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Dick Francis

Galopp

Roman

Aus dem
Englischen von
Ursula Goldschmidt
und Nikolaus Stingl

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1978 bei Michael Joseph Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›Trial Run‹

Copyright © 1978 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1980

unter dem Titel ›Im Galopp in die Falle‹

im Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin

Die Übersetzung wurde für die vorliegende

Ausgabe überarbeitet und vervollständigt

Umschlagzeichnung von

Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21983 8 (8. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60009 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Dank an

Andrew und Andrew

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[9] 1

Mir fielen mindestens drei Gründe ein, warum ich nicht nach Moskau wollte; einer davon war sechsundzwanzig, blond und gerade dabei, oben ihren Koffer auszupacken.

»Ich kann kein Russisch«, sagte ich.

»Natürlich nicht.«

Mein Besucher seufzte über soviel Beschränktheit und nahm ein vornehmes Schlückchen von seinem Pink Gin. Seine Stimme klang herablassend.

»Niemand erwartet von Ihnen russische Sprachkenntnisse.«

Der Freund eines Freundes hatte ihn telefonisch angekündigt. Er sagte, sein Name sei Rupert Hughes-Beckett; es handele sich um eine etwas – äh – delikate Angelegenheit, und er wäre dankbar, wenn ich eine halbe Stunde Zeit für ihn hätte.

Als ich auf sein Klingeln hin die Haustür öffnete, fiel mir sofort das Wort »Mandarin« ein, und seither hatte jede Geste, jede Betonung diesen Eindruck verstärkt. Ein Mann von ungefähr fünfzig, groß und hager, tadellos und unauffällig gekleidet, umgeben von einer Aura unerschütterlicher Höflichkeit. Die kultivierte Stimme sprach, ohne daß sich die Lippen viel bewegten, als könne ein Anspannen der Muskeln in der Mundgegend an sich schon das Entschlüpfen eines unvorsichtigen Wortes verhindern. Jede Bewegung der Hände war beherrscht, ja sogar die Art, wie er sich nur kurz umsah und sich dann ganz auf mich, seine eigenen Handrücken und das Glas mit seinem Drink konzentrierte.

Männer seines Schlages waren mir nicht unbekannt, und einige hatte ich sogar gern, Rupert Hughes-Beckett gegenüber jedoch [10] verspürte ich eine unerklärliche Abneigung, die in mir den Wunsch erweckte, nein zu seinen Vorschlägen zu sagen.

»Es würde Sie nicht viel Zeit kosten«, sagte er geduldig. »Wir rechnen mit einer – höchstens zwei Wochen.«

Ich brachte genausoviel behutsame Höflichkeit auf wie er.

»Warum fahren Sie nicht selbst?« fragte ich. »Sie würden viel leichter Zugang finden.«

Ein Hauch von Ungeduld zuckte in seinen Augen auf. »Man hält es für besser, jemand zu schicken, der mit… äh… Pferden vertraut ist.«

Schlüpfrige Bemerkungen hätten zu nichts geführt und Rupert Hughes-Beckett kaum gefallen. Außerdem schloß ich aus der abfälligen Art, wie er »Pferd« sagte, daß er von seinem gegenwärtigen Auftrag ebensowenig begeistert war wie ich. Das machte ihn mir nicht sympathischer, aber es erklärte wenigstens, warum ich ihn instinktiv abgelehnt hatte. Er tat sein Bestes, und das war gar nicht wenig, doch mit diesem einen Wort hatte er seine ganze Geringschätzung verraten: Mir war diese Haltung schon zu oft begegnet, ich kannte sie.

»Keine Ritter mehr im Auswärtigen Amt?« fragte ich spöttisch.

»Wie meinen Sie?«

»Warum ich?« wollte ich wissen und hörte in der Frage die ganze Verzweiflung des ungewollt Erkorenen. Warum ich? Ich will nicht. Weg damit. Sucht euch jemand anderen. Laßt mich in Ruhe.

»Man fand wohl, es sollte Ihnen angetragen werden, weil Sie den nötigen… äh… Status haben«, erwiderte er und lächelte schwach, als wolle er sich für eine derart extravagante Feststellung entschuldigen. »Und die Zeit natürlich«, setzte er hinzu.

Das ging unter die Gürtellinie, aber mein Gesicht blieb ruhig und ausdruckslos. Ich nahm die Brille ab und hielt sie gegen das Licht, wie um zu sehen, ob sie sauber sei, dann setzte ich sie [11] wieder auf. Eine Verzögerungstaktik, die ich mein Leben lang, häufig ganz unbewußt, angewendet hatte, um mir Zeit zum Überlegen zu verschaffen. Eine Angewohnheit aus der Zeit, als mich ein Rechenlehrer mit sechs Jahren gefragt hatte, was ich mit dem Multiplikator gemacht hätte.

Ich hatte damals die eulenhaften Silbergerahmten abgesetzt und seine plötzlich verschwommenen Umrisse angestarrt, während ich in panischer Angst nachdachte. Was, um Himmels willen, war ein Multiplikator?

»Ich habe ihn nicht gesehen, Sir. Ich war’s nicht, Sir.«

Sein sardonisches Gelächter hörte ich heute noch. Aus dem Silberrahmen wurde ein Goldrahmen, dann Plastik und schließlich Schildpatt, aber ich nahm immer noch die Brille ab, wenn ich keine Antwort wußte.

»Ich habe Husten«, sagte ich. »Und es ist November.«

Die Albernheit dieser Erklärung wurde durch das tiefe Schweigen noch unterstrichen; Hughes-Beckett neigte den Kopf über sein Glas.

»Ich fürchte, die Antwort ist nein«, sagte ich.

Er hob den Kopf und betrachtete mich ruhig und höflich. »Man wird enttäuscht sein«, stellte er fest. »Ich möchte fast sagen… äh… bestürzt.«

»Sie schmeicheln mir.«

»Man war der Ansicht, daß Sie…« Er ließ den Satz unbeendet.

»Wer war der Ansicht?« fragte ich. »Wer genau?«

Sanft schüttelte er den Kopf, stellte das leere Glas ab und stand auf.

»Ich werde Ihre Antwort übermitteln.«

»Und mein Bedauern.«

»Wie Sie wünschen, Mr. Drew.«

»Ich hätte keinen Erfolg gehabt«, tröstete ich. »Ich bin kein Detektiv, ich bin Bauer.«

Er warf mir einen Seitenblick zu; ein weniger beherrschter [12] Mensch hätte wahrscheinlich gesagt: »Reden Sie keinen Blödsinn.«

Ich ging mit ihm in die Halle, half ihm in den Mantel, öffnete die Tür und sah ihm nach, wie er barhäuptig durch die eisige Dunkelheit zu dem wartenden Daimler mit Chauffeur ging. Zum Abschied ließ er mich noch fünf Sekunden sein ausdrucksloses Gesicht durch die Scheibe sehen. Dann fuhr der schwere Wagen knirschend über den Kies die Auffahrt hinunter. Ich hustete in der kalten Luft und kehrte ins Haus zurück.

