötet. Fünfzig von ihnen hätten es vielleicht fertiggebracht.« Über den Schreibtisch hinweg sieht er den jungen Mann an und hält kurz inne, als wären der Elefant und die Hunde vielleicht auch Gestalten einer Parabel. »Wo war ich stehengeblieben?« fragt er.

»Beim heiligen Augustinus?« sagt der junge Mann.

Der Minister nickt. »Erst die mittelalterliche Kirche hat die Praxis eingeführt, die Toten in Kirchen beizusetzen, und zwar damit sie den Reliquien der Heiligen nahe waren. Wenn eine Kirche voll war, begrub man sie im Boden drumherum. Honorius von Autun nennt den Friedhof ein geheiligtes Dormitorium, den Schoß der Kirche, ecclesiae gremium. Was meinen Sie, wann haben sie begonnen, uns an Zahl zu übertreffen?«

»Wer, Exzellenz?«

»Die Toten.«

»Ich weiß nicht, Exzellenz.«

»Schon früh, denke ich. Schon früh.« Der Minister isst seine Makrone auf. Der Diener reicht ihm ein Tuch. Der Minister wischt sich die Finger, setzt sich eine Brille mit runden Gläsern auf und liest das Schriftstück, das auf dem Stapel vor ihm liegt. Im Raum ist es wärmer als im Vorzimmer, wenn auch nur geringfügig. Im Kamin knistert ein kleines Feuer, von dem sich ab und zu ein Rauchfaden ins Zimmer krümmt. Abgesehen vom Schreibtisch gibt es nicht viele Möbel. Ein kleines Porträt des Königs. Ein weiteres Gemälde, das offenbar die letzten Augenblicke einer Wildschweinhatz darstellt. Ein Tisch, auf dem eine Karaffe und Gläser stehen. Am Kamin ein Nachttopf aus dickem Porzellan. Unter dem Fenster aufgespannt ein Schirm aus geölter Seide. Durch das Fenster selbst ist nichts als der zerwühlte graue Bauch des Himmels zu sehen.

»Lestingois«, sagt der Minister, der von dem Schriftstück abliest. »Sie sind Jean-Marie Lestingois.«

»Nein, Exzellenz.«

»Nein?« Der Blick des Ministers richtet sich wieder auf den Stapel, er zieht ein zweites Blatt heraus. »Dann Baratte. Jean-Baptiste Baratte?«

»Ja, Exzellenz.«

»Eine alte Familie?«

»Die Familie meines Vaters lebt schon seit mehreren Generationen in der Stadt, in Bellême.«

»Und Ihr Vater ist Handschuhmacher.«

»Handschuhmachermeister, Exzellenz. Und wir haben ein wenig Land. Etwas über vier Hektar.«

»Vier?« Der Minister gestattet sich ein Lächeln. Etwas Puder von seiner Perücke hat die Seide auf seinen Schultern weiß bestäubt. Sein Gesicht, denkt Jean-Baptiste, liefe, wenn es noch ein Stückchen nach vorn verlängert würde, zu einer Schneide zu, wie der Kopf einer Axt. »Der Comte de S- schreibt, Sie seien fleißig, sorgfältig und reinlich. Und außerdem, dass Ihre Mutter Protestantin sei.«

»Nur meine Mutter, Exzellenz. Mein Vater –«

Der Minister bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wie Ihre Eltern ihre Gebete sprechen, ist unerheblich. Sie werden nicht für den Posten des königlichen Kaplans ins Auge gefasst.« Er schaut erneut auf das Blatt. »Zur Schule gegangen bei den Brüdern der Oratorianischen Kongregation in Nogent, worauf Sie dank der Großzügigkeit des Grafen in die Ecole Royale des Ponts et Chaussées eintreten durften.«

»Später dann, Exzellenz, ja. Ich hatte die Ehre, dort von Maître Perronet unterrichtet zu werden.«

»Von wem?«

»Von dem großen Perronet, Exzellenz.«

»Sie verstehen sich auf Geometrie und Algebra. Hydraulik. Hier heißt es, Sie hätten eine Brücke gebaut.«

»Eine kleine Brücke, Exzellenz, auf dem Gut des Grafen.«

»Staffage?«

»Es war … In gewisser Hinsicht, Exzellenz.«

»Und Sie besitzen Erfahrungen im Bergbau?«

»Ich war fast zwei Jahre lang in den Bergwerken bei Valenciennes. Der Graf hat Anteile an den Bergwerken.«

»Er hat Anteile an vielem, Baratte. Man behängt seine Frau nicht mit Diamanten, ohne Anteile zu haben.« Der Minister hat vielleicht einen Scherz gemacht, und vielleicht sollte man etwas Witziges, wenn auch Respektvolles, erwidern, aber Jean-Baptiste denkt weder an die Frau des Grafen und ihren Schmuck noch an seine Mätresse und deren Schmuck, sondern an die Bergarbeiter von Valenciennes. An ihre besondere Art von Armut, der unter diesen Sargtüchern von Qualm keine Gnade der Natur Linderung schafft.

»An Ihnen nimmt er auch Anteil, nicht wahr?«

»Ja, Exzellenz.«

»Ihr Vater hat Handschuhe für den Grafen gemacht?«

»Ja, Exzellenz.«

»Vielleicht lasse ich mir auch welche von ihm machen.«

»Mein Vater ist tot, Exzellenz.«

»Ach ja?«

»Schon seit einigen Jahren.«

»Woran ist er gestorben?«

»An einer Krankheit, Exzellenz. Einer schleichenden Krankheit.«

»Dann wollen Sie zweifellos sein Andenken ehren.«

»Gewiss, Exzellenz.«

»Sie sind bereit zu dienen?«

»Ja.«

»Ich habe etwas für Sie, Baratte. Ein Unternehmen, das, mit dem notwendigen Gespür, der notwendigen Diskretion durchgeführt, dafür sorgen wird, dass Ihr Fortkommen nicht ins Stocken kommt. Es wird Ihnen einen Namen verschaffen.«

»Ich bin dankbar für das mir von Eurer Exzellenz entgegengebrachte Vertrauen.«

»Wir wollen noch nicht von Vertrauen sprechen. Sie kennen den Friedhof der Unschuldigen?«

