17 Geschichten von der Antike bis zur Zukunft

Das Ende des Odysseus

17 Geschichten von der Antike bis zur Zukunft

Das Ende des Odysseus

Die hundert Freier der Königin Penelope waren erschlagen, und ihre Leichen wurden, in Teppiche gehüllt, aus dem Festsaal getragen, einer nach dem anderen. Obgleich es schon gegen Mitternacht ging, war das Haus nach dem furchtbaren Vorfall noch in voller Bewegung; die Fenster strahlten in die Nacht hinaus, und Diener liefen hin und her. Man hörte, wie in der großen Halle das Blut mit Besen über die Steinfliesen ausgefegt wurde.

In dem hell erleuchteten Schlafgemach lag Odysseus neben seiner Gattin Penelope. Und nachdem sie sich in Liebe wiedergefunden hatten, setzte er sich aufrecht und begann von seinem zwanzigjährigen Abenteuer zu erzählen; von Ilion, von dem Streit der Könige im Lager; von der Heimfahrt und den Wunderdingen der fernen See. Aber als er bei Scylla und Charybdis ankam, merkte er, daß Penelope neben ihm eingeschlafen war. Da dachte er: »die Arme hat heute viel durchgemacht, ich werde ihr morgen weiter erzählen« und legte sein Haupt neben das ihrige auf die Purpurkissen.

* * *

In dem königlichen Palast war zunächst viel zu schaffen und zu richten, denn die jungen Leute hatten mit ihrem wilden Wesen alles in Unordnung gebracht. Odysseus entwarf einen Plan, ließ sich durch seine Verwalter Bericht erstatten und ging ans Werk.

Er ließ die große Halle mit neuen Marmorplatten belegen, um die letzte Erinnerung an den vergossenen Wein, aber auch an das vergossene Blut zu tilgen. Die Keller und Vorratskammern waren zur Hälfte leer und mußten neu ausgestattet werden; die Ölmühlen, früher ein Stolz der königlichen Wirtschaft, waren jahrelang nicht mehr benutzt worden, und ihre Wiederherstellung erforderte Zeit und Mühe.

Hinter dem Hause hatten die Freier einen großen Blumengarten anlegen lassen, zu dessen Besorgung ein syrischer Gärtner angestellt worden war. Dort wurden Narzissen und Nelken gezogen und jene hundertblättrigen Rosen, deren Zucht eben gelungen war. Mit diesen Blumen zierten die Freier ihre Festtafel und brachten große Sträuße der Königin, um deren Gunst sie warben. Penelope aber nahm diese Blumengaben gern entgegen und schmückte damit die Bronzevasen, die auf den Gesimsen ihres Schlafzimmers standen.

Jetzt ließ Odysseus den Blumengarten abreißen und legte an seiner Stelle eine Kohlpflanzung an mit zementierten Bewässerungskanälen, wie er es in Ägypten gesehen hatte. Die Kohlrüben schlugen gut an und gaben Viehfutter für einige Monate. Aber die Bronzevasen der Königin blieben von nun an leer.

* * *

Darauf hatte Odysseus sich während seiner langen Heimfahrt am meisten gefreut, wie er alle diese Abenteuer seiner Gattin erzählen würde und wie sie begierig an seinem Munde hängen würde, ihn mit Fragen unterbrechend.

Doch er mußte bald erkennen, daß sie keine so aufmerksame Zuhörerin war wie die Phäaken, die zwei Tage lang seinem melodischen Bericht gelauscht hatten.

Wenn er Penelope zu erzählen begann, arbeitete sie schweigend an den goldenen Mustern eines Tuches oder blickte zerstreut durch das Fenster; einmal, als er eine Frage stellte, mußte er erkennen, daß sie die Lästrygonen mit den Lotophagen verwechselte; und das schmerzte ihn, denn er hielt auf die Genauigkeit seines Erlebnisses, das er um so mehr liebte, je ferner es wurde.

Nur wenn er von der Nymphe Kalypso erzählte, schien sie aufmerksamer hinzuhören. Und diese Teilnahme reizte ihn, so daß er jenen Teil seiner Irrfahrt ausführlicher schilderte: die einsame Insel, den wunderbaren Hain, in dessen Bäumen die Seevögel nisteten, und die duftende Grotte der Göttin.

»Wie lange bist du bei dieser Kalypso geblieben?« fragte sie ihn einmal.

»Sieben Jahre«, antwortete er.

Sie beugte sich auf die Arbeit nieder, und ihre Augen wurden dunkel.

* * *

Solange Odysseus fort war, hatte jeden Abend zur Stunde des Lichteranzündens das Fest der Freier in der großen Halle begonnen. Und Penelope hörte dann bis in ihr fernes dunkelndes Zimmer den Lärm des Gelages, den Klang der Flöte und die frohen Stimmen der Männer, die ihr ergeben waren.

Manchmal war sie verschleiert und heimlich auf die Galerie gegangen, die oben um die Halle lief, und hatte hinter einer Säule her die Männer betrachtet, die auf vergoldeten Sesseln saßen: den göttlichen Antinoos, dessen Augen waren wie die Nacht, den vornehmen, schon älteren Eurymachos und Menon, der noch ein Knabe war.

