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Auf Gut Glimmenäs lebt in einem ehemals herrschaftlichen Haus Florence Wendman, umgeben von tickenden alten Uhren. Ihre innere Uhr ist 1943 stehengeblieben, da war sie ein junges Mädchen.

 Um sie herum eine Gruppe junger Leute, die ihr zu Diensten sind. Als Sekretärin, als Köchin, als Hausmeister, als Chauffeur. Die alte Dame kann ihnen bieten, was sie anderswo nicht gefunden haben: Unterkunft und eine Arbeit, von der sie leben können. Die jungen Leute fühlen sich auf dem verfallenden Gutshof wohl. Der Weinkeller ist gefüllt, die Kleider aus den 40er Jahren, die sie zu tragen haben, sind schön, der Ort wirkt verzaubert. Sie bewirten Florence' Gäste, die in Wirklichkeit lange tot sind. Sie sind Schauspieler in einem Stück, das Florence' Leben war.

 Als aber ein weiterer Bekannter auf das Gut kommt, zeigt die Inszenierung Risse. Wer ist dieser junge Mann, der nach Florence' Testament fragt? Wie weit werden sie gehen, um ihr angenehmes, weltfremdes Leben gegen ihn zu verteidigen?

 

Marie Hermanson, geboren 1956, lebt in Göteborg. Sie erhielt für ihren Roman Die Schmetterlingsfrau (1995) den renommierten schwedischen August-Preis. Mit ihrem Roman Muschelstrand (1998) gelang ihr der internationale Durchbruch. Zuletzt erschienen die Romane Der Mann unter der Treppe (st 3875), Pilze für Madeleine (it 4327), Das unbeschriebene Blatt (it 4390) und Himmelstal (it 4241).

 

 

Marie Hermanson

Der unsichtbare Gast

Roman

Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer

Insel Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel Skymningslandet bei Albert Bonniers Förlag, Schweden.

© Marie Hermanson 2014

Published by arrangement with Nordin Agency, Malmö

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Jaroslaw Blaminsky, Trevillion Images, Brighton

 

eISBN 978-3-458-74234-0

www.insel-verlag.de

Teil 1

 

1

Das Haus verfällt. Die Blätter des Efeus bedecken die Fenster, in diesem grünen Licht sieht der große Salon aus wie ein Aquarium. Die kleinen Haftwurzeln an den Unterseiten der Stiele suchen, tastenden Tausendfüßlern gleich, vergeblich Halt auf den Scheiben.

Heute habe ich in der Halle eine Weinbergschnecke gesehen. Ich weiß nicht, wie sie hereingekommen ist, vielleicht war die Haustür eine Weile offen. Sie saß an der Wand, groß und hellgelb, sie hatte eine silbrige, schlingernde Spur hinterlassen.

Unerklärlicherweise bekam ich Angst. Als wäre dies das erste Zeichen, dass die Tiere und Pflanzen Einzug halten.

Ich kann schon vor mir sehen, wie Weinbergschnecken, Ringelnattern und die riesigen Raupen des Holzbohrers über die Samtsessel kriechen. Wie das Christophskraut durch die Ritzen im Boden dringt. Die Zweige der Eichen die Fensterscheiben eindrücken, ihre Eicheln auf die Perserteppiche fallen.

Aber das wird natürlich nicht geschehen. Das Haus wird verkauft und in eine Konferenzlocation oder ein romantisches Hotel umgebaut, und ich werde hinausgeworfen. Ich muss bis dahin etwas Neues finden.

»Man muss springen«, hatte Tessan gesagt. »Die Spalte wird größer. Man muss auf die richtige Seite springen, solange man noch kann.«

Tessan war gesprungen.

Für mich ist es zu spät, glaube ich.

2

»Schlimmer als so kann es nicht werden«, dachte ich, als ich in Zimmer 618 stand und das Waschbecken voller Scheiße war. Das Fenster konnte man nur einen Spaltbreit öffnen. Unten auf der Straße rauschte der Verkehr. »Jetzt bin ich ganz unten angekommen. Tiefer geht es nicht mehr.«

Es war ein fürchterlicher Tag, aber auch nicht fürchterlicher als sonst. Ich hatte rechtzeitig um 7:52 eingestempelt – die Stechuhr des Hotels hatte man listigerweise hinter den Umkleideräumen ganz am Ende des Personalflurs angebracht, das Hotel bezahlte uns nur für die effektive Arbeitszeit, nicht fürs Umziehen.

Die Hausdame gab mir die Liste mit den Zimmern, ich fuhr mit dem Lift ins angegebene Stockwerk, ging eilig in die Vorratskammer, um einen guten Wagen zu erwischen. Es gab nämlich nicht genug gute Putzwagen. Die Flusen der dicken Teppichböden verhedderten sich in den Rädern, und bei manchen Wagen drehte sich keines der vier Räder, man musste den Wagen schieben wie einen enorm schweren Schlitten.

Um die Wagen mussten nur die Aushilfskräfte kämpfen. Die fest angestellten Zimmermädchen hatten eigene, gut funktionierende Wagen, die sie sorgsam hüteten und mit Zetteln vollklebten, auf denen sie in einem gebrochenen, aber kraftvollen Schwedisch kundtaten, was den armen Teufeln widerfahren würde, die diesen Wagen auch nur berührten.

