cover

Lukas Hartmann

Räuberleben

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto

von Roy Bishop

Copyright © Roy Bishop /

Trevillion Images

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24205 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60148 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

[5] Sollte sich aber hier und da ein entfernter Leser wünschen, Hannikeln selbst zu sehen, der denke sich nur einen Mann von 45 Jahren, auf dessen kurzem Hals ein brauner, sehr großer platter Kopf ruht, dessen vordere Seite etwas spitzig – der hintere Teil aber sehr weit und geräumig ist. Die Stirn an demselben stelle man sich sehr nieder, etwa drei Finger breit und zwei Finger hoch, Augen und Augenbrauen schwarz, das Weiße im Auge grau, die Stimme rasch und rauh – seinen Blick wild und immer seitwärts gerichtet; die Schläfe etwas tief eingedrückt, die Backe länglich und in mehrere Falten gelegt, die Nase groß und klobig, die Lippen rot und etwas hervorragend, die Zähne ganz weiß, das Kinn spitzig und kurz vor, und denke sich noch schwarze Haare, ein halb kahles Haupt und am ganzen Gesicht einen fingerlangen schwarzen Bart hinzu, so sieht man das Bild des leibhaftigen Hannikels. Eine treue Kopie seiner schwarzen Seele liefern seine Taten…
 

Aus: Hannikel oder Die Räuber- und Mörderbande, welche in Sulz am Neckar in Verhaft genommen und am 17. Juli 1787 daselbst justificirt worden. Ein Wahrhafter Zigeuner-Roman, ganz aus den Kriminalakten gezogen. Tübingen 1787

 

 

 

[6] Me hom i tikno, tschorelo Sindenger Tschawo.

Mer Dai muies da mer Dad hi stildo.

Gamlo, baro Dewel! me hom kiake tschorelo

Ta mer Dades ano Stilapen, les hi bokhelo.

Man hi tschi har mer Baschamaskeri.

Me lau la da dschau ani Kertschemi,

Dschin da has i bresla Lowe man.

Naschaua pascha mer Dad ano Stilapen,

Djomles gaua Lowe, job has froh:

»Gana hilo buter kenk bokhelo!
 

Ich bin ein kleines, armes Zigeunerkind.

Meine Mutter ist gestorben und mein Vater ist im Arrest.

Lieber, großer Gott! ich bin so arm

Und mein Vater im Arrest, er hat Hunger.

Ich habe nichts als mein Instrument.

Ich nehme es und gehe in die Wirtschaft,

Bis ein wenig Geld mein war.

Gehe zu meinem Vater in Arrest,

Gib ihm das Geld, er war froh:

»Jetzt hat er keinen Hunger mehr.«
 

Aus: Engelbert Wittich, Blick in das Leben der Zigeuner, 1911

[7] 1

Sulz am Neckar, den 26. August 1794

Mein lieber Freund,

der Brand, von dem ich Ihnen berichten will, liegt nun schon fast sechs Wochen zurück. Dieser schreckliche Brand! Wer könnte ihn je vergessen! Er begann am 15. Juli, morgens um elf Uhr, und in wenigen Stunden legte er die ganze innere Stadt in Schutt und Asche. Das Feuer brach – durch Unachtsamkeit wohl, durch Funkenflug – im Haus des Schlossers Büchele nahe der Stadtmühle aus, es fraß sich, vom aufkommenden Sturmwind begünstigt, in rasender Eile durch die nächstgelegenen Häuser bis zum Mühlkanal, wo ich seit vielen Jahren meine Wohnung hatte. Die Hitze war so gewaltig, dass sie jede wirksame Hilfe vereitelte; sie ließ weder Löscharbeiten noch das vorsorgliche Niederreißen von Häusern zu. Am frühen Nachmittag drehte sich unseligerweise der Wind und trieb das Feuer zum Marktplatz hin und darüber hinaus. Fast alle Häuser innerhalb der Stadtmauern standen nun in Flammen.

[8] Ich saß wie gewöhnlich in der Oberamtei hinter meinem Schreibpult, als das Feuerhorn gellte, und rannte, gefolgt von meinem Gehilfen, gleich hinaus, um zu sehen, wo es brannte. Gerötet war der Himmel, zu meinem Entsetzen, in der Richtung meines Hauses. Über die Dächer hinweg kroch beißender Rauch, der sich hier und dort aufplusterte wie ein riesenhaftes schwarzes Federvieh. Die Leute liefen durch die Gassen, schrien einander zu, was man tun müsste. Kinder weinten und hielten sich an den Röcken der Mütter fest, beinahe am schlimmsten war das Gebrüll der Tiere. Es hatten sich aber auch schon Kolonnen gebildet, in denen mit Neckarwasser gefüllte Ledereimer von Hand zu Hand weitergereicht wurden. Die beiden Feuerspritzen seien am Brandort, hieß es.

Ach, alle Anstrengungen waren vergeblich. Ich hatte mich durchs Gewimmel noch zu unserem Haus vorgekämpft. Fassungslos war mir draußen Caroline, meine Ehefrau, entgegengetaumelt und hatte mich, da schon Flammen aus dem Dachstock schlugen, zurückzuhalten versucht. Ich aber rannte in den ersten Stock hinauf, suchte ein paar Dokumente und Schriften zusammen, dazu einiges an Barem, einen Arm voll Kleider, und damit rettete ich mich, am Ende meiner Kräfte, ins Freie. Hinter mir gelassen hatte ich sämtliche Kästen mit meinen [9] Insekten, und mir schien schon unten an der Treppe, ich hörte von oben den Knall platzenden Glases und das Knistern verbrennender Wespen und Schmetterlinge. Das wird Sie, lieber Freund, gewiss auch betrüben, verdanke ich doch Ihnen so viele gute Ratschläge, die meine Leidenschaft in methodische Bahnen gelenkt haben. Aber ich fand gar keine Zeit, diesen Verlust zu betrauern, das große Feuer zog alle Aufmerksamkeit und alle Ängste auf sich.

