CoverDesign

 

 

 

Rudolf Braune

 

 

Das Mädchen an der Orga Privat

 

 

Ein kleiner Roman aus Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © Reese Verlag, Lothar Reese, Hannover.

1. Auflage im Juni 2013.

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten.

ISBN 978-3-944621-06-7

 

Coverfoto: Timeline images/ timeline classics, 01. 01. 1930.

Eine Sekretärin lehnt sich auf dem Bürostuhl zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Ankunft in Berlin und auf Zimmersuche

Der erste Arbeitstag und eine Ohnmacht

Im Großstadtstrom

Krawall im Treppenhaus

Der dritte Tag in Berlin und lange Gespräche

Veränderungen

Erst steigt die Wut, dann streiken die Mädchen

Zusammenhalt

Taschenbücher im Reese Verlag:

E-Books im Reese Verlag:

Ankunft in Berlin und auf Zimmersuche

 

 

Eines Morgens, im Frühjahr 1928, kommt ein junges Mädchen mit dem Leipziger Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an. Niemand erwartet sie. Niemand beachtet sie in dem Gewühl dieses Berliner Arbeitsmorgens, unter dem Rauch eines feuchten, traurigen Himmels. Sie trägt einen anscheinend sehr schweren Handkoffer, denn ab und zu nimmt sie ihn in die andere Hand. Das Mädchen geht langsam mit kleinen Schlenkerschritten und betrachtet mit mürrischem, verschlafenem Gesicht die eifrig herumlaufenden Menschen, Bahnbeamte, Verkäufer, Zeitungshändler, Arbeiter und Reisende. Als sie aus der rußigen Halle herauskommt, ziehen gerade die Regenwolken auseinander, und die Asphaltpfützen glänzen auf. Ein matter Schein huscht über die grauen Häuserfronten, springt über Firmenschilder, an Erkern und vorgetäuschten Balkonen vorbei, über die Straße bis zu diesem kleinen Mädchen, die einige Minuten am Ausgang des Anhalter Bahnhofs stehenbleibt, ehe sie im Gewühl der Stadt verschwinden wird. Ihr Koffer steht neben ihr auf dem Boden, die großen Hände stecken in den Taschen des braun gesprenkelten Mantels. So sieht Erna Halbe zum ersten Male Berlin.

Sie kommt aus einem kleinen Industrienest in der Nähe von Korbetha im Mitteldeutschen. Ihr Vater arbeitet in der Zeche, sie selbst, das vierte Kind von elfen, hat Stenographie gelernt und Schreibmaschine und vier Jahre bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Die Enge im elterlichen Hause, der ewige Streit und Krach paßten ihr nicht mehr. Nach vielen vergeblichen Versuchen und Bewerbungen erhielt sie endlich vor ein paar Tagen eine Zusage aus Berlin. Einhundertdreißig Mark brutto, schrieb die Gesellschaft, Arbeitsantritt Mittwoch früh neun Uhr.

Das war ihre erste große Reise.

Zuerst muß ich mir ein Zimmer suchen, überlegt sie. Sie geht in den Bahnhof zurück und gibt den Handkoffer in die Gepäckaufbewahrungsstelle.

Eine Nacht ist sie gefahren, immer im Halbschlummer, in einem rauchigen Abteil. Auf dem menschenleeren, kalten Bahnsteig des Bahnhofs Bitterfeld hat sie ein warmes Würstchen gegessen, das ist alles, was sie während der Reise zu sich genommen hat, nun knurrt ihr Magen.