Es war um Ostern, Touristensaison, in einigen Zimmern standen Kinderbetten, die man zusammenklappen und in eine Abstellkammer am Ende des Flurs bringen musste.

Außerdem machten Touristen besonders gerne Dreck, nur so bekamen sie das richtige Urlaubsgefühl, sie streuten Chips auf den Boden und legten sich in die Badewanne, statt zu duschen. Bei uns Zimmermädchen waren sie äußerst unbeliebt, wir sehnten uns nach den ruhigen Geschäftsleuten der Wintersaison, die kamen und gingen, ohne groß Spuren zu hinterlassen.

Ich bugsierte also das Kinderbett aus dem Zimmer und da löste sich der Stift, mit dem man die Tür offen hielt. Als ich ihn wieder hineindrücken wollte, schnappte die Feder auf und ich schrie vor Schmerz. Diese Stifte waren lebensgefährlich. Man konnte sofort sehen, welche Zimmermädchen neu waren: Sie trugen alle das Stigma am Daumen, das von diesem Stift herrührte. Nach einer Weile lernt man, damit umzugehen, aber jetzt war ich so gestresst und hielt das Kinderbett so ungeschickt, dass ich mich einklemmte.

Ich hatte der Hausdame das Problem mit den Türaufstellern geschildert. Und auch das mit den kaputten Putzwagen und den Gesundheitsrisiken aufgrund von schädlicher Haltung wegen zu niedriger Betten, zu schwerer Matratzen und zu enger Räume. Ihre Antwort war immer die gleiche: »Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt.«

Unsere Gewerkschaftsvertreterin war eine kleine, rundliche Kolumbianerin, die ein paar wenige Worte schwedisch konnte. Wenn man auf Mängel im Arbeitsschutz hinwies, dann lachte sie nur, zeigte auf ihren Rücken und fragte: »Weh?« Dann holte sie eine Packung Tramadol aus der Tasche, drückte eine Tablette raus und gab sie einem.

Alle im Hotel nahmen Tabletten – Schmerztabletten, Schlaftabletten, Antidepressiva – und in den Pausen diskutierten wir die Vor- und Nachteile der verschiedenen Präparate und verkauften uns gegenseitig Tabletten.

Ich kämpfte mich durch meinen Arbeitstag. Rein ins Zimmer, Betten machen, staubsaugen und das Badezimmer putzen, alles in rasendem Tempo. Der Rücken schmerzte von all den falschen Bewegungen, die man machen musste, und immer wieder ärgerte ich mich über die gefältelten Lampenschirme und kompliziert aufgehängten Vorhänge, die reinsten Staubfänger. Unter hygienischen Gesichtspunkten ein Wahnsinn. Matratzen, die man nicht abwischen kann. Teppichböden, die man nie richtig saubermachen kann. Schmutz, Schmutz und noch mal Schmutz, dafür bezahlt man in einem Fünf-Sterne-Hotel. (Ein kleiner Tipp fürs nächste Mal: Verwenden Sie auf keinen Fall das Zahnputzglas! Die sind nicht so sauber, wie Sie glauben.)

Als ich endlich fertig war mit meinen neunzehn Zimmern, bugsierte ich den bremsenden Putzwagen in die Kammer, fuhr mit dem Lift in das unterirdische, fensterlose Stockwerk, wo die Personalräume waren, und lief durch den Flur zu den Umkleideräumen. Hinter mir hörte ich Nasser, den selbsternannten Chef des Zimmerservice, rufen:

»Gull-Britt! Wo läufst du hin, Gull-Britt?«

Ich heiße nicht Gull-Britt. Ich heiße Martina. Aber für uns Aushilfen werden nicht jedes Mal neue Namensschilder gedruckt, wir wechseln zu oft. Wir bekommen Namensschilder von ausgeschiedenen Angestellten. Man könnte meinen, es wäre besser, überhaupt kein Namensschild zu tragen, aber das verstößt gegen die Hausregeln des Hotels. Alle im Hotel müssen Namensschilder tragen, weil die Gäste uns »so als Individuen betrachten«. Man bekommt ein Namensschild, das zur ethnischen Zugehörigkeit passt. Es gab Schilder mit iranischen, arabischen, spanischen, thailändischen Namen, und auch ein paar schwedischen. Ich war also Gull-Britt.

Am Anfang fand ich es kränkend. Aber nach einer Weile gefiel mir das mit dem Arbeitsnamen ganz gut. Gull-Britt war die Loserin, die ausgebeutet wurde und den Rücken krumm machte. Martina wartete vor dem Hotel, respektiert und unantastbar, ein begabtes Mädchen mit tausend Möglichkeiten.

»Gull-Britt! Es gibt noch Zimmer«, rief Nasser.

Das war das Schlimmste an dem Job. Dass man nie wusste, wann sie einen gehen lassen würden.

Unsere Arbeitszeit war von acht bis fünf. Aber wenn es noch nicht aufgeräumte Zimmer gab, konnten sie uns festhalten, bis alles fertig war.

