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Erich Hackl

Als ob ein Engel

Erzählung nach
dem Leben

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2007

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Hugo Simberg,

›Der verwundete Engel‹, 1903

Copyright © Ateneum Art Museum,

Ahlström Collection, Helsinki, Finnland

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23919 5 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60238 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

 

[5] Möglichkeiten der Wiederkehr? Zu dem, was war?
Und vorausgegangen ist für ein paar Schritte?
einholen
einholen
jetzt
gleich

Johannes Bobrowski,
›In eine Hauptstadt verschlagen‹

[7] 1

Ich wollte, die Geschichte endete wie im Märchen: »Da ging die Tür auf, und die Tochter trat ein mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme. Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küßte sie: Es war nicht anders, sie mußten alle vor Freude weinen.« Es war anders, Gisela Tenenbaum ist nicht wiedergekehrt, und was blieb, ist ein Geflecht aus Stimmen, eng gewoben an manchen Stellen, dann wieder lückenhaft und brüchig. Es trägt den Stempel der Wahrheit: So ist sie gewesen, so haben wir gelebt; die Eltern sagen es, die Schwestern, die Freunde. Sie sind in der Zwischenzeit älter geworden, um dreißig Jahre und mehr. Nur Gisi ist immer noch so jung, wie sie damals war, zweiundzwanzig, und ihre Zukunft liegt halb hinter uns.

[8] 2

Im Jahr 1977 fiel Karfreitag auf den achten April. Das war der letzte Tag, den Gisi mit Sicherheit noch erlebt hat. Verbürgt ist jedenfalls, daß sie die Nacht davor in einer kleinen, spärlich möblierten Wohnung in der Calle Italia verbracht hat, in Godoy Cruz, einem Vorort Mendozas. Die Stadt wurde 1561 gegründet, auf achthundert Meter Seehöhe, drei Jahrhunderte später durch ein Erdbeben zerstört, dann großzügig wiederaufgebaut, mit breiten, von Platanen und Jacarandas gesäumten Alleen, Plätzen und Blumengärten, einem großen Park, der – wie so vieles hier – den Namen des amerikanischen Freiheitshelden San Martín trägt. Der General war 1817 mit seiner Armee von Mendoza aus aufgebrochen, um Chile und Peru von der Kolonialherrschaft zu befreien. Trotzdem wird die Stadt nur selten mit aufrührerischer Gesinnung in Verbindung gebracht, ihre Einwohner gelten als konservativ und verschlossen.