Man sieht ihr eigentlich nicht an, daß sie noch nie in dieser Stadt gewesen ist. Langsam geht sie durch die bewegten Straßen nach dem Potsdamer Platz hinüber, etwas neugierig, alles genau betrachtend, aber durchaus nicht mit offenem Munde. Der dürftige Frühjahrsmantel macht das Mädchen noch unscheinbarer, als sie schon ist. Die dürren Beine, die unter dem Mangel komisch hervorstelzen, neigen sanft dazu, ein X zu bilden. Erna weiß das, und doch ist sie nicht sonderlich betrübt darüber. Ihr Leben beginnt erst, und vieles wird sich ändern. Aufmerksam betrachtet sie sich in der Spiegelscheibe eines großen Delikateßgeschäftes. Herrjeh, was hat sie für einen Kopf! Daran ist so ziemlich alles verpfuscht. Die Nase ist zu groß, das rote Haar zu strohig, der Mund zu voll. Am Kinn zieht sich ein ziemlicher Riß entlang, eine Narbe, die von einer schon Jahre zurückliegenden Keilerei mit Jungens herrührt. Selbst an der hohen, breiten Stirn fällt ihr nichts Lobenswertes auf, der angenehme weite Schwung, die hervortretenden Hügel über den Augen, all das findet sie nicht sonderlich erwähnenswert, sie bemerkt höchstens uns den zarten Schleier Sommersprossen, der darüber hinzieht und auch noch auf der Nase ein paar große Tupfen aufleuchten läßt. Sie zieht vor dem Spiegel eine Grimasse; obwohl sie nicht eitel ist, empfindet sie doch eine gewisse Bewunderung für besondere und kostbare Dinge und hat klare, einfache Begriffe von schön und häßlich.

In diesem Augenblick fühlt Erna, daß ihr jemand zusieht. Dieses komische Gefühl täuscht sie selten, und sie erschrickt, weil sie gerade eine so häßliche Grimasse geschnitten hat. Sie will schnell weitergehen und kann doch nicht hindern, daß sie ihr Gesicht flüchtig zur Seite dreht. Da steht wirklich, drei Schritte vom Fenster entfernt, ein junger Arbeiter in einer blauen Monteurjacke, die Hände in den Hosentaschen, und lacht ihr augenzwinkernd nach. Sie geht schnell weiter. Na, der Junge pöbelt sie wenigstens nicht an, ihr passen nämlich solche Straßenbekanntschaften nicht. Sie weiß, wie leicht ein Arbeitermädel ausrutschen kann, sie ist vorsichtig, einmal wird sie einen guten Mann heiraten, sie werden Kinder haben und arbeiten müssen, sie wünscht sich ein Minimum an Glück, ihre Gefühle gehen nicht zu weit, denn sie kennt das Leben schon, das Leben von seiner dunkelsten Seite.

Erna geht durch die Leipziger Straße, an Wertheim und Tietz vorbei, über den Spittelmarkt, zum Alexanderplatz hinüber. Ohne zu fragen, ohne Bescheid zu wissen, findet sie ziemlich genau und gerade den Weg nach dem Osten. Ihr Hunger meldet sich wieder, sie setzt sich auf der Landsberger Straße in einen kleinen Ausschank. Fuhrwerke ziehen draußen vorüber, schwere Lastwagen, ein buntes, lustiges Shellauto. Viele Arbeiter, Frauen, die ihre Mittagseinkäufe machen, Kinder, die aus der Schule kommen, ein Zeitungsausrufer. Die Sonne trocknet das nasse Pflaster. Erna kauft eine Buttersemmel, bezahlt einen Groschen und geht weiter. Sie läuft an einem Bahndamm entlang, die Züge fahren dem Schlesischen Bahnhof zu, in der Stadt tuten Sirenen, das scheint schon die Mittagspause zu sein, ihre Beine tun weh. Sie ist müde. Nur die kleinen Schilder, die an vielen Häusern hängen, beachtet Erna:

 

MÖBLIERTES ZIMMER ZU VERMIETEN!

 

Sie hat noch nie möbliert gewohnt. Sie rechnet mit fünfundzwanzig Mark monatlich, das kann sie ausgeben. Ihr Gehalt wird völlig draufgehen, denn sie bekommt natürlich ihre hundertdreißig Mark nicht ausgezahlt, da gehen noch Versicherungs- und Krankenkassenbeiträge ab. Sie muß essen, sie muß sich Kleider und Schuhe kaufen, und damit sind die notwendigsten Ausgaben noch nicht erschöpft.

Das Eckhaus in der Rüdersdorfer Straße gefällt ihr recht gut. „Dritte Etage“ steht auf dem Schild. Eine endlose Front von Fenstern, durch nichts in ihrer Eintönigkeit unterbrochen, zieht sich in der dritten Etage entlang. Aber Sonnenseite! Im Hausflur toben die Kinder. Eine Frau schreit etwas über das Treppengeländer hinunter. Langsam und bedächtig steigt Erna Treppe auf Treppe, ab und zu reckt sie ihren Kopf hoch, um zu horchen oder um die nächste Etage zu betrachten. Ihr ist zumute, als müsse sie zum Zahnarzt. Oben in der dritten Etage wohnen sechs Familien. Wer wird das Zimmer zu vermieten haben? Unschlüssig liest sie die Namenschilder. Aus der vierten Etage kommt eine Frau mit aufgekrempelten Ärmeln.