»Einen Friedhof?«

»Beim großen Markt von Les Halles.«

»Ich habe davon gehört, Exzellenz.«

»Er nimmt die Leichen von Paris schon länger auf, als irgendein Mensch zurückdenken kann. Schon seit alter Zeit, als die Stadt noch kaum über die Inseln hinausreichte. Damals muss er durchaus erträglich gewesen sein. Ein Flecken Erde mit nichts oder nur wenig drumherum. Aber die Stadt wurde größer. Die Stadt umfing ihn. Man baute eine Kirche. Baute Mauern um den Friedhof. Und um die Mauern herum Häuser, Läden, Tavernen. Das Leben in seiner Gesamtheit. Der Friedhof wurde berühmt, gefeiert, ein Pilgerort. Mutter Kirche verdiente ein Vermögen mit Beerdigungsgebühren. Soundsoviel für den Einlass in die Kirche. Etwas weniger für die Galerien draußen. Die Armengräber waren natürlich gratis. Man kann von einem Menschen kein Geld dafür verlangen, dass seine Überreste auf die anderer Leute gelegt werden wie eine Scheibe Schinken.

Wie ich höre, wurden auf dem Friedhof während eines einzigen Ausbruchs der Seuche in weniger als einem Monat fünfzigtausend Leichen begraben. Und so ging es weiter, Leiche auf Leiche, dass die Totenkarren in der Rue Saint-Denis schon Schlange standen. Es gab sogar nachts Beerdigungen, bei Fackelschein. Leiche auf Leiche. Eine Zahl, die sich jeder Berechnung entzieht. Unermessliche Legionen, in einen Flecken Erde gezwängt, der nicht größer ist als ein Kartoffelacker. Und doch schien niemand sich daran zu stören. Es gab keine Proteste, keine Bekundungen von Abscheu. Vielleicht erschien es ja sogar normal. Doch seit etwa einer Generation bekommen wir Beschwerden. Einige der Anwohner empfanden die Nähe des Friedhofs allmählich als unerquicklich. Nahrungsmittel wollten sich nicht halten. Kerzen erloschen, wie von unsichtbaren Fingern ausgedrückt. Menschen, die morgens ihre Treppe hinunterstiegen, fielen in Ohnmacht. Und es gab moralische Beeinträchtigungen, besonders bei jungen Menschen. Jungen Männern und Frauen von bislang tadelloser Lebensführung …

Eine Kommission wurde eingesetzt, die der Sache nachgehen sollte. Sehr viele sachverständige Herren schrieben sehr viele Worte zu dem Thema. Empfehlungen wurden ausgesprochen und Pläne für neue, hygienische Friedhöfe gezeichnet, die wieder außerhalb der Stadtgrenzen liegen würden. Aber die Empfehlungen wurden ignoriert und die Pläne zusammengerollt und weggeräumt. Die Toten trafen weiterhin am Tor des Friedhofs ein. Irgendwie fand man Platz für sie. Und so wäre es immer weitergegangen, Baratte. Daran besteht kein Zweifel. Weitergegangen bis zum Jüngsten Gericht, hätte es nicht vor nunmehr fünf Jahren ein Frühjahr mit ungewöhnlich heftigen Regenfällen gegeben. Eine unterirdische Mauer, die den Friedhof vom Keller eines Hauses in einer der anliegenden Straßen trennte, brach zusammen. In den Keller stürzte der Inhalt eines gewöhnlichen Armengrabs. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Unruhe diejenigen empfanden, die über dem Keller wohnten, ihre Nachbarn, deren Nachbarn, überhaupt alle, die sich, wenn sie nachts zu Bett gingen, wohl mit dem Gedanken niederlegten, dass der Friedhof wie die gefräßige See gegen die Mauer ihrer Häuser drückte. Er konnte seine Toten nicht mehr bei sich behalten. Man konnte seinen Vater dort begraben und schon nach einem Monat nicht mehr wissen, wo er war. Der König selbst war beunruhigt. Es wurde befohlen, Les Innocents zu schließen. Friedhof und Kirche. Unverzüglich zu schließen, das Tor zu versperren. Und so ist es trotz der Bittgesuche Seiner Gnaden des Bischofs seither geblieben. Geschlossen, leer, still. Was meinen Sie dazu?«

»Wozu, Exzellenz?«

»Kann man einen solchen Ort einfach sich selbst überlassen?«

»Das ist schwer zu sagen, Exzellenz. Wahrscheinlich nicht.«

»Er stinkt.«

»Ja, Exzellenz.«

»An manchen Tagen bilde ich mir ein, ich kann ihn von hier aus riechen.«

»Ja, Exzellenz.«

»Er vergiftet die Stadt. Überlässt man ihn lange genug sich selbst, vergiftet er vielleicht nicht nur die dortigen Ladeninhaber, sondern den König selbst. Den König und seine Minister.«

»Ja, Exzellenz.«

»Er muss entfernt werden.«

»Entfernt?«

»Zerstört. Kirche und Friedhof. Der Ort soll wieder lieblich werden. Verwenden Sie Feuer, verwenden Sie Schwefel. Verwenden Sie, was auch immer Sie brauchen, um ihn loszuwerden.«

»Und die … die Bewohner, Exzellenz?«

»Welche Bewohner?«

»Die Toten?«

»Sind zu beseitigen. Bis auf das letzte Knöchelbein. Das Ganze erfordert einen Mann, der sich vor einer kleinen Unannehmlichkeit nicht fürchtet. Jemanden, der sich vom Gebelfer der Priester nicht einschüchtern lässt. Nicht zu abergläubischen Vorstellungen neigt.«

»Abergläubischen Vorstellungen, Exzellenz?«

»Sie glauben doch nicht etwa, ein Ort wie der Friedhof der Unschuldigen verfügte nicht über seine eigenen Legenden? Es wird sogar behauptet, in den Grabgewölben gehe ein Geschöpf um, etwas, was in jenen Tagen – oder wohl eher Nächten – gezeugt worden sei, als im Winter noch Wölfe in die Stadt kamen. Würden Sie sich vor einem solchen Geschöpf fürchten, Baratte?«