In der Wohnung sind sie zu dritt: Gisela Tenenbaum, José Galamba, Ana María Moral. Sie sind Montoneros, versprengt, der Hilfe bedürftig, ihr oberstes Gremium ist gerade dabei, sich nach Rom abzusetzen, nicht ohne den baldigen Triumph über die Diktatur in Aussicht zu stellen und die im Land verbleibenden Gefährten zu größerer Entschlossenheit und doppelter Wachsamkeit aufzurufen. Kann sein, die drei erahnen die Niederlage, doch das Ausmaß der [9] Katastrophe bleibt ihnen verborgen, es gäbe auch kein Zurück, selbst wenn sie genau wüßten, wie es um ihre Sache steht, die Militärs sind ihnen auf den Fersen, die einzige Möglichkeit ist weitermachen, durchhalten, die Gefährten nicht im Stich lassen. Außerdem hält sich in ihnen die Erinnerung an das Empfinden, stark und zukunftsfroh eine gerechte Sache zu verfolgen. Sie kennen sich seit langem, haben gemeinsam Zeiten höchster Gefahr durchgestanden, einander Mut und Trost zugesprochen, es ist nicht anzunehmen, daß ihnen das Zusammenleben auf engem Raum (zwei Zimmer, ein Flur, ein Bad, eine Art Waschküche) zusätzliche Nervenkraft abverlangt. Ana María und José sind in derselben Zelle tätig, Gisi in einer andern. Am Vormittag des 8. April 1977 geht sie aus dem Haus, weil im Stadtteil Las Heras ein geheimes Treffen ihrer Gruppe stattfindet, und sie muß daran teilnehmen. Wenig später verlassen auch die beiden andern die Wohnung, die im Erdgeschoß liegt. Als sie ins Freie treten, merken sie, daß ein Rollkommando dabei ist, die Straße abzuriegeln, Männer in Zivil, aber bewaffnet, in drei oder vier Fahrzeugen, Lieferwagen, Autos der Marke Ford Falcon. José und Ana María berühren sich an den Händen, wie zufällig, dann rennen sie los, auf dem Gehsteig den Häusern entlang. Ana María nach links, José nach rechts. Die Männer sind überrascht, einen Moment lang auch unentschlossen, wer von ihnen wem hinterherlaufen oder den Weg abschneiden soll, bis sie die Verfolgung aufnehmen, vergehen sechs, acht Sekunden. José hört das Gellen von Schüssen, neben ihm zersplittert die Heckscheibe eines geparkten Autos, er sprintet die erste Querstraße hinunter, vorbei an einer alten Frau, einem Karren, einem Obstverkäufer, der blitz[10] schnell in einem Hauseingang verschwindet. Hinter einem Lastwagen wechselt er auf die andere Straßenseite, wieder eine Ecke, gegenüber eine Haltestelle, ein Bus, der gerade anfährt. José springt auf und läßt sich, keuchend, auf den Sitz hinter dem Fahrer fallen.

Er entkommt, unverletzt, umgeht Straßensperren, findet irgendwo Unterschlupf, für ein paar Stunden, eine Nacht, drei Nächte. Dann gelingt es ihm, aus der Stadt hinauszukommen, mit oder ohne fremde Hilfe, er versteckt sich in einem Waldstück. Nach zwei Monaten läßt er Gisis Eltern eine Nachricht zukommen, ob sie ihm helfen können. Willi und Helga holen ihn im Kofferraum ihres Autos zu sich nach Hause, wo jederzeit Polizei einfallen könnte, einige Tage später bringen sie ihn in einer abgelegenen Ziegelbrennerei unter, beim Bruder eines Gewerkschafters namens Daniel Romero. Im Jahr darauf werden ihn die Militärs auch dort aufspüren und samt seinem Arbeitgeber und dessen Bruder verschleppen. Keiner von ihnen wird je wieder auftauchen.

Ana María schafft es bis zur Straße Joaquín V. González, in der, auf Nummer 163, die Kirche Nuestra Señora de Fátima steht. In ihrer Not will sie darin Zuflucht suchen, sie hetzt die Stufen hoch, auf das Tor zu, Beton spritzt neben ihr auf von Gewehrgarben, plötzlich ein mächtiger Schlag in den Rücken, sie taumelt, stürzt über die Schwelle in die Kirche, wo der Pfarrer gerade dabei ist, die Nachmittagsandacht vorzubereiten. Statt sich um die Verwundete zu kümmern, vor ihm auf dem Steinboden, die ihn anfleht, das Tor zu schließen, geht er nach draußen und winkt die Verfolger herbei. Er erwartet regen Besuch der Gemeinde an diesem Tag, an dem Jesus Christus gestorben ist und Ana María an [11] Ort und Stelle oder während des Transports oder in einem Verlies sterben wird, unter ihrem Falschnamen Graciela Beatriz Luján an »akuter Blutarmut, verursacht durch akuten Blutverlust«, laut Befund des Militärarztes Dr. Alcides Alberto Cichero, und der Tod sei um 20.30 Uhr eingetreten.