Natürlich war es nicht erlaubt, uns jeden Tag zu Überstunden zu zwingen. Wir sollten eigentlich auch keine neunzehn Zimmer pro Tag putzen, sondern siebzehn, so stand es im Vertrag, ich hatte nachgeschaut. Aber wenn man protestierte, war Nassers Antwort immer die gleiche:

»Willst du nicht arbeiten? Bitte sehr, und tschüs!«

Ja, wie gerne hätte ich tschüs gesagt zu dem kleinen Sklaventreiber Nasser und dem ekligen Hotel. Aber ich brauchte die Arbeit. Für eine Zweiundzwanzigjährige wie mich, ohne Ausbildung und nützliche Kontakte, gab es eigentlich nur drei Jobs: Putzfrau, Telefonverkäuferin oder persönliche Assistentin. Als Aushilfe natürlich. Eine richtige Anstellung mit festem Monatslohn, Urlaub und Krankengeld gab es nicht einmal in meinen Träumen. Menschen wie wir wurden genommen, wenn kurzfristig Arbeitskräfte fehlten, wir mussten arbeiten bis zum Umfallen und wurden rausgeworfen, wenn wir nicht mehr gebraucht wurden. Dann durften wir voller Angst neben unserem Handy auf den nächsten Auftrag warten.

»Ich habe den Wagen schon weggestellt«, sagte ich.

Nasser hob die Augenbraue und machte eine Geste des gespielten Erstaunens.

»Warum? Warum stellst du den Wagen weg? Was ist los? Es gibt noch Zimmer.«

Warum putzt du sie nicht selbst, wollte ich fragen. Nasser hatte den gleichen Job wie wir anderen, aber Putzen war wohl unter seiner männlichen Würde. Männer wurden meistens zum Spülen eingeteilt – irgendwie war es männlicher zu spülen als zu putzen –, aber im Moment gab es keine freien Jobs in der Küche und er war deshalb beim Putzen gelandet. Um seine männliche Selbstachtung zu retten, war es ihm gelungen, eine Art Deal mit der Hausdame auszuhandeln, er durfte das Kommando übernehmen und musste nur ganz wenig putzen.

»Keine Überstunden heute«, sagte ich und fügte mit lauter Stimme hinzu: »Unmöglich!«

Ich hatte mir die inoffizielle Umgangssprache im Hotel angewöhnt, eine Art Pidginschwedisch, das ich inzwischen erschreckend gut beherrschte und das nötig war, wenn man sich verständigen wollte. Kurze, unvollständige Sätze und praktische Vereinfachungen. Die meisten Gegenstände hießen »das da«. Seine Ansicht drückte man aus mit »gut« oder »nicht gut«. Logische Argumentationen kamen nicht vor, ich hatte es versucht, aber es verwirrte die Leute nur. Wenn man deutlich machen wollte, dass das Gesagte wichtig war, dann sprach man lauter oder schrie einfach.

»Unmöglich!«, brüllte ich noch einmal.

»Willst du nicht arbeiten, Gull-Britt? Bitte sehr, und tschüs«, antwortete Nasser und zeigte auf das Ende des Flurs.

Ich stieg also wieder in den Lift nach oben, holte den Wagen und machte weiter. Weitere fünf Zimmer, alle schmutzig und anstrengend.

Im nächsten Zimmer passierte es. Ich roch es schon, als ich das Zimmer betrat. Die anderen Zimmermädchen hatten erzählt, dass es solche Gäste gab, aber mir war es noch nie passiert. Hin und wieder hatte ich Sperma vom Fernseher abwischen müssen, aber es war das erste Mal, dass jemand Scheiße im Waschbecken hinterlassen hatte. Ein Geschenk von einem Fremden, der mir sagen wollte, was ich wert war.

Als es einmal einem anderen Zimmermädchen passiert war, wollte sie von der Kollegin an der Rezeption wissen, wer der Gast war, der in diesem Zimmer gewohnt hatte. Aber die Kollegin sagte, sie könne ihren Job verlieren, wenn sie die Information weitergab.

Ich verließ das Badezimmer, setzte mich auf den Boden vor dem großen Spiegel und weinte. Vor Müdigkeit und Erniedrigung. Mein Rücken tat weh und die Verletzung am Daumen brannte höllisch. Ich weiß nicht, wie lange ich da saß, aber irgendwann stand ich auf, hielt die Luft an und ging hinein.

Ich zog die Gummihandschuhe an und arbeitete weiter.

»Schlimmer kann es nicht mehr werden«, dachte ich. »Schlimmer kann es nicht mehr werden, und das ist immerhin ein Trost.«

Wie sehr ich mich irrte.

Am Abend saß ich in meiner gemütlichen Zweizimmerwohnung, die ich unter der Hand gemietet hatte, sie war mein fester Punkt in einer chaotischen Welt, ich hatte sie mit Möbeln von IKEA und vom Sperrmüll eingerichtet. Ich hatte gerade meine Wunde an der Hand aus Angst vor eventuellen Kolibakterien desinfiziert, mir eine Tasse tröstenden Chai-Tee gemacht und die Füße in ein Fußbad gestellt, als das Telefon klingelte.

Es war die Frau, die mir die Wohnung zur Untermiete überlassen hatte.

»Du kannst dir vielleicht denken, warum ich anrufe«, sagte sie mit schwacher Stimme.