„Das wird wohl bei Zimmermanns sein.“

Die Frau aus der vierten Etage bleibt neugierig stehen. Erna klingelt. Eine dicke Schlampe öffnet. Aus der Küche zieht Rauch, viele Kleider hängen im Vorsaal, das ist der erste Anblick. Es riecht nach schlechtem, angebranntem Essen.

„Hier herein, mein Fräulein.“

Die Tür knallt zu. Erna muß durch einen dunklen Gang, eine Tür öffnet sich quietschend zu einem finsteren kleinen Zimmerchen.

„Ist doch nett eingerichtet, nicht wahr? Hier is immer janz still. Bei mir hat sich noch nie ein Untermieter beschwert, der letzte wohnte schon zwei Jahre hier, war ein feiner Herr und is jetzt uff Mongtasche. Hier nebenan, was die Kuhlmann is, die vermietet ooch, na, dreckig sage ick Ihnen, det werden Sie jarnich glooben. Und vierzig Mark verlangt die noch dafür. Meins kostet bloß achtunddreißig. Heute, bei die teuren Preise, man muß eben überall sparen. Früher haben wir das nicht nötig jehabt. Aber als Witwe...“

Die Alte spricht ununterbrochen, nur um Atem zu holen, seufzt sie dazwischen. Sie hat eine wehleidige, unangenehme Stimme. Ihre aufgedunsenen roten Hände liegen breit auf dem geschwollenen Bauch.

„Ich will noch einmal wiederkommen.“

Erna stottert, sie ist rot geworden und läuft schnell die Treppe hinunter.

Oben knallt die Tür hart zu.

Ach du lieber Gott! denkt Erna. Ich konnte mich ja in dem Loch kaum umdrehen, und von Sonnenseite war nichts zu sehen. Und achtunddreißig Mark? Etwas muß ich finden, ich muß ein Zimmer finden, ich werde doch nicht den Mut verlieren, was ist da weiter dabei, lieber eine Weile länger suchen und etwas Richtiges finden...

Und da hat sie sehr recht.

Sie geht in viele Häuser hinein, an denen diese kleinen Schilder hängen, sie steigt viele Treppen, treppauf, treppab, sie sieht kleine Mansardenzimmer, verstaubte Stuben, Großvätermöbel, halbdunkle Kammern. Durch Jalousien fallen spärliche Lichtstrahlen, in denen unzählige Staubteilchen auf und nieder tanzen. Auf Wandbrettchen und Konsolen stehen malerisch gruppierte Nippesgestalten. An den Wänden hängen Stiche mit merkwürdigen Begebenheiten, bunte Engelbilder, ermahnende Wandsprüche, Gruppenfotografien und immer wieder das „Schiff im Sturm auf hoher See“. Sie sieht auch freundlichere Stuben, aber die Preise sind überall unerwartet hoch. Die meisten Vermieterinnen erzählen lange Geschichten, warum sie ihre Zimmer an fremde Leute abgeben müssen, früher hätten sie das nicht nötig gehabt, aber wie die Zeiten nun eben sind... Und dabei betrachten sie scharf und aufmerksam das kleine Mädchen, die mit ihren langen, herunterhängenden Armen fremd und ein wenig ängstlich in diesen Wohnungen steht. Berechnend schätzen sie Erna ab.

Das Bild der Straßen verändert sich, als Erna tiefer in das proletarische Viertel hineinkommt. Das Pflaster quillt auf, feuchte Flecken karieren den Weg, in den Haustoren muffige Finsternis. Straßen münden in Straßen, nirgendwo endet das, sie weiß nicht Bescheid und geht einfach der Nase nach.

