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Seamus Smyth

Spielarten der Rache

»You’re a ghost but I don’t care!«

Kitty Ricketts, The Radiators from Space, Irland 1979

Ein Vorwort von Frank Nowatzki

Als Seamus Smyth 1995 eine Fernsehdokumentation mit dem Titel States of Fear sah, die einen Missbrauchsskandal ungeheuren Ausmaßes aufdeckte, kam ihm wie vielen anderen Iren die Galle hoch. Im Mittelpunkt die katholi­sche Kirche und 200 von ihr geleitete Einrichtungen wie Waisenhäuser, Erziehungsheime und Arbeitsschulen. Über Dekaden hinweg wurden dort Tausende Kinder ausgebeutet, misshandelt und sexuell missbraucht. Straftaten, begangen mit System, in Anstalten, geführt von der katholischen Kirche und finanziert mit irischem Steuergeld. Bei den Opfern handelte es sich um Waisen, um außerehelich geborene Kinder und Kinder, die durch strafbare Handlungen oder anderweitig auffällig geworden waren. Sie waren im Durchschnitt acht Jahre alt und beiderlei Geschlechts, wurden als Kindersklaven an Bau­ern ausgeliehen oder waren in katholischen Be­trieben mit der Herstellung von Kruzifixen und anderen Devotionalien befasst, die im Anschluss in alle Welt ex­portiert wurden. Standen im Falle der Jungen der Orden der Chris­tian Brothers und die beiden größten von ihnen geführten industrial schools in Dublin und Donegal im Zentrum der Vorwürfe, so war es bei den Mädchen der katholische Frauenorden der Sisters of Mercy, der Schwes­tern der Barmherzigkeit. Während der sexuelle Missbrauch bei den Christian Brothers eine wesentliche Komponente im Missbrauchssystem darstellte, machten sich die Schwes­tern der Barmherzigkeit »nur« des körperlichen Missbrauchs schuldig, der Demütigung und Schi­kane. Doch die katholische Kirche stand nicht allein am Pranger, sondern mit ihr der irische Staat. Die enge Verflechtung von Kirche und Staat machte es möglich, dass die ungeheuerlichen Geschehnisse jahrzehntelang vertuscht werden konnten. Nicht nur dass kooperations­willige Gerichte die Betroffenen einwiesen, nein, der Staat zahlte für jede Einweisung eine Art Kopfgeldprämie an die entsprechende Einrichtung. Wandten sich die Opfer an Polizei und Behörden, fanden sie in Anbetracht einer als sakrosankt empfundenen Kirche kein Gehör und wurden zurück in die Institution verbracht. Die Doku States of Fear, die nicht nur Seamus Smyth vom Glauben abfallen ließ, erzeugte ein Echo, das die Einsetzung einer Kommission erzwang. Bemerkenswert, dass die Kommission im Zuge ihrer Recherchen im Archiv des Vatikans fündig wurde, was Beweise zu den Vorgängen in Irland betraf. 1999, noch bevor die Kommission im Jahre 2000 ihre Arbeit aufnahm, entschuldigte sich der damalige irische Premier Bertie Ahern im Namen des irischen Staates bei den Opfern. Wesentlich wichtiger jedoch als die Ergebnisse besagter Kommission, deren Abschlussbericht in Abwesenheit der nicht zugelassenen Opfer verlesen wurde, ist nach Ansicht der ebenfalls betroffenen irischen Sängerin Sinhéad O’Connor der 2009er Bericht der Unter­su­chungs­kommission um Richterin Yvonne Murphy. Die Opfer selbst hätten zu viele Versprechungen von den Geistlichen gehört, die am Ende doch nicht eingehalten worden seien, sagte O’Connor 2010 dem Spiegel. Auch schnelle Rücktritte seien letzten Endes immer wieder nur »eine Flucht aus der Verantwortung gewesen.« Das Leid der Opfer sei zu groß, um es mit Worten wiedergutzumachen. Der Murphy-Re­port brachte es auf den Punkt: »Die staatlichen Auto­ri­täten sind nicht ihrer Verantwortung nachgekommen, dafür zu sorgen, dass das Gesetz auf alle Menschen gleichermaßen angewandt wird, und haben den kirchlichen Einrichtungen gestattet, außerhalb der Rechtsprozesse zu stehen. Dadurch leisteten sie der Verheimlichung Vor­schub.«

Seamus Smyth begann, das brisante Thema literarisch aufzuarbeiten, denn eines machte ihn besonders wü­tend: Jeder Ire hatte geahnt, was da vor sich gegangen war, doch als die Sache aufflog, wollte niemand etwas davon gewusst haben. Er stellte sich die Frage, ob ein Klein­kind, das von einem korrupten System in einen derartigen Höllenschlund entsendet und jahrelang missbraucht und miss­handelt wird, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln kann, die ein rachsüch­tiges Verhalten be­fördert, wie es sein Protagonist und Antiheld Red Dock im vorliegenden Roman an den Tag legt. Als Red Dock volljährig aus dem Waisenhaus entlassen wird, taucht er in die Unterwelt Dublins ab, wo er sich bequem einrichtet und als Machiavellist das geeignete kriminelle Umfeld findet, um rational und kalkulierend seinen seit Langem angelegten Rachefeldzug anzutreten. Wie er die Strukturen des Geflechts von Staat und Kir­che analysiert, die ihn und seinen Bruder zum Opfer machten, wie er sie zweckentfremdet und als Waffe einsetzt, kann man durch­­aus als subtile Anarchie bezeichnen. Manche Szenen, die abrupte Gewalt und der Wechsel der Perspektiven erinnern an das britische Noir-Schwergewicht Ted Lewis (Schwere Körperverletzung). Und wenn dann noch ein Se­rien­­killer namens Picasso das Parkett betritt, der dem sadomasochistischen, an AIDS erkrankten Axtmörder Tony Spavento aus Ich war Dora Suarez Kon­kurrenz ma­chen könnte – einer Figur, die wir Derek Raymond zu verdanken haben, einem weiteren Meister des Noir –, befürchtet man einen Overkill. Zumal Seamus Smyth damit gleich mehrfach gegen die No-Go-Liste im Blog des ebenfalls aus Belfast stammenden Autors Adrian McKinty (Die Sirenen von Belfast) verstößt, der hierzulande immerhin schon bei Suhrkamp Fuß gefasst hat. Doch dass auch Seamus Smyth dem Serienkiller-Wahn nichts abgewinnen kann und dem ganzen Sub-Genre mit maka­ber-ironischer Attitüde begegnet, merkt man spätes­tens dann, wenn Red Dock selbst den ge­fürchteten Serien­killer Picasso, der einem Geist gleich auftaucht und sein Unwesen treibt, für seine Zwecke einsetzt und wie einen Hund an die Leine legt. Gemessen an der Bösartigkeit und Gewaltbereitschaft dieser Charaktere kann man nur staunen, dass Seamus Smyth Charles Dickens’ Ebenezer Scrooge als seinen literarischen Lieb­lingsböse­wicht bezeichnet, auch wenn er noch ent­schuldigend hinzufügt: »Bevor die drei Geister einen Trottel aus ihm machten.«