Ich konnte es mir nicht denken. Ich wusste, dass sie mit einem Juristen in ein neu gebautes Haus gezogen war und ein Kind erwartete.

»Ich brauche die Wohnung. Es tut mir leid, wenn du deswegen Probleme bekommst.«

Sie flüsterte beinahe, ich erkannte ihre Stimme fast nicht wieder.

»Wir hatten ein Jahr ausgemacht«, sagte ich.

Ich versuchte ruhig zu bleiben. Wir hatten natürlich nie einen Vertrag unterschrieben.

»Ich weiß. Aber ich brauche sie.«

»Warum denn. Ihr habt doch ein Haus.«

»Was heißt hier ›ihr‹! Er hat eine andere.«

»Aber du bist doch schwanger!«

»Eben.« Ihre Stimme war auf einmal hart und bestimmt. »Ich brauche die Wohnung wirklich. Im Moment schlafe ich auf dem Sofa einer Freundin. Es wäre gut, wenn du dir so schnell wie möglich etwas Neues suchen würdest.«

Ich war also obdachlos.

Mir war, als würde ich fallen. Ich hatte an diesem schrecklichen Tag schon mehrmals das Gefühl gehabt, am Boden angekommen zu sein. Aber der Boden verschwand immer wieder und jetzt stürzte ich ins Bodenlose.

Ich saß wie gelähmt da, bis das Fußbad eiskalt war. Nach einer Weile merkte ich, dass ich heulte: »Mammmaaa!«

Wie ein kleines Kind. Ich war ja nicht allein auf der Welt. Zum Glück hatte ich eine Mutter und einen Vater und ein sicheres Zuhause, in dem ich immer willkommen war.

3

Zwei Jahre zuvor hatte ich das Klinkerhaus und den öden Ort im Mälartal verlassen, in der Überzeugung, nie wieder zurückzukommen. Jetzt war ich wieder da.

Meine Mutter stand in der Küche und schnitt rote Zwiebeln, als ich ankam. Sie war erstaunt, als ich eintrat und meinen Rucksack auf den Boden warf.

»Martina! Was für eine Überraschung!«

»Ich habe gestern und vorgestern versucht, euch anzurufen, aber es hat niemand geantwortet.«

»Oh, wir waren in Paris.«

»In Paris

In meiner Kindheit sind wir fast nie ins Ausland gefahren, aber seit ich von zu Hause ausgezogen war, sind meine Eltern in der Toskana, in Barcelona, Budapest und Thailand gewesen. Und jetzt also Paris. Es war inzwischen so normal für sie, dass sie es mir nicht einmal mehr mitteilten.

»Nur ein verlängertes Wochenende. Wir dachten, wir müssten mal wieder weg.«

»Ihr hättet es mir sagen können. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, als niemand antwortete. Ihr hättest ja hier liegen können, mit gebrochenem Oberschenkelhals oder sonst was«, sagte ich aufgeregt.

»Lieb von dir, dass du dich um deine alten Eltern sorgst«, sagte Mutter und streute die Zwiebelringe über den Salat.

(Sie war sechsundvierzig, sah aus wie fünfunddreißig, trainierte im Sportstudio und lief Marathon.) »Aber zu dieser Reise haben wir uns sehr kurzfristig entschlossen. Ich glaube nicht, dass wir sie schon geplant hatten, als wir zuletzt telefoniert haben.«

Ich warf einen Blick auf die große Keramikschale mit griechischem Salat, die neben ihr auf der Arbeitsfläche stand.

»Esst ihr bald?«, fragte ich.

»Ein paar Kolleginnen aus der Schule kommen zu mir. Wir gehören zu einer Arbeitsgruppe und wollen ein bisschen reden.«

»Macht ihr das in der Freizeit? Das könnt ihr doch in der Schule machen.«

»Es ist netter hier.«

Ich sah durch die Tür ins Wohnzimmer, wo der Tisch mit der Marimekkodecke und den mundgeblasenen Weingläsern gedeckt war.

»Trinkt ihr Wein beim Arbeiten?«, rief ich aus.

Mutter lachte.

»Wir wollen nur ein bisschen reden. Du kannst noch einen Teller dazustellen und mit uns essen. Es wird dich schnell langweilen, wenn wir über die Schule reden.«

»Danke, ich esse lieber hier in der Küche«, sagte ich.

»Möchtest du ein Glas Wein?«

»Nein danke.«

Meine Mutter unterrichtete in dem Gymnasium, auf das ich selbst einmal gegangen war. Ich hatte überhaupt keine Lust, meine ehemaligen Lehrerinnen zu treffen und mich fragen zu lassen, was ich denn so mache.

Als die Gäste kamen, saß ich allein in der Küche und aß griechischen Salat mit Baguette. Ich machte die Wohnzimmertür einen kleinen Spalt breit auf. Nein, zum Glück kannte ich keine der Lehrerinnen. Sie sprachen munter miteinander und sahen zufrieden aus, dazu hatten sie auch allen Grund, mit ihren festen Anstellungen und Gehältern, die jeden Monat auf dem Konto eingingen.

Es war irgendwie total verkehrt. Ich war jung, und ich sollte Wein trinken und lachen. Ich sollte von meinen Reisen in die Welt zurückkommen und meinen erstaunten Eltern von meinen Abenteuern berichten.

