Andrea Brown

Sex oder Liebe?

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

© 2004 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-42177-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-20884-0

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Sarah, Dienstag 23 Uhr 42

»Willst du mich heiraten?«

Jetzt ist es passiert. Kein Wunder bei meinem Lebenswandel!

Irgendwann versagt der Körper, dann brennen die Synapsen im Gehirn durch und man kriegt einen Gehörsturz. Oder einen Heiratsantrag.

Oder man bildet sich einen Heiratsantrag ein, weil genau die Synapse durchgekokelt ist, die Wunsch und Wirklichkeit voneinander trennen sollte. Ich wünsche mir schon seit Ewigkeiten einen Heiratsantrag. Heiraten steht auf meiner To-Do-Liste, seit ich vier bin und meine Barbie ihr erstes Hochzeitskleid bekam. Später bekam sie noch andere, was insofern passte, als Heiraten eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war. Meine Barbie heiratete am laufenden Band. Wie Jennifer Lopez, und so was prägt. Heiraten war auf meiner Liste, wie später Italienisch lernen oder endlich mal ins Fitnessstudio gehen, statt nur dafür zu bezahlen, lauter Dinge, die ich irgendwann in Angriff nehmen werde, und es ist sowieso ein Rätsel, dass ich noch nicht verheiratet bin, obwohl ich eine verhältnismäßig mackenfreie Frau mit guter Figur, eigenem Einkommen und schon drei Jahre mit dem Kerl zusammen bin?

Aber Tobias ist kein Mann, der Heiratsanträge macht.

Also doch eine durchgekokelte Synapse! Muss gerade eben passiert sein, denn vorhin hatte ich noch den vollen Bezug zur Realität. Ich habe sehr genau mitbekommen, wie die Frau am Nachbartisch ihren Kerl angemotzt hat, weil er wollte, dass sie die Restaurantrechnung übernimmt. Voller Empörung hat sie ihre dauergewellte Mähne geschüttelt und gezischt, dass sie keine Lust hat, ihre kostbare Lebenszeit auf einen Geizhals zu verschwenden, denn Geiz fängt beim Geld an und hört bei den Gefühlen auf. Ich hatte der Dauerwelle insgeheim recht gegeben und innerlich drei Kreuze geschlagen, dass Tobias kein Geizhals ist. Tobias ist der perfekte Mann, für mich jedenfalls.

Vorsichtig gucke ich hoch.

Mister Perfect lächelt.

»Alles ok bei dir«, fragt er.

Vorsichtshalber lächle ich zurück.

Mir ist klar, dass man bei durchgebrannten Synapsen auf keinen Fall rauchen, sondern den Arzt oder Therapeuten rufen sollte, aber da ich keine Hypochonderin bin, die hart arbeitende Götter in Weiß wegen eines kleinen Schlaganfalls um ihre Nachtruhe bringt, will ich erst mal die Lage peilen, bevor ich Alarm schlage: Sind die äußeren Gliedmaßen noch fähig, gewohnte Tätigkeiten auszuüben? Rauchen ist eine gewohnte Tätigkeit. Ich nehme die Zigarette aus der Packung, zücke das Feuerzeug, lasse es mir von Tobias aus der Hand nehmen, halte die Kippe in die Flamme, mache den ersten Zug. Fühlt sich an wie immer. Diagnose gut. Trotzdem sollte ich aufhören zu rauchen. Wegen der Synapsen und überhaupt.

Tobias lächelt immer noch. Dann zieht er ein Kästchen aus seiner Jackentasche, und es folgt die Szene, die ich in Filmen eine Milliarde mal gesehen habe, aber live zum ersten Mal erlebe: Ein dicker Brilli funkelt mir entgegen. Na gut, die Brillis in den Filmen sind dicker, aber dieser hier ist auch ganz ansehnlich. Es ist immerhin mein erster Heiratsantrag und dafür ist der Brilli voll in Ordnung.

»Na, was sagst du,« will Tobias wissen.

»Ich komm mir vor wie im Film.«

Tobias lacht, dann gießt er mir Champagner ein und wir stoßen an. Ich nehme einen vorsichtigen Schluck, und als ich das Glas absetze, wird um mich herum geklatscht.

»Gratuliere,« strahlt Mario und küsst mich auf beide Wangen. Er küsst feucht. Dann küssen mich alle anderen Kellner. Feucht feucht.