Der hierzulande vermutlich bekanntere Ken Bruen (Kaliber bei Polar, Jack Taylor bei Atrium) feierte 2007 das Krimidebüt von Seamus Smyth, Quinn, und stellte es auf eine Stufe mit George V. HigginsDie Freunde von Eddie Coyle. Er zollte ihm Respekt für seine traumhafte Schreibe und seinen originellen düsteren irischen Stil. Auch hier arbeitet sich ein Antiheld – Gerd Quinn – an den Schwach­stellen des irischen Rechtssystems ab und präpariert im Vorfeld der Tat die Tatorte, sodass am Ende anstelle von Mord und Totschlag nur drei Unfälle und ein Selbstmord auf dem Tisch des überforderten Staatsanwalts liegen.

Declan Burke (Absolute Zero Cool) kam hierzulande inzwischen bei Nautilus unter und berichtet auf seinem Blog regelmäßig über die irische Szene. Auch er outete sich als Smyth-Fan und wunderte sich, warum der »only big in Japan« sei. Spielarten der Rache schaffte es nämlich, in Japan zum zweitbesten Krimi des Jahres gewählt zu werden; dort erschien, genauso wie später in Frankreich, auch der dritte Smyth-Roman The Mole’s Cage. Er handelt von dem 17-jährigen Michael Hill, der an der nord­irischen Grenze als potentielles IRA-Mitglied verhaftet und ohne Anklage westlich von Belfast auf einem ehemaligen Flughafengelände in Long Kesh mit Tau­sen­den anderer Männer interniert wird. Die einzige Flucht­möglichkeit bieten eigenhändig gegrabene Tunnel, doch die inhaftierten IRA-Mitglieder kontrollierten die Flucht­wege und bevorzugten ihre »echten« Mitglieder. Ein autobiografisch angehauchtes Catch-22-Dilemma.

Dass Seamus Smyth trotz seines Erfolgs in Japan und Frankreich (beide Länder sind ja für ihren skurrilen Ge­schmack bekannt) in seinem Heimatland keinen Verlag fand, verwundet nicht angesichts der heiklen Themen, die er aufgreift. Nach eigenem Bekunden mag Smyth die Krimischreiberei nur als Vehikel, um am Ende anderen Aspekten zum Durchbruch zu verhelfen. Ken Bruen warnte ihn, das Krimibusiness sei kein Zuckerschlecken und als Krimiautor finde man sich ganz unten auf dem literarischen Barometer wieder; und als irischer Krimiautor könne man sich eigentlich gleich erschießen. Als zu allem Überfluss herauskam – oder gezielt verbreitet wurde –, dass der ebenfalls vor sich hin dümpelnde Krimischreiber Robert Galbraith (Der Ruf des Kuckucks) ein Pseudonym der erfolgreichen Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling war, passierten zwei Dinge: Aus dem tot geglaubten kriminellen Kuckucksei entwickelte sich ein prächtiger Phönix mit beeindruckendem Verkaufsrang. Und Autoren wie Seamus Smyth kamen abermals zu der Erkenntnis, dass die Qualität eines erfolgreichen Buches in Anbetracht dieser Marketingmöglichkeiten ziemlich irrelevant sei. »Wenn du Geld verlieren willst«, sagte er letztes Jahr zu mir, »investiere in Krimis oder züchte Pferde.« Unbekannte Autoren müssten erst aufgebaut werden, gute Übersetzungen kosteten Zeit, erwiderte ich. Aber diesmal klang es endgültig, so, als habe er die Faxen dicke. Ich könne ja auf den Zug aufspringen, gab er mir noch mit auf den Weg, und behaupten, J.K. Row­ling habe noch ein zweites, ein irisches Pseudonym: Seamus Smyth. Ein verlockender Gedanke, der mir am Ende doch zu waghalsig erschien, denn welcher Pulp-Master-Fan würde ein Buch von J.K. Rowling lesen wollen? Ein guter Zeitpunkt also, sich einmal selbstkritisch zu fragen, wie und warum es diese kommerziellen Totgeburten immer wieder auf unsere Liste schaffen.