»Nur, wenn ich daran glaubte, Exzellenz.«

»Sie sind fraglos ein Skeptiker. Ein Schüler Voltaires. Wie ich höre, spricht er besonders junge Männer Ihres Standes an.«

»Ich bin … Ich habe natürlich gehört …«

»Ja, natürlich. Und er wird auch hier gelesen. Von mehr Leuten, als Sie vielleicht vermuten. Was Klugheit angeht, sind wir vollkommen demokratisch. Und ein Mann, der soviel Geld besessen hat wie Voltaire, kann kein ganz schlechter Mensch gewesen sein.«

»Ja, Exzellenz.«

»Sie schrecken also nicht vor Schatten zusammen?«

»Nein, Exzellenz.«

»Die Arbeit wird zugleich heikel und grob sein. Sie werden über die Autorität dieses Amtes verfügen. Sie werden Geld haben. Sie werden mir über meinen Bevollmächtigten, Monsieur Lafosse, Bericht erstatten.« Der Minister blickt über Jean-Baptistes Schulter hinweg. Dieser dreht sich um. Auf einem Hocker hinter der Tür sitzt ein Mann. Es bleibt nur Zeit, die langen weißen Finger, die langen, schwarzgekleideten Gliedmaßen wahrzunehmen. Und natürlich die Augen. Zwei in einen Schädel gehämmerte schwarze Nägel.

»Sie werden Lafosse alles sagen. Er hat Büros in Paris. Er wird Sie bei Ihrer Arbeit aufsuchen.«

»Ja, Exzellenz.«

»Und Sie werden so lange wie irgend möglich für sich behalten, was es mit Ihrem Auftrag auf sich hat. Die Neigungen des Volkes sind unvorhersehbar. Vielleicht halten sie ja sogar einen Ort wie Les Innocents lieb und wert.«

»Exzellenz, wann soll ich mit dieser Arbeit beginnen?«

Doch der Minister ist plötzlich taub. Der Minister hat das Interesse an ihm verloren. Er blättert Papiere um und greift nach seinem kleinen Glas, das ihm der Diener, der um den Schreibtisch herumtritt, in die ausgestreckten Finger bugsiert.

Lafosse erhebt sich von seinem Hocker. Aus den Tiefen seines Rocks zieht er einen gefalteten und versiegelten Bogen Papier, dann einen Beutel. Beides gibt er Jean-Baptiste. Dieser verbeugt sich vor ihm und, etwas tiefer, vor dem Minister, tritt rückwärts in Richtung Tür, dreht sich um und geht hinaus. Der Mann, der mit ihm gewartet hat, ist verschwunden. Ist er auch Ingenieur? Jener Jean-Marie Lestingois, von dem der Minister gesprochen hat? Und wenn der gelbäugige Diener ihn zuerst angesehen hätte, wäre dann er derjenige, der mit der Zerstörung eines Friedhofs beauftragt worden wäre?

Er nimmt seinen Reitmantel von dem Stuhl, auf dem er ihn abgelegt hat. Das Rinnsal des Hundeurins sickert langsam in das Holz des Bodens ein.

3

EIN, ZWEI FLURE, einen Flügel weit ist er sich sicher, dass er denselben Weg zurückgeht. Er kommt an Fenstern vorbei, die so groß sind, dass man auf einem Pferd, vielleicht sogar auf einem Elefanten hindurchreiten könnte. Er steigt geschwungene Treppen hinunter, vorbei an gewaltigen allegorischen Tapisserien, die in der herbstlichen Zugluft zittern und die Augen unzähliger Frauen ruiniert haben müssen, denn jedes Detail ist bis ins kleinste mit perfektem Stich ausgeführt, die Blumen am Fuße des Parnass, französische Wiesenblumen – Mohnblumen, Kornblumen, Rittersporn, Kamille …

Der Palast gleicht einem Spiel, aber Jean-Baptiste wird es allmählich leid. In einigen Fluren ist es dunkel wie am Abend; andere werden von tropfenden Kerzen erhellt. In diesen trifft er auf sich drängelnde Gruppen von Dienern, doch wenn er nach dem Weg fragt, ignorieren sie ihn oder zeigen in vier verschiedene Richtungen. Einer ruft ihm nach: »Folgen Sie Ihrer Nase!«, doch seine Nase sagt ihm nur, dass die Ausscheidungen der Mächtigen sich nicht groß von denen der Armen unterscheiden.

Und überall, auf jedem Flur, gibt es Türen. Soll er durch eine hindurchgehen? Entkommt man so dem Schloss von Versailles? Doch Türen sind an einem solchen Ort ebenso den Regeln der Etikette unterworfen wie alles andere. An manche klopft man; an anderen darf man nur mit dem Fingernagel kratzen. Cousin André hat ihm das auf dem Ritt nach Nogent erklärt, Cousin André der Advokat, der, obwohl drei Jahre jünger, bereits eine durchtriebene Weltklugkeit, ein beneidenswert umfassendes Wissen besitzt.

Er bleibt vor einer Tür stehen, die ihm irgendwie vielversprechender erscheint als ihre Nachbarn. Und spürt er nicht einen kühlen Luftzug darunter hervorströmen? Er sucht nach Kratzspuren im Holz, sieht keine und klopft leise. Niemand reagiert. Er drückt die Klinke und geht hinein. Drinnen sitzen zwei Männer an einem kleinen, runden Tisch und spielen Karten. Sie haben große, blaue Augen und tragen silberne Röcke. Sie erzählen ihm, sie seien Polen, hielten sich schon seit Monaten im Schloss auf und wüssten kaum mehr, weshalb sie überhaupt hergekommen seien. »Kennen Sie Madame de M-?« fragt der eine.

»Leider nicht.«

Sie seufzen; jeder dreht eine Karte um. Hinten im Zimmer erproben zwei Katzen ihre Krallen am seidenen Bezug eines Diwans. Jean-Baptiste will sich mit einer Verbeugung zurückziehen. Ob er denn nicht noch ein Weilchen bleiben und mitspielen möchte? Pikett vertreibe einem die Zeit so gut wie sonst etwas. Er sagt ihnen, dass er hinauszufinden versucht.

Hinaus? Sie sehen ihn an und lachen.