Bin ich deshalb hierhergefahren? denkt sie. „Hausordnungen“ hängen in jedem Hausflur, die gab es in ihrem Heimatnest nicht. Auf den Treppen liegen Abfallreste, die Fenster im Treppenhaus haben große Sprünge, aus den Buntglasverzierungen sind Teile herausgeschlagen und durch einfaches weißes Fensterglas ersetzt worden. Erna sieht das alles nur im Vorübergehen, tief prägen sich diese Einzelheiten nicht ein, aber sie wird müde und traurig dabei. Einmal, gestern, vorgestern und weiter zurück, sollte es doch anders sein... Berlin! Berlin...! Und das tut weh. Ihr Gesicht zieht sich zusammen, es wird kleiner, entschlossener. Sie will sich nicht über den Haufen rennen lassen. Und sie sucht weiter.

Da wäre also die Wohnung im vierten Stock. „Neumann“ steht an der Tür, nein, nicht an der Tür, der Name ist mit Tinte oder Tusche auf den gelben Briefkasten gemalt. Man kann den Namen nur erkennen, wenn man sich sehr nahe an die Tür stellt und buchstabiert. Auch die Frau, die auf Ernas Klopfen öffnet, steht im Dunkeln, nur die Umrisse sind zu sehen. Ihre Stimme ist sehr jung und zaghaft.

„Ja, kommen Sie doch herein... Ich habe noch gar nicht aufgeräumt... Hier ist die Küche und nebenan das Schlafzimmer.“

„Und das möblierte?“

„Nein, ich habe kein möbliertes Zimmer zu vermieten, das ist ein Irrtum. Sie müssen in unserem Schlafzimmer wohnen. Das ist keine direkte Schlafstelle, nein, Sie haben es bei uns sehr gemütlich, wir machen das zum ersten Male, weil mein Mann nämlich arbeitslos ist.“

Die junge Frau sieht Erna flehentlich an, große blaue Augen füllen das schmale Gesicht aus, schöne, weiche Augen. Im Zimmer ist warme Nachmittagshelle. Schrank und Tisch sind geputzt, der Ofen glänzt, sauber und ordentlich stehen verschiedene Töpfe in einer Reihe. Der Unterschied zwischen der hellen, freundlichen, sauberen Küche und dem dunklen, dreckigen Treppenhaus prägt sich sofort ein. Auf dem Boden krauchen zwei Kinder herum, ein schlafender Säugling liegt in den Armen der Frau.

„Das sind Zwillinge.“

Ein Mann kommt aus dem Schlafzimmer, nur in Hemd und Hose. Sägespäne im Haar, mit schmutzigen Händen.

„Das Fräulein kommt wegen der Schlafstelle.“ Die Frau sieht ängstlich zu ihrem Mann auf, er ist viel größer und macht ein finsteres Gesicht. Nicht einmal „Guten Tag“ hat er gesagt.

„Haben Sie nur zwei Zimmer?“ fragt Erna. Der Mann dreht sich schnell um, Erna sieht erschrocken in das wütende Gesicht.

„Nee“, sagt der Mann, „wir haben eene feine Villa mit Hundehütte und Freiloof für die Kinder, und Mietsleute brauchen wir jarnich! Haben wir überhaupt nich nötig!“

Erna sieht entsetzt dem Mann nach, der wieder im Schlafzimmer verschwindet. Die Frau weint. Die Kinder spielen unter dem Tisch. Helle Wolken ziehen draußen vorüber. Erna hat einen schlechten Geschmack im Munde, kalt ist die Küche, traurig die Wohnung, bitter das Leben in Berlin.

„Er ist kaputt, seine Nerven sind herunter. Zehn Monate arbeitslos und keine Aussicht und keine Hoffnung. Was sollen wir denn bloß tun?“

Die Frau ist noch jung, so zwischen zwanzig und dreißig, ihr Gesicht ist schön und sanft. Sie weint und hält die Hände vor dieses Gesicht.

Was hat Erna Halbe hier noch zu tun, sie bleibt doch nicht, sie will keine Schlafstelle, sie will ein möbliertes Zimmer, aber eine Kleinigkeit hält sie noch hier. Sie zieht einen Stuhl heran, und Frau Neumann setzt sich. „Nein, das ist nichts für Sie. Ich weiß schon. Mein Mann will, daß ich die Schlafstelle nur mit voller Pension abgebe. Sonst verdienen wir nischt dabei. Achtzig Mark für volle Pension. Das sind zwanzig für eine Woche. Aber wie lange wird das dauern, bis einer mal kommt. Und dann ist es meistens nicht der Richtige.“ Sie weint nicht mehr, sie hat die Hände vom Gesicht weggenommen. Unter ihrer Haut schimmern blaue Äderchen hervor, besonders an der Stirn und unter den Augen bündeln sie sich. Es ist eine zarte Person, und sie wird vom Schicksal verdammt angepackt. Der Säugling liegt an ihrer Brust, er schreit, sie knöpft ihre Bluse auf und hält den großen Kopf des Kindes an ihre kleine Brust. „Ich halte es ja noch aus. Ich kann dem Kleinen auch noch Milch geben. Es ist nämlich ein Junge. Aber mein Mann macht sich so viel Sorgen. Er ist ein guter Kerl, das können Sie mir glauben. Jetzt baut er einen Karnickelstall für den Hauswirt. Das machen wir für die Miete!“