Gisis ältere Schwester Heidi sieht, zwischen sechs und acht Uhr abends, im Fernsehen den Bericht mit der jüngsten Erfolgsmeldung der Ordnungskräfte: Im Zuge einer Hausdurchsuchung sei im Departamento Godoy Cruz eine Frau, vermutlich Mitte Zwanzig, bei einem Feuergefecht mit Organen der öffentlichen Sicherheit ums Leben gekommen. Die Wohnung habe als geheimes Operationszentrum der Aufständischen gedient. In ihr seien Waffen und subversive Flugschriften gefunden worden. Ein Kameraschwenk über zerschlagene Möbel und auf dem Boden verstreute Wäsche, Heidi starrt auf den Bildschirm, hört die schnarrende Stimme des Nachrichtensprechers, sträubt sich gegen die Gewißheit, daß das die Wohnung ist, in der Gisi untergekommen war. Sie verständigt ihre Eltern.

[12] 3

Helga Markstein ist ein Sonntagskind. Im Lebensbericht, den sie vor einigen Jahren für ihre Enkelkinder aufgeschrieben hat, nennt sie zuallererst die Umstände ihrer Geburt. Den heißen Sommertag draußen in Stadlau, in der Neu-Strassäcker Siedlung am linken Donauufer, die einsetzenden Wehen ihrer Mutter am Morgen des 29. Juni 1930, Freude und Enttäuschung der eingeladenen Verwandten, weil Fanny Markstein, statt ihnen Schnitzel, Erdäpfelsalat und zum Nachtisch Kirschenkompott vorzusetzen, in einem Krankenhaus der Gemeinde Wien zu Mittag ihr zweites Kind zur Welt brachte, das so aussah, wie es Helgas Bruder Heinz verlangt hatte, blond und blauäugig, und für dessen Erscheinen er Abend für Abend ein Stück Würfelzucker ins Fenster gelegt hatte, Lockfutter für den Storch, der damals noch für den Kindersegen zuständig war. Das weißgetünchte Reihenhaus, mit Küche und Wohnzimmer im Erdgeschoß, Elternschlafzimmer und zwei Kammern für die Kinder unter dem Dach, am Ende einer steilen Stiege, auf der Rückseite der große Garten mit Obstbäumen, Sträuchern, Gemüsebeeten, in dem Helga mit ihrem Lieblingscousin Peter spielte, der verständige Vater, der wochentags früh außer Haus ging und erst gegen Abend wiederkam, stürmisch begrüßt von seiner kleinen Tochter.

Rudolf Markstein arbeitete in der Buchhaltung eines [13] Verlags, der zwei linksliberale Zeitungen herausgab, den »Neuen Wiener Tag« und »Die Stunde«, und machte aus seiner sozialistischen Gesinnung kein Hehl. Der Arbeiteraufstand im Februar 1934 überraschte ihn im Büro drinnen in der Stadt, in der Canisiusgasse im 9. Bezirk, erst nach dem Abflauen der Kämpfe, der Niederlage seiner Genossen konnte er nach Hause gehen, wo er, einige Tage später, verhaftet wurde: Ein mißgünstiger Nachbar hatte ein Gewehr im Komposthaufen der Familie Markstein versteckt, es war, wie er beabsichtigt hatte, bei einer Hausdurchsuchung gefunden worden. Damals herrschte Standrecht, auf illegalen Waffenbesitz stand die Höchststrafe, aber Rudolf Markstein hatte einen guten Leumund und einige Freunde, sogar einflußreiche, die seine Unschuld bezeugten. Auch in der Siedlung war geschossen worden, Fanny Markstein hatte sich mit den Kindern auf den Fußboden gelegt, um nicht von verirrten oder gezielt abgefeuerten Kugeln der Exekutivorgane getroffen zu werden, dann Zuflucht bei Bekannten in einer Ortschaft jenseits der Stadtgrenze gesucht. Helga hatte sich nicht geängstigt, bloß den Vater vermißt. In seiner Gegenwart würde ihnen niemand was anhaben können. Er wollte damals schon weg, mit der Familie nach Australien auswandern, die Mutter sperrte sich dagegen.

