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VORWORT

Sieben Weltwunder sind nicht genug

Die Sieben ist eine magische Zahl. Sieben Wochentage, sieben Todsünden, siebter Himmel, Siebenschläfer, sieben Meere, sieben Geißlein und sieben Zwerge. Sieben Himmelskörper konnten die frühen Astronomen am Himmel ausmachen, dem Gott Apollon war die Zahl Sieben geweiht, sieben Arme hat die jüdische Menora … die Beispiele sind zahlreich. So gab es natürlich auch sieben Weltwunder, als man in der Antike daran ging, Reisenden Empfehlungen auszusprechen, was in fremden Landstrichen besonders sehenswert war.

Die älteste erhaltene Liste der sieben Weltwunder findet sich in einem Epigramm des Antipatros von Sidon (S. 136), verfasst ca. 100 v. Chr. Er nennt darin die Stadtmauern von Babylon, die Zeusstatue von Olympia, die hängenden Gärten von Babylon, den Koloss von Rhodos, die Pyramiden von Gizeh, das Grab des Königs Mausolos II. und den Artemis­tempel von Ephesos. Allerdings erfüllt das Gedicht einen bestimmten Zweck: All diese Bauwerke, so der Autor, habe er gesehen, doch die ersten sechs seien nichts gegen das siebte, den Artemistempel von Ephesos. In gewisser Weise hat er recht: Dieser Tempel ist der größte, der jemals in der griechisch-römischen Antike entstand.

In der Spätantike erfuhr diese Liste eine entscheidende Modifikation. Die Mauern von Babylon waren so weit dem Vergessen anheimgefallen, dass sie gestrichen und stattdessen durch ein immer noch existierendes technisches Meisterwerk ersetzt wurden – den einzigartigen Leuchtturm von Pharos in der Stadt Alexandria, das wohl höchste Bauwerk des Altertums. Schon dies zeigt die Subjektivität der damaligen Auswahl.

In dieser neuen Form wurde die Liste der sieben Weltwunder kanonisch für die Renaissancezeit, als man die Antike, ihre Bauten und ihre Bedeutung für die europäische Kultur wiederentdeckte und neu schätzen lernte. Die im 18., 19. und 20. Jh. methodisch immer weiterentwickelte Disziplin der Archäologie brachte längst vergessene Schätze ans Licht, die unter meterhohen Erd- oder Sandschichten verborgen waren, über denen im Mittelalter Städte entstanden waren, die zu Kirchen oder Festungen umgebaut worden waren oder die einst im Meer versanken. Die Museen Mitteleuropas, aber auch Amerikas und Asiens füllten sich mit Artefakten aus Rom, Griechenland und dem Orient.

Natürlich war man besonders begierig darauf, die sieben Weltwunder wiederzufinden. Doch da hatte man Pech: Nur noch die Pyramiden standen, wenn auch nicht ganz intakt, an Ort und Stelle; vom Artemis­tempel und dem Grab des Mausolos fand man immerhin noch Spuren. Alles andere war unwiederbringlich verloren (die Mauern von Babylon wurden zwar ausgegraben, gehörten aber längst nicht mehr zum Kanon). Und doch hat man inzwischen viele Dutzend weitere in der Antike entstandene Gebäude und Konstruktionen entdeckt, die ebenfalls einen Platz in der Liste der Weltwunder für sich beanspruchen können. Sie sind Wunderwerke antiker Technik, meisterliche Ingenieursleistungen und demonstrieren ein ums andere Mal, wozu der Mensch schon im Altertum fähig war, aber auch, was er das dunkle Mittelalter hindurch vergaß, verdrängte und verrotten ließ.