Wieder auf dem Flur, bleibt er stehen und sieht zu, wie eine Frau mit aufgetürmtem lila Haar waagerecht durch eine Türöffnung getragen wird. Ihr Kopf dreht sich; ihre schwarzen Augen mustern ihn. Sie ist nicht die Sorte Mensch, die man nach dem Weg fragt. Auf der schmalen Steinspirale einer Dienstbotentreppe steigt er in das Stockwerk darunter. Hier lungern Soldaten auf Bänken, während Jungen in blauer Livree zusammengerollt auf Tischen, unter Tischen, auf Fenstersitzen dösen, überall, wo Platz für sie ist. Auf ihn zugelaufen kommt ein Dutzend Mädchen, die hinter ihren Bündeln mit schmutziger Wäsche kaum etwas sehen können. Um nicht umgerannt zu werden, tritt er (ohne zu klopfen oder zu kratzen) durch die nächstgelegene Tür und gelangt in einen Raum, einen weitläufigen Saal, wo in großen Terrakottakübeln etwa hundert kleine Bäume stehen. Obwohl Nordfranzose, eingefleischter Nordfranzose, weiß er von seiner Zeit in Diensten des Comte de S-, dass es sich um Zitronenbäume handelt. Zum Schutz gegen den kommenden Winter hat man sie mit Stroh und Sackleinwand umwickelt. Die Luft ist duftgeschwängert, sanftgrün, durch Reihen von Bogenfenstern fällt schräg das Licht ein. Er öffnet eines davon, klettert hinaus auf ein Wasserfass und springt hinunter in die Außenwelt.

Hinter ihm, im Schloss, schlagen zahllose Uhren die Stunde. Er zückt seine Taschenuhr. Wie der Anzug ist sie ein Geschenk, und zwar von Maître Perronet aus Anlass seines Schulabschlusses. Der Deckel ist mit dem allsehenden Auge der Freimaurer bemalt, obwohl er kein Freimaurer ist und auch nicht weiß, ob Maître Perronet der Gemeinschaft angehört. Als die Zeiger auf zwei Uhr vorrücken, vibriert die Uhr sanft auf seiner Handfläche. Er klappt den Deckel zu, steckt sie ein.

Vor ihm führt ein mit hellem Kies bestreuter Pfad zwischen Wänden aus gestutzten Hecken entlang, die so hoch sind, dass man nicht darüber hinwegsehen kann. Er folgt dem Pfad; es gibt sonst nichts, woran er sich orientieren könnte. Er kommt an einem Springbrunnen vorbei, dessen Becken kein Wasser enthält und bereits mit Herbstlaub gefüllt ist. Er friert und ist plötzlich müde. Er zieht seinen Reitmantel an. Der Pfad teilt sich. Wohin jetzt? Zwischen den Pfaden ist eine kleine Laube mit einer halbkreisförmigen Bank und über dieser ein steinerner, mit Flechten gesprenkelter Cupido, dessen Pfeil auf denjenigen zielt, der unterhalb von ihm sitzt. Jean-Baptiste setzt sich. Er entsiegelt das Papier, das Lafosse ihm gegeben hat. Es enthält die Adresse eines Hauses, wo er Quartier nehmen soll. Er schnürt den Beutel auf, schüttet sich einige der schweren Münzen auf die Handfläche. Hundert Livres? Vielleicht etwas mehr. Er ist froh darüber – erleichtert –, denn er lebt seit Monaten von seinen mageren Ersparnissen, schuldet seiner Mutter und Cousin André Geld. Zugleich sieht er, dass der Betrag nicht dazu gedacht ist, ihm zu schmeicheln. Er macht einen genau kalkulierten Eindruck. Der übliche Tarif für das, was auch immer er jetzt ist, ein Bauunternehmer, ein Mietling des Staates, ein Friedhofszerstörer …

Ein Friedhof! Er kann es noch immer nicht recht fassen. Ein Friedhof mitten in Paris! Ein bekannter Gottesacker! Was auch immer er auf der Reise hierher erwartet, was für ein Projekt auch immer er sich ausgemalt hat, das man ihm vielleicht anbieten würde – vielleicht irgendeine Arbeit am Schloss selbst –, das hätte er sich weiß Gott nicht träumen lassen. Hätte er sich weigern können? Die Möglichkeit ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen, hat aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht bestanden. Was die Frage angeht, ob das Ausgraben von Gebeinen mit seinem Status, seiner Würde als Absolvent der Ecole Royale des Ponts et Chaussées vereinbar ist, so muss er eine Möglichkeit finden, gründlicher darüber nachzudenken … abstrakt. Er ist schließlich ein junger Mann mit Ideen, mit Idealen. Es kann nicht unmöglich sein, diese Arbeit als etwas Wertvolles, etwas Ernsthaftes aufzufassen. Etwas, was dem allgemeinen Wohl dient. Etwas, was die Verfasser der Encyclopédie gutheißen würden.

Vor der Bank hat sich ein Dutzend Spatzen eingefunden, die Federn zum Schutz gegen die Kälte gebauscht. Er sieht ihnen zu, wie sie gezaust über die Steine hüpfen. In einer Tasche seines Mantels – einer, die so tief ist, dass alle Spatzen hineinpassen würden – hat er etwas Brot von dem Frühstück, das er im Dunkeln, auf dem Rücken des Pferdes, verzehrt hat. Er beißt hinein, kaut, bricht dann ein Stück davon ab und zerkrümelt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Beim Fressen scheinen die kleinen Vögel zwischen seinen Füßen zu tanzen.