***

Im Vorfeld einer dieser jährlich stattfindenden Frankfurter Buchmessen kontaktierte mich eine Literatur­agentin aus Dublin, denn sie habe gehört, ich sei der Mann für die hoffnungslosen Fälle. Teils geschmeichelt, teils amüsiert, so wie man sich als Hoffnungsloser fühlt, wenn man von anderen Hoffnungslosen als Erretter auserkoren wird, traf ich mich mit Svetlana im Agenten Center der Buchmesse. Als ich ihre Mappe durchblätterte, erwähnte ich beiläufig, dass unsere Pipeline für die nächsten zwei Jahre bereits mehr als gut gefüllt und sowohl unser Budget ausgeschöpft sei als auch unsere Kapazität. Die vorderen Titel in ihrer Mappe hatte Svetlana bereits an die üblichen Verdächtigen verkauft, doch weiter hinten fand sich ein interessanter Amerikaner namens Craig McDonald und dann, ganz weit hinten, stieß ich – plötzlich hellwach – auf Seamus Smyth. Wäh­rend mir Svetlana von Seamus Smyth vor­schwärmte, ihn aber fairerweise als quasi unverkäuflich einstufte, lief bei mir plötzlich ein ganz anderer Film ab. Ich hatte Bilder von meinem Motorradtrip 1985 vor Augen, als ich mit meinem Kumpel Roger quer durch Irland cruiste, in verfallenen Cottages übernachtete oder auf Wiesen irgend­welcher Farmer zeltete, die uns abends mit selbstge­brann­tem Moonshine-Whiskey versorgten. Es gab kaum Verkehr, alles wirkte irgendwie hinterwäldlerisch und naturalistisch, überall in den örtlichen Pubs trafen wir auf Studenten, die Lokalrunden mit unzähligen Guinness schmissen, da sie, ihre Abschlüsse in der Tasche, keine Zukunft in Irland sahen und ihr Glück auf den Kontinenten suchten und sich für immer verabschiedeten. Einmal eskortierten uns sogar zwei Cops nach der Sperrstunde zurück zum Zelt, damit wir keinen Unfall bauten. Irland, wie es sein sollte. Die Eindrücke und die Stimmung waren überwältigend, bis ich auf der Rückfahrt in den Rückspiegel blickte und Roger plötzlich verschwunden war. Als ich am Straßenrand auf ihn wartete und mir kurze Zeit später ein Krankenwagen mit Blaulicht entgegenkam, wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst, dass es Momente geben wird, die nicht glücklich vorüberziehen werden. Dass ich nach über fünfund­zwanzig Jahren diese Erinnerungen (nebst den dazugehörigen heftigen gemischten Gefühlen) an Svetlanas Tisch wie auf Knopfdruck abrufen konnte, war für je­manden wie mich, der eigentlich ziemlich vergesslich ist, erstaunlich. Viel­leicht schwammen die dafür zuständigen Partikel im Nervenwasser meines Rückenmarks, vielleicht hatte ich Irland irgendwie im Blut. Ich fing an, mich intensiver mit Seamus Smyth und seinen Texten zu befassen, obwohl es aus kalkulatorischer Sicht nicht sonderlich sinnvoll er­schien, es sei denn, man bevorzugt antizyklisches Verhalten.

Die Zeit heilt Wunden, so sagt man, und angespornt durch die Lektüre von Seamus Smyth nahm ich Ostern 2010 die Gelegenheit wahr, der grünen Insel wieder einen Besuch abzustatten. Meine Frau wollte ihre Schulfreundin in Galway besuchen, die mit ihrer Familie dorthin ausgewandert war. Ihr Mann, ein Mathematiker, ist Professor an der dortigen Universität. Ich staunte nicht schlecht, als unsere atheistischen Gastgeber am Sonntagvormittag hektisch zur Kirche aufbrachen und anschließend für Nachbarn, Kollegen und Freunde einen Aftershow-Brunch gaben. Wolle man sich gesellschaftlich nicht aus­schließen – vor allem jedoch nicht die Kinder in Schule und Sport­verein –, müsse man wohl oder übel mitmischen, so hieß es. Ich konnte die Wut von Seamus Smyth jetzt nachvollziehen, denn im Grunde war alles beim Alten geblieben, obwohl Irland sich komplett verändert hatte. Auf den schmalen Straßen gab es ständig Staus, die einfachen Cottages hatten sich in protzige, ausladende Landhäuser verwandelt mit mindestens jeweils drei Fahr­zeugen unterm Carport. Die Iren hatten die EU-Millionen aus Brüssel so gut ge­nutzt, dass Irland plötzlich als Celtic Tiger fauchen konnte und vom Armenhaus Europas zu einem der reichsten Länder der Welt aufgestiegen war. Doch das Wirt­schafts­wunder wurde schnell zum Albtraum einer auf Pump finanzierten Nachfrage und stürzte wie ein Kartenhaus zusammen. Viele Iren waren plötzlich mittellos und verloren buchstäblich alles. Ich musste unwillkürlich an die bewegende Vita von Seamus Smyth denken und an den Bogen, den er über Krimis zur Pferdezucht spannte, einem riesigen Wirtschaftszweig in Irland. Auch hier ging die Schere immer weiter auseinander, denn im Zuge der Krise konnten viele private Pferdebesitzer und Züchter ihre Galopper nicht mehr versorgen und ver­kauften sie an Abdecker in Frankreich, wo sie dann bekanntermaßen als Lasagne endeten. Bis auf das mächtige, malerische Coolmore Gestüt, ein im Golden Vale gelegenes globales Im­perium, wo man uns netterweise herumführte und wir verfolgen konnten, wie Dylan Thomas (nein, nicht der Dichter, sondern ein sechsmaliger Gruppe 1 Sire) sein rie­si­ges Gemächt in eine eigens dafür angereiste Stute einführen durfte, deren Besitzer eine Deckgebühr von 12.000 Euro berappen musste. Hier rollte der Rubel also noch. Dass sich derartige Investitionen durchaus lohnen, sah ich dann 2013 live in Hoppegarten bei Berlin, als die Dylan-Thomas-Tochter Nymphea in einem Gruppe 1 Rennen die Konkurrenz mit einem Start-Ziel-Sieg gnadenlos in Grund und Boden galoppierte. Sie fragen sich jetzt be­stimmt, warum ich das alles erzähle. Wenn man sich ein Mindestmaß an Spiritualität in allen Lebensbelangen bewahrt – dazu gehört auch das Verlegen dieses Buches –, wenn man vor allem Originalität und Unikate zu schätzen weiß, statt Zeit und Geld in Me-Too-Kriminalliteratur zu investieren, die von Konzernen generiert wird, um uns palettenweise zu suggerieren, dass wir sie dringend brau­chen, obgleich sie nur die große Leere nährt, die uns alle irgendwie umgibt, bevor sie, steril eingeschweißt, wie zu viel produzierte Lebens­mittel wieder entsorgt wird und vergessen auf dem Müll landet, sobald ihr Haltbar­keitsdatum überschritten ist, dann, lieber Leser, kommt man irgendwann zu der Erkenntnis, dass Seamus SmythSpielarten der Rache ein einzigartiges Buch ist, das es zu entdecken lohnt. Es ist mitnichten ein netter, unterhaltsamer Krimi, den Sie jederzeit entspannt zur Seite legen können, denn er wird auch ihr Nervenwasser mit Partikeln anreichern, an denen Sie noch lange Ihre Freude haben werden. Versprochen. Ob Seamus Smyth sich endgültig vom Krimigeschäft verabschiedet hat und weiter den täglichen Schreibdrang bekämpft, weil es ohnehin sinnlos ist, wird sich noch herausstellen. Aber ich bin sicher, dass die vorliegende Ausgabe ein fettes Grinsen in sein Gesicht zaubern wird, wenn er sie in den Händen hält. Erst dann, liebe Svetlana, sind wir unserem Ruf wirklich gerecht geworden und haben die Mission erfüllt.