Wie in Mondsüchtig, denke ich, und dann, dass ich aufhören sollte, aus meinem höchsteigenen Heiratsantrag einen Film zu machen. Obwohl es jetzt hilfreich wäre, ein Drehbuch zu haben. Ich habe keine Ahnung, wie es im Text weitergeht, was Tobias ebenfalls auffällt.

»Sarah! Kannst du mal was sagen«, moniert er, »willst du?«

»Ja!«

Dann küsst er mich und das ist besser als Film. Jetzt brennen die Synapsen lichterloh.

Nina, Mittwoch, so gegen halb elf

Micha beugt sich über mich und fängt an, meinen BH aufzuknöpfen. Sein Atem kitzelt auf meiner Haut und sämtliche Härchen auf den Armen stellen sich auf.

Ich hätte nie gedacht, dass ich eine Frau bin, die in der Konservenabteilung eines Supermarkts mit ihrem Mann herumstreitet und sich eine halbe Stunde später bei einem anderen auf dem Sofa räkelt. An einem ganz normalen Wochentag, während die Kinder in der Schule sind. Wie konnten wir nur so weit kommen, Micha und ich? Olli und ich?

»Ist was,« fragt Micha.

Ich schüttle den Kopf.

Was soll schon sein, ich bin ja nur dabei, fremdzugehen. Meine Ehe zu riskieren. Laut dem Bericht, der auf dem Weg zum Supermarkt im Radio war, riskiere ich dabei sogar mein Leben. Verheiratete haben eine höhere Lebenserwartung als Singles, hat der Sprecher erklärt. Angeblich stresst es den Organismus fürchterlich, sich dauernd fragen zu müssen, warum einen keiner liebt?

Als ob sich nur Singles diese Frage stellen würden! Ich bin der leibhaftige Gegenbeweis der Radio-These, wie sonst ist es zu erklären, dass ein fremder Mann vor mir auf dem Boden kniet und an meinem Slip herumfummelt?

Was mir peinlich ist, weil mir in dem Moment schlagartig klar wird, dass der Zustand meines Slips alles über den meiner Ehe verrät. Ausgeleiert und verwaschen.

In der ersten Flirtphase mit Oliver hab ich ein Vermögen in Slips und BHs gesteckt, und erst als mein Kreditlimit erreicht war, kapiert, dass die Investition überflüssig war, da Oliver kein Mann ist, der sich mit der Verpackung aufhält, wenn er den Inhalt will. Ich fing an, statt in Dessous in gemeinsame Urlaube und später in Küchengeräte zu investieren, und als ich bei den Still-BHs angelangt war, gab es kein Zurück mehr zu Spitze und G-String.

Ich schäle mich eilig aus dem peinlichen Teil und manövriere es so unauffällig wie möglich mit dem Fuß unters Sofa. Dabei verfluche ich mich innerlich dafür, dass ich so unvorbereitet an meinen ersten Seitensprung rangegangen bin. Was irgendwie für mich spricht, weil es beweist, dass ich zumindest nicht geplant hatte, meinen Mann zu betrügen. Jedenfalls nicht heute.

Ich hatte es überhaupt nicht geplant, was ziemlich ungewöhnlich für mich ist, weil ich eine Planerin bin. War ich nicht immer, aber mit Kindern lernt man zu planen. Es fängt in der Stillzeit an, wenn man anfängt, einen Zeitplan aufzustellen, wann man sich die Haare waschen oder die beste Freundin endlich zurückrufen kann, und irgendwann ist man so weit, dass man am Donnerstagnachmittag plant, was man am Sonntagabend essen will. Das hört sich absurd an, funktioniert aber dank Tiefkühlpizza, und man spart sich das Gedrängel, das freitags und samstags in den Läden herrscht. Andere Pläne funktionieren weniger gut, wie zum Beispiel der, keine Schwangerschaftsstreifen oder Job und Kinder unter einen Hut zu kriegen und dabei immer sexy und attraktiv gestylt zu sein. Maja war kaum eine Woche alt, als ich in einer Stillpause zum Kaufhof raste und einen Jogginganzug kaufte, aus dem ich das ganze nächste Jahr nicht mehr rauskam. So viel zum Thema Pläne! Mein Fehler, aus dem ich gelernt habe.

Um als Planerin erfolgreich zu sein, darf man die Ziele nicht zu hoch stecken. Inzwischen bin ich zufrieden, wenn mein Einkaufsplan funktioniert und die Familie am Sonntagabend im Jogginganzug vor der Glotze vereint Tiefkühlpizza isst.

Micha streichelt mir durchs Haar und dann küsst er mich.