Emma kam in ihrer lässigen Freitagabendaufmachung die geschwungene Regencytreppe herunter: Jeans, kariertes Baumwollhemd, ausgeleierter Pullover und Cowboystiefel. Falls das Haus noch einmal so lange stand, würden die Mädchen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts in diesem anmutigen Rahmen ebenso deplaziert wirken, überlegte ich flüchtig.

»Bleibt’s bei Fischstäbchen und Glotze?« fragte sie.

»Mehr oder weniger.«

»Du hast schon wieder Bronchitis.«

»Ist aber nicht ansteckend.«

Sie erreichte den Fuß der Treppe und ging ohne stehenzubleiben in die Küche. Bei ihr dauerte es immer eine Weile, bevor der Streß der Woche von ihr abfiel. Ich war die unfreundliche Begrüßung und die kratzbürstigen Zurückweisungen der ersten Stunden schon gewöhnt. Ich versuchte gar nicht mehr, ihr liebevoll entgegenzukommen. Vor zehn ließ sie sich keinesfalls küssen, vor Mitternacht nicht lieben und erst Samstag zur Teezeit war sie ganz sie selbst. Sonntags gammelten wir stillvergnügt vor uns hin, und Montagmorgen um sechs war sie wieder auf und davon.

Lady Emma Louders-Allen-Croft, Tochter, Schwester und Tante von Herzögen, hielt viel vom, wie sie es nannte, Ethos der berufstätigen Frau. Sie arbeitete ganztags, ohne Vergünstigungen, in einem gutgehenden Londoner Warenhaus, wo sie trotz ihres Strebens nach sozialer Benachteiligung kürzlich zur [13] Einkäuferin für Bettwäsche in der zweiten Etage befördert worden war. Emma, mit überdurchschnittlichen organisatorischen Fähigkeiten ausgestattet, grämte sich über ihren Aufstieg; diese Art Geistesverwirrung konnte man in direkter Linie bis zu ihrer Schulzeit zurückverfolgen, wo sie in einem teuren Institut für höhere Töchter im stramm linksgerichteten Soziologieunterricht gelernt hatte, daß Verstand elitär, manuelle Arbeit hingegen der direkte Weg zur Seligkeit sei.

Ihr Trachten nach Aufopferung hatte zu kräftezehrenden Jahren als Kellnerin in Cafés und Verkäuferin in verschiedenen Läden geführt, schien aber ungebrochen. Ohne Stellung wäre sie keineswegs verhungert, hätte sich aber möglicherweise dem Alkohol oder Rauschgift ergeben.

Ich war, wie sie wußte, der Ansicht, daß jemand mit ihren Fähigkeiten eine vernünftige Ausbildung hätte haben oder wenigstens die Universität besuchen sollen, um mehr als nur ein Paar Hände beizutragen, aber ich hatte gelernt, nicht darüber zu reden, weil das eines der vielen heiklen Themen war, die nur dazu führten, daß sie tobte und schmollte.

»Warum gibst du dich bloß mit dieser verdrehten Schraube ab?« pflegte mein Stiefbruder zu fragen. Weil, wie ich ihm nicht sagte, eine Dosis unverfälschter Lebenskraft alle paar Wochen besser für den Kreislauf war als sein monotones tägliches Jogging.

Emma schaute in den Kühlschrank, dessen Licht auf ihr feinknochiges Gesicht und das platinblonde Haar fiel. Ihre Augenbrauen waren so hell, daß sie ohne Augenbrauenstift unsichtbar blieben, ebenso wie ihre Wimpern ohne Tusche. Manchmal schminkte sie sich die Augen in allen Regenbogenfarben; manchmal, wie heute abend, ließ sie der Natur ihren Lauf. Es kam darauf an, welcher Idee sie augenblicklich huldigte.

»Hast du keinen Joghurt?« fragte sie.

Ich seufzte. Von dem gesunden Zeug hielt ich nichts.

[14] »Nein. Und auch keine Weizenkeime«, erklärte ich.

»Kelp«, berichtigte sie.

»Was?«

»Seetang. In Tablettenform. Sehr gesund.«

»Zweifellos.«

»Apfelessig. Honig. Biologisch angebautes Gemüse.«

»Und Avocados und Palmenherzen sind passe?«

Sie holte ein Stück holländischen Käse heraus und betrachtete es mißbilligend. »Die sind importiert. Importe müssen eingeschränkt werden.«

»Und was ist mit Kaviar?«

»Kaviar ist unmoralisch.«

»Auch wenn er reichlich und billig zu haben wäre?«

»Hör auf, mir zu widersprechen. Was wollte dein Besucher? Ist die crème caramel zum Abendessen?«

»Ja«, sagte ich. »Er wollte, daß ich nach Moskau fahre.«

Sie richtete sich auf und starrte mich an. »Ich finde das gar nicht witzig.«

»Vorigen Monat fandest du crème caramel himmlisch.«

»Sei nicht albern.«

»Er sagte, ich sollte nach Moskau fahren. Mit einem Auftrag, nicht um mich der marxistisch-leninistischen Lehre in die Arme zu werfen.«

Langsam schloß sie die Kühlschranktür. »Was für ein Auftrag?«

»Ich soll jemand finden. Aber ich fahre nicht.«

»Wen?«

»Das hat er nicht gesagt. Komm, laß uns was trinken. Im Wohnzimmer brennt der Kamin.«

Sie folgte mir durch die Halle und kuschelte sich mit einem Glas Weißwein in einen tiefen Sessel.

»Wie geht’s den Schweinen, Gänsen und Mangoldwurzeln?«

»Wachsen, blühen und gedeihen«, sagte ich.

[15] Ich hatte keine Schweine, Gänse und erst recht keine Mangoldwurzeln. Eine Menge Rinder hatte ich, drei Quadratmeilen von Warwickshire, und die ganzen neuzeitlichen Probleme des Nahrungsmittelproduzenten. Ich hatte mich daran gewöhnt, den Ertrag in Tonnen pro Hektar zu messen, war aber immer noch nicht von einer Regierungspolitik überzeugt, die mich manchmal dafür bezahlte, daß ich etwas nicht anbaute, und mir bei Zuwiderhandlung mit Strafe drohte.

»Und die Pferde?« fragte Emma.