RED DOCK

Sie wollen Millionär werden? Dann Finger weg von der Erwerbsarbeit. Fünfzig Jahre im Hamsterrad und bevor Sie sich versehen, gräbt irgendein Arsch ein Loch und schmeißt Sie hinein. »Ach, das war ein so netter Mensch. Wir werden ihn schmerzlich vermissen.« Schwachsinn. Lassen Sie’s sich gesagt sein: Wer weniger arbeitet, lebt länger.

»Ja, schon, das mag für dich gelten, du Armleuchter«, höre ich Sie sagen. »Aber wie kommen wir zu einer Million?« Eine berechtigte Frage. Sie könnten es mit einer Entführung versuchen – ich rate allerdings ab. Mir ist keine bekannt, bei der nicht irgendetwas schiefgelaufen ist. Sich das Opfer zu schnappen ist ziemlich simpel; das Lösegeld zu kassieren, das ist die Herausforderung. Entweder macht das Opfer auf sich aufmerksam, indem es unvernünftigerweise zu fliehen versucht, oder dort, wo Sie den armen Tropf gefangen halten, gibt es ein ungewöhnliches Hin und Her, als Nächstes schafft es die Geschichte ins Fernsehen und eine neugierige Nachbarin sagt sich, Moment mal, hebt den Telefonhörer hoch und dann heißt es: »Scheiße, die Bullen umstellen das Haus.«

Nein, nein, die einzig praktikable Form von Entführung ist die, bei der man das Opfer so schnell wie möglich wieder loswird. Keine neugierigen Nachbarn, kein Versteck, kein Hin und Her, nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen muss.

Heutzutage zahlt es sich aus, die Dinge zu straffen.

Also sagte ich Charlie Swags, das Baby sei auf den Stufen eines Waisenhauses abzulegen, nachdem es gekidnappt wurde.

(Wer will schon ein quengelndes Kind in seiner Nähe.)

Dann bekam die Mutter eine Nachricht von mir.

Das Übliche: KEINE POLIZEI. HALTEN SIE BAR­GELD BEREIT (in diesem Fall hundert Riesen). Und am nächs­ten Morgen hatte sie mich am Telefon. Der Schnelligkeit nach zu urteilen, mit der sie abhob, hatte sie wohl mit der Hand am Hörer dagesessen.

Da war sie also: »Ja? Ja? Hallo? Hallo?«

Sie musste mich für schwerhörig halten. Ich konnte mir die Jungens so richtig vorstellen, wie sie ihr zuwisperten: »Zum Teufel noch mal, junge Frau, geben Sie uns die Möglichkeit, sie aufzuspüren, ja?«

»Mrs. Winters?«

»Ja, hier ist Mrs. Winters.«

»Wenn Sie Ihr Baby wiedersehen wollen, dann bringen Sie das Geld um zwei Uhr heute Nachmittag nach Kilreed. Warten Sie in der Telefonzelle vor dem Postamt. Und kommen Sie allein.«

Es ist schwer, so etwas nach wenigen Worten zu be­urteilen, aber ich hatte ganz klar den Eindruck, dass sie hypernervös war. Möglicherweise schlief sie nicht besonders.

Gewiss werden Sie sich jetzt fragen, wie will er das Geld kassieren, wenn er kein Baby hat, das er übergeben kann? Ganz einfach: Sie sollten dann kidnappen, wenn Sie die Angehörigen des Opfers in den Wahnsinn treiben wollen. Als Ablenkungsmanöver. Niemals des Geldes wegen.

Nicht dass Mrs. Winters überhaupt welches besessen hätte. Nicht bei dem Gehalt ihres Angetrauten. Wahr­scheinlich machte sie ihn völlig kirre mit ihrer ständigen Leier von wegen »Ich will mein Baby zurück«. Wie Frauen eben so sind. Und wahrscheinlich wünschte er sich, Frauen mögen wie ein Kassettenrekorder über eine Aus-Taste verfügen.

Sie sah gar nicht mal übel aus: Ende zwanzig, kurze Locken. Ganz ansehnliche Titten, die sie da vorzuweisen hatte – und mir waren schon kleinere Ärsche unter­gekommen. Nicht dass ich auf sie stand. Was Frauen be­trifft, ich bevorzuge Größe 36, sie war mindestens eine 40. Sie interessierte mich nur insoweit, als ihr Göttergatte Charlie Swags in die Quere gekommen war und mir war wichtig, dass er jemand anderem in die Quere kam.

Und so stand ich um zwei Uhr an diesem Nachmittag am Fenster eines Büros im Dachgeschoss eines Hotels, ein Fernglas in den Händen, und sah hinunter zu Mary Winters, als sie in die Telefonzelle des Städtchens Kilreed ging, um meinen Anruf entgegenzunehmen. Ihre Augenpartie war ziemlich gerötet – was vermutlich dem Tapetenkleister zuzuschreiben war, den Swags’ Männer Mrs. Winters verabreicht hatten, als sie aus dem Fahr­stuhl einer Tiefgarage getreten war und man ihr den Nachwuchs aus der Tragetasche gerissen hatte. Nebenbei, sie hatten den Kleister mit Zitronensäure versetzt. Mit Optrex bekomme man das wieder hin, wie man mir versichert hatte, allerdings nur mit etlichen Litern von diesem Zeug. Ein Krankenhaus ist effektiver.