Ich denke, dass er ein guter Küsser ist und dass ich das nicht denken würde, wenn mein Plan mit Olli besser funktionieren würde. Sex oder Liebe? Das war nie die Frage für mich. Ich will beides, so viel ist klar, aber Plan A war, es mit ein und demselben Mann zu haben.

Ich hatte vorgehabt, bis an mein Lebensende glücklich mit Olli zusammen zu sein. Oder zumindest bis zu unserer Scheidung, die natürlich ebenfalls glücklich und in gutem Einvernehmen über die Bühne gehen würde. Die Kinder wären am Wochenende bei Olli, der sich eine Freundin in Majas Alter geholt hat, die sich mit ihr über Popstars und Pickel unterhält, während Olli und Lucas Bundesliga gucken. Ich werde dann wieder Zeit für mich haben und damit etwas Sinnvolleres anfangen als den Rekord in Nutella-essen aufzustellen. Zum Beispiel werde ich mich sexy und attraktiv stylen. Und Schreiben. Richtige Drehbücher, keine popeligen Serienplots, wie ich es jetzt hin und wieder tue, um das Gefühl zu haben, auch noch in der Erwachsenenliga mitspielen zu dürfen. Das war Plan B. Aber irgendwas ist schief gelaufen und das beunruhigt mich. Mehr als die Sache mit dem Slip, den Micha großzügig übersehen hat. Er fährt langsam und zärtlich mit seinen Lippen an meinen Beinen hoch, und ich frage mich, wann Oliver und ich zuletzt am helllichten Tag Sex miteinander hatten?

Es ist wie verhext! Plan A funktioniert seit einer Weile nicht so recht und Plan B lässt sich auch komplizierter an, als ich gedacht hatte. Woher hätte ich wissen sollen, dass es bis zur glücklichen Scheidung ein langer Weg ist, auf dem ich fremde Männer an meinen Oberschenkeln lecken lassen muss? Fremdgehen ist meistens der erste Schritt auf diesem Weg, aber wenn ich mich weiter so anstelle, wird es kein Spaziergang werden!

Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass ich ein Gewohnheitstier bin und das alles hier zu ungewohnt für mich ist. Micha küsst nicht wie Oliver, und das Ding, das er jetzt aus der Hose packt, sieht fremd aus. Oliver hat auch keinen Waschbrettbauch wie Micha. Sein Bauch ist weich und schmiegt sich beim Schlafen sanft in die Kuhle in meinem Rücken. Wenn ich ihn so nah bei mir spüre, vergesse ich Plan B und verschmelze mit ihm zu einem Körper, zu einem warmen Eheklumpen, dessen Bestandteile unauflöslich miteinander verbunden sind. Doch spätestens der nächste Morgen erinnert mich wieder an die veränderbare Struktur von Materie, die von einem verlangt, sich ständig an neue Dinge zu gewöhnen. In der Absicht, das zu tun, umfasse ich Michas Ding.

Micha stöhnt auf und dann kommt er. Auf meinen Bauch. Obwohl ich keinen Grund dazu habe, bin ich erleichtert, Micha anscheinend nicht.

»Tut mir leid«, sagt er, »es liegt daran, dass ich einfach verrückt nach dir bin!«

Ich muss lachen.

»Was für eine originelle Art, das zu zeigen!«

Ein paar Minuten später sitze ich im Auto und fahre zur Reinigung, um den verdammten Smoking abzuliefern, der an dem ganzen Schlamassel schuld ist.

Die Bombe war im Supermarkt hochgegangen. Ich war gerade dabei, einen Nachschub an Spaghettisauce in den Einkaufswagen zu laden, als Oliver anrief.

»Hast du meinen Smoking in die Reinigung gebracht«, wollte er wissen.

»Sollte ich das tun?«

»Mensch, Nina, du weißt, dass ich ihn für die Preisverleihung brauche.«

»Am Donnerstag, oder? Dann reicht es, wenn du ihn morgen auf dem Weg zur Arbeit hinbringst.«

Das war das Vorglühen, ich wusste, dass es gleich knallen würde, und zog schon mal den Kopf ein.