»Ach ja…«

Ich räkelte mich faul in meinem Sessel, sah, wie das Licht der Tischlampe auf ihr silbriges Haar fiel und beschloß, von jetzt an bei dem Gedanken, daß ich keine Rennen mehr reiten würde, nicht mehr zusammenzuzucken.

»Ich werde sie wahrscheinlich verkaufen«, verkündete ich.

»Es gibt schließlich noch Jagden.«

»Das ist nicht dasselbe. Und es sind keine Jagdpferde. Es sind Rennpferde, und sie gehören auf eine Rennbahn.«

»Du hast sie so lange trainiert… warum läßt du sie nicht von anderen Leuten reiten?«

»Ich habe sie für mich trainiert. Für andere mache ich das nicht.«

Sie runzelte die Stirn. »Du ohne Pferde… das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Nun«, sagte ich, »mir geht es genauso.«

»Es ist wirklich zu blöd.«

»Ich dachte, du bist auch eine Anhängerin des ›wir wissen, was gut für dich ist, also finde dich damit ab‹!«

»Menschen müssen vor sich selbst geschützt werden«, sagte sie.

»Warum?«

Sie starrte mich an. »Es ist eben so.«

»Sicherheitsvorkehrungen sind ein Industriezweig mit [16] Zukunft«, sagte ich bitter. »Menschen werden durch einen Haufen restriktiver Gesetze daran gehindert, alltägliche Risiken einzugehen… trotzdem passieren Unfälle, und Terroristen haben wir auch.«

»Du bist immer noch ganz schön auf der Palme, was?«

»Ja.«

»Ich dachte, du bist drüber weg.«

»Die erste Wut hat sich vielleicht gelegt«, sagte ich. »Die Empörung bleibt.«

In meiner Rennlaufbahn hatte ich Glück gehabt, Glück auch mit meinen Pferden, und Hindernisreiten hatte mich, wie viele andere, durch alle Höhen und Tiefen zwischen Leidenschaft, Angst und höchstem Glück geführt. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich in diesem Herbst wie gewöhnlich geschäftig von einem Rennen zum anderen gefahren, den Blick schon wie immer auf die großen Amateurrennen im Frühjahr gerichtet; denn wenn ich auch nicht der Stärkste war, was Infektionen der Atemwege anbelangte, für die ich so anfällig war wie ein Auto für Rost, so war ich doch mit zweiunddreißig körperlich so fit wie eh und je. Aber irgend jemand, irgendwo, war auf die fürsorgliche Idee gekommen, Brillenträger dürften nicht mehr in Hindernisrennen starten.

Natürlich fanden viele Leute es sowieso verrückt, mit Brille Rennen zu reiten, und wahrscheinlich hatten sie recht; aber obwohl ich ein paar Brillen kaputtgemacht und oberflächliche Schnittwunden davongetragen hatte, war meinen Augen nie etwas passiert. Außerdem waren es meine Augen, verdammt noch mal.

Auch für Haftschalen gab es gewisse Einschränkungen, wenn sie auch nicht ganz verboten waren: Doch obwohl ich alles versucht und bis zur chronischen Bindehautentzündung gelitten hatte, meine Augen und Haftschalen blieben unvereinbar. Wenn ich also keine Haftschalen vertrug, konnte ich auch nicht länger [17] Rennen reiten. Vorbei zwölf Jahre voller Spaß. Vorbei das Streben nach Sieg, die Geschwindigkeit, die berauschende Lust. Bedauerlich, sehr bedauerlich, aber es ist nur zu deinem Besten.

Das Wochenende nahm seinen üblichen Verlauf, eine Fahrt über den Besitz, der Besuch der lokalen Rennen in Stratford-upon-Avon am Samstagnachmittag, Abendessen mit Freunden. Sonntagmorgen standen wir spät auf, faulenzten vor dem Kaminfeuer, umgeben von Zeitungen und der Aussicht auf getoastete Schinkensandwiches zum Mittagessen. Zwei zufriedenstellende Nächte lagen hinter uns, eine weitere hoffentlich vor uns. Emma war in anschmiegsamster Stimmung, und wir waren einem Eheleben so nahe, wie wir je sein würden.

In diesen häuslichen Frieden fuhr Hughes-Beckett mit seinem Daimler. Die Räder knirschten auf dem Kies: Ich stand auf, um zu sehen, wer gekommen war, und Emma ebenfalls. Wir sahen den Chauffeur und einen neben ihm sitzenden Mann aussteigen und die hinteren Türen aufreißen. Der einen entstieg Hughes-Beckett, der einen besorgten Blick auf das Haus warf, der anderen…

Emmas Augen wurden ganz groß. »Mein Gott… ist das nicht…?«

»Ja, es ist.«

Sie warf einen verstörten Blick auf das unordentliche, gemütliche Zimmer. »Du kannst sie nicht hier reinbringen.«

»Nein, wir gehen in den Salon.«

»Aber… hast du denn gewußt, daß sie kommen?«

»Natürlich nicht.«

»Du lieber Himmel.«

Wir sahen die beiden Besucher die wenigen Schritte zur Haustür zurücklegen. Ein Nein wird nicht akzeptiert, dachte ich. Jetzt werden die schweren Geschütze aufgefahren.

»Nun geh schon«, drängte Emma. »Frag, was sie wollen.«

[18] »Ich weiß, was sie wollen. Bleib hier vor dem Feuer und mach das Kreuzworträtsel, während ich mir überlege, wie ich ihnen beibringe, daß sie es nicht haben können.«

Ich ging zur Tür und machte auf.

»Randall«, sagte der Prinz und streckte mir die Hand entgegen. »Na, wenigstens sind Sie zu Hause. Dürfen wir eintreten?«

»Natürlich, Sir.«

Hughes-Beckett folgte ihm mit einer aus Demütigung und Triumph zusammengesetzten Haltung über die Schwelle: Es mochte ihm nicht gelungen sein, mich zu überreden, aber er würde mit Vergnügen zusehen, wie ich einem anderen gegenüber kapitulierte.

Ich führte sie in den blau-goldenen Salon, wo wenigstens die Heizung funktionierte, wenn auch kein anheimelndes Feuer brannte.