4

DEN STUHL an die rechte Seite des Wohnzimmerfensters im ersten Stock in der Rue de la Lingerie gerückt, saugt Emilie Monnard – allgemein als Ziguette bekannt – sanft an ihrer Unterlippe und sieht zu, wie über der Rue Saint-Denis, der Rue aux Fers und dem Markt von Les Halles der Tag zu Ende geht. Der Markt hat natürlich längst zusammengepackt, seinen essbaren Abfall haben diejenigen weggeschafft, die davon leben. Was bleibt, der Müll aus verschmutztem Stroh, Fischinnereien, blutdunklen Federn, dem Grünzeug von Blumen, die aus dem Süden hergebracht worden sind, all das wird über Nacht verwehen oder in der Morgendämmerung von Besen und Wasserschwällen verteilt werden. Sie hat das alles ihr Leben lang betrachtet, ohne dass es ihr je langweilig wurde, den Markt und – in ihrem unmittelbareren Blickfeld – die alte Kirche Les Innocents mit ihrem Friedhof, obwohl sich auf diesem seit Jahren nichts mehr tut; man sieht nur den Küster und seine Enkelin zu einer der Pforten gehen oder, seltener, den alten Priester mit seiner blauen Brille, den man offenbar schlicht vergessen hat. Wie sie das alles vermisst. Die vom Kirchentor heranschlurfenden, gewundenen Trauerzüge, die einander stützenden Trauernden, das Läuten der Glocke, die schwankenden Särge, dann das Gemurmel des Gottesdienstes und schließlich – Höhepunkt der Zeremonie – der Augenblick, in dem der Tote, Mann, Frau oder Kind, in die Erde gesenkt wurde, als gäbe man ihn ihr zu fressen. Und wenn die anderen gegangen waren und es auf dem Friedhof wieder still war, saß sie immer noch da und hielt, das Gesicht dicht am Fenster, Wache wie eine Schwester oder ein Engel.

Sie seufzt, blickt zurück auf die Straße, die Rue aux Fers, sieht Madame Desproux, die Frau des Bäckers, am italienischen Brunnen vorbeikommen und stehenbleiben, um mit der Witwe Aries zu reden. Und dort, beim Marktkreuz, ist Merda der Säufer. Und das ist Boubon der Korbmacher, der allein hinter seinem Laden in der Rue Saint-Denis wohnt … Und dort, vom Ende der Rue de la Fromagerie, kommt diese Frau in ihrem roten Mantel. Hat Merda ihr gerade etwas zugerufen? Es muss ihm eine Erleichterung sein, ein Geschöpf zu beleidigen, das noch tiefer steht als er, aber die Frau bleibt weder stehen noch dreht sie sich um. An Leute wie Merda hat sie sich längst gewöhnt. Wie groß sie ist! Und wie unsinnig gerade sie sich hält! Jetzt spricht irgendwer, irgendein Mann, sie an, obwohl er dabei Abstand hält. Wer ist es? Doch nicht etwa Armand (oder sollte man sagen, es ist nur allzu wahrscheinlich Armand)? Aber nun gehen sie auseinander und sind bald beide nicht mehr zu sehen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, werden einige der Männer, die sie bei Tageslicht hänseln oder beleidigen, ihr nachsteigen und eine Verabredung treffen, ein Rendezvous irgendwo in einem Zimmer mit ihr vereinbaren. Wird es so gemacht? Und sobald sie in dem Zimmer sind … Ah, sie hat es sich vorgestellt, es sich in allen Einzelheiten ausgemalt, ist sogar, in der Zurückgezogenheit und im Kaminfeuerschein ihres Schlafzimmers, heftig errötet bei solchen Gedanken, sündigen Gedanken, die sie eigentlich Père Poupart in Saint-Eustache beichten müsste und vielleicht auch beichten würde, wenn Père Poupart nicht einem gebrühten Schwein so ähnlich sähe. Warum gibt es in Paris keine gutaussehenden Priester? Man hat keine Lust, einem hässlichen Mann irgend etwas zu beichten.

»Ist jemand Interessantes auf der Straße, meine Liebe?« fragt ihre Mutter, die, eine Kerze in der Patschhand, hinter ihr ins Zimmer kommt.

»Eigentlich nicht.«

»Nein?«

Madame Monnard bleibt hinter ihrer Tochter stehen, streicht ihr über das Haar, fährt geistesabwesend mit einem Finger in dessen Fülle, die sie so sehr liebt. In der Rue aux Fers lehnt ein Lampenanzünder seine Leiter gegen die Lampe gegenüber der Kirche. Schweigend sehen sie ihm zu, wie er geschickt hinaufsteigt und mit seiner Kerze in den Glaskolben hineinlangt, wie gelbes Licht erblüht und er rasch hinuntersteigt. Als Madame und Monsieur Monnard dieses Haus bezogen, gab es in der Rue aux Fers noch überhaupt keine und in der Rue Saint-Denis kaum irgendwelche Lampen. Paris war damals dunkler, obwohl jeder daran gewöhnt, dagegen abgehärtet war.

»Ich fürchte«, sagt Madame, »unser neuer Mieter hat sich verirrt. Da er vom Land kommt, bezweifle ich stark, dass er imstande ist, sich bei so vielen Straßen zurechtzufinden.«

»Er kann sich durchfragen«, sagt Ziguette. »Französisch wird er ja wohl sprechen.«

»Natürlich spricht er Französisch«, sagt Madame, unsicher.

»Ich glaube«, sagt Ziguette, »er ist ganz klein und stark behaart.«

Ihre Mutter lacht, schlägt sich die Hand vor den Mund, die kleinen braunen Zähne. »Was für alberne Vorstellungen du hast«, sagt sie.

»Und er isst«, fährt Ziguette fort, die seit frühester Kindheit zu derlei mal amüsanten, mal beunruhigenden Phantastereien neigt, »nur Äpfel und Schweinefüße. Und wischt sich die Finger am Bart ab. So.«

Sie ahmt es nach, fährt mit gekrümmten Fingern unterhalb ihres hübsch geformten rosigen Kinns durch die Luft, als mit klappernden Holzschuhen das Dienstmädchen hereinkommt.

»Noch niemand zu sehen, Marie?« fragt Madame.

»Nein«, sagt Marie, die im Dämmerlicht in Türnähe stehenbleibt, die junge, stämmige Gestalt angespannt, als wäre sie auf einen Vorwurf gefasst.

»Dein Vater hat mir versichert, er käme früh nach Hause«, sagt Madame zu ihrer Tochter. »Es wäre äußerst misslich, wenn wir ihn selbst empfangen müssten. Marie, Monsieur Monnard hat keine Nachricht geschickt, oder?«

Das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie ist seit achtzehn Monaten hier in Stellung. Ihr Vater ist Lohgerber im Faubourg Saint-Antoine gewesen, und sie war, als er am Typhus starb, noch so jung, dass sie sich nicht an ihn erinnert. Wie alle anderen im Haus leidet sie an Träumen.