»Biegen Sie links um die Ecke«, lautete meine An­weisung, »dann wieder links an dem Schild, auf dem ›Whites‹ steht. Folgen Sie dem Weg, bis Sie zu einem Gehöft kommen.«

Typisch Frau – sah auf ihren Ringfinger, um zu ergründen, wo links ist. Ein ewiges Geheimnis, wie ledige Frauen das hinkriegen. Die Hälfte von ihnen heiratet nur, um herauszufinden, in welche Richtung sie sich bewegen.

Ich verfolgte, wie sie ankam. Whites Gehöft lag weni­ger als eine halbe Meile von meinem Standort entfernt. Natürlich hatte man sie verkabelt und die Bullen waren ganz in der Nähe, warteten darauf loszustürmen, sobald ich das Baby übergab. Jedenfalls stellten sie es sich so vor. Schließlich trainieren sie dieses ganze Trara, um ihren Mann ja zu schnappen.

Nun, sie stieg aus dem Wagen, sah sich auf dem Hof um, wollte sehen, was Sache war – ging zweifellos davon aus, dass ich gleich hinter einer Scheune oder so hervorgesprungen käme –, und hörte das, wovon ich wollte, dass sie es hörte: die Laute ihres schreienden Babys im Haus, dann das Klingeln des Telefons direkt hinter der offenen Eingangstür. Ein kurzer Anruf meinerseits, nur um zu sehen, wie sie sich so machte.

»Stellen Sie den Aktenkoffer ab, gehen Sie hoch und holen Sie Ihr Kind«, sagte ich.

Was genau danach geschah, vermag ich nicht zu sagen. Ich konnte ja nicht hineinsehen in das Haus. Aber ich denke mal, dass sie durch den Flur ging, nach oben blickte und einen Säugling entdeckte, der in einem Tragegurt an der Einstiegsluke zum Dachboden baumelte, genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte.

Gerechterweise muss man sagen, dass sie sich gut im Griff hatte. Nichts von diesem »Oh mein Gott!«-Käse oder »Seht doch nur, mein Baby!« Über das Telefon hörte ich nur einen Schluchzer der Erleichterung, dann das Geräusch des Aktenkoffers, als er auf den Boden fiel, gefolgt von ihren Schritten, die die Treppe hinaufeilten und abgelöst wurden vom Knarren der Leiter, die Mrs. Winters erklomm, um ihr Baby zu erlösen und doch nur eine Puppe vorzufinden, die in den Sachen steckte, die der Säugling zuletzt getragen hatte, woraufhin Hysterie sich ihrer bemächtigte, was jedoch nichts war im Ver­gleich zu dem Geschrei, das jetzt anhob, als sie auf den Dachboden kletterte und den Kassettenrekorder entdeckte, der das von mir aufgenommene Geplärre ihres Babys abspielte, ihr mithin verdeutlichte, dass sie nun allein nach Hause gehen werde, und sie zum Jammern animierte nach dem Motto, »Wo ist mein Baby? Wo ist es? Wo ist mein Baby ... wo ... «, und in Tränen ausbrechen ließ.

Ob der Aktenkoffer das Geld tatsächlich enthielt oder nicht, keine Ahnung. Ziemlich sicher hatten die Bullen es für diesen Anlass rausgerückt. Sie verfügen doch über Sicherheitsrücklagen für unvorhergesehene Ereignisse, nicht wahr?

Wie dem auch sei, ich hörte das Klappern von Ab­sätzen, als Mrs. Winters die Treppe hinunterrannte, zum Telefon kam und jetzt mir in den Ohren lag mit ihrem »Wo ist mein Baby, wo ist mein Baby? Bitte sagen Sie mir, wo mein Baby ist.«

»Sie hatten Anweisung, die Polizei nicht einzuschalten.«

»Aber mein Mann ist Polizist! Wie hätte ich es ihm verschweigen können?«

Er war Detective Sergeant. Chilly Winters. Einer von der Garda Síochána. Darauf abgerichtet zu bemerken, dass sein Kind entführt worden war. Meinetwegen konn­te er bemerken, was er wollte, solange er nicht mich bemerkte.

»Wenn er dabei ist, kann ich mich nicht blicken lassen.«

»Was blieb mir denn anderes übrig? Sie ist seine Tochter. Was hätte ich machen sollen?«

»Eine Möglichkeit finden, ihn da rauszuhalten.«

»Und wie? Sagen Sie’s mir. Bitte. Ich mach alles, was Sie sagen.«

»Ich muss drüber nachdenken und melde mich wieder. Mehr kann ich momentan nicht sagen. Wiederhören.«

»Nein, warten Sie. Sagen Sie mir, wo mein Baby ist. Bitte, sagen Sie es mir. Bitte, bitte ... «

Soweit ich wusste, hätte das Baby zu diesem Zeitpunkt durchaus an der Brust der Gespielin irgendeines Mönches liegen können.

Oh, ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass die Polizei ermittlungstechnisch ihr Programm so abspulte, wie man es von ihr gewohnt ist – meinen Beobachtungsposten als den einzigen Ort ermittelte, von dem aus man das Ge­höft über die Dächer des Städtchens hinweg sehen konn­te, dank der Ortung des Telefons, das ich benutzt hatte und das lediglich eine Sorte Fingerabdrücke aufwies, nämlich die eines Mannes namens Ken Varden, der mit dem Hotel in Verbindung gebracht werden konnte. So hef­teten sie sich an seine Fersen, nicht an meine. Er und Chilly Winters gingen sich gegenseitig auf den Keks. Also hatte Winters guten Grund, ihn zu verdächtigen. Eins reih­te sich ans andere. Mit Ausnahme von Ken Varden. Der hatte sich längst woanders eingereiht.