Nichtsdestotrotz haben auch die verschwundenen Weltwunder ihre Spuren hinterlassen: in der Literatur. Im 1. Jh. n. Chr. besuchte der Autor einer berühmten Naturgeschichte, Plinius der Ältere, Rhodos und hatte dabei Gelegenheit, den sagenumwobenen Koloss von Rhodos an Ort und Stelle zu bestaunen – freilich nachdem die Bronzestatue schon lange umgefallen und zerbrochen war: „Nur wenigen gelingt es, den Daumen mit den Armen zu umfassen, die Finger allein sind größer als die meisten Statuen. Wo die Glieder auseinandergebrochen sind, gähnen riesige Höhlen. Im Inneren sieht man auch noch die Felsbrocken, die durch ihr Gewicht das Aufstellen der Statue erleichterten.“ Doch die Literatur, die belletristische wie auch die Sachliteratur, vermag viel mehr als bloß mit Worten Gegenstände abzubilden: Sie kann uns Stimmungen und Gefühle vermitteln, uns Neues erleben lassen und reist mit uns in die Vergangenheit.

Alle 49 in diesem Band vorgestellten antiken „Weltwunder“ haben ihren Platz in der europäischen Literatur gefunden. Schriftsteller, Reisende, Dichter, Forscher, Unterhaltungsautoren von der Antike bis heute: Sie alle kommen hier, meist ausschnittsweise, zu Wort und spiegeln uns, wie man in ihrer Epoche und ihrem Kulturkreis die Begegnung oder Wiederbegegnung mit den Monumenten des Altertums erlebt hat – mal heiter, mal dramatisch, mal sachlich, nachdenklich oder auch unfreiwillig komisch. Bei den Textstellen ist das Jahr der Entstehung in Klammern gesetzt; die Orthographie der deutschen Originaltexte wurde getreu der Vorlage belassen.

Die Auswahl der jeweils kurz beschriebenen Monumente ist dabei zwangsläufig eine subjektive – wie es ja auch die antike Liste der sieben Weltwunder war. Immerhin folgt sie aber bestimmten objektiven Kriterien. So finden sich neben den kanonischen sieben Weltwundern die größten griechischen Tempel, die besterhaltenen Theater, die beeindruckendsten Profanbauten und die beliebtesten touristischen Sehenswürdigkeiten. Topographisch konzentriert sich der Band auf die Stätten der klassischen Antike im (weiter gefassten) Mittelmeerraum, vom römischen Spanien über Konstantinopel, das minoische Kreta, Babylon und Palästina bis nach Ägypten, und schlägt somit eine Brücke über mehr als 3000 Jahre antiker Baukunst. Der eine oder die andere mag bemängeln, dass ihr oder sein Lieblingsmonument fehlt – aber sicherlich werden mir alle Leser in einem zustimmen: Sieben Weltwunder sind einfach nicht genug!

SPANIEN & SÜDFRANKREICH

Die südlichen Gebiete waren die eigentliche Erbschaft Roms von den Karthagern und ihr Kern Andalusien; alles Land, was südlich lag bis nach Gades hin, zu den sogenannten Säulen des Hercules, wo das europäische und afrikanische Festland über die Meerenge einander grüßen.

Aus: W. F. A. Zimmermann,
Der Mensch, die Räthsel und Wunder seiner Natur (1871)

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Brücke von Alcántara

Brücken gehören zu den großen architektonischen Meisterleistungen der alten Römer. Sie durchzogen Europa mit einem gut ausgebauten Straßennetz und ein ums andere Mal mussten sie dabei einen Fluss oder eine Schlucht überbrücken. Da Brücken, anders als z. B. Tempel, in der Regel im Mittelalter nicht ihre Funktionalität einbüßten, blieben sie oft relativ gut erhalten, wie diejenige bei Mérida oder der Pont Flavien. Die beeindruckendste Straßenbrücke aus römischer Zeit ist aber sicherlich die Brücke beim spanischen Alcántara, die seit über 1900 Jahren über den Tajo führt. 194 m lang und 50 m hoch gelegen ist ihre Fahrbahn und mitten darin steht, ebenfalls quasi unversehrt, ein Ehrenbogen für Kaiser Traian. Die Brücke besteht komplett aus Quadersteinen, die in der typischen Bauweise des späten 1. Jhs. n. Chr. ohne Mörtel auf­einan­der­ge­schich­tet sind und einander nur durch die ausgeklügelte Bauweise stützen (zugegeben: an ein paar neuralgischen Punkten helfen Metallklammern ein wenig nach). Heute ist die Brücke natürlich eine berühmte Sehenswürdigkeit; dass der Kunsthistoriker Jules Gailhabaud Mitte des 19. Jhs. erwähnt, sie sei „so wenig bekannt“, erstaunt bei einem so schönen und auch so alten Bauwerk, aber man muss bedenken, dass es zu dieser Zeit ja noch keinen Massentourismus gab. Und wer nahm eine Reise bis weit in die Extremadura auf sich, um sich eine Brücke anzusehen? Übrigens geht der Name der Stadt direkt auf dieses Bauwerk zurück: Die Mauren nannten sie, nachdem sie Spanien erobert hatten, „al-Qantara“ – das heißt nichts weiter als „die Brücke“.