Jetzt ist’s für lange aus mit Freiheit, und die Nazis werden immer stärker, schau, wie es in Deutschland zugeht.

Ah geh, so schlimm kann’s nicht werden.

Als die Wehrmacht in Wien einmarschierte, im März 1938, saßen die Erwachsenen, stumm und bedrückt, vor dem Radio. Helga wußte nicht, warum sie so ernste Gesichter machten, aber sie begriff, daß Gefahr drohte. Müssen mein Papa und [14] dein Papa jetzt in den Krieg, fragte sie ihre Kusine. Susi schüttelte den Kopf, da war sie wieder beruhigt. Doch im Juni, ein paar Tage vor ihrem achten Geburtstag, kamen Männer und nahmen die Brüder Markstein mit. In der Nacht darauf laute Stimmen, rohes Gelächter von der Straße her, dann ein Schnaufen und Schaben draußen am Haus. Ein betrunkener Nazi kletterte am Spalier des Efeus nach oben, zum Schlafzimmerfenster, er wollte der Jüdin Markstein einen tüchtigen Schrecken einjagen, aber eine Sparre brach unter seinem Gewicht, er fiel, bekam gerade noch zwei Ranken zu fassen und rutschte mit ihnen hinunter in den Garten. Ein Nachbar, der durch die Hilferufe von Helgas Mutter alarmiert worden war, verjagte den Eindringling mit einer Mistgabel.

Es gab nicht viele in der Siedlung, die weiterhin hilfsbereit und freundlich waren, die meisten gingen der Familie aus dem Weg, grüßten nicht mehr oder bedauerten lebhaft, daß Stadlau immer noch nicht judenfrei sei. Der Briefträger steckte Post aus Dachau, dann aus Buchenwald an die Gartentür. Ich bin gesund, es geht mir gut. Dann mußten sie von einem Tag auf den andern das Haus verlassen. Eine Großtante nahm sie auf, in ihrer Wohnung in Döbling, unweit der Hohen Warte. Ab September waren Helga und ihr Cousin gezwungen, eine Volksschule zu besuchen, die für jüdische Kinder freigemacht worden war. Die Klassen waren heillos überfüllt, ein regulärer Unterricht ließ sich unter diesen Umständen nicht aufrechterhalten. Vor der Schule lungerten oft halbwüchsige Nazis herum, wenn sich eine Gelegenheit bot, verprügelten sie eins der Kinder. Helga war auf der Hut, aber einmal wurde sie umzingelt, festgehalten und [15] gegen eine Wand gedrängt. Zum Glück sah das ein Mann in blauer Schlossermontur, der die Buben zur Seite stieß und ihnen ein paar Ohrfeigen antrug, für den Fall, daß sie das Mädchen nicht sofort in Ruhe ließen. Mit zitternden Knien kam Helga zu Hause an. Der Zwischenfall hielt sie nicht davon ab, in der Freizeit mit Peter durch die Straßen zu streunen, sie staunten über die herrschaftlichen Villen mit den reichverzierten Fassaden, die vielen Automobile und Fuhrwerke, die Dampfmaschinen, Baukästen und Puppenhäuser in den Schaufenstern einer Spielwarenhandlung. Die Erwachsenen unterdessen standen vor den Konsulaten an, in der Hoffnung auf Visa, für sie alle und auch für die beiden Männer im KZ. Dank den Bemühungen eines Verwandten in Buenos Aires, der Ländereien in Bolivien besaß und bei den dortigen Behörden vorstellig wurde, erhielten sie endlich die Genehmigung zur einmaligen Ausreise aus dem Deutschen Reich. Im Jänner 1939 wurden Helgas Vater und ihr Onkel aus Buchenwald entlassen, und am ersten Jahrestag der Besetzung Österreichs stieg die Familie Markstein am Wiener Westbahnhof frühmorgens in den Zug nach Hamburg. Einige Wochen später traf sie, erschöpft und mittellos, in La Paz ein.