Jetzt war die Flöte verstummt, und alles ging im Hause einen ordentlichen Gang. Aber immer wenn die Stunde des Lichteranzündens kam, wurde die Königin unruhig, und es schien, als fehlten ihr dieser Ton und diese fernen Stimmen, die jetzt alle gestorben waren. Und einmal konnte sie nicht widerstehen; sie warf den Schleier über wie damals und ging auf die Galerie und sah in den Saal hinunter. Da standen die vergoldeten Sessel in langen Reihen an der Wand, und jeder war mit einem Überzug aus grauer Leinwand gedeckt.

Und durch die Stille hörte sie von draußen die Stimme ihres Gemahls, der sagte: »Eumaios, du darfst die Ferkel nicht mehr in der Nacht draußen lassen; es fängt an, kühl zu werden.«

* * *

Einst als bei Tisch einer jener runden Ziegenkäse aufgetragen wurde, die es auf allen Inseln des Mittelmeeres gibt, mußte Odysseus still vor sich hinlachen. Sie fragte ihn nicht, was er hätte, und so fing er von selbst an:

»Dieser Ziegenkäse erinnert mich an die Höhle des Polyphem. Er hatte davon viele Hunderte auf den Brettern, die an den Steinwänden entlangliefen. Und als wir nun, meine treuen Gefährten und ich, in die Höhle eingedrungen waren, da sagte ich ...«

»Mein Freund«, unterbrach sie ihn, »du scheinst nicht zu wissen, daß du mir diese Geschichte schon viermal erzählt hast. Ich kenne sie nun; wie ihr den armen alten Mann betrunken gemacht habt, wie ihr ihm – zehn gegen einen – sein einziges Auge geblendet habt, das habe ich öfter gehört, als mir angenehm war. Viel lieber möchte ich von dir erfahren, was du diese zehn Jahre bei Kalypso getrieben hast.«

»Sieben Jahre«, antwortete er.

»Gestern sagtest du zehn; du hast eben auf deinen Fahrten so viel lügen müssen, armer Freund, daß du auch jetzt die Wahrheit nicht mehr sagen kannst. Aber ob es nun zehn Jahre waren oder sieben, auf jeden Fall war es sehr lange, und du scheinst dich dort wohlgefühlt zu haben; also antworte auf meine Frage: was hast du diese lange Zeit getrieben?«

Jetzt hätte er ihr antworten müssen: »Weib, ich habe mich alle diese Jahre nach dir gesehnt; ich habe alle diese Jahre am Strande der fernen Insel gesessen, über das Meer geblickt und die Götter angefleht, daß ich nur noch einmal den Rauch deines Hauses sehen könnte.«

So hätte er antworten müssen. Aber als er sah, daß ihre Augen kalt und hart auf ihn gerichtet waren, verschwieg er es. Und nie hat sie von seinem großen Heimweh erfahren.

»Ich habe dort viel Wein getrunken«, antwortete er ruhig, »der Wein jener Inseln ist gut, wenn auch etwas sauer.«

* * *

Ein Jahr nach der Heimkehr des Odysseus starb sein Vater Laertes. Das war ihm ein schwerer Schlag, denn er liebte den Greis, der ihm ein Freund gewesen war in dem verödeten Hause.

Auch war Laertes der einzige gewesen, dem Odysseus von seinen Abenteuern erzählen konnte. Und ein farbiges Erzählen des Erlebten und des Erfundenen war ihm Notwendigkeit. Die alte Schaffnerin Eurykleia aber war taub, und Telemach hatte andere Sorgen. Deshalb hatte Odysseus gern im Vorwerk draußen bei Laertes gesessen und mit lebhaften Gebärden von Riesen und Prinzessinnen erzählt, wenn er auch bemerken konnte, daß der Greis, schon abgewandt und verklärt, kaum mehr hinhörte.

Als er tot war, setzte ihm Odysseus unten am Meeresstrand ein Grabmal in Form einer Pyramide aus geschliffenem Stein, an deren Eingang zwei bronzene Mädchen standen. Dort saß er viel allein, in sich zusammengesunken. Er war jetzt fünfzig Jahre alt, und das goldene Lockenhaar, das Göttinnen geliebt hatten, begann zu ergrauen.

Um diese Zeit verabschiedete sich Telemach von seinen Eltern. Das unruhige Blut des Vaters regte sich wohl in ihm, auch mochte ihm die unbehagliche Stimmung im Hause nicht gefallen, und so tat er sich mit phönizischen Schiffern zusammen, die auf der Fahrt in das östliche Meer die Insel angelaufen waren.

Und vom Dach des Hauses, von wo man jenseits der bewaldeten Hügel das Meer liegen sehen konnte, blickte Odysseus dem Schiffe nach. Es war Windstille, und tagelang lag das Schiff an derselben Stelle des Horizontes; dann, als die Meeresfläche sich vom frischen Winde dunkelte, spannte es leuchtende Segel auf und zog den Erlebnissen der Ferne zu.

* * *