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Aus: Jules Gailhabaud,
Denkmäler der Baukunst (1850)

Jules Gailhabaud (1810–1888),
französischer Architekturhistoriker und Spezialist für antike und mittelalterliche Kunst, war Mitglied der Académie royale de Belgique und schrieb ein wegweisendes Werk über die antike Baukunst. 1871 fiel seine umfangreiche Bibliothek einem Brand zum Opfer.

In dem spanischen Estremadura zwei und eine viertel Stunde von der portugiesischen Gränze befindet sich an dem Rande einer wilden Bergschlucht, die der Tajo durchrauscht, eine kleine Stadt, die man für das Lancia oder Norba Caesarea der Alten nimmt, dem Plinius auch den Namen Norbensis colonia giebt. Von den Mauren im VIII Jahrhundert erobert, empfing sie von ihnen den Namen Al Cantera, die Brücke, wegen einer prächtigen antiken Brücke, dem Gegenstande dieses Aufsatzes, die für eines der schönsten Bauwerke dieser Art gelten kann. Diese so merkwürdige und so wenig bekannte Brücke ist allein in Laborde’s Voyage en Espagne beschrieben. Obwohl Laborde’s Zeichnungen dieser Brücke so wie seine Beschreibung derselben manche Ungenauigkeiten enthalten, so haben sie doch unserer Arbeit zur Grundlage gedient.

Auf der Mitte der Brücke erhebt sich ein kleiner Triumpfbogen, der von verschiedenen Völkerschaften dieses entfernten Theils Iberiens dem Kaiser Trajan, ihrem Landsmann, errichtet worden, wie eine vollkommen erhaltene Inschrift auf dem Friese dieses Bogens anzeigt […].

Der blosse Augenschein genügt um zu erkennen, dass Brücke und Triumpfbogen zu gleicher Zeit und nach einem Plane gebaut wurden, und aus der ersten Inschrift geht hervor, dass die Brücke im Jahre 103 unserer Zeitrechnung errichtet wurde. […]

Kriege und Eroberungen haben an der Brücke manche Veränderungen hervorgebracht: Thürme und Forts sind an den Enden der Brücke errichtet oder an dem Triumpfbogen angebaut worden, der selber eine Zinnenkrönung erhalten hat; von allen diesen Schmarotzerbauten existiert jetzt nur noch ein Thurm mit einigen zugehörigen Werken, die den Eingang der Brücke von der Landseite her vertheidigen, und die Strasse, die nach Portugal führt, beherrschen. Bei den verschiedenen Eroberungen der Stadt haben Mauren und Portugiesen mehrere Brückenbogen gesprengt, um die Passage über die Schlucht zu unterbrechen, ohne dass dadurch die übrig gebliebenen Theile an Festigkeit verloren haben; übrigens ist die Wiederherstellung der zerstörten Theile mit solcher Sorgfalt geschehen, dass sie den antiken Bau weder an Festigkeit noch an Schönheit weichen, und es schwer ist sie auf den ersten Blick von den alten zu unterscheiden.