Eine Weile schauten wir gebannt zu, wie in unserer Häuserzeile die Flammen wüteten. Ein Nachbar, der mir einen gefüllten Ledereimer weitergab, weckte mich aus meinem Stupor. Ich reihte mich, während Caroline unsere spärliche Habe bewachte, in eine der Löschkolonnen ein, doch unsere Mühe nützte nichts, wir hätten ebenso gut ins Feuer spucken können. Dann begannen Wangen und Ohren zu glühen, das Atmen im dichter werdenden Rauch fiel immer schwerer, und als die ersten Balken vor uns niederkrachten und die Funkengarben aufstoben, mussten wir über die kleine Brücke am Mühlkanal zurückweichen. Schritt um Schritt ging es weiter zum Marktplatz und zum Tor am Neckar, wo das Wasser geschöpft wurde. Wir kamen am Haus des Oberamtmanns Schäffer vorbei, das dem großen Brand ebenfalls nicht entging. Schäffer hatte ich in diesen Flammenstunden einige Male in der Menge [10] erkannt. Er hatte Ordnung ins Chaos zu bringen versucht, man gehorchte ihm und dann wieder nicht. Die oberste Autorität war an diesem Tag und in der darauffolgenden Nacht das Feuer, und Schäffer, berühmt in halb Europa, musste einsehen, dass es leichter war, Räuber einzufangen und an den Galgen zu bringen, als Flammen zu bändigen.

Aus den Nachbardörfern rückte Hilfe an. Mit vereinten Kräften gelang es immerhin, einige Gebäude vor der völligen Zerstörung zu bewahren, dazu gehörten die Kirche und das Dekanat, ebenso das Untere Tor und der Pfleghof. Die Nacht verbrachten wir auf den Neckarwiesen am jenseitigen Ufer. Die Bewohner der verschont gebliebenen Vorstadt brachten uns Decken und einiges zum Essen. In den Nachthimmel hinein züngelten noch stundenlang Flammen; sie schienen zu erlöschen, fanden neue Nahrung und wurden wieder zur mächtigen Lohe, die sich auf unseren Gesichtern spiegelte. Weit herum war der Glutschein über der Stadt zu sehen. Es blieb auf unserem Lagerplatz warm wie am Tag. Hin und wieder trieb der Wind Rauchfahnen herbei und Aschefetzen, die das rot beschienene Gras sprenkelten. Dazu die halblauten Gespräche ringsum, Weinen, Jammern, Husten. Hätte man unter solchen Umständen auch nur eine Minute schlafen können? Ich lag neben meiner Frau, die [11] Unverständliches vor sich hin murmelte, Gebete vielleicht; es stellte sich heraus, dass sie allen Ernstes glaubte, der große Brand sei eine Strafe Gottes für die Sünden der Sulzer Bürger, und mir wurde erneut bewusst, wie schlecht ich Caroline kenne, obwohl ich mit ihr, meiner ehemaligen Zimmerwirtin, nun schon sieben Jahre verheiratet bin. Unversehens fiel mir ein, dass ein paar Monate vor unserer Hochzeit hier in Sulz der Räuber Hannikel mit drei Spießgesellen hingerichtet wurde. Ich hatte – wie Sie sich vielleicht erinnern – am Schicksal von Hannikels kleinem Sohn einigen Anteil genommen. Nach mehreren missglückten Versuchen ist es ihm gelungen, aus dem Ludwigsburger Zucht- und Waisenhaus zu fliehen; seither blieb er meines Wissens verschollen. Ich bin nicht abergläubisch, aber der Gedanke, dass es zwischen Hinrichtung und Brand einen Zusammenhang geben könnte, ließ mich nicht los, und ich dachte an das Gerücht, Hannikel habe die Stadt und ihre Bewohner vor seinem Tod in der Zigeunersprache verflucht. Ein böswilliges und dummes Gerücht, gewiss, doch wer nachts auf sein abgebranntes Zuhause blickt, wird in solchen Dingen unsicher.

Irgendwann in der Morgendämmerung ließ mich Oberamtmann Schäffer suchen. Der Amtsdiener [12] Roth, der ohnehin den Kopf stets wie ein witternder Hund vorstreckt, spürte mich unter den Schlafenden und Wachenden am Flussufer auf, und ich musste ihm zum provisorischen Amtssitz folgen, zu dem Schäffer das leere Erdgeschoss in einem der unversehrten Vorstadthäuser erklärt hatte. Das Feuer sei am Abflauen, sagte Roth auf dem Weg, ein wenig freundlicher als sonst; zu den Brandstätten vordringen könne man noch nicht, man würde sich dabei verbrennen oder ersticken.

Die Silhouette der inneren Stadt bestand zur Hauptsache aus rauchenden Ruinen, ein Bild wie aus der Apokalypse. Der Oberamtmann, mit aschebestreuter Perücke und schmutzigem Rock, sah übernächtigt aus, war aber voller ungestümer Energie, wie immer, wenn er unter Druck gerät. Ich musste sogleich Hilfsgesuche an alle möglichen Stellen verfassen, an Seine herzogliche Durchlaucht, an die Rentkammer. Die umliegenden Gemeinden forderte Schäffer auf, so rasch wie möglich Sammlungen für den Wiederaufbau von Sulz zu veranstalten; und all diese Briefe, die ich in größter Eile auf schlechtes Papier schrieb, wurden mit Eilboten verschickt. Zwischendurch erteilte Schäffer Befehle für Lösch- und Räumungsarbeiten und ließ ein erstes Register der abgebrannten Gebäude erstellen. Schon gegen Mittag zeigte sich, dass mindestens 194 [13] Häuser zerstört, das Brucktor und Teile der Stadtmauer eingestürzt waren. Erstaunlicherweise – und gewiss, weil der Brand tagsüber ausgebrochen war – hatten wir keine Toten zu beklagen. Doch der materielle Schaden war unermesslich, das Jammern allerorts griff dem fühllosesten Menschen ans Herz. Für die nunmehr Obdachlosen wurden Notunterkünfte gesucht, und im Lauf des Tages entstanden bereits Bretterhütten auf ungenutztem Gelände. Bei den Vorstadtbewohnern wurden Familien mit kleinen Kindern einquartiert, die am meisten Schutz benötigten. Caroline und ich, die wir ja, wie die meisten, fast den gesamten Hausrat verloren hatten, bezogen ein Zimmer beim Glaser Silberrad, direkt neben dem provisorischen Amtssitz, in dem Schäffer auch seine Familie untergebracht hatte. So war ich, wie schon so oft, rund um die Uhr für ihn verfügbar.