[16] 4

Helga und Willi hatten Gisi zuletzt am 3. April 1977 gesehen, am Palmsonntag, den sie gemeinsam im Bergland von El Challao verbracht hatten, einem beliebten Ausflugsgebiet acht Kilometer außerhalb der Stadt. Gegen sieben Uhr abends waren sie nach Mendoza zurückgefahren und hatten Gisi nahe der Wohnung in Godoy Cruz abgesetzt. Ehe sie ausstieg, hatte sie sich mit ihrer Mutter für den nächsten Sonntag verabredet. Die beiden trafen sich in der Regel an einer Haltestelle auf dem belebten Paso de los Andes, Ecke Armani, wo Helga vorgab, auf einen Bus zu warten. Nach einigen Minuten tauchte Gisi auf, ging an ihr vorüber, Helga folgte ihr, meistens in ein Café, in dem sie sich ungestört und ohne Gefahr, belauscht zu werden, unterhalten konnten. Aber am Ostersonntag wartete Helga vergeblich auf ihre Tochter, ebenso eine Woche später. Inzwischen hatte sie erfahren, daß die Militärs über Ort und Zeit des Treffens in Las Heras informiert gewesen waren, sie hatten den zehn oder zwölf Montoneros aufgelauert, sie einzeln oder als Gruppe überwältigt und verschleppt.

Trotzdem glaubten Helga und Willi, daß Gisi durch irgendeinen Zufall entkommen war, und dafür gab es einige Anhaltspunkte. Zum einen merkten sie, daß ihr Haus in der Calle Coronel Díaz nach wie vor observiert wurde. Schon früher war ihnen aufgefallen, daß Nacht für Nacht, oft auch [17] tagsüber, auf der anderen Straßenseite ein Auto parkte, mit Männern auf den Vordersitzen, die es offenbar auf Gisi abgesehen hatten. Wäre sie tatsächlich gefaßt worden, hätte es doch keinen Grund mehr gegeben, das Haus weiterhin im Auge zu behalten.

Zweitens kam gegen Ende des Monats ein ehemaliger Mitschüler Gisis, von der technisch-chemischen Lehranstalt, in Willis Ordination, um, wie er beteuerte, sein Gewissen zu erleichtern.

Ich habe gewußt, was kommen wird. Daß man die Gisi erwischen wird. Ich hab aber nichts getan, um es zu verhindern.

Willi wußte nicht recht, wie er auf diese unerwartete Beichte reagieren sollte, und überging sie deshalb mit einer vagen Handbewegung. Dabei hätte er dem andern gern mehrere Fragen gestellt. Von wem hast du erfahren, daß Gisi in Gefahr ist. Wie hättest du ihr helfen können. Und warum gibst du mir zu erkennen, daß es in deiner Macht gelegen wäre, ihr zu helfen. Vielleicht wollte ihn der junge Mann aushorchen. Vielleicht wartete er darauf, daß Willi sagte, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, mit unserer Tochter ist soweit alles in Ordnung. Dann hätte er Grund gehabt anzunehmen, daß Gisi mit ihnen noch in Kontakt stand. Wer weiß, ob ihn nicht jemand geschickt hatte, in der Absicht, der Flüchtigen auf diese Weise habhaft zu werden.

Es gab noch ein drittes Indiz dafür, daß Gisi nicht gefaßt worden war. Ein paar Tage vor oder nach dem Erscheinen ihres ehemaligen Mitschülers hatte ein anderer junger Mann, ebenfalls ein Schulfreund oder Studienkollege Gisis, Willi auf der Straße angehalten.

[18] Guillermo, stellen Sie sich vor, ich habe Gisela gesehen, vorgestern, in einem Weingarten draußen vor der Stadt.

Bist du sicher?

Absolut.

Hast du mit ihr gesprochen?