»Prima Idee«, pampte Olli, »ich hab ja sonst den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als in meinen Bürosessel zu furzen und meine Sekretärin herumzukommandieren!«

»Olli, du weißt, dass es für mich ein Riesenumweg ist, und ich muss noch mit Hund rausgehen und Mittagessen für die Kinder . . .«

»Der Hund, die Kinder, schon klar. Weißt du, es ist keine große Leistung, eine Dose Spaghettisauce aufzuwärmen. Das könnte auch eine Haushälterin! Wenn du davon so überfordert bist, dass du null Zeit hast, Sachen für mich zu erledigen, dann nehmen wir uns einfach eine Haushälterin. Am besten eine, die dich von sämtlichen ehelichen Pflichten entbindet.«

Man muss schon Übung haben, um in dieser Geschwindigkeit von Smokings in einer Diskussion über mögliche neue Lebensformen zu landen. Oliver und mir gelingt das in letzter Zeit in Rekordgeschwindigkeit, weil wir ein System entwickelt haben, nach dem unsere Gespräche in endlosen Runden immer wieder um dieselben wunden Punkte kreisen. Wir haben das der Fahrradolympiade abgeguckt, wo die Teilnehmer so lange im Kreis treten, bis einer gewinnt. Unser Spiel funktioniert ähnlich, außer dass es bei uns keine Sieger gibt.

Aber heute Morgen im Supermarkt hatte ich keine Lust auf Verbalradeln. Ich legte auf, bevor der tagesaktuelle Verlierer ermittelt war, dann fuhr ich zu Micha, um herauszufinden, ob er den vakanten Teil von Olivers ehelichen Pflichten übernehmen konnte.

Sarah, kurz vor elf

»Sarah«, brüllt Tobias aus dem Bad.

Ich stelle das Teewasser beiseite und rase los, weil es sich anhört, als ob er kurz davor ist zu ertrinken.

Zum Glück ist es nur halb so wild. Er steht unter der Dusche und hat Gänsehaut. Bei der Gelegenheit stelle ich wieder mal fest, dass er den schönsten Männerkörper der Welt hat. Für mich jedenfalls. Dafür hapert’s mit seinem Orientierungssinn.

»Ich hab kein Handtuch«, sagt Tobias vorwurfsvoll.

»Und dafür habe ich mein Teewasser kalt werden lassen?«

»Sarah, ich friere!«

Ich ziehe ein Handtuch unter seinem Klamottenberg, den er auf dem Boden verteilt hat, hervor, reiche es ihm und gehe wieder in die Küche. Ein paar Minuten später kommt er nach Deo duftend rein.

»Du hättest schon längst ein paar Schränke im Bad einbauen sollen.«

»Hm.«

»Sie haben den Vorteil, dass man die Handtücher nicht auf dem Boden aufbewahren muss!«

»Und den Nachteil, dass sie Scheiße aussehen!«

»Das ist doch Blödsinn! Es gibt auch schöne Badschränke, du musst nur in den richtigen Läden gucken.«

»Die kann ich mir nicht leisten!«

Tobias lacht.

»Sei froh, dass du einen Mann hast, der dich heiratet und aus diesem Loch rausholt!«

Er findet das anscheinend witzig. Ich nicht.

Ich wohne keineswegs in einem Loch, sondern in einem wunderschönen Altbau, um den mich mein gesamter Freundeskreis glühend beneidet. Sie würden Morde begehen, um so eine Wohnung mitten im Gärtnerplatzviertel zu kriegen. Kein Mensch in München hat so eine tolle Wohnung, und ich habe sie nur, weil ich jemanden kannte, der wusste, bei wem ich mich einschleimen musste, um sie zu kriegen. Und jetzt ist die Wohnung mein Zuhause. Meine Höhle.

»Du willst, dass ich wegen der blöden Badezimmerschränke meine Höhle aufgebe?«

Tobias lacht.

»Wir heiraten, erinnerst du dich? Und bei Eheleuten ist es üblich, sich eine gemeinsame Höhle zu suchen.«

Der Brilli! Wie konnte ich ihn vergessen? Ohne eine Tasse Tee bin ich am Morgen einfach nicht zu gebrauchen.

»Klar, weiß ich doch«, sage ich hastig, »und wo sollen wir deiner Meinung nach wohnen?«

»In einer Wohnung mit Fußbodenheizung, die in einer guten Gegend ist und wenn möglich im Bad einen Platz für Handtücher hat.«