»Also, Randall«, sagte der Prinz. »Bitte, fahren Sie nach Moskau.«

»Darf ich Eurer Königlichen Hoheit etwas zu trinken anbieten?«

»Nein, das dürfen Sie nicht. Setzen Sie sich, Randall, hören Sie zu und reden Sie nicht um den heißen Brei herum.«

Der Vetter des Königs plazierte sein Hinterteil entschlossen auf ein seidenes Regencysofa und winkte Hughes-Beckett und mich auf nahe stehende Sessel. Er war nur ein oder zwei Jahre älter als ich, und wir hatten uns im Laufe der Jahre durch unsere gemeinsame Passion für Pferde unzählige Male getroffen. Er neigte mehr zu Jagden und Polo, obwohl er auch einige Querfeldeinrennen bestritten hatte. Er war eigenwillig und geradeheraus, neigte dazu, Leute barsch herumzukommandieren, aber ich hatte ihn auch Tränen über der Leiche seines Lieblingsjagdpferdes vergießen sehen, das sich das Genick gebrochen hatte.

Von Zeit zu Zeit waren wir uns auch auf Gesellschaften [19] begegnet, aber wir waren keine engen Freunde. Bis zu diesem Tag war er nie in meinem Haus gewesen, noch ich bei ihm.

»Der Bruder meiner Frau«, sagte er. »Johnny Farringford. Sie kennen ihn doch?«

»Wir sind uns begegnet, aber ich kenne ihn nicht wirklich.«

»Er möchte bei der nächsten Olympiade reiten. In Moskau.«

»Ja, Sir. Das hat Mr. Hughes-Beckett mir gesagt.«

»In der Military.«

»Ja.«

»Nun, Randall, da ist dieses Problem… man könnte es ein Fragezeichen nennen… Wir können ihn nicht nach Rußland gehen lassen, bevor das aufgeklärt ist. Das können wir einfach nicht… oder besser, ich kann nicht… ihn dahin gehen lassen, wenn uns die Sache jeden Augenblick um die Ohren fliegen kann. Keinesfalls, ich wiederhole, keinesfalls lasse ich ihn gehen, solange auch nur die geringste Möglichkeit eines… äh… Zwischenfalls besteht, der für weitere Mitglieder meiner Familie in irgendeiner Weise… äh… unangenehm sein könnte. Oder für England als Ganzes.« Er räusperte sich. »Sicher ist Johnny kein Anwärter auf den Thron oder dergleichen, aber schließlich ist er ein Graf und mein Schwager, und was die Weltpresse anbelangt, für die wäre es ein gefundenes Fressen.«

»Aber, Sir«, protestierte ich schwach. »Bis zur Olympiade ist noch viel Zeit. Ich weiß, Lord Farringford ist gut, aber vielleicht wird er gar nicht aufgestellt, und damit wäre das Problem aus der Welt geschafft.«

Der Prinz schüttelte den Kopf. »Wenn das Problem nicht aus der Welt geschafft wird, dann wird Johnny keinesfalls aufgestellt, und wenn er unser bester Mann wäre.«

Ich sah ihn nachdenklich an. »Das würden Sie verhindern?«

»Ja, das würde ich.« Sein Ton ließ keinen Zweifel zu. »Bestimmt würde es bei mir zu Hause einige Reibereien geben, weil Johnny und meine Frau es sich in den Kopf gesetzt haben, daß er [20] einen Platz in der Mannschaft bekommen soll. Ich gebe zu, er hat tatsächlich alle Chancen. Im Sommer hat er einige Prüfungen gewonnen und bemüht sich sehr, sein Dressurreiten zu verbessern und internationalen Anforderungen gerecht zu werden. Ich möchte ihm nicht im Weg stehen. Darum bin ich ja auch hier. Um Sie zu bitten, ein lieber Junge zu sein und festzustellen, was es für ihn gefährlich macht, nach Rußland zu gehen.«

»Sir«, sagte ich. »Warum ich? Warum nicht ein Diplomat?«

»Die haben den Schwarzen Peter weitergegeben. Sie meinen, und ich muß mich dem anschließen, ein Privatmann hätte die besten Aussichten. Wenn da… etwas ist, dann soll es nicht in die Akten.«

Ich sagte nichts, aber meine Abneigung muß klar ersichtlich gewesen sein.

»Sehen Sie«, fuhr der Prinz fort, »wir kennen uns schon lange. Sie haben doppelt soviel Grips wie ich, und ich vertraue Ihnen. Das mit Ihren Augen tut mir verdammt leid, wirklich, aber jetzt haben Sie Zeit, und wenn Ihr Verwalter das Gut tadellos verwaltet, während Sie sich in Cheltenham und Aintree herumtreiben, dann kann er das auch, wenn Sie nach Moskau fahren.«

»Sie haben wohl nicht diesen Antibrillenträgererlaß erfunden, damit ich Zeit für Ihren Auftrag habe, oder?«

Er hörte die Bitterkeit in meinen Worten und schmunzelte. »Ich glaube eher, es waren die anderen Amateure, die Sie aus dem Weg haben wollten.«

»Einige haben das schon bestritten.«

»Also, fahren Sie?« fragte er.

Ich betrachtete meine Hände, knabberte an den Fingernägeln, nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf.

»Ich weiß, Sie wollen nicht«, fuhr er fort. »Aber ich weiß niemand, an den ich mich sonst wenden könnte.«

»Sir… bitte… können wir nicht bis zum Frühjahr warten? Ich meine… vielleicht finden Sie doch noch einen Besseren…«

[21] »Es muß jetzt sein, Randall. Besser noch, augenblicklich. Wir haben die Gelegenheit, eines der jungen deutschen Spitzenpferde zu kaufen. Ein tolles Ding für Johnny. Wir… das heißt, seine Vormünder… ich sollte das wohl besser erklären… Sein Geld wird für ihn verwaltet, bis er fünfundzwanzig ist. Bis dahin dauert es noch drei Jahre, und obwohl er eine sehr großzügige Apanage erhält, müßte eine Anschaffung wie diese aus dem Kapital kommen. Jedenfalls würden wir ihm das Pferd gerne kaufen, und wir haben auch eine Option, aber wir müssen uns entscheiden. Bis Weihnachten müssen wir ja oder nein sagen. Das Pferd ist zu teuer, es sei denn für den Versuch, an der Olympiade teilzunehmen, trotzdem sind wir froh, daß man uns diese Bedenkzeit eingeräumt hat. Die Käufer stehen praktisch Schlange.«

Unruhig stand ich auf, ging zum Fenster und sah zu dem kalten Novemberhimmel auf. Winter in Moskau, um die Unbesonnenheiten eines anderen auszubügeln und womöglich eine Menge Dreck aufzuwühlen, war eine ziemlich unerfreuliche Aussicht.

»Bitte, Randall«, sagte der Prinz.»Bitte, fahren Sie. Versuchen Sie es wenigstens.«

Emma stand am Wohnzimmerfenster und sah dem davonfahrenden Daimler nach. Prüfend betrachtete sie mich.

»Wie ich sehe, hat er dich eingewickelt«, sagte sie.