Und Mary Winters wartet immer noch darauf, dass ich erneut Kontakt mit ihr aufnehme.

Also knicken Sie das mit der Entführung. Es gibt jede Menge anderer Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Sollten Sie entschlossen sein zu tun, was ich tue, dann lassen Sie Ihre Erfahrung für sich arbeiten.

Was Mary Winters’ Tochter betraf, es sprach nichts dagegen, ein rundum gesundes Baby einzusetzen. Zumal ich persönlich Verwendung für die Kleine hatte. Aus einem Grund, der weder mit Charlie Swags zu tun hatte noch mit sonst jemandem: dem wahren Grund, weshalb ich sie mir geschnappt hatte.

Ja, genau so ist es.

Deshalb bemühte ich mich auch zu meinem Bruder Conor.

Conor ließ es sich gut gehen – das strohgedeckte Cottage am Tor zur langen Auffahrt, die dorthin führte, wo er sich ein großes Haus hatte bauen lassen, wo er Pferde hatte und Vieh auf den Weiden und einen neuen Wagen vor der Tür. Traumhaft.

Er bewegte ein Pferd an der Longe, als ich ankam. Also lehnte ich mich gegen den Zaun und genoss die Atmosphäre.

Ich liebe es, Pferde zu beobachten. Vielleicht hätte ich mich auch darauf verlegt, wenn die Dinge anders verlaufen wären. Nun, ich denke, es liegt einem im Blut. Doch mit diesem verdammten kaputten Bein war der Zug für mich längst abgefahren. Wenn Sie sehen würden, wie ich ein Pferd besteige, Sie würden glauben, mich hätte kurz zuvor eins abgeworfen. Seltsam, wie zwei Menschen mit demselben Hintergrund am Ende doch Welten trennen können. Ich nehme an, das ist es, was eine Panne bei der Geburt einem antut.

Er besaß ein Händchen für Pferde, mein Bruder. Unter anderen Umständen wäre ich womöglich stolz auf ihn gewesen. Aber gut, zurück zu dem, weswegen ich gekommen war.

Er ließ den Fuchs von der Longe, nahm ihm das Zaumzeug ab und ließ ihn frei laufen.

»Schönes Pferd«, sagte ich.

»Ja, ganz ordentlich.«

»Ich heiße Red Dock.«

»Conor Donavan. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin auf der Suche nach einer Freundin. Ein Mädchen, das ich in London kennengelernt habe. Sie heißt Anne Donavan. Der Priester im Dorf sagte mir, ich würde sie hier finden.« Das war Quatsch. Er konnte sie gar nicht kennen. Sie war ein Produkt meiner Phantasie. Und ich war seit Jahren keinem Priester mehr begegnet. Das Sinnhafte an Religion hatte sich mir nie erschlossen.

Die einzige Anne Donavan, die Conor kannte, war seine Tochter. Vor allem ihretwegen war ich hergekommen. Ich wollte einiges über sie in Erfahrung bringen. »Sie ist nie in London gewesen«, erklärte er mir. »Sie ist unten im Cottage, wenn Sie mit ihr sprechen wollen, aber sie wird Ihnen nichts anderes sagen – sie ist in der Gegend die Einzige, die so heißt.«

Ein wahrhaft hilfsbereiter Bruder. Seltsam, hier zu stehen und mit ihm zu reden, ohne dass er wusste, wer ich war. Auch Anne erkannte mich nicht, als ich ihr den glei­chen Mist auftischte. Ich stand einen Meter von ihr entfernt, doch genauso gut hätte ich der Mann mit der eisernen Maske für sie sein können. Dabei war ich ihr Onkel. Schon lustig, wie eine auf Information fußende Wahrnehmung der Menschen voneinander das verdrängt, was ansonsten zum spontanen Erkennen eines nahen Verwandten führen könnte. Die altbekannte Redensart »er ist ein naher Verwandter« greift nur dann, wenn sie wissen, wer man ist.

»Alles steht in Beziehung zueinander«, hatte mal einer zu mir gesagt. Ich hatte nicht verstanden, was er meinte. Ich war seinerzeit erst zehn. »Nur du nicht«, fügte er hinzu. »Du stehst zu nichts und niemandem in Be­zie­hung. Nicht einmal zu deinen Verwandten. Niemand interessiert sich auch nur die Bohne für dich und ich kann mit dir machen, was ich will.«

Das bin ich – ohne Beziehung zu nichts und niemandem. Was ich mache, zählt nicht. Und nun?

»Leider kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen«, sagte Anne.

Sie half mir bereits, indem sie vor mir stand, ohne Ehering am Finger und alt genug – siebzehn, würde ich sagen, vier Jahre jünger als ich –, um ein Baby haben zu können. Selbstverständlich würde ich auch jemanden benötigen, der bestätigte, das Kind auf die Welt geholt zu haben. Ich beabsichtigte nämlich, Anne zur Mutter von Mary Winters’ Baby zu machen. Jedes Kind braucht eine Mutter, nicht wahr? Meinetwegen attestieren Sie mir Gefühlsduselei. Aber wie immer geht es darum, Ordnung in den Papierkram zu bringen.

»Ich frage mich, ob es etwas bringt, den Arzt im Ort zu fragen«, setzte ich in Sachen Blödsinn noch einen drauf. »Er könnte die Anne Donavan kennen, nach der ich suche.«

Ich wusste, es gab nur einen. Aber in Detailfragen gehe ich auf Nummer sicher. Sie sah nicht so aus, als setze sie große Hoffnungen in den Doc – wie es eben so ist in ländlichen Gemeinden, wo man aufs Engste miteinander verknüpft ist und jeder jeden kennt. Sie beschrieb mir den Weg zu dem Mann, der mir auf die Welt geholfen hatte – Dr. Skeffington.

»Er ist der einzige Arzt hier«, sagte sie.