Dazu habe sich keine Gelegenheit ergeben, er sei in Begleitung gewesen, er habe sie und sich selbst nicht gefährden wollen.

Aber sie war es, ich hab sie gleich erkannt!

Der Junge war Willi und Helga als ernsthaft und verläßlich vertraut, er wollte sie sicher nicht hinters Licht führen. Denkbar, daß er sich doch getäuscht hatte. Oder daß Gisi erst später gefaßt wurde, Anfang Mai. Jedenfalls erreichte sie kein Lebenszeichen mehr von ihr, die doch alles darangesetzt hätte, den Eltern eine Nachricht zukommen zu lassen, diesbezüglich war auf sie immer Verlaß gewesen. Heute ist Helga davon überzeugt, daß Gisi den Militärs schon am achten April, beim Treffen ihrer Gruppe, spätestens Anfang Mai in die Hände gefallen ist. Damals aber lebte in ihr und in Willi die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Deshalb zögerten sie lange, ehe sie das Verschwinden ihrer Tochter bei Gericht anzeigten, mittels eines Habeas-Corpus-Antrags, der selbstverständlich abgelehnt wurde; wäre Gisi noch in Freiheit, dann würden sie ihr, so glaubten sie bis dahin, mit einer Vermißtenmeldung nur schaden.

Einmal, noch im Jahr 1977, erzählte ihnen eine Bekannte, sie habe das Mädchen in Maipú gesehen, in einer Apotheke. Gisela sei in den Laden gekommen, habe ein Rezept eingelöst und sei wieder gegangen.

So war es, ich schwör’s bei allem, was mir heilig ist.

[19] Ein anderes Mal, fünf oder sechs Jahre später, kam eine Krankenschwester, die mit ihnen in einem Hilfsprojekt eines Armenviertels in Rivadavia tätig war, aufgeregt auf sie zu, umarmte Helga und flüsterte: Ich hab eine tolle Nachricht für euch, ihr werdet es nicht glauben. Nämlich, sie habe im Hospital Central von Mendoza zwei Ärzte miteinander reden hören, über die vielen Vermißten der Diktatur und die quälende Ungewißheit ihrer Familien, da habe sie zu ihnen gesagt, ich hab zwei gute Freunde, ihre Tochter ist auch verschwunden, worauf einer der beiden Ärzte gefragt habe, wie heißen sie, Tenenbaum, habe sie geantwortet, ach, habe er gesagt, natürlich, die Eltern von Gisela.

Sag ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen. Gisela ist in Sicherheit.

Was, sie lebt?

Natürlich. Sie ist zuerst im Süden untergetaucht, und dann hat man sie nach Kuba gebracht, ich hab selbst mitgeholfen, sie aus dem Land zu bringen, und jetzt ist sie in der Schweiz. Sobald es ihr möglich ist, wird sie sich mit ihren Eltern in Verbindung setzen.

Nachdem Helga den Arzt nach langer Suche und mancherlei Ausflüchten seinerseits – er habe keine Zeit, sei gerade viel beschäftigt, nein, auch morgen gehe es nicht, und dann sei er für einige Wochen abwesend – zur Rede gestellt hatte, leugnete er, sich je über Gisi geäußert zu haben. Er kenne sie ja gar nicht, Margarita, die Krankenschwester, habe das alles erfunden. Als Helga immer noch nicht lockerließ, wurde er grob.

Lassen Sie mich in Ruhe, gehen Sie, oder ich laß Sie in die Psychiatrie einweisen. Sie sind ja wahnsinnig.

[20] Eine solche Anschuldigung traf Helga nicht unvermu-tet, schließlich hatten die Frauen, die Aufklärung über das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder verlangten, unter dem Militärregime generell als Verrückte gegolten. Sie rührte sich nicht von der Stelle, schaute dem Mann fest in die Augen und fragte ihn, ob er sich denn nicht schäme, Lügen in Umlauf zu setzen. Ein paar Sekunden lang hielt er ihrem Blick stand, dann drehte er sich wortlos um und rannte davon.