Aber ich konnte nirgendwohin reisen. Mein Lohn reichte im besten Fall für die Miete und fürs Essen. In manchen Monaten hatte ich so wenige Arbeitsstunden, dass meine Eltern mir helfen mussten. Das höchste der Gefühle in Bezug auf Reisen war ein Ausflug nach Saltholmen oder in den Schlosspark, das Handy immer auf Empfang. Ich konnte jederzeit eine SMS-Nachricht bekommen, dass ich ins Hotel kommen und arbeiten sollte. Wenn ich ablehnte, bekam ich keine »Angebote« mehr. »Willst du nicht arbeiten? Bitte schön, und tschüs.«

Ich hatte meiner Mutter noch nichts von meiner Situation erzählt. Dass ich aus der Wohnung rausgeflogen war und für eine Weile wieder hierher ziehen musste. Das wollte ich erzählen, wenn die Kolleginnen gegangen und mein Vater zu Hause war.

Ich stellte den Teller in die Spülmaschine, nahm meinen Rucksack und wollte in mein Zimmer gehen. Um dorthin zu kommen, musste ich durchs Wohnzimmer. Wurde von mir erwartet, dass ich allen die Hand gab? Nein, das würde ich bestimmt nicht machen. Ich entschied mich für ein diskretes Hallo im Vorbeigehen.

Als ich ins Wohnzimmer kam, erzählte jemand gerade etwas Lustiges und alle lachten so laut, dass sie mich gar nicht bemerkten.

Ich wollte leise und unbemerkt zu meinem Zimmer schleichen, aber etwas stimmte da nicht: Die Tür war weg. Mein ganzes Zimmer war weg.

Ich kann kaum beschreiben, was ich fühlte, als ich da im Wohnzimmer stand und auf eine glatte Wand starrte. Totale Verwirrung, könnte man sagen. Sogar die Wand war merkwürdig, mit ihrer fremden Tapete.

Ich schaute auf die Wand, dann zu meiner Mutter, die zwischen den anderen Lehrerinnen saß. Sie waren gerade mit dem Essen fertig und hatten ihre Unterlagen hervorgeholt, für sie schien alles ganz normal zu sein.

»Wo ist mein Zimmer?«, rief ich.

Alle drehten sich um. Meine Mutter stand auf und kam auf mich zu.

»Aber Martina, wir haben doch umgebaut. Bist du so lange nicht mehr hier gewesen?«

Allmählich fiel mir ein, dass ich etwas von Umbau gehört hatte und von einem Schreiner, mit dem sie Probleme hatten. Ich hatte nicht so genau zugehört.

»Aber warum?«, fragte ich verblüfft.

»Warum? Tja. ›Hier reißt man ein, um Luft und Licht zu schaffen. Ist das vielleicht nicht Grund genug?‹«, sagte meine Mutter in dem ironisch feierlichen Ton, den sie annahm, wenn sie etwas zitierte. Sie unterrichtet Schwedisch und Englisch und hat für jede Gelegenheit ein passendes Zitat aus der Literatur parat.

»Strindberg. ›Das Esplanadensystem‹«, murmelte ich mechanisch.

Die Lehrerinnen lachten.

»Genau«, sagte Mutter und zeigte dorthin, wo früher die Wand zu meinem Zimmer gewesen war. Die Wand, die sie entfernt hatten, weil meine Mutter ein größeres Wohnzimmer wollte. Ich weiß noch, dass sie immer gejammert hat, das Wohnzimmer wäre so klein. Jetzt hatte sie Platz für eine Essecke und eine Sofagruppe. Sie hatten auch neue Fenster eingebaut, eine verglaste Wand zum Garten war entstanden, und im Sommer würden sie einen Sonnenplatz bauen. Hier folgten die Veränderungen offensichtlich Schlag auf Schlag.

Aber wie konnte das so schnell gehen? Als ich zuletzt hier war, hatte alles noch normal ausgesehen.

Wann war ich zuletzt hier? An Weihnachten natürlich, und danach? Ich überlegte. Ich war seit Weihnachten nicht hier gewesen. Jetzt war es April.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Mutter.

Jetzt sah ich, dass da ein neues Sofa in Tannengrün stand und ein geblümter Sessel, den ich auch noch nie gesehen hatte, und dass das Zimmer tatsächlich viel heller war.

»Du vermisst doch wohl dein altes Zimmer nicht? Du willst doch nicht hierher zurückkommen, oder?«, sagte meine Mutter lächelnd.

Ich lächelte sie mit zusammengekniffenen Lippen an und versuchte vernünftige, erwachsene Gedanken zu denken:

Es kommt der Tag, da hat man keinen Zugang mehr zum Zimmer der Kindheit. Zu diesem wunderbaren, sorgenfreien Platz voller Spiele und Vergnügungen und bedingungsloser Geborgenheit. Eines Tages gibt es das nicht mehr, das wusste ich doch.

Ich hatte nur nicht gedacht, dass es so konkret sein würde. Dass es im wahrsten Sinn des Wortes keine Tür mehr zu diesem Zimmer gab.