»Rückzugsgefechte sind noch im Gange.«

»Du hast keine Chance.«

Sie durchquerte den getäfelten Raum, setzte sich in den Sessel vor dem Kamin und streckte ihre Hände der Glut entgegen. »Das steckt zu tief in dir. Dem König dienen und dergleichen. Großvater Stallmeister, Tante Hofdame. So war das in deiner Familie seit Generationen. Was willst du da machen? Wenn ein Prinz ruft, dann stehen deine ererbten Gene stramm und salutieren.«

[22] 2

Der Prinz lebte in einem schlichten Haus, kaum größer als mein eigenes, nur hundert Jahre älter, und öffnete mir persönlich die Tür, obwohl er über Dienstboten verfügte, was bei mir nicht der Fall war. Allerdings hatte er auch noch eine Frau, drei Kinder und offenbar sechs Hunde. Ein Dalmatiner und ein Whippet quollen zwischen seinen Beinen hindurch und kugelten übereinander, um mich ausgiebig zu beschnüffeln, als ich aus meinem Mercedes stieg. Eine kläffende Meute von Terriern stürmte in ihrem Fahrwasser heran.

»Schubsen Sie sie beiseite«, rief der Prinz von der Schwelle aus. »Platz, Fingers, du geflecktes Untier.«

Der Dalmatiner beachtete ihn nicht, trotzdem erreichte ich unversehrt die Tür. Schüttelte dem Prinzen die Hand. Machte meine Verbeugung. Folgte ihm über die Teppiche der säulengetragenen Halle in ein geräumiges Arbeitszimmer. Ledergebundene Bücher säumten in ordentlichen Reihen zwei Wände; Fenster, Türen, Porträts und ein Kamin ließen wenig von der grünen Tapete sehen. Auf seinem großen, unordentlichen Schreibtisch standen reihenweise Fotos in Silberrahmen, und in einer Ecke ließ ein weißes Alpenveilchen in dem grauen Licht seine bleichen Blüten hängen.

Ich wußte, daß der persönliche Empfang an der Tür ein Zeichen besonderer Wertschätzung sein sollte. Er mußte ganz außerordentlich erleichtert sein, daß ich mich wenigstens zu diesem Teilzugeständnis bereitgefunden hatte, und ich fragte mich etwas unbehaglich, wie groß die Fallgruben wohl sein mochten, die er für mich in petto hatte.

[23] »Nett von Ihnen, Randall«, sagte er und winkte mich in einen schwarzen Ledersessel. »Gute Fahrt gehabt? Kaffee kommt sofort.«

Er saß in einem bequemen Drehsessel an seinem Schreibtisch und hielt eine höfliche Konversation in Gang. Johnny Farringford habe versprochen, gegen halb elf da zu sein, erzählte er und warf einen kurzen Blick auf seine Uhr, wobei ihm zweifellos auffallen mußte, daß es bereits fünfzehn Minuten darüber war. Es sei nett von mir herzukommen, wiederholte er. Bestimmt sei es besser, wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht in zu enger Verbindung mit Johnny stand, deshalb sollte das Treffen auch hier in seinem Haus stattfinden und nicht bei Johnny, wenn ich verstand, was er meinte.

Er war kräftig gebaut, ziemlich groß, braunhaarig, blauäugig, mit dem jugendlich frischen Aussehen, das sich allmählich zum festen Charakter der mittleren Jahre ausprägte. Die Augenbrauen waren buschiger als vor fünf Jahren, die Nase prononcierter und der Nacken etwas dicker. Die Zeit wandelte ihn vom Sportsmann zur Führerpersönlichkeit und vermittelte mir unerwünschte Einsichten in die Vergänglichkeit der Dinge, und das am Montagmorgen.

Ein zweiter rascher Blick auf die Uhr, diesmal von einem Stirnrunzeln begleitet. Ich hoffte schon, daß der kostbare Johnny vielleicht überhaupt nicht erscheinen würde und ich zufrieden nach Hause fahren und die ganze Sache vergessen könnte.

Die beiden großen Fenster des Arbeitszimmers gingen auf die Auffahrt vor dem Haus hinaus, genau wie bei meinem Wohnzimmer. Vielleicht fand der Prinz es ebenfalls nützlich, Besucher rechtzeitig zu erspähen, um gegebenenfalls verschwinden zu können.

Mein Mercedes stand in voller Sicht auf dem weiten, geharkten Kiesrund, allein, blaugrau und still. Während ich gelangweilt [24] hinaussah, raste ein weißer Rover plötzlich wie ein Pfeil durch das freie Gelände, direkt auf meinen Wagen zu. Entsetzt und hilflos wartete ich auf den unvermeidlichen Zusammenstoß.

Es gab ein Geräusch, als würden zehn metallene Mülltonnen in eine Zerkleinerungsanlage gekippt, gefolgt vom ununterbrochenen Heulen der Hupe, da der bewußtlose Fahrer des Rovers über dem Steuerrad zusammengesunken war.

»Großer Gott!« rief der Prinz entsetzt und sprang auf. »Johnny!«

»Mein Wagen!« schrie ich, und enthüllte damit meine beklagenswerten Prioritäten.

Der Prinz war glücklicherweise bereits auf dem Weg zur Tür, und ich folgte ihm auf den Fersen. Gemeinsam stürzten wir in den frischen Wintertag hinaus.

Der furchtbare Aufprall und die heulende Hupe hatten eine Anzahl entsetzter Gesichter an die Fenster und den Umkreis der Unfallstelle gebracht, aber der Prinz und ich erreichten sie zuerst.

Das Vorderteil des Rovers hatte sich wie in einer Art monströser Paarung hinten auf meinen Wagen geschoben, und seine Räder schwebten in der Luft. Die ganze Sache sah ziemlich bedenklich aus, und ein durchdringender Benzingeruch wies auf eine gefährliche Entwicklung hin.

»Wir müssen ihn rausholen«, drängte der Prinz und zerrte an dem Griff der Fahrertür. »Gott…«

Die Tür hatte sich bei dem Aufprall verbogen und klemmte. Ich raste um den Wagen herum und versuchte die Tür zum Beifahrersitz; erfolglos. Selbst wenn er es versucht hätte, hätte Johnny Farringford meinen Mercedes nicht besser treffen können.

Die hinteren Türen waren verriegelt, ebenso der Kofferraum. Die Hupe plärrte dringlich und quälend weiter.