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Maison Carrée
Nîmes

Der besterhaltene römische Tempel steht nicht in Italien, sondern in Nîmes in Südfrankreich, in der früheren römischen Provinz Gallia Narbonensis. Er trägt den ebenso klangvollen wie pragmatischen Namen „Maison Carrée“ – „rechteckiges Haus“. Mit 26 x 13 m ist er nicht allzu groß (worauf Alphonse Daudet in witziger Weise anspielt), aber ein exzellentes Beispiel für den Podiumstempel, eine besondere Bauform, die in der augusteischen Zeit beliebt war. Agrippa, ein enger Vertrauter des Kaisers Augustus, ließ den Tempel etwa um 19 v. Chr. bauen und weihte ihn den Söhnen des Princeps. Schon im 4. Jh. bemächtigte sich die Kirche des Tempels und man machte u. a. ein Kloster daraus. Dadurch entging er so gut wie unbeschädigt der Zerstörung, ebenso die fensterlose Cella, die bei ganz wenigen antiken Tempeln auch nur ansatzweise erhalten ist. Die Umfunktionierung schützte das Gebäude jedoch nicht davor, im Inneren umgebaut und über die Jahrhunderte immer mehr in die umliegende Architektur integriert zu werden. Erst im 19. Jh. entfernte man die Umbauten und legte den Tempel wieder frei, indem man benachbarte Bauten abriss. Dabei kam auch ein Teil des großflächigen Forums wieder zum Vorschein, das den Tempel, der in der Antike im Stadtzentrum stand, einst umgab. Heute dient die Maison Carrée als 3-D-Kino: Im Inneren zeigt die Organisation Culturespaces Nîmes Romaine in kurzen Abständen einen 20-minütigen Film über die Geschichte der Stadt.

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Aus: Alphonse Daudet,
Die wunderbaren Abenteuer des Tartarin von Tarascon (1872)

Alphonse Daudet (1840–1897)
war ein französischer Schriftsteller und Mitglied der Pariser Bohème. ­Tartarin von Tarascon, eines seiner frühen Werke, blieb bis zu seinem Tod sein bekanntestes. Er ließ noch zwei Bände mit den Abenteuern des ­Protagonisten folgen.

Tartarin, der durch vielerlei Lektüre auf diesem Gebiete sehr unterrichtet war, gab mit größter Zuvorkommenheit jede nur erwünschte Auskunft, und das Ende vom Liede war, daß der Biedermann selbst nicht mehr recht wußte, daß er nicht in Schanghai gewesen war. So erzählte er denn auch mehr als hundertmal den Angriff der Tataren: seine Geschichte schloß regelmäßig mit den Worten: „Und nun ließ ich alle meine Angestellten bewaffnen, hißte die Konsulatsflagge, und dann ging’s piff, paff aus den Fenstern auf die Tataren.“ Staunend hörte der Klub die Erzählung an, und jeden überlief es kalt bei der Schilderung des Kampfes.

Nun möchte wohl so mancher meiner Leser einwerfen: „Dann war ja dieser Herr Tartarin ein ganz abscheulicher Lügner.“

O nein! Tartarin war durchaus kein Lügner.

„Aber er mußte doch recht wohl wissen, daß er niemals nach Schanghai gereist war.“

Nun ja, das wußte er allerdings. Und dennoch …

Ich will das näher zu erklären versuchen.

Es ist wirklich an der Zeit, sich ein für allemal darüber zu verständigen, daß die Bewohner der nördlichen Länder denen der südlich gelegenen ganz mit Unrecht den Vorwurf machen, sie seien alle zusammen Lügner. Es gibt keine Lügner im Süden, weder in Marseille noch in Nimes, weder in Toulouse noch in Tarascon. Der Südländer lügt eben nicht, er – irrt sich nur; er ist stets in einer eigentümlichen Selbsttäuschung befangen. Er sagt nicht immer die Wahrheit, das ist richtig – aber er glaubt doch immer, daß er sie sagt.

Die Lüge des Südländers ist keine Lüge, wenigstens ist sie nicht das, was man für gewöhnlich mit diesem Worte bezeichnet, sondern sie ist eine ganz merkwürdige Erscheinung.