Ich war überzeugt, dass meine Eltern mich aufnehmen würden, wenn ich ihnen von meinem Problem erzählte. Vater hatte ein Schlafsofa in seinem Arbeitszimmer, und wenn wir Übernachtungsgäste hatten, schliefen die dort. Ich sah vor mir, wie ich da im Bett lag, während mein Vater noch an seinem Schreibtisch saß und Schularbeiten korrigierte. »Stört es dich, wenn ich die Schreibtischlampe anhabe«, würde er freundlich fragen. »Nein, nein, Papa, das macht gar nichts«, würde ich antworten und mir die Decke über den Kopf ziehen.

Ich musste eine andere Lösung finden.

»Es ist sehr schön geworden«, sagte ich lobend. »Aber jetzt muss ich gehen.«

»Schon? Willst du nicht warten, bis Papa kommt?«

»Beim nächsten Mal. Ich gehe heute Abend auf ein Fest zu einer alten Schulfreundin. Deswegen bin ich hier. Ich wollte nur reinschauen, um zu sehen, ob mit euch alles okay ist.«

»Mach dir keine Sorgen. Uns geht es gut«, sagte Mutter.

»Grüß Papa.«

Ich umarmte sie, und sie setzte sich wieder zu ihren Kolleginnen.

Auf dem Weg durch die Küche schenkte ich mir noch ein Glas Wein ein. Ich leerte es schnell, nahm meinen Rucksack und ging.

4

Ich hatte es so eilig gehabt, mein verändertes Elternhaus zu verlassen, dass ich vergessen hatte, nach den Abfahrtszeiten des Busses zu schauen. An der Busstation stellte ich fest, dass ich zwei Stunden warten musste.

Ich ging in ein Café und setzte mich mit einer Tasse lauwarmem Kaffee und einem in Plastik verschweißten Gebäck ans Fenster. Außer einem älteren Mann, der aussah, als stamme er aus einem Balkanland, war niemand im Café. Er rührte mechanisch in seiner Tasse und starrte vor sich hin. Ich hatte gerade begonnen, in einem fleckigen Exemplar der Tageszeitung zu blättern, als ich aus dem Fenster sah und ein Mädchen bemerkte, das über die Straße kam und die Tür eines Autos öffnete, das direkt vor dem Café geparkt war. Sie bewegte sich schnell und ungeduldig, aus ihren hochgesteckten Haaren lösten sich dunkle Locken, die wie Regen über ihr hübsches Gesicht fielen.

Tessan! Es war wirklich Tessan. Ich klopfte fest an die Fensterscheibe und winkte ihr zu. Sie war gerade in ihr Auto gestiegen und drehte sich jetzt um, aber dann erkannte sie mich, lachte und stieg wieder aus.

Im nächsten Moment war sie im Café. Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Darunter trug sie eine Bluse und einen Rock, ordentlich, unmodern, und sie sah darin sehr anders aus als die Tessan von früher.

Wie wunderbar, sie gerade in diesem Moment zu sehen. Ich hatte vergessen, wie sie war. Irgendwie elektrisch. Knisternd, leuchtend und ein kleines bisschen gefährlich.

Wir hatten uns im Gymnasium kennengelernt. Ich war ein ordentliches Mädchen mit guten Noten, machte jeden Abend meine Hausaufgaben, ging nie aus. Und dann kam Tessan mitten im Schuljahr in unsere Klasse. Sie stellte mein ganzes Leben auf den Kopf. Mit ihr zusammen ging ich auf Feste, ich lernte Jungs kennen, fuhr zu Musikfestivals. Die Schule kam jetzt erst an zweiter Stelle, und meine Zeugnisnoten waren entsprechend. Aber wir hatten Spaß.

Ich hatte es auch Tessan zu verdanken, dass ich nach dem Gymnasium nach Göteborg umzog. Sie hatte im Sommer in einem Restaurant in Smögen als Bedienung gearbeitet, und als es bei Saisonende schloss, folgte sie dem Besitzer in sein zweites Restaurant nach Göteborg. Der Job als Bedienung gefiel ihr gut. Sie sah gut aus, war schnell im Kopf und taff, und sie bekam natürlich jede Menge Trinkgeld. Sie wohnte zusammen mit einer anderen Bedienung in einer großen Wohnung und sie meinte, ich könne zu ihnen ziehen.

Aber nur wenige Monate nachdem ich dorthin gezogen war, lernte Tessan einen »erdnahen« jungen Mann kennen, der auf einem Hof außerhalb von Enköping lebte. Sie war ganz verrückt nach ihm und sagte, dass sie das Leben im Restaurant und in Göteborg satthabe. Sie wollte auf dem Land leben und ein Pferd haben. Kurz darauf verließ sie uns und zog mit ihm zusammen.

Ich war ziemlich enttäuscht von ihr. Ja, ich war wirklich sehr traurig. Während der Zeit auf dem Gymnasium hatten wir oft davon gesprochen, dass wir beide zusammen in einer Wohnung in New York leben würden. Das waren natürlich nur Träume, aber Göteborg klang realistisch, und schließlich hatte sie mich überredet, dorthin zu ziehen. (Um weniger Miete für die teure Wohnung bezahlen zu müssen, dachte ich hinterher.) Und dann verschwand sie, kaum dass ich angekommen war. Ich fühlte mich von ihr hintergangen. Alles wurde grau und traurig, nachdem sie ausgezogen war. Mit der anderen Mitbewohnerin verstand ich mich nicht besonders, ich war also froh, dass ich in die kleine Untermietwohnung in Majorna ziehen konnte.