In der nächsten Nacht kühlten die Trümmer so weit ab, dass man sich in die Häuser hineinwagen konnte. Als Erste taten das skrupellose Diebe. Sie brachen in Keller ein, stahlen Vorräte, betranken sich am Wein; sie suchten wohl auch Geld und Schmuck. In der Dunkelheit kam es zu Scharmützeln mit der Stadtwache, sogar Schüsse sollen gefallen sein. Verhaftungen gab es keine, trotz der großen Empörung unter den Ausgebrannten. So wissen wir bis zum heutigen Tag nicht, wer sich an den Plünderungen [14] beteiligte. Muss es uns nicht bestürzen, dass das Räuberische im Menschen unter solchen Umständen so rasch zum Vorschein kommt?

Es geht nun gegen Ende August. Der Brandschutt ist unterdessen fast vollständig beseitigt, Mauern werden überall aufgezogen, Dachbalken gelegt. Hunderte von Handwerkern aus der weiteren Umgebung sind an der Arbeit; ein vielfältiger, beinahe musikalischer Lärm erfüllt tagsüber die Stadt. Alle Sulzer, die es können, leisten Handlangerdienste, auch ich schleppe nach der täglichen Schreibmühe abends noch Steine und Ziegel, bis es Nacht ist. Wir werden, selbst wenn vieles noch fehlen wird, vor dem Winter ins neu aufgebaute Haus am Mühlkanal zurückkehren können und sind dankbar dafür, dass die Zuschüsse von überall her uns vor der nackten Armut bewahren. Auch Kleider sind eingetroffen, gebrauchte zwar, aber man kann sie tragen, und sie riechen zumindest nicht nach Rauch und Ruß wie sonst alles bei uns.

Immer wieder beschleicht mich das unbestimmte Gefühl, der große Brand sei in meinem Leben ein Wendepunkt. Was aber genau zu Ende gegangen ist, was mich an Neuem erwartet, weiß ich nicht, und überhaupt scheint mir in meinem Alter die Hoffnung auf einen Neuaufbruch verwegen, ja [15] vermessen zu sein. Ganz gewiss bedaure ich zutiefst den Verlust meiner Insektenkästen. Sie waren, wie Sie wissen, das Resultat zehnjähriger Forscher- und Sammeltätigkeit. Es braucht Kraft, damit von vorne anzufangen. Ich glaube aber, ich werde es tun, auch gegen den Willen meiner Frau, und hoffe inständig, dass ich, mein lieber Herr Professor, weiterhin auf Ihre Unterstützung zählen darf. Nie werde ich vergessen, wie Sie auf meinen ersten Brief, dem einige Exemplare von Grabwespen beilagen, in freundlichster Weise antworteten und mich zu weiteren Nachforschungen ermunterten.

Ich bin fast sicher, dass Sie anstelle dieses Berichts lieber neue Erkenntnisse über das Leben der Hautflügler am Neckar gelesen hätten. Ich kann Ihnen nur vermelden, dass die Insekten nach den Plünderern die Ersten waren, die an die verbrannten Stätten zurückkehrten, dorthin also, wo Zehntausende ihresgleichen ein Opfer der Flammen und der Glut geworden waren. Damit, verehrter Freund, drücke ich am Ende meines langen Briefs doch eine kleine Hoffnung aus.

Ihr ergebener Wilhelm Grau, Schreiber

[16] 2

Ludwigsburg, 23. September 1789

Ein Soldat hatte den Schreiber Grau vom Zuchthaustor über einen Streifen festgetretener Erde zum Wachgebäude geführt. Der Vorsteher der Anstalt, Kammerrat Georgii, wurde herbeigerufen und las missmutig, unter starkem Schnaufen den Empfehlungsbrief des Oberamtmanns von Sulz, den ihm Grau übergab. Eine Weile schaute er aus dem Fenster, und der Schreiber folgte seinem Blick. Durch die trüben, von Fliegendreck verschmutzten Scheiben sah er in den Innenhof, der von zwei großen, durch die Anstaltskirche miteinander verbundenen Längstrakten gebildet wurde. Am Trakt zur Rechten wurde immer noch gebaut; der Schreiber hatte den Baulärm gehört, als er, lange genug, vor dem Tor gestanden und ein ums andere Mal geläutet hatte. Noch länger zögerte der Vorsteher, bis er dem Schreiber die Besuchserlaubnis gewährte, um die Oberamtmann Schäffer in seinem Brief bat. Eine Stunde stehe Grau zu, und zwar im Beisein des [17] Stockmeisters, der das Gespräch zu überwachen habe. Es sei ja eigentlich schon Gnade genug, dass Mutter und Tochter, deren Verbrechen jedes Christenherz erschütterten, nicht in Ketten lägen. Der Bub indessen, ein Frechling sondergleichen, werde nun wieder vom Waisenhaus ins Zuchthaus versetzt. Georgii schob den Brief von sich, als wäre es ein Häufchen Unrat, und klingelte einen Diener herbei, den er anwies, drüben im Verwaltungsgebäude frischen Kaffee für ihn aufzubrühen. Ohne Abschiedswort verließ der Vorsteher den Raum. Nicht einmal ein Glas Wasser hatte er dem Besucher angeboten.

Es dauerte erneut länger als eine halbe Stunde, bis der Stockmeister hereintrat und Grau durch einen beinahe lichtlosen Gang und über eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Er öffnete die schwere Eichentür zum Besucherraum, an dessen feuchten Wänden Tropfen herunterliefen. Ein Tisch und ein Stuhl standen darin, sonst nichts. Er werde nun, sagte der Stockmeister, die zwei fraglichen Weiber herbeibringen.