»Seine Sprechstunde geht von vier bis sechs.«

»Danke.«

Ich suchte ihn nicht auf; die ärztliche Auskunft, um die es mir ging, holte ich besser außerhalb der Sprechzeiten ein. Also legte ich mich auf die Lauer, bis er seine Praxis verließ und mit einem Ford Cortina davonfuhr. Allem Anschein nach ein neues Modell. Man hatte den Doc gerufen. Zu einem Gehöft, wie sich herausstellte, gelegen an einer schmalen Landstraße, die nur Platz bot für ein Fahrzeug. Ruhig und idyllisch.

Ich fuhr rückwärts in die Landstraße, blieb im Wagen und beschäftigte mich damit, mir ein paar mögliche Sieger für die Rennen am nächsten Tag herauszupicken, bis ich im Rückspiegel das Aufleuchten von Scheinwerfern wahrnahm und sah, wie der Doc vom Hof fuhr. Jetzt hieß es raus aus dem Auto, Motorhaube öffnen und warten, dass er hinter mir hielt. Ein rücksichtsvoller Zeitgenosse: Er stellte das Fernlicht ab, um mich nicht zu blenden, stieg aus und kam zu mir, der ich mit verdrießlicher Miene über den Motor gebeugt dastand. Ein langer, hagerer Typ in einem Tweedanzug, mit weißem Schnurrbart und spärlichem Haarwuchs.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Hat gerade den Geist auf­gegeben.« Wir sprechen hier von einem neuen Mercedes. »Man sollte meinen, dass die zuverlässiger sind. Auf nichts ist heutzutage mehr Verlass.«

»Tja, so was kommt leider vor«, sagte er. »Und immer an Abenden wie diesen.« Er knöpfte seinen Kurzmantel zu.

Schien einigermaßen sympathisch zu sein, der Knabe. Das hat mir von jeher an den Leuten vom Lande ge­fallen. Sie sind so entspannt. Verreckt einem der Motor in der Stadt, sind die Wichser dort wild entschlossen, einen von der Straße zu jagen.

»Sie fahren nicht zufällig zurück ins Dorf?«, fragte ich.

»Doch, ja.«

»Ob Sie mich wohl mitnehmen könnten?«

»Steigen Sie ein.«

»Prima. Aber ich sollte ihn nicht stehen lassen, wo er die Straße blockiert.«

Er schob mich an. Keine große Sache. Aus Rücksicht auf unsere Rücken hatte ich mich nämlich für die Spitze einer Steigung entschieden. So konnte der Wa­gen im Freilauf hinunter zur Hauptstraße und dicht an die Hecken gelenkt werden und ich anschließend auf Skeffingtons Beifahrersitz Platz nehmen.

»Nun ... «, begann ich und redete irgendeinen Stuss, mit dem ich vorgab, mich zu bedanken.

»Ah, keine Ursache«, erwiderte der Doc und fuhr los, beide Hände am Lenkrad, die Augen geradeaus. Ein achtsamer Autofahrer. Man hätte meinen können, er lege gerade seine Fahrprüfung ab.

»Sie sind Arzt, wie ich sehe.« Seine Tasche lag zu meinen Füßen.

»Ja.«

»Viel zu tun?«

»Klar doch. Januar. Sie wissen ja, wie das ist.«

Und ob ich das wusste. Ich hatte gerade eine Hals­entzündung überstanden. Antibiotika inklusive. »Wissen Sie«, sagte ich und steuerte direkt auf den Grund zu, weshalb ich die Mitfahrgelegenheit arrangiert hatte, »eine Sache hat mich schon immer interessiert und vielleicht können Sie mir da weiterhelfen.«

»Und die wäre?«

»Ein Bekannter meiner Frau ist Vater geworden – eine Hausgeburt – und als es um die Geburtsurkunde ging, hat man sie ihm einfach so ausgehändigt. Ohne Vorlage eines Beweises. Ich meine, woher haben die gewusst, dass er die Wahrheit sagt? Er hatte das Baby ja nicht dabei.«

»Im Falle einer Hausgeburt ruft der Arzt oder die Hebamme die für die Gegend zuständige Entbindungs­station an – für Clonkeelin ist das Saint Martin’s in Dublin – und die Geburt wird in das Register eingetragen. Das Standesamt muss nur die entsprechende Entbindungsstation anrufen, um sich die Geburt bestätigen zu lassen, bevor die Geburtsurkunde ausgestellt wird.«

»Wenn dem so ist, könnten Sie mir dann einen Ge­fallen tun?«

»Und welchen?«

»Rufen Sie Saint Martin’s an und erklären Sie, dass Sie soeben ein Kind auf die Welt geholt haben.«

»Wie? Was für ein Kind?«

»Ein Mädchen.«

»Was für ein Mädchen?«

Ich glaube, dass ich einen Revolver aus meiner Innentasche zog, war ein Fingerzeig für ihn. Auf jeden Fall beeinflusste es sein Fahrverhalten. Nur ein Blick auf die Waffe und er fuhr beinahe in eine Hecke.

»Achten Sie auf die Straße«, sagte ich. »Nicht dass wir noch einen Arzt rufen müssen.«

Immerhin, er war ein zäher alter Knabe, der sich schnell wieder unter Kontrolle hatte. Der nicht den Eindruck machte, als würde er sich gleich in die Hosen scheißen oder so. Der vielmehr den Eindruck machte, als hätte ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Interessant, was sich in den Gesichtern der Leute bei einem solchen Theater abspielt. Aus manchen weicht alle Farbe. Aller­dings bedarf es nicht immer einer Waffe, damit es zu einer Reaktion kommt – Schritte, die sich nach Löschen des Lichts dem Schlafsaal nähern, erzielen in der Regel den gleichen Effekt; man lernt eben, bestimmte Schritte zu erkennen –, wenn nur das Talent des anderen dafür sorgt, dass den Leuten quasi die Spucke wegbleibt. Der Doc ordnete sich schnell in diese Kategorie ein. Von da an klang er, als habe er einen Drink bitter nötig. Völlig in Ordnung, solange es seine Stimme nicht allzu sehr beeinträchtigte. Um seine Stimme ging es mir. Ziemlich wahr­scheinlich, dass man die in Saint Martin’s erkannte. Klar, ich konnte jederzeit selbst dort anrufen und mich als Dr. Skeffington ausgeben, der eine Geburt melden wolle, aber was, wenn ich an eine Schwester geriet, die ihn kann­te? Sie würde sofort wissen, dass ich nicht er war. Wenn er hingegen anrief, würde das Ganze echt wirken.