Ja, ein merkwürdiges Etwas! Und wer mich nicht ganz versteht oder wer sich von der Richtigkeit meiner Behauptung überzeugen will, der gehe einmal nach dem Süden. Er wird sein Wunder erleben. Er wird den Dämon dieses Landes kennen lernen, in dem die Sonne alle Gegenstände so eigentümlich beleuchtet, daß sie in ganz anderen Dimen­sio­nen erscheinen, als sie in Wirklichkeit haben. Die kleinen Hügel der Provence, die nicht höher sind als der Montmartre, werden ihm als riesig hohe Bergzüge erscheinen. Die Maison carrée in Nimes, die auf dem Nippestisch Platz zu haben scheint, kommt ihm so groß vor, wie Notre-Dame in Paris.

Der Beschauer wird auch entdecken, daß der einzige südländische Lügner, wenn überhaupt von einem solchen die Rede sein kann, die – Sonne ist. Alles, worauf ihre Strahlen fallen, verändert und vergrößert sie. Was war denn Sparta zur Zeit seines höchsten Glanzes und Ruhmes? Ein Marktflecken. Und was war Athen? Höchstens das, was man heute als kleines Landstädtchen bezeichnet. Und doch erscheinen sie uns in der griechischen Geschichte als Großstädte. Die Sonne hat’s gemacht.

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Aqüeducte de les Ferreres
Tarragona

Die Katalanen nennen diese eindrucksvolle Aquäduktbrücke „Pont del Diable“, „Brücke des Teufels“. Wann der Aquädukt errichtet wurde, ist nicht ganz klar; die meisten Anhaltspunkte sprechen dafür, dass er in augusteischer Zeit entstand, auf jeden Fall wohl im 1. Jh. n. Chr. Die Brücke zählt zu den besterhaltenen Beispielen aus römischer Zeit – wahrscheinlich weil sie mehrere Kilometer von der antiken Stadt Tarraco, dem modernen Tarragona, entfernt lag, sodass sie nicht allzu attraktiv für Steinräuber war. Außerdem versorgte die Wasserleitung, die über diese Brücke führte, bis ins Mittelalter hinein die Bevölkerung von Tarragona mit Wasser, sodass sie immer wieder ausgebessert wurde – und, wie man bei Joseph Townsend nachlesen kann, auch noch im 18. Jh., auf Kosten der Kirche. Heute findet man das Bauwerk an der Kreuzung der Autobahn AP7 mit der Schnellstraße N240. Aber es lohnt sich, an der dortigen Mautstelle zu parken und den 2005 hier entstandenen „Parc ecohistòric del Pont del Diable“ zu besuchen: 217 m lang ist die Brücke, 27 m hoch und im Großen und Ganzen so vollständig erhalten, dass sie aussieht wie frisch erbaut. Man kann sogar von einem Ende zum anderen darüberspazieren – wenn auch bitte ganz vorsichtig.

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Aus: Joseph Townsend,
Reise durch Spanien in den Jahren
1786 und 1787
(1791)

Joseph Townsend (1739–1816)
war ein englischer Geistlicher, Arzt und Geologe. Er war einer der frühesten Verfechter der Einführung eines Systems zur sozialen Absicherung und Unterstützung der Armen. Außerdem entdeckte er ein Heilmittel gegen Syphilis.

Eine Stunde hinter Hospitalet kommt man in eine fruchtbare Ebene, welche auf der linken Seite von Bergen eingefaßt ist, und auf der rechten die See hat. Wir reisten nun einige Stunden durch einen beständigen Garten, der mit zahlreichen Dörfern besetzt ist, und ostwärts vor uns warfen die hohen Thürme ihrer Kirchen die Strahlen der untergehenden Sonne zurück. Dieses ergiebige Thal, Campo de Tarragona genannt, trägt in einer beständigen schnellen Folge hinter einander Weizen, Gerste, Mais, Bohnen, Erbsen, Garbanzos, Vicebohnen, Lauch, Zwiebeln, Knoblauch, Melonen, Gurken, Kalebassen, (cucurbita lignosa L.) Artischocken, Oliven, Oel, Wein, Mandeln, Granatäpfel, Feigen, Aprikosen, Johannisbrod, Flachs, Hanf, Seide, Luzerne, und allerley andre Gewächse, die theils zur Fütterung des Viehes, theils zur menschlichen Nahrung dienen.