Seit Tessan aus Göteborg weggezogen war, hatten wir kaum Kontakt gehabt. Am Anfang telefonierten wir noch miteinander, aber dann funktionierte ihre Handynummer nicht mehr, und eine neue hatte ich nicht.

Aber nun stand sie hier, das muffige Café wurde hell, die Luft um sie herum vibrierte. Ich war auf einmal auf unfassbar alberne Weise glücklich.

Sie begrüßte mich mit einer schnellen und unsentimentalen Umarmung, ungefähr so, als hätten wir uns erst gestern gesehen, sie holte sich eine Tasse Kaffee und ein Schokotörtchen und setzte sich mir gegenüber. Wir erzählten uns, was wir in der letzten Zeit erlebt hatten. Ich fasste kurz meine triste berufliche Karriere als Aushilfskraft zusammen und erzählte ihr, dass ich meine Wohnung verloren hatte. Und von der schmachvollen Rückkehr in mein Elternhaus, wo es mein Zimmer nicht mehr gab.

»Spurlos verschwunden«, sagte ich. »Es war einfach weg. Als ob ich nie da gewohnt hätte. Sie haben mich aus ihrem Leben ausradiert.«

Ich sah meine Mutter vor mir, wie sie am Whiteboard in ihrem Klassenzimmer stand und wie verrückt mit dem Radierer rieb, die ganze Geschichte rührte mich so sehr, dass ich beinahe weinen musste.

Tessan wollte mich damit trösten, dass auch ihr Leben kein Tanz auf Rosen gewesen war. Der erdverbundene Typ aus Enköping interessierte sich, wie sich bald herausstellte, viel mehr für seine alten Volvos als für Tessan. Und der Stall, in dem sie ihr Reitpferd unterstellen wollte, war voller alter Schrotthaufen, die repariert werden sollten, wenn es die Zeit und die Gelegenheit erlaubten. Das einzig richtig Positive an ihm war, dass er ihr Silikonbrüste bezahlt und das Autofahren beigebracht hatte. Mit einem Führerschein und neuen Brüsten – aber ohne den Typ aus Enköping – suchte Tessan nach neuen Herausforderungen. Sie hatte eine Arbeit in der Altenpflege gefunden, und ihre Mutter hatte Geld zugeschossen, damit sie sich den kleinen Toyota kaufen konnte, der nun auf der Straße vor dem Café parkte und auf den sie maßlos stolz war.

»Es ist bestimmt praktisch, ein eigenes Auto zu haben, wenn du zu den alten Leuten fahren musst«, sagte ich.

Sie nickte und zerdrückte ihr Schokotörtchen gründlich mit dem Teelöffel, wie sie es früher schon in der Schulcafeteria gemacht hatte.

»Auf dem Land ist ein Auto ein absolutes Muss. Aber ich arbeite nicht mehr in der Altenpflege. Ich habe einen neuen Job.«

»Was für einen Job?«

»Eine ganz besondere Arbeit.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Die beste Arbeit, die ich je gehabt habe. Besser bezahlt als die Altenpflege und kein Windelnwechseln, kein Stress.«

Langsam und genussvoll lutschte sie an einem Löffel Schokoladenbrei.

»Es ist natürlich schwierig«, fügte sie hinzu.

Ich wartete, dass sie mehr erzählen würde, aber das hatte sie offenbar nicht vor.

»Wo wohnst du denn? Hier im Ort?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe hier nur meine Mutter besucht. Ich wohne jetzt auf dem Land. Auf meiner Arbeitsstelle.«

Ich wollte natürlich mehr hören, aber sie lächelte nur.

Einen schwindelerregenden Moment lang dachte ich, es handele sich um Prostitution. Als wir nämlich von unseren Traumberufen phantasiert hatten, sagte Tessan immer, sie wolle die Luxushure eines stinkreichen Mannes werden, der ihr eine Wohnung und eine Kreditkarte spendierte. Sie war nie ausschweifend erotisch gewesen, ihre Sicht auf die Liebe war immer eher pragmatisch als romantisch gewesen, und sie besaß wirklich die körperlichen Voraussetzungen für den Job. Aber sie besaß auch einen Stolz und einen Trotz, der überhaupt nicht zu diesem Bild passte.

Sie schaute auf ihr Handy.

»Oh je, ist es schon so spät! Ich muss jetzt nach Hause fahren. Willst du mitkommen und sehen, wie ich wohne?«

»Wenn du mich hinterher wieder hierher zurückfährst oder an einen Bahnhof bringst. Ich muss heute Abend nach Göteborg«, sagte ich.

»Na klar. Oder willst du über Nacht bleiben? Wir haben jede Menge Platz.«

Ich überlegte, was sie wohl mit »wir« meinte, aber ich fragte nicht. Da ich ja geplant hatte, bei meinen Eltern zu übernachten, hatte ich mein Waschzeug im Rucksack.

»Okay«, sagte ich. »Aber zieh mich nicht in deinen Job rein.«

Ich wollte an keinerlei Orgien teilnehmen.

Tessan lachte.