„Was ist denn Ihr Mann?“

„Karosseriebau. Autobranche. Alle fahrense im Auto, aber denken Sie, da gibt's Arbeit? Können Sie mir das erklären?“

Nein, Erna kann das nicht. Sie weiß aber, wie es in den mitteldeutschen Braunkohlenzechen zugeht, sie erzählt von ihrem Nest und von den Eltern, sie fragt nach der Prenzlauer Allee, wo ihre neue Firma sein soll, sie erkundigt sich nach vielen Dingen in Berlin, sie will alles wissen, ja, aber sie will auch, daß Frau Neumann nicht mehr weint, daß die Frau mal dieses und jenes vergißt.

„Sehen Sie, heute morgen bin ich in Berlin angekommen. Ich habe mir das alles viel leichter vorgestellt. Da wohnen nun so viele Menschen in der Stadt, und man fühlt sich einsam und verlassen. Können Sie das verstehen? Richtig elend und unglücklich kommt man sich vor. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen. Es wird schon wieder schönes Wetter kommen.“

Erna lächelt, der kleine Säugling schmatzt und suckelt, ein Kanarienvogel beginnt laut zu pfeifen. Vielleicht tut er das schon lange, aber Erna bemerkt es erst jetzt. Nebenan arbeitet der Mann, er klopft und hobelt...

„Kann ich mal wieder zu Ihnen kommen, Frau Neumann? Vielleicht komme ich am Sonntag mal, nachmittags, was?“

Auf der Straße läuft Erna schneller, der Nachmittag ist kurz. „Sei schön durch Elida.“ Das Mädchen hat goldblondes Haar, rosige Wangen, glänzende Augen, einen duftenden Mund. So muß man hier aussehen, nicht wahr? Geld braucht man dazu, Geld braucht man überall. Ich muß Geld verdienen. Natürlich, ich werde mich bald verbessern und mehr verdienen, viel, viel mehr...

Vielleicht ist das nicht die richtige Gegend für sie. Sie kommt nur in Arbeiterwohnungen, diese schmalen Kabusen mit der aufgewaschenen freudlosen Sauberkeit, dem nüchternen Abzahlungsmobiliar und den kahlen Wänden sind ihr bekannt. Sie merkt, daß wohl unter dreißig Mark nichts Anständiges zu haben sein wird. Schließlich findet sie in der vierten Etage eines fünfstöckigen Häuserblockes bei Frau Matschek ein Zimmer, aber vorher erlebt sie noch eine merkwürdige Geschichte.

Erna kommt auf die Koppenstraße, die liegt gleich hinter dem Schlesischen Bahnhof, der Nachmittag geht seinem Ende zu, eine matte rosige Sonne verkriecht sich in einer Wolke. Aber vielleicht ist es keine Wolke, vielleicht ist es nur Rauch aus den Essen der Fabriken. Arbeiter kommen aus den Betrieben, die Straßen sind voller Menschen, alle gehen nach Hause, Erna hat noch keine Wohnung. Was ist das: nach Hause? denkt sie. Um diese Zeit kommt Vater von der Schicht, und ich mußte Kohlen heraufholen. Wer holt denn heute Kohlen herauf? Luise oder Mutter? Der Holzverschlag ist wieder einmal zusammengerutscht, sie werden alles neu aufbauen müssen, das ist eine dreckige Arbeit.

Zeitungskioske hat es bei uns nicht gegeben, nein, bloß in Korbetha, hier stehen sie an jeder Ecke, jedesmal bleibe ich stehen und sehe mir die Bilder an. Was ist das für ein hübsches Mädel? Marion Davies. Ach so, ein Mädchen aus Hollywood. Ins Kino werde ich auch mal gehen. Aber erst muß ich ein Zimmer haben, ein Zimmer, ein Zimmer, das gibt eine ganz nette Melodie...