Und seit damals in Wirklichkeit haben wir ganz die Hoffnung aufgegeben, sagt Helga, und neben ihr sitzt Willi und schweigt.

[21] 5

Bolivien bot den Flüchtlingen aus Europa kaum Gelegenheit, sich heimisch zu fühlen. Es war ein armes Land mit einem Dutzend märchenhaft reicher Minenbesitzer, zweieinhalb Millionen Indios, die auf angestammtem Boden wie Leibeigene schuften mußten, und anderthalb Millionen Mestizen, die ängstlich darauf bedacht waren, sich in Kleidung, Sitte und Ansehen von ihnen abzuheben. Beide Bevölkerungsgruppen blieben, aus Not oder Mißtrauen, unter sich, ohne Verlangen, mit den Einwanderern näheren Umgang zu pflegen. Dazu kam, neben den Schwierigkeiten, sich auf spanisch zu verständigen, daß die Neuankömmlinge zumeist Berufe ausgeübt hatten, für die in La Paz kein Bedarf bestand. Trotzdem schafften es fast alle, mit der Zeit ein halbwegs passables Auskommen zu finden. Helgas Familie war eine Ausnahme, ihr wollte es nicht gelingen, die prekären Verhältnisse abzuschütteln. Die Markstein waren fleißig und einfallsreich, auch anpassungsfähig und für vielerlei Dinge zu gebrauchen, nur nicht dazu, Geld zu machen. Zuerst pachteten sie ein Stück Land außerhalb der Stadt. Sie bauten Gemüse an, aber der Ertrag reichte nicht, sie zu ernähren. Daraufhin versuchten sie es mit einem Ausflugslokal, der Finca Elma. Das Gasthaus stand auf einem Hügel, ringsherum nichts als Sand und Steine, ein paar blasse Eukalyptusbäume und verstaubte Kakteen.

[22] Alle Frauen der Familie, nicht nur Helgas Mutter, waren exzellente Köchinnen und gaben große Portionen aus, so daß sich bald Gäste einstellten, Emigranten von der »Vereinigung freier Österreicher«, die dort auch ein Praterfest feierten, bei dem ein Zauberer Kaninchen aus seinem Zylinderhut zog, eine verschleierte Hellseherin auf jede Frage die richtige Antwort wußte, ein Schwank mit dem Titel »Der Lustmörder« aufgeführt und Heimwehlieder gesungen wurden, ehe eine Kapelle zum Tanz aufspielte. Sonntags mußten die Kinder einspringen, beim Servieren, beim Abwaschen und als Türsteher, um zu verhindern, daß jemand das Weite suchte, ohne vorher die Zeche bezahlt zu haben. Da die Preise kaum die Kosten deckten, blieb ihnen nichts übrig, als das Unternehmen aufzugeben. Helgas Mutter mietete ein Zimmer in der Stadt, wo sie an den Wochenenden in der Küche eines Restaurants aushalf. Rudolf Markstein bekam eine Stelle im noblen Hotel Sucre, als Oberkellner, und Heinz hatte sich gleich nach der Ankunft als Elektriker anlernen lassen, später in einem Handelsunternehmen gearbeitet, widerwillig, denn er befaßte sich mit Geschichte und Literatur und hätte für sein Leben gern studiert. Aber dafür war ja kein Geld da. Helga besuchte eine Volksschule, die deutsche und österreichische Exilierte für ihre Kinder gegründet hatten, weil die staatlichen Schulen schmutzig und schlecht und die privaten teuer waren. Viel lernte sie nicht; die Lehrer hatten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie zuvor unterrichtet, und die meisten Schüler waren durch die Lebensumstände vor und nach der Vertreibung unruhig und haltlos geworden. In den Klassenzimmern ging es drunter und drüber, im Grunde blieben sie sich selbst überlassen.

[23]