»Herrgott«, schrie der Prinz verzweifelt. »Wir müssen ihn rausholen.«

Ich kletterte auf den ziehharmonikaartigen Blechhaufen [25] zwischen den beiden Fahrzeugen und wand mich durch die Öffnung, wo die Windschutzscheibe hätte sein sollen, begleitet von einem Schauer von Glassplittern. Kniete mich auf den Beifahrersitz und zerrte den bewußtlosen Mann vom Steuerrad weg. Die plötzliche Stille war ein Segen, aber Johnny Farringfords Gesicht sah nicht sehr beruhigend aus.

Ich hielt mich nicht damit auf, das Blut abzuwischen. Ich umfaßte ihn, stützte seinen hin und her pendelnden Kopf und zog den Knopf an der hinteren Tür hoch. Der Prinz arbeitete fieberhaft von außen daran, aber es bedurfte der Beweglichkeit eines Schlangenmenschen und eines kräftigen Trittes von innen, bis sie aufsprang: der Gedanke an die Funken, die das aneinanderreihende Metall erzeugte, war entsetzlich, denn jetzt erstickte ich nicht nur fast in Benzindämpfen, ich hörte das Benzin auch plätschern.

Daß das Benzin aus meinem eigenen Wagen lief und daß ich erst am Morgen vollgetankt hatte, machte es nicht besser.

Der Prinz beugte sich in den Wagen, faßte seinen Schwager unter den Achselhöhlen und zog mit bemerkenswerter Kraft. Ich hob, so gut ich konnte, den bewegungslosen Körper an, und gemeinsam bugsierten wir ihn über die Rückenlehne des Sitzes und durch die hintere Tür ins Freie. Ich ließ seine Beine los, während der Prinz zog, und er fiel auf den Kies, wie ein Kalb aus der Kuh.

Gott steh ihm bei, falls wir ihm durch unsere rauhe Behandlung weiteren Schaden zugefügt haben, dachte ich im stillen, aber alles war besser als eine Feuerbestattung. Auf demselben Weg krabbelte ich in höchster Eile, ohne auf Eleganz zu achten, hinterher.

Hilfe war in Gestalt eines Hausdieners und eines Gärtners erschienen, und von jetzt an wurde das Opfer vorsichtiger getragen.

»Bringt ihn vom Wagen weg«, befahl der Prinz, drehte sich [26] zu mir um und rief: »Das Benzin… Randall, kommen Sie raus, Mann.«

Überflüssiger Rat. Nie war ich mir so langsam, so ungeschickt, mit soviel Knien, Ellbogen und Knöcheln ausgestattet vorgekommen.

Ob das Gleichgewicht des einen Wagens auf dem anderen sowieso nicht sehr stabil war oder ob meine unsanften Bewegungen es störten, der Effekt war der gleiche: der Rover begann zu rutschen, während ich noch im Innern war.

Ich hörte die Stimme des Prinzen besorgt ansteigen: »Randall…«

Einen Fuß kriegte ich frei, begann mein Gewicht darauf zu verlagern, und der Rover rutschte noch ein bißchen weiter. Ich strauchelte, klammerte mich an den Türrahmen und zog mich mit Armkraft hinaus. Landete seitwärts auf Hüfte und Ellbogen, ungeschickt und unelegant.

Ich rollte mich herum, brachte meine Füße dahin, wo sie hingehörten, die Hände noch auf dem Boden, wie ein Läufer in Startposition. Hinter mir glitt das Gewicht des Rovers knirschend rückwärts und riß sich mit dem kreischenden Geräusch von Metall auf Metall von meinem Mercedes los, aber wahrscheinlich war es eher ein Kurzschluß, der den Funkenregen entfachte.

Die Explosion riß die beiden Wagen auseinander und hüllte sie beide in Flammen. Zischend entzündete sich der entweichende Dampf, und ein brüllender Schwall heißer Luft machte mir Beine.

»Ihr Haar brennt«, stellte der Prinz fest, als ich bei ihm ankam.

Ich faßte mit der Hand hin, und so war es. Mit beiden Händen rieb ich wild und erstickte die Feuersbrunst.

»Danke«, sagte ich.

»Gern geschehen«, erwiderte er, dann grinste er mich auf sehr unprinzliche und höchst menschliche Weise an. »Wie ich sehe, hat sich Ihre Brille nicht einen Zentimeter verschoben.«

[27] Nach einiger Zeit holten ein Arzt und ein privater Krankenwagen Johnny Farringford ab, doch er hatte schon lange davor das Bewußtsein wiedererlangt und sich verwirrt umgeschaut. Er lag nämlich auf dem großen, bequemen Sofa im Wohnzimmer der Familie, wo seine Schwester, die Prinzessin, die Sache gelassen hinnahm und seine Wunden mit erstaunlicher Fertigkeit betupfte.

»Was ist passiert?« fragte Farringford halb betäubt.

Nach und nach erzählten sie es ihm: wie er seinen Wagen über eine Fläche, groß wie ein Tennisplatz, geradewegs in das Heck meines Mercedes gefahren hatte. Weit und breit nichts anderes in Sicht.

»Randall Drew«, stellte der Prinz vor.

»Oh.«

»Das war sehr töricht von dir«, sagte die Prinzessin mißbilligend, aber ihrem besorgten Gesicht sah ich den Beschützerinstinkt der älteren Schwester für den kleinen Bruder an.

»Ich… erinnere mich nicht.«

Er blickte auf die roten Flecke auf den Tupfern, die sich in einer Schale neben ihm anhäuften, auf das Blut, das aus einem Schnitt an der Hand sickerte, und sah aus, als würde ihm schlecht.

»Früher ist er immer in Ohnmacht gefallen, wenn er Blut sah«, sagte seine Schwester. »Nur gut, daß er das überwunden hat.«

Wie sich herausstellte, hatte Johnny Farringford zahlreiche Schnittverletzungen im Gesicht, aber offenbar keine Knochenbrüche davongetragen. Trotzdem stöhnte er bei jeder Bewegung und preßte den Arm in die Taille, als wolle er sich zusammenhalten, was mich sehr an eigene Rippenbrüche erinnerte.

Er war ein schlanker, ziemlich großer junger Mann, mit einer Menge krauser, roter Haare auf dem Kopf. Seine Nase wirkte dünn und scharf, und unter der Sonnenbräune war er blaß vom Schock.

[28] »Verdammter Mist«, fluchte er plötzlich.

»Es hätte schlimmer kommen können«, meinte der Prinz.

»Nein…« sagte Farringford. »Sie haben mich geschlagen.«

»Wer?« Der Prinz betupfte einen blutenden Riß und hielt die Bemerkung sichtlich für die Folge einer Gehirnerschütterung.

»Die Männer… Ich…« Er brach ab und heftete den benommenen Blick mit großer Mühe auf das Gesicht des Prinzen, als könnte ihm das helfen, seine Gedanken zu ordnen.