Wieder die Warterei. Grau setzte sich nicht. Hier war das Fenster vergittert. Der Innenhof wirkte unter dem bedeckten Himmel leer und verlassen. Grau schneuzte sich in den Ärmel. Er verstand immer noch nicht ganz, weshalb Schäffer ihn nach [18] Ludwigsburg geschickt hatte. Der Auftrag war vordergründig klar: Er sollte in Erfahrung bringen, in welchem Zustand sich Hannikels engere Familie, die hier ihre Strafe absaß, gut zwei Jahre nach der Hinrichtung befand; er sollte sich vergewissern, ob ihre moralische Verbesserung im erhofften Maße fortschritt. Aber Schäffer hatte bei den vielen Worten, mit denen er dies dem Schreiber auftrug, mehrmals die Augen zugekniffen, als drücke ihn ein unbekannter Schmerz, und dann hastig den Empfehlungsbrief unterschrieben. Wollte er vielleicht auch wissen, ob die drei Inhaftierten ihm, dem Oberamtmann, vergeben hatten? Jeder Sterbliche, dies hatte Schäffer bei früheren Gelegenheiten betont, sei ein Sünder und bedürfe der Vergebung.

Schritte in unterschiedlicher Kadenz kamen näher. Der Stockmeister und ein Aufseher schoben Käther und Dennele, deren Hände lose gefesselt waren, in den Besucherraum hinein. Die beiden waren kaum mehr zu erkennen. Sie trugen die zweifarbige Anstaltskleidung in Braun und Gelb, ihre Haare waren geschoren, die Gesichter wirkten im düsteren Licht grau, wie von Asche bestäubt.

Dennele setzte sich gleich auf den Boden und schaute stumpf vor sich hin, ihre Mundwinkel zuckten, als wolle sie sich andauernd zu einem Lächeln zwingen. Der Aufseher machte einen Schritt auf sie [19] zu, offenbar um das Mädchen zum Aufstehen zu bewegen, doch der Stockmeister hinderte ihn mit ausgestrecktem Arm daran.

Käther indessen hob dem Schreiber bittend ihre verschorften Hände entgegen. Auch in ihren Augen war etwas Blindes, dennoch schien sie sich zu erinnern, wer der Besucher war. Ohne Gruß sprach sie ihn an, in klagendem Ton: »Mein Herr, haben wir jetzt nicht schon lange genug gebüßt? Wir bereuen doch, was wir an Unrechtem getan haben, wir bitten Gott jeden Tag um Vergebung. Aber wenn wir weiter eingesperrt bleiben und kaum einmal den Himmel sehen, dann gehen wir ein wie eine Pflanze ohne Licht, das muss doch auch der Herr Oberamtmann verstehen.«

»Halt den Mund«, schnitt ihr der Stockmeister das Wort ab. »Und red nur, wenn man dich etwas fragt.«

Käther erschauerte und kämpfte augenscheinlich um den festen Stand.

»Sie ist schwach«, sagte Grau. »Sie soll sich setzen.«

Der Stockmeister gab dem Aufseher ein Zeichen, dieser schob den Stuhl hinter Käther, und sie ließ sich mit einem Seufzen darauf nieder. Dennele murmelte Unverständliches vor sich hin. Mit einem Stoß brachte sie der Aufseher, ein junger Mann [20] mit zwei fehlenden Vorderzähnen, zum Schweigen.

»Nehmt ihnen die Fesseln ab«, verlangte Grau. »Sie werden ja gewiss auf niemanden losgehen. Oder habt Ihr Grund, Euch zu ängstigen?«

»Es ist gegen die Vorschriften«, wandte der Stockmeister ein, nahm aber doch die Münze an, die der Schreiber ihm zusteckte. Er löste die Fesseln der Gefangenen, und von nun an strich Käther mit ihren Händen ununterbrochen über den schäbigen Rock. Dennele hingegen griff sich an den Kopf, betastete ihre Haarstoppeln und begann lautlos zu weinen.

Der Schreiber Grau wünschte sich jetzt, er hätte den beiden Frauen etwas mitgebracht, ein paar Äpfel bloß, ein Glas Honig. Aber daran hatte er nicht gedacht, es war ihm auch nicht aufgetragen worden. So blieb ihm nur übrig, in formeller Weise, die ihn selbst ein wenig lächerlich anmutete, die Grüße des Oberamtmanns zu überbringen.

»Der Herr Oberamtmann«, fuhr er fort, »möchte wissen, ob du, Katharina Frank, einen Sinn in deiner Strafe erkennst und ob du bereit bist, nach deiner etwaigen Freilassung ein Leben in Ehren zu führen.«

»Ja«, antwortete Käther, »ja, gewiss, wenn es denn möglich wäre. Aber unsereinem gibt doch niemand Arbeit und Verdienst, man zählt uns seit je [21] zum Gesindel. Von der Obrigkeit werden wir schikaniert, wo wir auch sind. Wir bekommen keine Papiere, man wird uns verwehren, mit Geschirr zu handeln. Was bleibt uns da anderes übrig, als den Leuten aus der Hand zu lesen oder die Zither zu schlagen?«

Der Stockmeister machte einen raschen Schritt auf sie zu. »Du willst also betteln? Das meinst du doch, du liederliches Weibsstück! Oder am Ende wieder Beutel aufschneiden, ehrbare Bürger bestehlen? Da bleibst du besser noch ein paar Jahre hier drin.«

»Ihr treibt uns doch in die Wälder«, protestierte Käther. »Und dann spürt ihr uns auf und werft uns vor, ein liederliches Leben zu führen.«

»Wir spüren euch auf, um Mordbrennern und Mördern wie deinem Hannikel das Handwerk zu legen, und seiner Beischläferin auch.«

»Lasst den Hannikel in Ruhe«, entgegnete Käther mit abnehmender Kraft. »Er ist tot, er hat gebüßt für begangenes Unrecht.«

Sie verstummte; der Aufseher wies Dennele zurecht, die vor sich hin summte. Das Gespräch, das der Schreiber sich gesittet und lehrreich vorgestellt hatte, war bereits aus dem Ruder gelaufen. In beherrschtem Ton wandte er sich an Käther: Was sie sage, zeuge leider nicht von einem wirklichen [22] Besserungswillen. So könne sie keinesfalls mit einer frühzeitigen Begnadigung rechnen. Durch Fleiß und Demut müsse sie sich wieder Achtung verdienen. Er sah, dass Käthers Augen nass waren, er fühlte sich eingezwängt in seinen zerschlissenen Dienstrock und verstand nur halb, was Käther erwiderte: dass sie sich bemühe, ein besserer Mensch zu werden, und es auch ertrage, Tag für Tag mit wunden Händen zu weben oder Farbholz zu raspeln, aber dass ihr niemand ausreden dürfe, den Hannikel geliebt zu haben. Der Hannikel habe doch auch bereut und immer wieder Jesus angerufen, schon vor dem Gang zum Galgen, und Hannikel habe darauf gedrungen, sie, die Käther, in seiner Zelle zu ehelichen, nur habe dies die Obrigkeit nicht gestattet. Das war alles ohne Zusammenhang, und ihre Miene stimmte nicht überein mit ihrem klagenden Ton. Der Ausdruck war misstrauisch und listig in einem; so hatte sie auch während der Sulzer Verhöre in die Runde geschaut.