»Du meinst, in deiner Wohnung?«

Tobias wohnt in einem auf neu durchsanierten Altbau in Bogenhausen, einem Viertel, das dem Dorfimage unsrer Weltstadt mit Herz insofern gerecht wird, als sich dort Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Es gibt Platz für Badezimmerschränke und Fußbodenheizungen ohne Ende, aber keine Menschen auf den Straßen, was insofern logisch ist, als es in Bogenhausen auch nichts gibt, wo Menschen hingehen könnten, außer nach Hause zu ihren Badezimmerschränken und Fußbodenheizungen. Es ist eine ruhige Gegend, wie Tobias sagt, was eine maßlose Untertreibung ist, denn die Gegend ist nicht ruhig, sondern tot. In Tobias’ Augen ein Vorteil, weil man nachts ungestört schlafen kann, was umso wichtiger ist, als Bogenhausen aufgrund seines großflächigen Grünbestands noch über eine intakte und sehr aktive Singvogelpopulation verfügt, die einen spätestens bei Sonnenaufgang erbarmungslos aus dem Bett zwitschert. Das ist genau die richtige Tageszeit, um frohgemut in seinen Zweisitzer zu steigen und zum Bäcker zu düsen. Wenn man es vor Ladenschluss schaffen will, muss man sich beeilen. Oder einen Helikopter chartern, denn in Bogenhausen gibt es nicht nur keine Bars, sondern auch keine Bäcker. Jedenfalls nicht um die Ecke. Man wohnt sowieso nicht an irgendwelchen Ecken, man residiert in Villen mit parkähnlichen Gärten, kilometerweit von öffentlichen Einrichtungen wie Bäckern entfernt. Für Tobias ist das kein Problem. Wozu Bäcker, wenn es Brötchen zum Aufbacken gibt? Da es auch keine Supermärkte gibt, jedenfalls nicht um die Ecke, schafft Tobias es so gut wie nie, überhaupt an irgendwelche Lebensmittel ranzukommen, und ernährt sich von Take-away. Sushi oder so. Der Vorteil einer guten Wohngegend liegt im Vorhandensein von Badezimmerschränken, aufbackbaren Brötchen und Sushi-Lieferanten. Sehr praktisch, denn Leute in guten Gegenden stehen auf Abgeschiedenheit. Man bleibt unter sich. In Tobias’ Fall allein, denn ich ziehe nicht nach Bogenhausen, so viel ist klar.

»Tut mir leid, Tobi, ich mag deine Wohnung ja, aber die Gegend ist eher was für Männer. Oder Frauen mit Karateausbildung. Ich hab jedenfalls immer Schweißausbrüche, wenn ich da nachts mein Auto parke, weil es so einsam ist!«

»Ist kein Thema, meine Wohnung ist sowieso zu klein.«

Ich bin erleichtert, dass er kein Theater wegen seiner Badezimmerschränke macht, aber es ist mir nicht klar, wie eine Dreizimmerwohnung für zwei Leute, von denen zumindest einer den ganzen Tag im Büro ist, zu klein sein kann?

»Wie groß soll unsre Ehe-Höhle denn sein?«

»Na, groß genug, dass wir nicht gleich wieder umziehen müssen, wenn du schwanger bist«, sagt Tobias, als wäre das die normalste Sache der Welt.

Ich werde schwanger!

Man heiratet, dann wird man schwanger. Der Vater meiner zukünftigen Kinder küsst mich auf die Stirn.

»Ich muss jetzt los.«

»Ok. Flieg schön!«

»Mach ich. Wir sehn uns übermorgen.«

»Hm. Bis dann.«

»Ruf mich an, wenn du wach bist!«

»Haha!«

Im nächsten Moment ist er weg, und ich frage mich, ob ich das alles nur geträumt habe, aber einen Tee und eine Zigarette später funkelt der Brilli immer noch an meinem Finger. Ich werde heiraten. Yeah!

Nina, 12 Uhr 30

Als ich nach Hause komme, sitzen Maja und Lucas vor dem Fernseher. Ich verkneife mir den Kommentar, weil ich nicht sicher bin, ob eine Frau, auf deren Bauch die Spuren eines Fremdgehversuchs kleben, das Recht zu meckern hat, dass andere statt Hausaufgaben zu machen die Aufzeichnung von Superstars glotzen. Stattdessen nehme ich einen Löffel Nutella.

Nutella ist Trost. Es ordnet die Gedanken und wärmt die Seele. Nach dem zweiten Löffel sind meine Gedanken zumindest so klar, dass ich das Wasser für die Nudeln aufsetze und den Kindern sage, dass sie den Tisch decken sollen. Dann verschwinde ich unter die Dusche. Ich bin gerade dabei, mich abzutrocknen, als Lucas reinkommt und mir mein Handy unter die Nase hält.