»Hören Sie«, sagte er, »ich weiß nicht, worum es hier geht, aber – «

»Kein Aber, Doc. Halten Sie einfach an der Telefon­zelle dort.« (Ich hatte sie auf der Hinfahrt ausgespäht, für die Tour zurück.) »Sorgen Sie nur dafür, dass der Anruf so abläuft wie Ihre anderen Anrufe. Danach können Sie nach Hause fahren.« Ich halte es für das Beste, den Leu­ten nicht zu viel zu verraten, wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Auf diese Weise können sie sich sagen, dass alles gut wird, solange sie einfach nur tun, was man von ihnen verlangt. Natürlich ist das Unfug, aber so was nennt man Selbstschutz.

Er trat auf die Klötzer.

»Rein mit Ihnen«, sagte ich und folgte ihm. »Erklären Sie denen, dass Anne Donavan gerade entbunden hat.«

»Anne Donavan? Aber Anne ist nicht mal schwanger.«

Was, bitte, spielte das für eine Rolle? Keine Ahnung, aber manchen Leuten muss man alles zehnmal sagen. »Rufen Sie an, Doc, und hören Sie auf zu diskutieren. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit. Also los, machen Sie schon. Und vergessen Sie nicht, die Adresse durch­zugeben.«

Er spurte, fuhr über die Tastatur, drückte zweimal die »A«-Taste und dann meldete sich das Krankenhaus. »Hallo, hier ist Dr. Skeffington ... ich habe gerade Anne Donavan entbunden, Clonkeelin ... « Das übliche Blabla.

»Ein Mädchen«, flüsterte ich.

»Ein Mädchen«, sagte er zu wem auch immer. »Eine Tochter.«

Ich hatte mich übrigens entschlossen, das Mädchen Frances zu nennen. Frances Anne Donavan. Ich mag den Namen Frances. Die »Anne«-Geschichte sollte dem Mädchen zu gegebener Zeit als Zeichen dienen, woran es sich würde orientieren können. Die Geburt des Kindes war jetzt durch Anne Donavans Arzt angezeigt worden.

»Gut«, sagte ich, »steigen Sie wieder ein.«

»Kann ich jetzt fahren?«

Mann, das war echt nicht zu fassen. »Sie erwarten doch nicht etwa, dass ich nach Hause humple, oder?« Was war das nur für ein Arzt! Hier ging es wahrscheinlich um die übermäßige Anstrengung, zehn Meilen nach Dublin zu fahren. Das soll nicht heißen, dass ich ge­radewegs dorthin wollte. Neben der Notwendigkeit, mich des Docs anzunehmen, konnte ich meinen Mercedes nicht zurücklassen, damit Winters ihn entdeckte und sich sagte: »Leck mich am Arsch, das ist doch Red Docks Wagen. Möchte wissen, was das zu bedeuten hat« – wie Cops eben so sind, wollen immer wissen, was was zu bedeuten hat.

Ich stieg hinten ein und sagte dem Doc, wohin die Reise gehen solle. Und es kam der Zeitpunkt, in Er­innerungen zu schwelgen. »Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«

»Nein. Nein, tu ich nicht.«

Seit unserer letzten Begegnung hatte ich etwas an Gewicht zugelegt. »In der Nacht, als ich geboren wurde, haben Sie ein ähnliches Telefonat geführt.« Dafür hatte es in dieser Nacht keiner Waffe bedurft.

»In der Nacht, als Sie geboren wurden?«

»Sie haben mir auf die Welt geholfen. Meine Mutter hieß Teresa Donavan. Sie bekam Zwillinge.«

Ich glaube, mit Erinnerungen hatte er es nicht so. Er machte sich eher Gedanken um seine Zukunft. Aber dann nahm sie Gestalt an. Nicht seine Zukunft – die war auf bestem Wege, besiegelt zu werden. Nein, die Erinnerung. Keine angenehme, der Fresse nach zu urteilen, die er zog. Ich tippe mal darauf, dass er sich wünschte, zu Hause zu sein und die bösen Jungs auf der Mattscheibe zu sehen statt in seinem Rückspiegel.

»Wer von uns beiden wurde zuerst geboren?«, fragte ich. Da besagte Lady sich mittlerweile mitsamt der Information von uns verabschiedet hatte, war er vermutlich der Einzige, der es noch wusste.

»Ah ... «

»Sean oder ich?«

»Ah ... «

»Schluss jetzt mit diesen ›Ahs‹, Doc. Sie untersuchen hier nicht meine Mandeln. Wer von uns war der zuerst Geborene? Sean oder ich?«

»Ah ... « Scheiße. Er hatte nicht mal im Ansatz darüber nachgedacht. »Warum, in Gottes Namen, fragen Sie mich das?«, war die Sorte Mist, von der er glaubte, dass ich mich damit zufriedengäbe.

»Antworten Sie mir.«

»Aber ich weiß es nicht.«

»War Sean der Erste oder ich? Übrigens, ich bin Robert, nur für den Fall, dass Sie mich nicht wiederer­kennen. Schön, Sie nach all den Jahren wiederzusehen. Wer von uns wurde zuerst geboren? Eine ganz einfache Frage. Sean und ich haben immer gewettet. Er hat immer gewettet, dass er es war. Ich hab dagegengehalten und gewettet, dass ich es war. Wie Kinder eben so sind. Also, wer wurde zuerst geboren – Sean oder ich?«

»Ich weiß es nicht, Gott ist mein Zeuge. Es ist zu lange her.«

»Denken Sie nach, Mann, los! Wie vielen Zwillingen haben Sie auf die Welt geholfen, die Ihnen danach nie wieder unter die Augen gekommen sind, verdammt noch mal?«