In der Nähe von Tarragona wurden die Oelbäume niedergeschlagen, um den Weinreben Platz zu machen, zu einer Zeit da der Branntewein starken Abgang fand, seitdem dieser aber im Preise gefallen ist, hat man keine Oelgärten wieder angelegt.

Tarragona kann einen Liebhaber der Alterthümer unter allen spanischen Städten am meisten beschäftigen. Seine Aufmerksamkeit wird hier mannichfaltig gereizt, er findet Ueberbleibsel von einem Amphi­thea­ter, von einem Theater, von einem Circus, von einem Palast Augusts, von Tempeln, von einem Aquädukt, von Befestigungswerken, die zwar nicht von gleichem Alter mit jenen, aber doch auch alt sind.

Die Stadt hieß bey den Römern Tarraco. Man hat hier auch viele Münzen und Inschriften gefunden. Weil Scipio sie befestigte, so giebt man ein altes Grabmal, welches zwischen hier und Barcelona hinter Alta Fuilla linker Hand von der Strasse im Gebüsche steht, für das Grab des Vaters und Oheims vom Scipio Africanus, welche beyde in Spanien getödtet wurden, aus. […]

Die Wasserleitung bringt das Wasser 7 Stunden weit her und ist vermittelst einer Brücke über eine tiefe Ravine geleitet. Diese ist 700 Fuß lang und 100 Fuß hoch; unten hat sie 11 Bogen, und oben 25. Der verstorbne Erzbischof hat sie bloß auf seine Kosten wieder herstellen lassen.

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Pont du Gard
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Diese Aquäduktbrücke ist nicht nur eine der besterhaltenen ihrer Art, sie ist zugleich das größte römische Bauwerk, das man in Südfrankreich besichtigen kann – der Pont du Gard, benannt nach dem Fluss, der unter ihm hindurchfließt (auch wenn dieser heute „Gardon“ heißt und nicht mehr „Gard“). 275 m lang ist die Brücke, deren Wasser­leitung einst Nemausus (Nîmes) mit 20 Millionen Litern Wasser pro Tag versorgte. Bis ins Frühmittelalter wurde der Aquädukt als solcher genutzt, später dann zur Straßenbrücke umfunktioniert. Was der berühmte Aufklärer Rousseau im 18. Jh. in seinen „Bekenntnissen“ eindrucksvoll beschreibt, gilt heute nicht weniger: Wer unter dieser Brücke steht, die so hoch ist wie ein 15-stöckiges Gebäude, kann kaum anders als in Ehrfrucht vor der Baukunst der alten Römer zu erstarren, die selbst einem doch eigentlich alltäglichen „Gebrauchsgegenstand“ wie einer Leitung zur Versorgung der Bevölkerung mit Wasser etwas Erhabenes zu verleihen vermochte. Und dann die Nerven mit einem Schluck Evian, Perrier oder Volvic zu beruhigen.

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Aus: Jean Jacques Rousseau,
Rousseau’s Bekenntnisse (1765)

Jean Jacques Rousseau (1712–1778)
war Philosoph und Pädagoge; er gilt als der bedeutendste Vertreter der ­französischen Aufklärung und einer der geistigen Väter der Französischen Revolution. Seine Bekenntnisse gelten als Geburtsstunde der modernen Autobiografie.

Ich beendete meine Reise, während ich sie in der Erinnerung noch einmal durchmachte, und jetzt sehr zufrieden, in einem guten Wagen zu sitzen, weil ich mit noch größerem Behagen von den genossenen Freuden und denen, die mir verheißen waren, träumen konnte. Ich dachte nur an Saint-Andiol und an das reizende Leben, das meiner dort wartete; ich sah nur Frau von Larnage und ihre Umgebung; das ganze übrige Weltall war für mich nichts, selbst Mama war vergessen. Ich beschäftigte mich damit, in meinem Kopfe alle die Einzelheiten zusammenzustellen, in welche mich Frau von Larnage eingeweiht hatte, um mir im voraus eine Vorstellung von ihrer Wohnung, ihrer Nachbarschaft, ihrem Verkehrskreise, ihrer ganzen Lebensweise zu geben. Sie hatte eine Tochter, von der sie mir sehr oft wie eine blind eingenommene Mutter erzählt hatte. Diese Tochter stand im sechszehnten Jahre, war lebhaft, reizend und von liebenswürdigem Charakter. Man hatte mir versprochen, ich würde von ihr auf Händen getragen werden, und ich war sehr neugierig mir vorzustellen, wie Fräulein von Larnage den guten Freund ihrer Mama behandeln würde.