Währenddessen hörte Dennele nicht auf, leise zu singen. Die dünnen Töne drangen zwischen den Fingern hervor, mit denen sie den Mund bedeckte. Sie sang, das war halbwegs zu verstehen, vom Wald und vom hohen Himmel. Man wusste nicht, ob sie die simple Melodie selbst erfand.

Der Schreiber schaute auf Käthers geschorenen Kopf, zwischen dessen Stoppeln er Läuse zu [23] entdecken glaubte. Es grauste ihm davor, obwohl er sonst allem Sechsbeinigen zugetan war. Er wollte Käther gut zureden, er wollte ihr vor Augen stellen, dass sie lernen müsse, Ehrlichkeit und Anstand mehr zu lieben als den hingerichteten Mann. Doch sie kam ihm zuvor und bat ihn, ihrem Sohn, den er hoffentlich auch besuchen werde, von ihr das Beste zu wünschen. Es sei grausam, vom eigenen Sohn nur durch ein paar Mauern getrennt zu sein und ihn nicht sehen zu dürfen. Der Schreiber Grau solle Dieterle ermahnen, nicht wieder auf die schiefe Bahn zu geraten, das wünsche sich seine Mutter von ihm.

Dennele war auf dem Boden zur Stiefmutter gerutscht, hatte mit beiden Armen ihre Beine umfasst und schmiegte den Kopf an ihren Rock.

»Lass mich«, sagte Käther sanft zu ihr, und Dennele erwiderte: »In meiner Suppe ist nie Fleisch. Der Vater hat uns doch so gutes Fleisch gegeben.«

»Sei still, sei still«, murmelte Käther.

Überraschend beschied der Stockmeister, die Besuchszeit sei abgelaufen. Das könne nicht stimmen, empörte sich Grau. Sein Protest war vergeblich. Nach ein paar formellen Abschiedsworten begleitete der Stockmeister ihn hinaus und befahl dem Aufseher, die zwei Frauen zur Arbeit zurückzubringen.

[24] Nun war Dieterle an der Reihe, und das verstärkte Graus Beklemmung. Draußen ließ der Herbstwind ihn leichter atmen. Aber nachdem sie den Hof überquert hatten, betraten sie den Trakt zur Linken, und in den Gängen roch es von Schritt zu Schritt schlechter. Manchmal sah man durch eine halboffene Tür flüchtig in einen Schlafsaal hinein, in dem tagsüber gearbeitet wurde. Frauen in der hässlichen braungelben Anstaltskleidung saßen an Spinnrädern, an Webstühlen, man hörte Klappern und Surren, aber kein Stimmengewirr, denn bei der Arbeit war jede Unterhaltung verboten. Sie kamen an der Küche vorbei, an der Latrine, dort war der Boden glitschig. Der Stockmeister beschleunigte seine Schritte, Grau versuchte ihn einzuholen, schwankte aber ein wenig und stützte sich an der feuchten Wand ab, die nach Fäkalien stank wie alles ringsum. Vom Stockmeister ging ein starker, an Pferde erinnernder Schweißgeruch aus, er zog einen Fuß nach, trat mit dem anderen hart auf, vielleicht war er Soldat gewesen. Nun hörte man doch – von oben? von vorn? – Gelächter, Geschrei, ein lautes Weinen, das ins Schrille kippte, ein Gurgeln, das plötzlich abbrach; es schien dem Schreiber, auf einmal werde er von diesem Lärm umzingelt. Das seien die Tollwütigen, die Närrischen, sagte der Stockmeister und ließ die Schlüssel, die er am Ring in seiner Hand trug, gegeneinanderklirren.

[25] Es ging weiter, treppauf und treppab. Dieses Hallen überall. Wo lebten die Frauen, wo die Männer, wo die Zuchthäusler, wo die Armenhäusler, wo die Waisen? Und wie konnte es sein, dass es in einem neuen Gebäude schon überall stank? Nach Reinheit sehnte man sich da, nach fleckenlosem Weiß. Unversehens erinnerte sich Grau an den Falter, den er, drei Jahre war es her, auf einer verschneiten Alp in der Schweiz entdeckt hatte, eine bisher unbekannte Art mit samtig braunen Flügeln und grünlichem Glanz, mit kleinen weißen Augenflecken. Sie hatten damals Hannikel gesucht, der aus dem Kerker in Chur ausgebrochen war, und Grau hatte noch am selben Abend, als der Räuber schon wieder in Ketten lag, an Professor Fabricius in Kiel geschrieben und über seinen Fund berichtet. Schneemohrenfalter, dachte Grau, ich habe ihn Schneemohrenfalter genannt.

In der Waisenhausabteilung wurden sie vom Lehrer Israel Hartmann erwartet, der den Besucher in ein leeres Klassenzimmer bat und ihm vor der überkritzelten Schiefertafel einen Stuhl zuwies. Hartmann wirkte auf den ersten Blick phlegmatisch; er trug einen grau-weiß gesprenkelten Bart, und sein Vorname war, wie Grau vom Stockmeister erfahren hatte, durchaus biblisch und deutete keineswegs auf eine jüdische Herkunft hin. Ein Fall wie der von [26] Dieterle, begann Hartmann gleich mit seinem Bericht, sei ihm in seinen dreißig Jahren als Lehrer noch nie untergekommen. Kaum vierzehnjährig sei der Junge und benehme sich bockiger als einst sein Vater.