»Ich fuhr her… danach. Mir war… ich schwitzte. Ich weiß, wie ich durch das Tor gefahren bin… und das Haus gesehen habe.«

»Was für Männer?« fragte der Prinz.

»Die du geschickt hast… wegen des Pferdes.«

»Ich habe niemanden geschickt.«

Farringford blinzelte verwirrt.

»Sie kamen in den Stall. Gerade als ich dachte… muß herfahren… diesen Burschen treffen… jemand… du wolltest…«

Der Prinz nickte. »Richtig. Randall Drew. Hier ist er.«

»Ja… also… Higgins hatte meinen Wagen vorgefahren… den Rover… ich wollte den Porsche, aber da war was mit den Reifen… ich bin bloß im Stall gewesen… wollte sehen, ob Grouchos Beine in Ordnung sind… Lakeland fand ja, ich wollte aber selbst nachsehen, verstehst du… und da waren sie, wollten mit mir reden… du hättest sie geschickt. Sagte, ich sei in Eile… stieg in den Rover… sie einfach hinterher… versetzten mir eins… einer von ihnen fuhr die Straße runter, durchs Dorf… dann hielt er an… und die Schweine schlugen mich zusammen… wehrte mich, so gut es ging… zwei gegen einen… hat wenig Sinn, weißt du.«

»Haben Sie dich beraubt?« fragte der Prinz.»Vielleicht sollten wir die Polizei verständigen.« Er sah besorgt aus. Polizei bedeutete Publicity, und unerfreuliche Publicity war dem Prinzen ein Greuel.

[29] »Nein…« Farringford schloß die Augen. »Sie sagten… ich sollte mich… von Aljoscha fernhalten.«

»Was war das?« Der Prinz sah aus, als habe er auch einen Schlag erhalten.

»So ist es… dachte mir schon, daß es dir nicht gefallen würde.«

»Was haben sie noch gesagt?«

»Nichts. Schon komisch…« sagte Farringford schwach.»Du willst doch, daß Aljoscha gefunden wird… was mich betrifft… kann die ganze Sache begraben bleiben.«

»Ruh dich jetzt aus«, sagte die Prinzessin besorgt und wischte rot sickernde Tropfen von seiner verschrammten Stirn. »Sprich jetzt nicht mehr, Johnny. So ist es brav.« Sie sah zu uns hinüber, die wir am Fuß des Sofas standen. »Was soll nun mit den Wagen geschehen?«

Der Prinz starrte düster auf die ausgebrannten Wracks und die fünf leeren Feuerlöscher, die wie rote Torpedos herumlagen. Nur ein penetranter Brandgeruch in der Novembernacht war von der dichten, bis über Dachhöhe auflodernden Rauch- und Feuersäule übriggeblieben. Die Feuerwehrleute in Gestalt des Hausdieners und des Gärtners standen mit befriedigten Mienen im Hintergrund und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

»Glauben Sie, er ist ohnmächtig geworden?« fragte der Prinz.

»Hört sich ganz so an, Sir«, sagte ich. »Er sagt, er hat geschwitzt. Nicht angenehm, so zusammengeschlagen zu werden.«

»Er konnte noch nie Blut sehen.«

Der Prinz folgte mit den Augen dem Weg, den der Rover mit einem bewußtlosen Fahrer genommen hätte, wenn mein Wagen nicht im Weg gestanden hätte.

»Er wäre in die Buchen gerast«, stellte er fest. »Und er hatte den Fuß auf dem Gaspedal.«

[30] Im Hintergrund stand eine Reihe stattlicher, ausgewachsener Buchen, kahl mit Ausnahme einiger weniger brauner Blätter. Sie waren wohl als Schutz gegen den Nordostwind gepflanzt worden, zu einer Zeit, als die Landschaftsgestaltung darauf abzielte, das Auge künftiger Generationen zu erfreuen. Ihre dicken Stämme hätten einen Panzer aufgehalten, ganz zu schweigen von einem Rover. Ein Glück, daß sie nicht der Trockenheit, dem Schädlingsbefall oder dem Sturm zum Opfer gefallen waren.

»Ich bin froh, daß er nicht in die Buchen gerast ist«, erklärte der Prinz und ließ mich im unklaren, ob er sich für Johnny oder die Buchen freute. »Tut mir natürlich leid mit Ihrem Wagen. Hoffentlich ist er versichert und alles. Sagen Sie der Versicherung lieber, es war ein Parkunfall. Nur nichts Kompliziertes. Autos werden heutzutage ja so leicht abgeschrieben. Sie wollen doch wohl keine Ansprüche gegen Johnny erheben, oder?«

Beruhigend schüttelte ich den Kopf. Der Prinz lächelte erleichtert und entspannte sich sichtlich.

»Wir wollen doch nicht, daß die Presse hier rumschwirrt, verstehen Sie? Teleobjektive und all das. Sobald sie davon Wind bekämen, wären sie auch schon da.«

»Aber auf jeden Fall zu spät.«

Erschreckt sah er mich an. »Sie werden doch nicht erzählen, wie wir Johnny da rausgezerrt haben? Zu niemand. Die Presse darf nichts davon erfahren. Wäre sehr unangenehm.«

»Unangenehm, wenn die Leute erfahren, daß Sie ein kleines Risiko auf sich nehmen, um den Bruder Ihrer Frau zu retten, Sir?«

»Ja, wäre mir sehr unangenehm«, erklärte er entschieden. »Halten Sie bloß den Mund, lieber Freund.« Er warf einen Blick auf mein versengtes Haar. »Und gar kein kleines Risiko, wenn ich es mir recht überlege.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Wir könnten sagen, daß Sie es allein gemacht haben, wenn Sie wollen.«

[31] »Nein, Sir, ich will nicht.«

»Dachte ich mir. Sie wollen genausowenig wie ich, daß die mit ihren Notizblöcken über Sie herfallen.«

Er drehte sich um und rief mit einer Handbewegung, die mehr eine Anregung als ein Befehl war, dem wartenden Gärtner zu: »Was machen wir nun mit der Bescherung, Bob?«

Der Gärtner hatte Erfahrung mit kaputten Lastwagen und passenden Reparaturwerkstätten und sagte, er werde sich darum kümmern. Sein Verhalten gegenüber dem Prinzen war unbefangen und zeugte von langjährigem gegenseitigem Respekt, was die Antiroyalisten unmäßig geärgert hätte.