»Du hast ’ne SMS gekriegt. Ich guck mal, von wem sie ist.«

Als Mutter hast du keine Privatsphäre. Du gibst sie in dem Moment ab, in dem du deinen Bauch zur Untermiete freigibst. Von da an bestimmt ein anderes Wesen dein Leben, und nach ein paar Jahren unter seiner Herrschaft bist du so weit, dass du darum bettelst, alleine zum Pinkeln gehen oder ein paar Minuten telefonieren zu dürfen ohne unterbrochen zu werden. Es ist mir ein Rätsel, wie andere Mütter es schaffen, fremdzugehen, während ich es noch nicht einmal hinkriege, eine SMS an meinem Wärter vorbeizuschleusen?

»Schon wieder dieser Micha«, bemerkt Lucas, »was will der von dir?«

Ich sage, dass Micha ein Regisseur ist, mit dem ich an einem Filmskript arbeite, was nicht komplett gelogen ist, weil Micha tatsächlich, als wir uns kennen lernten, ein Drehbuch mit mir entwickeln wollte. Er war damals abwechselnd stinkesauer und zu Tode deprimiert, weil irgendein idiotischer Produzent den Film über Fürst Pückler, an dem Micha zwei Jahre lang gearbeitet hatte, abgesägt hat, und bombardierte mich mit Telefonaten, weil er ganz heiß darauf war, neue Ideen zu entwickeln, und fest davon überzeugt, dass ich die Autorin bin, die sie hat.

Lucas ist mit der Antwort nicht zufrieden.

»Du schreibst doch schon für diese Fernsehserie. Wieso willst du noch mehr Arbeit haben?«

»Serie ist Fließbandarbeit. Nichts eigenes.«

»Warum machst du es dann?«

»Weil ich Geld verdienen will.«

»Aber du sagst doch immer, dass die so schlecht zahlen? Zahlt dieser Micha mehr?«

»Der zahlt gar nichts.«

Lucas guckt mich an, als wäre ich verrückt, was man definitiv sein muss, um fürs Fernsehen zu arbeiten.

Wer außer einer Verrückten schreibt völlig ohne Bezahlung eine Geschichte und hofft, dass irgendjemand einen Film daraus macht, und das bei dieser Konkurrenz?

Es ist ja nicht so, dass man eine Ausbildung braucht, um zu schreiben, deshalb schreibt jeder, der in der Lage ist, einen Computer anzuschalten, und es gibt jede Menge Autoren, die sich in der Hoffnung auf Geld und Ruhm tolle Geschichten ausdenken, ohne zu kapieren, dass sie nie einen Cent dafür sehen werden, weil keine Produktionsfirma tolle Geschichten kauft, sonst wäre ja unser Fernsehprogramm nicht wie es ist. Das Problem an den tollen Geschichten ist, dass sie originell und neu und daher nicht zuschauererprobt sind. Da die Fernsehsender aber eine Heidenangst vor den Zuschauern haben, wollen sie ihnen nur Geschichten zeigen, die ihnen gefallen. Das wissen sie aber nur, wenn die Geschichte schon mal im Fernsehen lief. So kommt es, dass man nie etwas Neues sieht, sondern immer wieder dieselben Geschichten in leicht veränderter Form. Als Autor sollte man nicht versuchen, sich eine geniale Geschichte auszudenken, sondern überlegen, was man so genial abkupfern kann, dass der Fernsehsender die alte Geschichte noch erkennt, der Zuschauer aber nicht. Im Fachjargon nennt man das nicht abkupfern, sondern neu erzählen. Michas und meine Idee war es, die Geschichte von Lola Montez neu zu erzählen. Hauptsächlich heißt das, mit mehr Busen als in der alten Version. Busen ist zuschauererprobt und kommt sicher gut an. Genau wie Sex.

Aber das ganze Gerede um Lolas Busen und den Sex, den sie mit dem König haben soll, führte dazu, dass Micha und ich auch anfingen, miteinander zu flirten, was neben der schlechten bis nicht vorhandenen Bezahlung ein weiteres typisches Merkmal der Fernsehbranche ist. Man muss sich immer in den Stoff, an dem man gerade arbeitet, persönlich einfühlen. Angeblich, um die Figuren besser zu verstehen, in Wirklichkeit aber, um zu verdrängen, dass man wieder mal völlig umsonst malocht. Wohin das führt, kann man in jedem Klatschblatt nachlesen. In keinem Job werden so oft eingebildete Gefühle mit echten verwechselt wie beim Film, was für das bekannte Chaos im Privatleben sorgt. Ich zumindest hatte einen ziemlich chaotischen Vormittag. Aber das kann ich Lucas nicht sagen.

»Warum will er mit dir spazieren gehen«, fragt er.