Hartmann sprach mit überraschend hoher Stimme und dehnte die Wörter am Ende der Sätze auf musikalische Weise. Dazu stand dauernd ein um Nachsicht bittendes Lächeln auf seinem Gesicht. Man habe Dieterle, als er vor zwei Jahren eingeliefert worden sei, für formbar gehalten, für ein besserungswilliges Kind, kindlich wirke er auch jetzt noch. Man habe ihn zum wahren Glauben führen wollen, zu Arbeitsfleiß, zu Demut und Gehorsam gegenüber seinen Wohltätern. Aber Dieterle sei nach geringen Fortschritten immer wieder zurückgefallen in sein widersetzliches zigeunerisches Verhalten. Er habe mehrfach gedroht, den Konstanzer Hans, der die ganze Sippe verraten habe, aufzuspüren und umzubringen, er habe geschworen, sich am Oberamtmann Schäffer zu rächen, und er habe sich dabei in schlimmste Wutanfälle hineingesteigert. Es habe nichts genützt, den Aufsässigen zu fesseln und in Arrest zu setzen. Sogar die Prügelstrafe, die man doch höchst ungern anwende, habe Dieterle nicht zu bessern vermocht, er habe hinterher bloß tagelang verstockt [27] geschwiegen und sich geweigert, die Hände zum Gebet zu falten.

Es war nun etwas Rührseliges in Hartmanns Ton, zugleich ein beinahe stechender Glanz in seinem Blick, und das gemahnte den Schreiber Grau an seinen Vorgesetzten Schäffer, der ihn oft ebenfalls mit Blicken zu durchbohren schien. Einmal schon, fuhr Hartmann fort, habe man Dieterle vom Waisenhaus ins Zuchthaus strafversetzt, obwohl er eigentlich zu jung dafür sei. Da habe er sich, unter Männern, die ihm körperlich weit überlegen seien, eine Weile kleinlaut, ja sogar fügsam gezeigt, und man habe ihn aus Mitleid wieder unter das weniger strenge Regime des Waisenhauses gestellt. Aber leider sei Dieterle rasch ins alte Fahrwasser zurückgekehrt, er sei beim Wollekämmen nachlässig gewesen, er habe, trotz seiner unbestreitbaren Intelligenz, so getan, als verstehe er den Katechismus nicht, er habe andere Zöglinge gegen die Kost und gegen die Pflichtgebete, die man kniend verrichte, aufgehetzt. Und letzte Woche – nun redete sich der Waisenhauslehrer in Rage – habe Dieterle auszubrechen versucht, er sei aus einem Fenster des ersten Stocks in den Hof gesprungen und mit einem verstauchten Fuß durchs Haupttor gehumpelt, erstaunlicherweise ungesehen, aber die Wachen hätten ihn draußen rasch gefasst und [28] zurückgebracht. Deshalb sei Dieterle nun erneut für sieben Tage in Einzelarrest, bevor er dann, auf Beschluss des Vorstehers und zu seinem, Hartmanns, großen Bedauern, endgültig zum Zuchthäusler werde. Einen Besuch lasse man nur zu, wenn er der Ermahnung des Delinquenten diene, wovon man beim Abgesandten des hochgeschätzten Oberamtmanns von Sulz selbstverständlich ausgehe.

Grau äußerte seine Dankbarkeit. Man machte sich auf den Weg, wiederum durch unübersichtliche Gänge. Dies alles wurde in seinem Kopf zum Labyrinth, obwohl die Gebäude, von außen gesehen, doch klar und symmetrisch angelegt schienen. Einmal kreuzten sie eine Schar Kinder, die, überwacht von einem jungen Gehilfen, in Zweierkolonne gingen. Murmelnd grüßten sie; Hartmann antwortete darauf mit einem Segenswunsch.

Die Arrestzelle lag am äußersten Ende des Gebäudes. Es roch darin wie in einem Stall. Der Raum war zu hoch und zu schmal, erhellt nur von einem Fensterchen oben in der Mauer, durch das sich auch das magerste Kind nicht zwängen konnte. Graus Augen brauchten einige Zeit, bis sie sich ans Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann sah er die zusammengekauerte Gestalt in der Ecke. Dieterle, auch er in Anstaltskleidung, hatte die Knie an seine Brust [29] gezogen und die Unterschenkel umfasst; immerhin war er nicht gefesselt. Der Kopf lag seitlich auf den Knien, die Wange schien zerkratzt. Er glich jetzt seinem Vater viel stärker, als Grau es in Erinnerung hatte.

Dieterle bewegte sich nicht, er wirkte so starr, als atme er gar nicht mehr. Grau gab sich einen Ruck und fragte den Arrestanten, ob er die Zeit dazu nutze, in sich zu gehen und sich in christlichem Sinn zu bessern, das würde er gerne dem Herrn Oberamtmann Schäffer ausrichten. Bei diesem Namen zuckte es um Dieterles Nase und Mund, dann saß er wieder wie eine Statue da.

»Sehen Sie«, sagte Hartmann zum Schreiber, »er ist unansprechbar. Der Trotz sitzt in ihm wie ein kleiner Dämon.«

Der Stockmeister indessen rüttelte Dieterle an der Schulter, als wolle er ihn aus dem Schlaf reißen: »He da, Bursche, gib Antwort, wenn man dich was fragt!«

Jetzt hob Dieterle den Kopf von den Knien und schaute, immer noch schweigend, mit leerem Ausdruck an den Besuchern vorbei.

»Niemand will, dass du endest wie dein Vater«, sagte Grau und versuchte, den Wörtern Gewicht zu geben. »Das musst du doch wissen. Auch deine Mutter wünscht sich von ganzem Herzen, dass du [30] denen gehorchst, die dir Gutes tun. Sie weint um dich, deine Mutter, sie umarmt dich in Gedanken jeden Tag hundertmal.«

»Und sie betet für dich«, fügte Hartmann hinzu.

Bei der Erwähnung seiner Mutter hatte Dieterle sich wieder stärker zusammengeduckt, er versteckte nun sein Gesicht zwischen den Knien.

»Willst du mit uns nicht auch beten für dein Seelenheil?«, fragte Hartmann in gütigem Ton.