»Ich werde dich in gar nichts reinziehen, Martina, versprochen«, sagte sie.

Sie meinte es bestimmt auch so. Denn damals konnte noch niemand ahnen, wie sehr ich mich reinziehen lassen würde.

5

Wir fuhren mit offenen Fenstern. Es roch nach feuchter Erde und etwas anderem, Kraftvollem, Berauschendem, das mich an altertümliche Fruchtbarkeitsriten denken ließ. Das junge Grün war fast durchsichtig, wie dünne hellgrüne Schleier, die vom Himmel herabgeschwebt und auf den Äckern gelandet waren. Ein Windhauch und sie wären wieder verschwunden, so flüchtig schienen sie.

Ich versuchte, aus Tessan herauszubekommen, was sie arbeitete, aber sie sagte nur »du wirst schon sehen«, und dann sprach sie wieder auf die ihr eigene fahrige Art und Weise über alles Mögliche. Sie hat eine ganz besondere Stimme, die mich schon immer fasziniert hat: dumpf und ein bisschen heiser. Wie dunkles, blankes Eis, das langsam reißt.

Es begann zu dämmern, als Tessan in eine sanft ansteigende Allee mit großen, unbeschnittenen Eschen abbog. Eine Allee aus Eschen ist ziemlich ungewöhnlich, es sind meistens Pappeln, Weiden oder Linden. Die Rinde war mit dickem grauem Moos bewachsen, die Zweige streckten sich über die Straße.

Die Allee endete an einem herrschaftlichen Gebäude.

Tessan parkte auf dem Kiesplatz, schaltete den Motor aus und schaute mich an, neugierig, wie ich reagieren würde.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte ich. »Wohnst du hier?«

Sie hielt mein Staunen für einen Ausdruck der Bewunderung und freute sich.

»Es heißt Glimmenäs«, sagte sie. »Jetzt gehen wir rein und sagen guten Tag.«

Sie musterte meine Jeans mit einem kritischen Blick und fügte hinzu:

»Vielleicht solltest du dich erst umziehen. Schau nicht so ängstlich. Da drinnen gibt es Kleider.«

Ich hatte noch ein paar Fragen stellen wollen, aber Tessan war schon ausgestiegen und hatte die Autotür zugeschlagen.

Ich folgte ihr vorbei am feudalen Haupteingang über den knirschenden Kies zu einer Tür an der Schmalseite des Hauses. Efeu kletterte über alle Mauern und verbarg fast ganz den abblätternden Putz.

Tessan schloss auf, wir traten in einen kleinen Flur mit braunen Blumentapeten. Es roch wie in einer alten Schule oder einer Jugendherberge; eine muffige Mischung aus alten Essensgerüchen, Reinigungsmitteln und feuchten Wänden.

Ich wurde ein wenig unruhig. Hatte Tessan wirklich das Recht, hier zu sein? Was war das für ein Haus? Ich erinnerte mich an all die verrückten Dinge, die wir zusammen unternommen hatten. Oft wenn wir etwas getrunken hatten. Wir mopsten Äpfel, klauten Schminksachen und ärgerten Leute, die wir nicht mochten. Oder eher, die Tessan nicht mochte. Das meiste war ziemlich harmlos, manches war ernster und hätte juristische Nachspiele haben können, wenn wir erwischt worden wären. Im Nachhinein dachte ich an diese Zeit mit einer Mischung aus Scham über das, was wir angestellt, und Erleichterung, dass wir es geschafft hatten. Aber als wir es machten, war es einfach lustig und spannend. Als würde man in einem Film mitspielen.

Als wir in dem großen fremden Haus durch den Flur gingen, hatte ich wieder dieses Filmgefühl. Mein Herz schlug etwas schneller, meine Sinne waren wachsam.

Wir gingen eine Treppe hinauf und kamen in einen weiteren Flur, ganz anders als der erste. Er war heller und höher, ein Teppich bedeckte den Boden.

Tessan öffnete eine der Türen. Ein starker Geruch von Mottenpulver schlug uns entgegen. Hier drinnen hingen Kleider in langen Reihen auf Kleiderständern, die meisten waren in große Hüllen verpackt. Auf dem ersten Ständer hingen ein paar unverpackte: sieben, acht Kleider und ein paar Röcke und Blusen. Sie sahen aus, als stammten sie aus den 1930er oder 40er Jahren. Ganz hinten stand ein großer, dreiteiliger Spiegel.

Tessan nahm ein dunkelgrünes Kostüm herunter, es bestand aus einem schmalen Rock, einer Jacke mit geraden Schultern und einem Gürtel in Taillenhöhe.

Sie drehte meine Nackenhaare zu einer Rolle, steckte sie dann mit Haarnadeln fest und nickte meinem Spiegelbild anerkennend zu.

Dann richtete sie ihre hochgesteckten Haare und malte ihre fülligen Lippen mit einem mattroten Lippenstift an. Sie stellte sich neben mich und wir betrachteten uns im Spiegel. Zwei schmucke junge Damen aus einer anderen Zeit, eine dunkel, eine blond.

»Sind wir nicht reizend«, flüsterte Tessan.

Plötzlich durchfuhr mich eine Unruhe.

»Tessan«, sagte ich, »was haben wir vor? Wen werden wir treffen?«