Das waren die Gegenstände meiner Träumereien von Pont-Saint-­Esprits bis nach Remoulin. Man hatte mich zur Besichtigung des Pont du Gard aufgefordert, was ich nicht zu thun verabsäumte. Nachdem ich einige vorzügliche Feigen zum Frühstück gegessen hatte, nahm ich mir einen Führer und machte mich auf den Weg, mir den Pont du Gard anzusehen. Es war das erste Römerwerk, das ich sah. Ich hatte erwartet, ein Baudenkmal zu sehen, würdig der Hände, die es errichtet hatten. Aber dieses Werk übertraf meine Erwartung, und das war das einzige Mal in meinem Leben. Die Römer allein waren im Stande, eine solche Wirkung hervorzubringen. Der Anblick dieses einfachen und großartigen Werkes überwältigte mich um so mehr, weil es inmitten einer Einöde liegt, wo die Stille und Einsamkeit das Werk großartiger erscheinen lassen und die Bewunderung um so lebhafter machen, denn diese sogenannte Brücke war nur eine Wasserleitung. Man fragt sich, welche Macht diese ungeheuren Steine, so weit von jedem Steinbruch entfernt, hierher geschafft und die Arme von so vielen Tausenden von Menschen in einer unbewohnten Gegend zusammengebracht hat. Ich durchstreifte die drei Stockwerke dieses großartigen Gebäudes, auf welches die Ehrfurcht mir beinahe die Füße zu setzen verbot. Der Wiederhall meiner Schritte unter diesen unermeßlichen Gewölben kam mir wie die gewaltige Stimme ihrer Erbauer vor. Ich verlor mich wie ein Insekt in dieser Unermeßlichkeit. Ich hatte, so klein ich mich auch machte, ein eigenthümliches Gefühl, das mir die Seele erhob, und seufzend sagte ich zu mir: „Ach, daß ich nicht als Römer geboren bin!“

Mehrere Stunden blieb ich dort in einer entzückenden Betrachtung. Ich kehrte zerstreut und träumerisch von dort zurück, und diese Träumerei war der Frau von Larnage nicht günstig. Sie hatte wohl daran gedacht, mich gegen die Mädchen von Montpellier zu schützen, aber nicht gegen den Pont du Gard. Man denkt nie an alles.

ITALIEN

Bald danach saß der Kaiser mit seiner Gefolgschaft in den goldblinkenden Sätteln. Zehn riesige Fackeln warfen ihr unruhiges Licht über das schweigsame Forum – bis hinauf zu den Zinnen des Kapitols. Flammrot bestrahlt, ragten die Säulen des Saturnus­tempels und die düsteren Gemäuer des mamertinischen Kerkers zum wolkigen Himmel auf.

Ernst Eckstein, Nero (1897)

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Concordiatempel
Agrigent

Im Valle dei Templi bei Agrigent kann man eine ganze Reihe atemberaubender Tempel entdecken, die zu einer Zeit entstanden, als Sizilien griechische Kolonie war. Der erstaunlichste unter ihnen ist der Concordia­tempel, irrtümlich benannt nach der römischen Göttin der Eintracht (es gibt Hinweise darauf, dass er eigentlich Kastor und Polydeukes geweiht war). Heute ist er einer der besterhaltenen griechischen Tempel überhaupt. Der knapp 40 x 17 m große Bau stammt aus der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. Seinen guten Erhaltungszustand verdankt er wohl v. a. der Tatsache, dass er Ende des 6. Jhs. vom Agrigenter Bischof in eine christliche Kirche umgeweiht wurde. Die darauf folgenden Umbauten sind inzwischen rückgängig gemacht worden, die letzte Restaurierung fand 2007 statt. Der Königsberger Historiker Ferdinand Gregorovius beschreibt den Tempel im 19. Jh. in einer Detailverliebtheit, die heutigen Beschreibungen, wie sie sich vor allem in Reise­führern finden, leider komplett abgeht. Man spürt in jeder Zeile das Bemühen, den Gegenstand Lesern nahezubringen, die vermutlich niemals das Glück haben werden, ihn sich im Original anzusehen.