Sie klettert vier Treppen hoch, vier finstere Stockwerke. Das Haus riecht muffig nach Kinderwäsche und schlechtem Essen. Nein, immer in so einem Hause wohnen, denkt Erna, das macht elend, ich weiß, wie das ist. Sie will umkehren, und doch geht sie weiter, heute nacht muß sie schlafen, ruhig und unbesorgt, in einem eigenen Zimmer.

„Ziegenbein“ steht an der Tür. Ja, Ziegenbein.

Erna klingelt. Sie klingelt noch einmal. Und weil niemand aufmacht, geht sie wieder. Sie geht einige Stufen hinunter, da quietscht oben die Tür. Sie kann nicht sehen, wer an der Tür steht, denn das Haus ist halbdunkel, aber sie hört an der Stimme, daß ein junger Mann mit ihr spricht.

„Zu wem wollen Sie?“

„Kann ich vielleicht Frau Ziegenbein sprechen?“

„Nein, Frau Ziegenbein ist nicht da.“

Klapp, die Türe zu.

Aber die Tür geht noch einmal auf.

„Kommen Sie etwa wegen des Zimmers?“

„Natürlich.“

„Na, das Zimmer kann ich Ihnen auch zeigen.“

Erna steigt wieder die paar Stufen hinauf, säubert ihre Schuhe auf der Matte und folgt dem jungen Mann in Frau Ziegenbeins Wohnung, ohne an etwas anderes zu denken als an die etwaigen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Frau Ziegenbein und ebendiesem jungen Mann, die Erna begreiflicherweise interessieren. Sie ist fest entschlossen, das nächste Zimmer, das ihr einigermaßen zusagt, zu mieten.

Der junge Mann führt sie in ein kleines Zimmer, das noch sehr hell ist, die Sonne kommt bis hierher, sie leuchtet zwischen den Wolkenbergen hervor, keine Hinterhäuser beschatten die Fenster, weit geht der Blick, und unten blüht sogar ein einsamer grüner Fleck, ein Zimmer also, wie Erna es sich wünscht. Hier wird sie bleiben. Die Möbel stehen eng zusammen, sie wird wohl mit drei Schritten jede Wand abschreiten können, aber das schadet nichts. Genau unter dem großen Fenster steht ein breiter Tisch, der anscheinend als Schreibtisch benutzt wird, einige Bücher liegen darauf, Zeitschriften und Papier. Daneben steht eine Henkelkanne, wie sie Arbeiter benötigen.

„Entschuldigen Sie, bei mir liegen die Brocken noch ein bißchen durcheinander. Ich habe noch nicht einmal das Bett machen können. Sie müssen wissen, das muß ich seit gestern alles allein machen, weil ich mich mit der Schlampe gekracht habe.“ Erna staunt, das ist also der Untermieter Frau Ziegenbeins. Er hat ein richtiges Jungengesicht, trägt einen grauen Wollsweater, wie ihn Rennfahrer anhaben, und betrachtet sie mit auffälliger Verwunderung. Übrigens ist er nicht rasiert. An den beiden Wänden rechts und links der Tür stehen die üblichen Möbel, die in diesen Zimmern zu finden sind: Ein Schrank, eine Kommode, ein Waschtisch. Daneben an der Wand hängen die Kleider des Jungen an einem Haken. Erna betrachtet alles genau, und plötzlich merkt sie, daß sie noch immer auf den Kleiderhaken starrt, da hängt nämlich eine blaue Monteurjacke. Was ist da schon weiter dabei? Sie zieht ihre Baskenmütze herunter, um sich noch ein wenig umzusehen, das Zimmer gefällt ihr. Hinter ihr steht der junge Mann und sagt gar nichts mehr.

„Was zahlen Sie denn?“

„Sie können natürlich auf meine Ratschläge pfeifen“, antwortet er, „aber ich rate Ihnen ab.“

Erna, die zum Fenster hinaussieht, spürt ganz genau, daß er sie anstarrt. Sie dreht sich rasch um. Er streicht das Tischtuch glatt, räumt auch ein paar Sachen weg und deckt sogar das Bett zu.