Da richtete Dieterle sich ruckartig auf und stieß mit dem Hinterkopf unabsichtlich gegen die Mauer. Das dumpfe Geräusch erschreckte die Besucher. Dieterle rieb sich die schmerzende Stelle. »In Paris möchte ich jetzt sein«, sagte er plötzlich. In seine Kinderstimme schlich sich alle paar Wörter ein heiserer Unterton ein, der den Stimmbruch ankündigte. Das gab dem Klang etwas Unvorhersehbares, ja Böses.

»In Paris«, wiederholte Grau verblüfft. »Warum in Paris?«

»In Paris«, sagte Dieterle und maß herausfordernd den Schreiber, »da hat sich das Volk gegen seine Unterdrücker erhoben. Und das wird hier auch geschehen, schon bald.«

Ein paar Sekunden war es in der Zelle völlig still; nur der Gesang einer Amsel drang von draußen herein.

[31] Grau fasste sich als Erster. »Du meinst den Sturm auf die Bastille. Woher weißt du das?«

»Man erzählt es sich überall«, erwiderte Dieterle. »Eine solche Nachricht geht durch alle Mauern.«

»Dummes Zeug«, fuhr der Stockmeister ihn an. »Das wird in Paris schneller vorbei sein als ein Sommergewitter.«

»Das Volk«, sagte Hartmann, »wird bald einsehen, dass es Sünde ist, sich gegen die gottgewollte Ordnung aufzulehnen.«

»Und du«, der Stockmeister näherte sich wieder bedrohlich dem Jungen, »sollst dich um ganz anderes kümmern als um den Pöbel in Paris.«

Doch den beiden, der Schreiber merkte es wohl, war eine kleine Unsicherheit anzuhören. Man wusste ja so wenig darüber, was in Frankreich wirklich geschah. Das Letzte, was man ungläubig in den Gazetten gelesen hatte, war, dass Bauern vielerorts Schlösser in Brand gesteckt und Vorratsspeicher geplündert hätten. Noch weniger glaubhaft schien die Nachricht, dass die Nationalversammlung, die seit Wochen tagte, die Vorrechte von Adel und Klerus abschaffen wollte.

Hartmann schüttelte – allzu theatralisch, fand Grau – den Kopf. »Es ist traurig und beschämend, mein Junge, dass du dich an den Greueln delektierst, die braven Menschen das Leben kosten.«

[32] »Mein Vater hätte sich darüber gefreut«, sagte Dieterle laut, beinahe schrill, und presste danach die Lippen aufeinander.

Der Stockmeister verlor nun doch die Fassung. »Dein Vater«, damit riss er Dieterle am Kragen in die Höhe, nahe zu sich heran, »war ein gemeiner Mörder und Erzdieb, und du schlägst ihm nach, Gott sei’s geklagt!« Er stieß den Jungen zurück auf den kleinen Haufen Stroh, auf dem er gesessen hatte. Dieterle sank in sich zusammen; man sah ihm an, dass er nun auch unter schlimmsten Schlägen keinen Laut von sich gegeben hätte.

Sie ließen ihn liegen. Der Stockmeister schloss die Zellentür ab und schob den Balken vor.

Er wisse nicht, sagte Hartmann auf dem Rückweg zum Schreiber, ob der Junge noch zu retten sei. Er befürchte, dass Dieterle seinen Erziehern noch manche Schwierigkeiten einbrocken werde.

Nun gut, erwiderte Grau, er werde dem Oberamtmann in Sulz schonungslos Bericht erstatten, und nach all dem, was er nun gesehen habe, komme eine Begnadigungsempfehlung für Dieterle nicht in Frage. Eher noch für Käther und Dennele, aber man müsse davon ausgehen, dass sie ihr altes unstetes Leben bald wieder aufnehmen würden.

Es sei ja, sagte Hartmann, während der [33] Stockmeister mit zornigen Schritten voraushinkte, ohnehin nur der Landesherr befugt, Begnadigungen auszusprechen; was der Oberamtmann Schäffer empfehlen wolle, sei natürlich seine Sache. Der Herzog habe im Übrigen vor einigen Jahren zusammen mit dem Minister Bühler das Waisenhaus höchstpersönlich inspiziert und dabei seine Zufriedenheit über die vorgefundenen Verhältnisse ausgedrückt. Wie auch immer, er, Hartmann, – nun verfiel er beinahe in ein gedehntes Singen – werde rastlos um die Seele Dieterles kämpfen, er könne nicht anders. Es arbeitete in ihm, er schnaufte stark, dann brach es aus ihm heraus: Sein eigener Sohn, Gottlob David, sei auch auf einen falschen Weg geraten und habe dies mit einem frühen Tod gesühnt. Gottlob David habe, zum unermesslichen Leid des Vaters, in diversen Schriften die biblische Ordnung in Frage gestellt, er habe behauptet, dass Vernunft allein Erleuchtung bringe, und als jüngster Professor Deutschlands gar mit dem Ketzer Kant korrespondiert. Er, Hartmann, wisse nicht, womit er dies verdient habe. Die Stimme versagte ihm, als sie gerade den Ausgang erreichten. Grau wollte höflich sein, suchte nach aufmunternden Worten. Eine Weile blieben sie noch stehen und schauten aneinander vorbei. Der Abschied war kurz und nichtssagend.

[34] Grau hatte vergessen, wo der Gasthof lag, in dem er sich, erst wenige Stunden war es her, einquartiert hatte. Er kannte sich nicht aus in Ludwigsburg, geriet nach merkwürdigen Umwegen auf die breite Promenade, von der aus man in den Park und auf das langgestreckte Schloss sah. Wie eine Reihe von fleckigen Zähnen, aus der sich ein mittlerer hervorwölbte, lag es da. Die Residenz war verwaist, Herzog Karl Eugen vor Jahren schon nach Stuttgart zurückgekehrt. Die Wasserspiele hatte man abgestellt, doch im Park wucherte das Grün, das sich bereits herbstlich zu verfärben begann. Der schwache Wind wehte den strengen Geruch von Ringelblumen herbei, die mehrere Rabatten in orangeroter Glut entflammt hatten. Zwei tiefblaue Schmetterlinge gaukelten vorüber, möglicherweise gehörten sie zur Familie der Lycaenidae. Doch der Schreiber hatte nicht den Drang, sie näher zu betrachten. Das Bild Dieterles stand vor ihm. Wie mager waren seine wunden Handgelenke gewesen, wie hilflos hatten sie gewirkt! Damen mit nutzlosen Sonnenschirmen kreuzten seinen Weg, Herren, die ihn geflissentlich übersahen. Auch die Kinder, die lachend einen Reif vor sich hertrieben, achteten nicht auf ihn. Ich bin, dachte Grau, nahezu unsichtbar.