»Will er das?«

Ich habe durch die Kinder gelernt, dass man im Kreuzverhör am besten mit Gegenfragen reagiert. Das trifft übrigens nicht nur auf Kinder zu, bei Olli funktioniert der Trick manchmal auch. Manchmal auch nicht.

Ich nehme Lucas das Handy weg und frage mich, als ich Michas SMS lösche, wann Olli und ich das letzte Mal zusammen spazieren waren? Einfach so, an einem Wochentag und zu zweit. Fairerweise muss ich zugeben, dass Oliver nicht so viel Tagesfreizeit hat wie Micha, der ein paar Monate im Jahr filmt und die restliche Zeit auf seinem Sofa lümmelt und telefoniert, was er Projektsondierung nennt. Im Moment sondiert er Lola und hat zwischendurch viel Zeit, SMSe zu verschicken oder spazieren zu gehen, während Olli nur am Wochenende frei hat. Dann gehen wir mit den Kindern, und neuerdings auch Hund, in den Englischen Garten. Die Kinder reden über die Schule, dann toben sie mit Hund und Olli und ich gehen ein Stück zu zweit und reden über die Kinder. Ich vermisse Gespräche mit Olli, in denen es nicht um Kinder geht. Oder um Smokings.

Smokinggespräche sind verheerend und haben unabsehbare Folgen.

»Und was will dieser Regisseur wiederholen, das er heute Morgen verbockt hat?«

Lucas hat sich das Handy wieder geschnappt und weitergelesen.

»Eine Szene ist nicht so geworden wie er sie haben wollte.«

»Und wie fandest du sie?«

Ich weiß es nicht?

Sarah, bei der dritten Tasse Tee

»Ist das geil«, brüllt Paula in den Hörer, »ich werde Brautjungfer! Das muntert mich echt auf!«

»Wieso brauchst du Aufmunterung?«

»Unwichtig. Lass uns über das Kleid reden!«

»Off-white natürlich, was sonst?«

»Off-white? Sehr ungewöhnlich für die Brautjungfern.«

»Für die Braut. Für mich.«

»Ach so. Na klar, weiß wäre ja auch absurd. Off-white ist prima. Passt super zu champagner.«

»Mir ist es egal, ob das Brautkleid zu den Getränken passt.«

»Zu den Kleidern der Brautjungfern natürlich! Hab ich neulich in der Gala gesehen. Da war ’ne Hochzeit von so ’ner Promischickse oder ’ner Königin, was weiss ich? Jedenfalls haben die Brautjungfern champagner getragen. Ein dunkles champagner, eher Veuve als Dom Perignon. Sah gigantisch aus. Egal, wir haben genug Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen, Hauptsache, das Kleid bringt meine Figur zur Geltung. Du weißt ja, dass sich ungefähr hundert Prozent aller Paare auf Hochzeiten kennen lernen?«

»Ich dachte, im Job?«

»Aller coolen Paare. Sich im Job zu verlieben ist uncool. Das ist ’ne Zwangshandlung. Wie bei Tieren im Zoo. Wenn du fünf Tage die Woche acht Stunden lang zusammen eingesperrt bist, fällst du zwangsläufig auf der nächsten Weihnachtsfeier über einen Mitinsassen her. Wenn ich nicht so ein aktives Privatleben hätte, wäre ich vermutlich auch schon aus lauter Verzweiflung mit dem Grabscher ins Bett gestiegen!«

Der Grabscher ist Paulas Chef, ein Kerl mit Geheimratsecken und einem so katastrophalen Eheleben, dass er alles anbaggert, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Sogar Paula, obwohl die aus ihrer Abscheu ihm gegenüber keinen Hehl macht, ein Grund, weshalb ihr dauernd die Kündigung droht. Der zweite Grund ist, dass sie ständig am Telefon hängt, weil sie unfähig ist, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, solange sie nicht genauestens über den Stand der Ereignisse im Leben der Freundinnen informiert ist, aber der Grabscher im Büro keine privaten Telefonate erlaubt, die länger als fünf Sekunden dauern. Wenn der Mann auch nur ansatzweise Ahnung von seinen Mitarbeitern hätte, wüsste er, dass er damit genauso wenig Erfolg haben wird wie mit der Grabscherei, denn Paula kann sich am Telefon nicht kurz fassen.

»Lass den Alten doch ein bisschen grabschen, dann kannst du vielleicht auch in Ruhe fonen!«

»Erinnere mich nicht daran, der Alte ist zum Glück noch nicht eingelaufen. Aber er hat mir schon per Autotelefon Stress angekündigt, und das ausgerechnet heute, wo ich total müde bin!«

»Lange Nacht?«

»Kannst du laut sagen! Gentleman hat mit mir Schluss gemacht.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr eine Beziehung hattet?«

Paula lacht.