„Ich bin nämlich der bisherige Untermieter, was Sie wohl schon gemerkt haben dürften.“

Jetzt grinst er wieder, ja, ja, wie heute morgen.

„Sie haben doch nischt dagegen, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?“

Erna schüttelt den Kopf.

„Ich will Ihnen mal was sagen, ich bin wirklich verträglich, aber Frau Ziegenbein ist ein Aas. Wir brauchen uns das von den Zimmervermieterinnen wirklich nicht gefallen zu lassen, was die sich herausnimmt. Ich bin dafür, daß solche wie Frau Ziegenbein ratzekahl ausgehungert werden. Deshalb erzähle ich Ihnen das nämlich, ich will der Alten gewissermaßen das Geschäft vermasseln.“

Erna betrachtet ihn genau, und er gefällt ihr. Er hat helles, struppiges Haar und ein junges, lustiges Gesicht. Sie zieht ihre Beine zusammen und hält mit beiden Händen die Baskenmütze im Schoß fest.

„Bei der müssen Sie um neun abends im Bett sein. Besuch ist nicht gestattet. Licht und Heizung bezahlen Sie für die ganze Wohnung. Lachen dürfen Sie auch nicht laut. Wenn Sie sich alles gefallen lassen wollen, können Sie die Wohnung ja mieten.“

„Nein“ meint Erna ernst, „wenn Sie so schlechte Erfahrungen gemacht haben, werde ich diese Wohnung lieber nicht nehmen.“

„Ach“, Sie finden auch sicher was Besseres.“

„Wenn Sie wüßten, wie lange ich heute schon suche.“

„Es gibt doch überall so viele möblierte Zimmer.“

„Ja, aber die sind so teuer. Oder nicht nett.“

Nun muß ich wohl gehen, denkt Erna. Sie kommt sich komisch vor, wie sie so in diesem fremden Zimmer sitzt und zum Fenster hinaussieht, als interessiere sie die Gegend.

„Sie sind wohl noch nicht lange in Berlin?“

„Nein.“

„So.“

Erna schielt zu dem Jungen hin, den kennt sie doch.

„Aus Frankfurt sind Sie aber auch nicht.“ Nein, das kann Erna bestätigen.

„Ich habe nämlich mal vier Monate in Frankfurt auf Montage gearbeitet, das war eine schöne Zeit, viel Zaster und eine feine Gegend. Über den Main gehen ein paar Brücken, und da fressen einem die Möwen aus der Hand, also bestimmt aus der Hand. Haben Sie schon mal so was gesehen?“

Nein, Erna hatte noch nicht so viele Reiseerfahrungen, und nachdem sie das festgestellt haben, verabschiedet sie sich.

„Soll ich mitgehen und Ihnen was aussuchen, ich habe Erfahrung darin.“

„Wie können Sie bloß mit so vielen Erfahrungen bei Frau Ziegenbein wohnen!“ will Erna wissen.

Dem Jungen bleibt die Spucke weg, Erna hat das fein gesagt, und sie freut sich darüber. Junge, Junge, dir will ich schon helfen, denkt sie. Heute morgen hast du hinter mir hergefeixt, jetzt lache ich.

Der Junge macht wirklich ein betrübtes Gesicht.

„Nee, ich dachte bloß, Ihnen wäre das angenehm, wenn ich mitgehe. Gehen Sie mal zwanzig Nummern weiter rauf, da finden Sie ein paar schöne Häuser, da würde ich nochmal versuchen, ob etwas frei ist.“

Erna schielt ihn an und lächelt, sie setzt ihre Baskenmütze auf, drückt ihm die Hand zum Abschied und geht. Er hat ein Gesicht, als wollte er etwas sagen. Sie gehen durch den Korridor, auf der Treppe brennt noch kein Licht.

„Fallen Sie nicht runter!“

„Nee... Und vielen Dank!“

Er beugt sich über das Treppengeländer und sieht ihr nach. Sie nimmt immer zwei Stufen auf einmal.

„Sind Sie mir böse wegen heute morgen?“

Die Antwort kommt aus der ersten Etage, aber hell und deutlich hallt das kleine Wort im Treppenhaus.

„Nein!“

Ein Zimmer findet Erna also doch noch. Zweiunddreißig Mark, mit Morgenkaffee sogar, das findet sie nicht sehr teuer.