 

Die Abenddämmerung macht der Nacht Platz. Madame Monnard zündet weitere Kerzen an. Sorgfältig schürt sie das Feuer. Sie verbrennen Holz, und Holz ist teuer. Ein kleines Scheit, nicht länger oder dicker als ein Männerarm, kostet zwölf Sous, und man braucht zwanzig davon, um ein Feuer den ganzen Tag am Brennen zu halten. Sie setzt sich, nimmt die Ausgabe des Journal des Dames Modernes zur Hand, die sie und Ziguette gestern so gut unterhalten hat, und schlägt sie erneut bei den Illustrationen der Wilden auf, der edlen Wilden – großer Herren in ihren eigenen wilden Königreichen –, deren Gesichter vom Kinn bis zu den Augen phantastische blaue Tätowierungen zieren, Wirbel und Spiralen wie Pläne für Parkanlagen. Man stelle sich nur vor, ihr Mieter käme mit einem solchen Gesicht! Was für ein Coup! Noch besser als das Pianoforte (und was für ein Triumph war das, als das Instrument mit einem Flaschenzug wie bei der Rettung einer Kuh aus einem Steinbruch hochgehievt und durch das Fenster hineinbugsiert wurde, die halbe Nachbarschaft sah zu). Ein Jammer, dass es ständig verstimmt ist. Es brachte den armen Lehrer von Ziguette fast zum Weinen, obwohl man einräumen muss, dass Signor Bancolari zu der Sorte von Herren zählte, die nah am Wasser gebaut haben.

Im unteren Stockwerk schlägt die Haustür zu. Ein Luftzug findet die Treppe hinauf und bringt die Kerzenflammen im Wohnzimmer zum Flackern, und kurz darauf erscheint Monsieur Monnard. Er trägt noch immer seine von Gebrauch und Alter dunkle Lederschürze aus der Werkstatt, obwohl Madame Monnard schleierhaft ist, vollkommen schleierhaft, wieso er überhaupt eine Schürze trägt, wo er doch nicht weniger als drei durchaus tüchtige Gesellen hat, die das Polieren und Schleifen allein übernehmen können. Doch das muss ihr Mann selbst entscheiden.

Sie begrüßen einander. Er begrüßt seine Tochter, die inzwischen auf dem Klavierhocker sitzt und mit einem Finger Töne anschlägt, die zu irgendeiner ihr bekannten Melodie gehören mögen oder auch nicht. Er nimmt seine Perücke ab und kratzt sich kräftig die Kopfhaut.

»Noch immer kein Lebenszeichen von unserem Gast?« fragt er.

»Ziguette«, sagt Madame Monnard, »hat die albernsten Dinge über ihn gesagt. Sie glaubt, er spricht kein Französisch, weil er aus der Normandie kommt.«

»In der Bretagne«, sagt Monsieur Monnard, »sprechen sie etwas vollkommen Unverständliches. Man glaubt, dass sie es von den Möwen gelernt haben.«

»Warum kommt er überhaupt?« fragt Ziguette. »War er zu Hause nicht zufrieden?«

»Ich nehme an«, sagt ihr Vater, »er hat vor, hier sein Glück zu machen. Ist das nicht der Grund, warum jeder nach Paris kommt?«

Marie fragt, ob sie die Suppe auftragen soll. Monsieur möchte wissen, was für Suppe es heute gibt.

»Knochen«, sagt Marie.

»Sie meint, von dem Kalbsbraten am Dienstag«, sagt Madame Monnard. »Wir haben noch allerlei schöne Zutaten hineingegeben.«

»Zum Beispiel Schweinefüße«, sagt Ziguette, was ihrer Mutter ein Perlen entzückten Gelächters entlockt.

5

ER TRIFFT ZWISCHEN der Suppe und einem Schmorgericht ein, das ebenfalls aus den Resten des Kalbsbratens vom Dienstag zubereitet ist. Er hat nicht die Absicht gehabt, so spät oder gar im Dunkeln einzutreffen. Sein Gepäck, eine große, gerippte Truhe (eine Rippe hat beim Abladen vom Kutschendach einen Knacks bekommen), wird von ihm selbst und einem riesenhaften, stummen Jungen getragen, irgendeinem Verwandten der Nachbarn des Postunternehmers, bei denen er gestern nacht abgestiegen ist.

»Wir haben schon befürchtet, Sie hätten sich verirrt!« ruft Monsieur Monnard leutselig vom oberen Absatz der ersten Treppe aus. »Vollkommen verirrt.«

»Ich war in Versailles, Monsieur, und dann lahmte das Pferd …«

»Versailles!« wiederholt Monsieur Monnard, während er zusieht, wie der junge Mann ihm entgegensteigt, dann komplimentiert er ihn in die Halbwärme des Zimmers im ersten Stock. »Monsieur Babette war heute in Versailles.«

»Baratte, Monsieur.«

»Wie?«

»Ich heiße Baratte. Mein Name, Monsieur. Baratte.«

Man lässt ihn gegenüber von Ziguette Platz nehmen. Es wird kurz darüber diskutiert, ob das Schmorgericht in die Küche zurückgehen soll, während der Neuankömmling seine Suppe isst. Ist die Suppe noch warm genug? Möchte Monsieur Baratte überhaupt Suppe?

»Und wie war es heute in Versailles?« fragt Monsieur Monnard, als wäre Versailles ein Ort, den er häufiger aufsucht.