»Du hast recht. Er ist so dramatisch! Er übertreibt einfach alles. Was ja noch ganz süß war, als er mir diesen überdimensionalen Rosenstrauß geschickt hat!«

Gentleman hatte Paula nach ihrem ersten Date fünfzig Rosen ins Büro liefern lassen, und zwar nicht irgendein Kraut von der Tankstelle, sondern langstielige Baccaras. Wir waren alle schwer beeindruckt und seitdem hatte Gentleman sein Etikett weg.

Bei Paula fungieren Männer nie unter ihren eigentlichen Namen, sondern werden nach ihren Eigenschaften etikettiert, weil sie dadurch leichter zu katalogisieren sind, was bei Paulas Verschleiß sinnvoll ist, um den Überblick nicht zu verlieren. Und das passiert leicht, denn Paula lebt auf der Überholspur. Sie liebt und vergisst schneller als andere Menschen. Während andere Frauen Jahre brauchen, um überhaupt einen Mann kennen zu lernen, und ungefähr genauso lange, um ihn wieder los zu sein, hat Paula, kaum ist sie einen Abend unterwegs, einen Kandidaten an der Angel, der im Kreis der Mädels diskutiert wird, aber meistens schon wieder aussortiert ist, bevor wir zu einem Ergebnis kommen können. Paula hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Mann ohne Macken zu finden, und ist nicht bereit, sich von so etwas Profanem wie Erfahrung von diesem ambitionierten Ziel abbringen zu lassen. Aber während andere Frauen durch das Ticken ihrer biologischen Uhr Macken gegenüber milde und im Sinne der Fortpflanzung zum Teil geradezu erschreckend kompromissbereit werden, passiert bei Paula genau das Gegenteil. Je mehr Kandidaten sie aus dem Rennen geschickt hat, umso strenger wird der Test. Es ist noch nachvollziehbar, dass ein Typ namens Bohnenpimmel nicht bestehen konnte, aber dass ein an sich sehr netter Cabriofahrer ausgemustert wurde, nur weil Paula eine Mittelohrentzündung auf sein Konto schrieb, fand ich etwas vorschnell. Mit der Zeit hätte sie ihn bestimmt dazu überreden können, im Winter auch mal geschlossen zu fahren, aber Paula hat nun mal keine Geduld. Außer beim Telefonieren.

»Was ist passiert? Hattet ihr Streit, weil er vergessen hat, dir die Autotüre aufzuhalten?«

»You wish! Ne, das Date war toll. Der ganze Abend war gigantisch. Er hat mich abgeholt, wie es sich gehört, das Restaurant war super, du kennst ja das Glockenbach. Der Service ist einmalig und das Essen prima. Das einzige, was sie verbessern könnten, ist das Licht. Zu düster da!«

»Ich mag düster. Da ist es nicht so schlimm, wenn man mal k.o. aussieht.«

»Ich geh mit keinen Kerlen aus, die k.o. aussehen!«

»Schon klar. Kannst du jetzt mal zum Punkt kommen?«

»Welcher Punkt?«

»Gentleman?«

»Ach so das!«

Aber Paula kann auf einfache Fragen keine einfachen Antworten geben. Es folgt eine fundierte Restaurantkritik mit anschließender Führung durchs Münchner Nachtleben, inklusive der detaillierten Beschreibung aller relevanten unterwegs getroffenen Personen, die entweder gigantisch oder total absurd gekleidet waren, bis sie endlich an der Stelle ankommt, an der sie und Gentleman vor Paulas Haustür und der Frage aller Fragen stehen. Bei so viel Liebe zum Detail ist es kein Wunder, dass der Grabscher keine privaten Telefonate in der Firma duldet.

»Es war unser drittes Date«, plappert Paula munter weiter, »also dachte ich, jetzt können wir den nächsten Schritt machen!«

Bei Paula verlaufen nicht nur die Eignungstests sondern, auch das weitere Dating nach strengen Regeln, von denen eine besagt, dass sich beim dritten Date entscheidet, ob man den nächsten Schritt geht, wie Sex in Paulas Dating-Sprache heißt. Ich verstehe die Regeln nicht ganz, aber ich denke, dass irgendetwas daran faul sein muss, denn ich kenne niemanden, der so viele nächste Schritte geht wie Paula und trotzdem nie eine Beziehung hat.