Unten fahren die Züge holpernd über einen Damm, und der Rauch steigt hoch, bedeckt die Häuser, beschattet die Fenster.

Ein Bett steht im Zimmer, eine Kommode, der Kleiderschrank. Ein Tisch, dreibeinig und rund, bedeckt mit einer verschossenen blauen Decke, deren Spitzengeriesel bis zum Boden reicht. Zwei Stühle. Ein kleiner primitiver Waschtisch mit Schüssel und Krug und Wasserglas, mit einem leeren Seifenbehälter und dem üblichen sauber zusammengefalteten Handtuch, eine Einrichtung, die in jedem dieser möblierten Zimmer zu finden ist.

Die Frau gefällt ihr nicht besonders.

„Sie werden sich hier wohl fühlen, wollen Sie gleich Ihre Koffer auspacken?“

Dabei hat Erna noch gar nicht gesagt, daß sie das Zimmer mieten will, und Frau Matschek kann doch sehen, daß sie keinen Koffer bei sich hat.

Aber Erna rückt nicht wieder aus. Einmal macht ihr der Blick in das Häusergewirr da unten Spaß, mit den blanken Schienen dazwischen und den Zügen darüberhin, und dann ist ein langer Gang zwischen ihrem Zimmer und denen der Familie Matschek. Das ist ihr sehr angenehm.

„Ich will gleich bezahlen.“

Erna wird wieder rot dabei. Frau Matschek läuft mit klappernden Pantoffeln und bringt die Schlüssel. Ein Vorsaalschlüssel, einer zu ihrem Zimmer und einer zur Haustür.

In das Haustürschloß darf der Schlüssel nicht zu tief hineingesteckt werden, sonst geht die Tür nicht auf, aber das lerne man schnell. Wann sie morgens wecken solle?

Dann ist Erna allein. Sie sitzt in der Mitte ihres Zimmers und sieht sich um. Durch eine Wand hört sie Teller klappern. Eine Etage tiefer spielt ein Grammophon, schmetternde Musik. Erna ahnt nicht, daß der Einzugsmarsch aus Tannhäuser sie begrüßt. Unten pfeifen die Züge, und der Nachhall des Räderrollens tönt herauf. Ein heller Himmel schwimmt vorbei. Berlin, Berlin.

Sie steht auf, wäscht sich gründlich und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Das ist also die Erna Halbe, noch nicht neunzehn Jahre und allein in der Stadt Berlin. Sie kommt sich fremd vor. Ihr ist komisch und feierlich zu gleicher Zeit.

Ob der Bubikopf onduliert netter aussehen würde? Soviel Geld kann ich in diesem Monat nicht ausgeben, denkt sie. Sie macht Bilanz. Genau vierunddreißig Mark und tatsächlich vierunddreißig Pfennig liefen vor ihr auf dem Tisch. Damit muß sie einen Monat leben.

Ihre Wirtin klopft. Ob sie sich schon polizeilich angemeldet habe? Nein, das muß sie also noch tun.

Den Rest des Nachmittags benötigt sie zu diesen kleinen notwendigen Dingen. Polizeiliche Anmeldung, Koffer abholen, Wäsche auspacken, Zimmer etwas herrichten, Brot und Butter einkaufen. Sie kommt wieder kreuz und quer durch fremde und bekannte Straßen, rasch und energisch läuft sie, überall sieht sie neue Dinge. Jetzt habe ich eine Wohnung, da ist alles bloß halb so schlimm, spricht sie zu sich selbst. Ich werde doch nicht auf den Kopf fallen, das wäre doch gelacht!

Abends will sie die Stadt sehen, das Lichtmeer und den Nachtlärm. Sie geht in der siebenten Stunde fort. Helle, durchsichtige Luft weht noch über die Häuser, aber überall blinken schon die Lampen und Lichter. Die Tage werden länger, frühe, ungewohnte Wärme kommt aus dem flachen Land und zieht über die Stadt hin.

Sie fährt mit dem Omnibus, oben auf dem Dach. Das macht ihr Spaß, einsam und allein durch den Abend gefahren zu werden, an den erleuchteten Fenstern vorbei, durch fremde Straßen, über unbekannte Brücken. Sie nimmt ihre Baskenmütze ab, der Wind verwuschelt ihre Haare.