[35] 3

Sulz am Neckar, 17. Juli 1787

Nach Rosen duftete es, als sich der Exekutionszug, mit den Tambouren an der Spitze, frühmorgens vom Städtchen Sulz zum Galgenbuckel hinaufbewegte. Schon zum zweiten Mal blühten sie in diesem wuchsgünstigen Jahr. Windböen trieben Blütenblätter vor sich her, stellenweise übersäten sie den Weg und wurden von den vielen Schuhen zerquetscht, die über sie hinweggingen. Zu Tausenden waren die Zuschauer nach Sulz geströmt, um der Hinrichtung beizuwohnen. Man stritt sich beim Blutgerüst um die besten Plätze, Marktschreier sangen das Hannikellied und verkauften es, gedruckt auf grauem Löschpapier: Entsprossen vom Zigeunersamen, / verwahrlost an der Eltern Hand, / war er, geweiht durch seinen Namen, / schon jung ein Glied am Räuberband. Andere boten Zuckerzeug und Backwaren an, Wasser und Bier aus Schläuchen. Knapp nach Sonnenaufgang hatten sich die ersten Schaulustigen eingefunden, von weit her waren sie [36] gekommen, hatten die halbe Nacht durchwandert. Flink, listig, stark, mit heißem Blute / trat er bei seinem Schwarm hervor / und stund, mit unerschrocknem Mute, / Vierhunderten als Hauptmann vor.

Der Schreiber Grau ging, in einer Reihe mit andern Subalternen, zwei Schritte hinter dem Oberamtmann in Amtstracht her, der seinerseits von Stadtschreiber Zennek und dem Bürgermeister Nestle flankiert war. Dieser Gruppe folgten etliche Soldaten; vor ihr zogen mit schwarzen Schabracken geschmückte Pferde den Leiterwagen, auf dem die Verurteilten saßen, begleitet von acht evangelischen Geistlichen, die abwechselnd beteten oder den Todgeweihten Mut zusprachen. Auf einen zweiten Wagen hatte man Frauen und Kinder geladen, die zu Hannikels Sippschaft gehörten, darunter Käther und Dieterle. Sie mussten stehen, hielten sich, zum Gaudium derer, die den Weg säumten, aneinander und an den Sprossen fest, wenn es einen starken Ruck gab. Grau hörte sie jammern und schreien. Dieterle drückte sich an Käther und verbarg so sein Gesicht. Dennele sah der Schreiber erst nicht und merkte dann, dass sie am Boden kauerte und sich klein machte. Eine Frau raufte sich die Haare aus; in kleinen Büscheln kreiselten sie dem Boden entgegen oder wurden vom Wind weggetrieben, ins Zuschauerspalier hinein. Grau sah, dass die [37] Kopfhaut der Frau – war es Urschel? – stark blutete, Blut rann ihr ins Gesicht.

Die letzte Strecke mussten die Verurteilten zu Fuß zurücklegen, sie kamen, da ihnen Füße wie Hände lose aneinandergebunden waren, nur mit großer Mühe voran, stolperten oft und schwankten. Die Sonne stand nun schon hoch; von Minute zu Minute wurde es schwüler. Ein Ring von hundertfünfzig Milizsoldaten umgab den Richtplatz. Grau gehörte nicht zu denen, die sich setzen durften, so stand er denn, neben dem Amtsdiener Roth, in der vordersten Reihe und kämpfte gegen die zunehmende Übelkeit. Vom gewaltigen, an- und abschwellenden Gesumm der Zuschauermasse hoben sich bisweilen laute Einzelstimmen ab, Gelächter, Töne des Hannikelliedes: Euch lieben Leuten zu gefallen, / erzähl ich, wer Hannikel war, / und leg von seinen Taten allen / euch hier die schauervollsten dar. Dem Hauptübeltäter war ein Stuhl vorbehalten, auf dem er zusehen musste, wie seine drei Getreuen die Leiter hochkletterten, ihren Kopf in die Schlinge steckten und zu Tode gebracht wurden. Er redete ununterbrochen; ob auf Deutsch oder in der Zigeunersprache, war nicht zu verstehen. Er bete, hieß es ringsum, nein, er verfluche die Richter, er fordere die Seinen auf, seinen Tod zu rächen. Der Schreiber Grau glaubte zu sehen, dass auf der [38] anderen Seite des Blutgerüsts, wo die Sippschaft stand, Dieterle die Lippen bewegte. Grau wäre lieber anderswo gewesen, an einem Waldrand, mit Blick auf sanfte Hügel, wo er nicht zu sehen brauchte, wie Notteles Beine zappelten, nachdem der Scharfrichter die Leiter weggestoßen hatte. Er schloss die Augen, und es wurde plötzlich so still, dass er das Summen der Honigbienen in der Luft, apis mellifera, zu hören glaubte. Oder vielleicht waren es Wespen, Kuckuckswespen, gar Hornissen. Wenn man die Toten lange hängen ließ, würden die Fliegen kommen und sich schwarmweise am Aas laben. Wie können wir, hatte er kürzlich seinem Mentor Fabricius geschrieben, in jenen Insekten, vor denen uns graust oder die uns schaden, die Güte Gottes erkennen? Unsere Sicht ist beschränkt, hatte der Professor geantwortet, wir müssen noch fleißiger die Zusammenhänge der Natur erforschen, um zu lernen, dass eins ohne das andere nicht bestehen kann.

Die Stille über dem Richtplatz hielt an, dann das Geräusch der fallenden Leiter, das Aufseufzen von Tausenden, Triumphgeschrei. Dies musste Hannikels Tod gegolten haben. Grau öffnete die Augen erst, als der Lärm wieder verebbte und man das Schluchzen der Hinterbliebenen hörte. Einer alten, ganz verschrumpelten Frau, die [39]