Jean-Baptiste nimmt einen Löffelvoll von der lauwarmen Suppe und stellt fest, dass er Heißhunger hat. Wäre er allein gewesen, hätte er die Suppe vielleicht direkt aus der Schüssel getrunken und sich dann sofort einen Platz zum Schlafen gesucht. Aber das geht nicht, er muss sich Mühe geben, sich beliebt zu machen. Diese Leute werden, zumindest eine Zeitlang, sein intimster Umgang sein. Er will nicht, dass sie ihn für langweilig oder unhöflich, für einen provinziellen Bauerntölpel halten. Will nicht, dass sie glauben, er hätte etwas von dem Menschen, für den er sich in Momenten der Schwäche selbst hält. Er blickt von seiner Suppenschale auf. Was für einen großen, roten Mund das Mädchen hat! Es muss das Fett der Suppe sein, das die Lippen so glänzen lässt. »Versailles«, sagt er und wendet sich an ihren Vater, »ist der seltsamste Ort, den ich jemals gesehen habe.«

»Eine sehr gute Antwort«, sagt Madame Monnard mit entschiedenem Kopfnicken. Sie fordert Marie auf, dem Gast etwas Wein einzuschenken. »Und noch ein Scheit aufs Feuer, Marie. Ich habe es noch nie erlebt, dass es im Oktober so kalt war.«

 

Er lernt, dass die Monnards gern reden – eine Art des Redens, die sich stark von den bedächtigeren Rhythmen unterscheidet, mit denen er in Bellême aufgewachsen ist. Außerdem essen sie gern – Suppe, Schmorgericht, gebratene Scholle, Rote-Bete-Salat, Käse, etwas Kuchen. Alles, soweit er es beurteilen kann, richtig zubereitet, doch alles auch mit einer sonderbaren Note, einem Beigeschmack, der, wie er findet, in Speisen nichts verloren hat.

Nach dem Essen sitzen sie am Kamin. In der kalten Jahreszeit dient der Raum als Wohn- wie als Esszimmer, und er erfüllt diese Aufgaben gut, obwohl das Klavier einen beim Durchqueren des Zimmers jedesmal zu einem kleinen Umweg zwingt. Monsieur Monnard löst mit einer Reihe von Grimassen die Spannung in seinem Gesicht. Die weiblichen Monnards tun so, als nähten sie. Man hört ein Kratzen an der Tür. Eine Katze wird hereingelassen, ein Tier, das genauso groß ist wie der Hund, dem Jean-Baptiste dabei zugesehen hat, wie er vor dem Büro des Ministers auf den Boden pinkelte, ein schwarzer Kater, dem an einem Ohr ein gezackter Halbmond fehlt. Er heißt Ragoût. Die Familie weiß nicht, warum, und kann sich auch nicht darauf einigen, wer ihn so genannt hat. Er kommt geradewegs auf Jean-Baptiste zu und beschnuppert dessen Schuhsohlen.

»Na, was hast du getrieben, kleiner Bösewicht?« sagt Madame Monnard und lüpft das Tier mit einiger Mühe auf ihren Schoß. »Für seine Moral will ich mich nicht verbürgen«, sagt sie und lacht ausgelassen, dann fügt sie hinzu: »Ragoût und Ziguette sind unzertrennlich.«

Jean-Baptiste wirft einen Blick auf das Mädchen. Ihm scheint, dass sie den Kater mit einem gewissen Missfallen betrachtet.

»Die kleinen Herrschaften, die gern Käse essen«, sagt Monsieur Monnard, »überleben in diesem Haus nicht lange.«

»Was Ragoût nicht erwischt«, sagt Madame Monnard, »fängt mein Mann mit seinen kleinen Maschinen.«

»Maschinen?« fragt Jean-Baptiste, bei dem das Wort schon immer einen gewissen Kitzel hervorgerufen hat.

»Ich stelle sie in der Werkstatt her und verkaufe sie«, beginnt Monsieur Monnard. »Ein Käfig, eine Feder, eine kleine Klappe …« Er beschreibt eine Bewegung mit der Hand. »Das Tier ist gefangen. Dann braucht man den Käfig nur noch in einem Eimer Wasser zu versenken.«

»Marie schneidet ihnen die Kehle durch«, sagt Ziguette.

»Ich bin mir sicher, dass sie nichts dergleichen tut«, sagt ihre Mutter. Zu ihrem Gast sagt sie: »Mein Mann hat ein Geschäft in der Rue des Trois Mores.«

»Sie verkaufen Fallen, Monsieur?« fragt Jean-Baptiste.

»Klingen, Monsieur, von schlicht bis ausgefallen. Wir veredeln, schleifen und polieren. Wir sind bei besseren Leuten sehr beliebt. Père Poupart von Saint-Eustache schneidet sein Fleisch mit einem meiner Messer.«

»Wenn es kalt wird«, sagt Ziguette, »kommen Ratten herein. Ins Haus.«

»Zu Hause war das in den kältesten Nächten genauso«, sagt Jean-Baptiste.

»In der Normandie?« fragt Madame Monnard, als wäre sie erstaunt zu hören, dass Ratten einen so entlegenen Ort entdeckt haben.

»Bestimmt fehlt es Ihnen«, sagt Ziguette.

»Mein Zuhause?« Einen Moment lang sieht er in seiner Erschöpfung Krähen, schwarze Stoffetzen, in der Dämmerung von einem Feld aufsteigen, sieht die einsame Turmspitze einer Dorfkirche. »Ich denke, ich bin dort zufrieden, wo meine Arbeit mich hinführt.«

»Sehr mannhaft«, sagt Madame Monnard, während sie das Fell des Katers krault.

»Und worin besteht Ihre Arbeit hier?« fragt Ziguette. Sie sieht so hübsch aus, als sie das fragt, so keck in ihrem cremeweißen Kleid, dass er in Versuchung kommt, ihr genau zu sagen, weshalb er hier ist. Er fragt sich, was Lafosse gesagt, welche Geschichte er ihnen, wenn überhaupt, erzählt hat.

»Ich bin hier«, sagt er und ist sich bewusst, dass alle drei ihm plötzlich aufmerksam zuhören, »um eine Vermessung des Friedhofs vorzunehmen.«

»Des Friedhofs der Unschuldigen?« fragt Madame Monnard nach kurzem Schweigen, in dem nichts als das Schnurren des Katers und das Knistern des Feuers zu hören ist.

»Ich bin Ingenieur«, sagt er. »Hat man Ihnen das nicht gesagt?«

»Wer sollte uns das denn sagen?« fragt Monsieur Monnard.

»Derselbe, der vereinbart hat, dass ich hier Quartier nehme.«

»Man hat uns lediglich davon unterrichtet, dass ein Herr aus der Normandie ein Zimmer brauchen würde.«

»Mit Mahlzeiten«, fügt seine Frau hinzu.

»Ganz recht«, bestätigt Monsieur Monnard. »Eine Morgen- und eine Abendmahlzeit.«

Ziguette sagt: »Wir hatten einmal einen Musiker bei uns wohnen.«

»Einen sehr ungewöhnlichen Herrn«, sagt Monsieur Monnard.