»Wüßte nicht, was ich ohne Bob anfangen sollte«, sagte der Prinz, während wir zum Haus zurückgingen. »Wenn ich Geschäfte oder Werkstätten anrufe und sage, wer ich bin, glauben sie es entweder nicht und sagen, ja, ja, sie wären die Königin von Saba, oder sie geraten in Verwirrung, hören nicht ordentlich zu und machen alles falsch. Bob wird alles richtig erledigen. Wenn ich es selbst versuchen würde, wären als erstes die Reporter da.«

Auf der Schwelle blieb er stehen und warf einen Blick auf das Skelett dessen, was mein Lieblingsauto gewesen war.

»Wir müssen Ihnen einen Wagen zur Heimfahrt besorgen«, sagte er. »Ich leihe Ihnen einen.«

»Sir«, sagte ich. »Wer oder was ist Aljoscha?«

»Ha!« stieß er hervor, und seine Augen begannen zu leuchten. »Zum erstenmal zeigen Sie etwas Interesse an der Sache.«

»Ich habe gesagt, ich würde sehen, was sich machen läßt.«

»Was heißt, sowenig wie möglich.«

»Nun, ich…«

»Und dabei haben Sie ein Gesicht gemacht, als würde Ihnen stinkender Fisch angeboten.«

»Ah…« machte ich.»Also… was ist mit Aljoscha?«

»Das ist es ja«, sagte der Prinz. »Wir wissen nichts von Aljoscha. Das will ich ja gerade herausfinden.«

[32] Johnny Farringford kam sehr rasch aus dem Krankenhaus, und drei Tage nach dem Unfall machte ich ihm einen Besuch.

»Tut mir leid mit Ihrem Wagen«, sagte er mit einem Blick auf den Range Rover, mit dem ich gekommen war. »Ein schönes Durcheinander, was?«

Er war leicht nervös und noch immer blaß. Die verschiedenen Schnittwunden heilten bei seiner Jugend schnell und würden wohl keine Narben hinterlassen; und Knochenbrüche hatte er nicht davongetragen. Nichts, dachte ich etwas kläglich, was ihn am harten Training für die Olympiade hindern konnte.

»Kommen Sie rein«, sagte er. »Kaffee steht da.«

Er ging voran in ein strohgedecktes Haus, und wir traten direkt in einen Raum, der einen Artikel über traditionelles Landleben verdient hätte. Steinfußboden, gute Teppiche, Holzbalken, Kamin, Wände aus Ziegeln und massenhaft ausgesessene Sofas und Sessel, mit verblichenem Chintz bezogen.

»Das Haus gehört mir nicht«, sagte er, als er meinen Blick sah. »Es ist gemietet. Ich hole den Kaffee.«

Er ging auf eine Tür am anderen Ende zu, und ich folgte ihm langsam. Die Küche, wo er kochendes Wasser in einen Filter goß, war mit allem ausgestattet, was für Geld zu kaufen ist.

»Zucker? Milch?« fragte er. »Oder trinken Sie lieber Tee?«

»Milch bitte. Ich mag Kaffee.«

Er trug das beladene Tablett in das Wohnzimmer und stellte es auf einen niedrigen Tisch vor dem Kamin. Holz war zum Anzünden bereit im Kamin gestapelt, aber der war leider ebenso kalt wie das Haus. Ich hustete ein paarmal und trank dankbar den heißen Kaffee, der mich wenigstens innerlich wärmte.

»Wie geht es Ihnen jetzt?« fragte ich.

»Ach… ganz gut.«

»Noch etwas durcheinander, würde ich meinen.«

Er schüttelte sich. »Wie ich höre, muß ich froh sein, daß ich noch lebe. War nett von Ihnen, mich da rauszuholen.«

[33] »Ihr Schwager hat genausoviel dazu beigetragen.«

»Weit über die Pflicht hinaus, könnte man sagen.«

Er spielte mit der Zuckerdose und seinem Löffel und machte kleine, sinnlose Bewegungen.

»Erzählen Sie mir von Aljoscha«, sagte ich.

Er warf mir einen raschen Blick zu und sah dann zur Seite. Nach meiner Meinung war er im Augenblick hauptsächlich deprimiert.

»Es gibt nicht viel zu erzählen«, sagte er müde. »Aljoscha ist nur ein Name, der plötzlich im Sommer auftauchte. Ein Mitglied des deutschen Teams starb im September in Burleigh, und jemand sagte, es sei wegen Aljoscha aus Moskau. Natürlich gab es Untersuchungen und so weiter, aber das Ergebnis kenne ich nicht, ich war ja nicht direkt beteiligt, verstehen Sie?«

»Aber… indirekt?« schlug ich vor.

Wieder warf er mir einen raschen Blick und ein schwaches Lächeln zu.

»Ich habe ihn recht gut gekannt. Den Deutschen. Wie das so ist, wissen Sie. Überall trifft man dieselben Leute, bei allen internationalen Veranstaltungen.«

»Ja«, sagte ich.

»Na ja… eines Abends bin ich mit ihm ausgegangen, in einen Londoner Klub. Das war dumm von mir, zugegeben, aber ich dachte, es sei nur ein Spielklub. Er spielte Backgammon wie ich. Ich hatte ihn ein paar Tage davor mit in meinen Klub genommen, verstehen Sie, und dachte, er wollte sich für meine Gastfreundschaft revanchieren.«

»Aber es war nicht einfach nur ein Spielklub«, half ich ihm weiter, als er in dumpfes Brüten verfiel.

»Nein.« Er seufzte. »Da waren lauter… na, Transvestiten eben.« Seine Niedergeschlagenheit verstärkte sich. »Zuerst habe ich es nicht gemerkt. Das hätte niemand. Sie sahen alle wie Frauen aus. Attraktiv. Hübsch sogar, einige wenigstens. Wir [34] wurden zu einem Tisch geführt. Es war dunkel. Und da war dieses Mädchen im Scheinwerferlicht und machte Striptease, zog eine Menge durchsichtiger goldener Schleier aus. Sie war bildschön… dunkelhäutig, aber nicht schwarz… wundervolle dunkle Augen… die entzückendsten kleinen Brüste. Sie zog sich bis auf die Haut aus und führte eine Art Tanz mit einer knallrosa Federboa vor… es war einfach toll. Ihren Rücken konnte man ganz nackt sehen, aber wenn sie sich umdrehte fiel immer die Boa an die… äh… strategische Stelle. Als es zu Ende war und ich klatschte, beugte Hans sich dämlich grinsend zu mir rüber und flüsterte mir zu, es sei ein Junge.« Er schnitt eine Grimasse. »Ich kam mir wie ein Idiot vor. Ich meine… man hat ja nichts dagegen, sich so was anzusehen, wenn man Bescheid weiß. Aber so…«

»Sehr unangenehm«, bestätigte ich.