»Mit roten Haaren«, sagt Madame.

Ziguette macht den Mund auf, als wollte sie etwas hinzufügen; dann, nach einem Taktschlag, einer Viertelnote des Zögerns, macht sie ihn wieder zu.

»Sie haben einen sehr praktischen Beruf«, sagt Madame mit gefälligem Lächeln. »Man muss Sie beglückwünschen.«

»Mein Lehrer an der Ecole des Ponts war Maître Perronet. Er ist der größte Ingenieur Frankreichs.«

Über den Kopf des Katers hinweg applaudiert Madame Monnard ihm mit den Fingerspitzen.

»Haben Sie denn schon einmal eine Brücke gebaut?« fragt Ziguette.

»Eine. In der Normandie.«

»Und was hat sie überspannt?«

»Die Ecke eines Sees.«

»Von Seen denkt man nicht, dass sie Ecken haben«, sagt Ziguette.

»Am besten, Monsieur, sagen Sie Marie«, meint Madame Monnard, »ob Sie morgens lieber Kaffee oder Schokolade möchten.«

»Der Musiker hat Schokolade gemocht«, sagt Ziguette.

»Marie wird das Getränk auf Ihr Zimmer bringen, wenn Sie wünschen«, sagt Madame. »Und Wasser für Ihre Toilette. Sie müssen nur sagen, zu welcher Stunde.«

»Er hat sein Zimmer noch gar nicht gesehen«, sagt Ziguette.

»Ja, richtig«, sagt ihre Mutter. »Das hat er noch nicht.«

»Dann werde ich Ihnen helfen, Ihre Truhe die Treppe hinaufzuschaffen«, sagt Monsieur Monnard und erhebt sich. »Sie wird selbst für Marie zu schwer sein.«

 

Das Zimmer liegt auf der Rückseite des Hauses in dem Stockwerk unter dem Dachboden. Leicht schnaufend tragen die beiden Männer die Truhe die vier Treppen vom Flur aus hinauf. Marie geht ihnen mit einer Kerze voran.

»Ich denke, Sie werden dort oben alles haben, was Sie brauchen«, sagt Monsieur Monnard.

»Ja«, sagt Jean-Baptiste, dessen Blick von dem schmalen Bett zu dem Tisch mit Stuhl, dem dreibeinigen Gestell mit der glasierten Blechschüssel, dem schmalen Kamin und dem mit Läden verschlossenen Fenster über dem Bett wandert.

»Ziguette hat ihr Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Madame Monnard und ich schlafen im Zimmer darunter. Marie wohnt natürlich auf dem Dachboden. Ihr Vorgänger hatte die Angewohnheit, sie zu bitten, ihre Holzschuhe auszuziehen, wenn sie sich im Zimmer über ihm aufhielt. Er war außerordentlich lärmempfindlich.«

»Möchten Sie, dass ich die Miete im voraus bezahle, Monsieur?«

»Sehr geschäftsmäßig von Ihnen. Ich bewundere das bei einem jungen Mann. Dann wollen wir mal sehen. Sechs Livres die Woche, denke ich. Kerzen und Feuerholz nicht eingeschlossen.«

Jean-Baptiste wendet sich leicht von dem Hausherrn ab, schüttelt ein paar Münzen aus dem Beutel auf den Tisch, pflückt einen halben Louisdor heraus. »Für zwei Wochen«, sagt er.

Monsieur Monnard nimmt die Münze entgegen, kerbt sie mit dem Daumennagel und steckt sie in eine Tasche seiner Weste. »Sie sind hier willkommen«, sagt er mit dem Ausdruck eines Menschen, der gerade einem Priester ein Steckgehäuse guter Messer verkauft hat. »Sagen Sie Marie unbedingt, was Sie alles brauchen.«

Ein, zwei Sekunden lang treffen sich die Blicke von Mieter und Dienstmädchen. Dann entzündet sie den Kerzenstummel auf dem Tisch mit der Kerze, die sie mit heraufgebracht hat.

»Wenn Sie morgens Ihre Kerze mit herunterbringen«, sagt sie, »können Sie sie auf dem Bord neben der Haustür abstellen. Dort liegen auch Feuerstein und Stahl.«

»Sie werden kaum von hier weggehen müssen«, sagt Monsieur Monnard und deutet mit dem Kinn auf die Fensterläden, »um Ihre Vermessung vorzunehmen.«

»Ich kann ihn von hier aus sehen?«

»Sie haben noch keine Möglichkeit gehabt, im Viertel umherzugehen?«

»Nein, Monsieur.«

»Nun, bei Tageslicht werden Sie ihn deutlich erkennen können.«

Er schließt das Fenster, legt die Läden vor. Die Kerze auf dem Tisch wird nicht mehr lange reichen. Er löst die Riemen um seine Truhe, wühlt darin, zieht eine Ausgabe des zweiten Bandes der Histoire Naturelle des Comte de Buffon heraus, dazu ein langes Messinglineal, ein kleines Kästchen mit Schreibgeräten, eine Schatulle aus Rosenholz, die einen Messingzirkel enthält. Eingewickelt in ein Wollhemd ist sein Kupferstich von Canalettos Blick auf die Rialtobrücke. Er sucht nach einem Nagel in der Wand, findet einen über dem leeren Kamin, hängt das Bild auf und steht eine Zeitlang davor, um es zu betrachten.

»Wer bist du? Ich bin Jean-Baptiste Baratte. Woher kommst du? Aus Bellême in der Normandie. Was bist du? Ein Ingenieur, ausgebildet an der Ecole des Ponts. Woran glaubst du? An die Macht der Vernunft …«

Er Ecce homo!

Irgendwer oder irgend etwas kratzt am Holz der Tür. Er hält den Atem an, lauscht. Der Kater mit der fragwürdigen Moral? Hat sein Vorgänger das Tier am Fußende des Bettes schlafen lassen? Tja, er selbst hätte auch nichts dagegen, würde sich sogar über die Gesellschaft freuen, aber kaum setzt er sich auf, verstummt das Kratzen. Unter seiner Tür die weiche Bewegung eines Lichts. Dann nichts.