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Aus: Ferdinand Gregorovius,
Wanderjahre in Italien (1877)

Ferdinand Gregorovius (1821–1891)
war ein deutscher Historiker und gilt als einer der größten Mittelalter-
Fachleute seiner Zeit. Für sein Werk über die mittelalterliche Geschichte Roms wurde er als erster Protestant mit der römischen Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet.

Es folgt auf den Junotempel der wohlerhaltene Tempel der Concordia. Auch er liegt auf einem Hügel in malerischer Umgebung von dürrem, rotbraunem Gestein, von Trümmern und üppigem Wuchs der Kaktusbäume. Bis auf das Dach, welches fehlt, ist er vollständig, mit beiden Fronten und allen seinen Säulen. Gleich dem Junotempel steht er auf vier Stufen; auch er hat einen Portikus von 34 Säulen in derselben Verteilung, so daß der Prospekt 6, die Seiten 13 zählen. Sie haben 20 Kannelierungen und eine Höhe von 6,83 m, 1,27 m im Durchmesser. Die Länge des Baues beträgt 42,12 m, die Breite 19,68 m, das ganze Gebälk hat eine Höhe von 2,98 m, so daß der Fries fast um 0,25 m höher ist als der Architrav. Es blieb also der Tempel durch die Karthager unzerstört und widerstand siegreich allen Unbilden der Zeit. Seine wohlerhaltene Herrlichkeit lockte im Mittelalter das Christentum, ihn zur Kirche zu benutzen, und so wurde sein Verfall glücklich abgewendet. Die Zelle schuf man im 15. Jahrhundert zu einer Kapelle um, welche dem heiligen Gregorio delle Rape, Bischof von Girgenti, geweiht wurde. Damals brach man in die Seitenwände derselben die zwölf Bogen ein, die man noch heute sieht, und die, weil sie in einem dorischen Tempel widersinnig sind, diejenigen beirren, welche von ihrem Ursprung nichts wissen. Später wurde die Kirche verlassen, und im Jahr 1748 stellte der Prinz Torremuzza den Tempel wieder her. Fazello hat ihm den Namen Concordia beigelegt, mit welchem ein dorisches Heiligtum nichts zu tun hat; er wurde dazu durch eine lateinische Inschrift verleitet, die man dort vorfand. Unter allen Tempeln Italiens und Siziliens hat kein einziger die Zelle so ganz erhalten wie dieser; denn sogar bis auf die Treppen, welche an ihrem östlichen Eingang auf das Dach führen, ist jeder Teil stehengeblieben und gibt nun ein vollkommenes Bild des dorischen Tempelbaus.

Es ist überhaupt der vollständigste und herrlichste Tempel Siziliens, denn jener von Segesta, dessen Portikus und Fronten gleichfalls erhalten sind, ward doch nicht vollendet, da sich keine Spur von einer Zelle auffinden läßt und die Säulen noch ohne Kannelierung sind. Die majestätischen braunen Säulen, basenlos, mäßig verjüngt, die weitausladenden Kapitäle, die schönen Verhältnisse des Gebälks, welches den Schmuck seiner Triglyphen ganz bewahrt hat, die einfache Größe der Architektur, bringen den reinsten Wohllaut hervor. Und wohl zeigt der dorische Bau, die schönste architektonische Form des Altertums überhaupt, nicht minder anschaulich, als es Plastik und Poesie vermögen, welche klare Kraft und Harmonie in der Seele des griechischen Volkes lebte, weil es imstande war, diese einfachsten architektonischen Gesetze zu finden. Man kann sich beim Anblick eines dorischen Tempels nicht der Betrachtung enthalten, in welchen großen und einfachen Rhythmen sich überhaupt das Leben der Griechen bewegt haben muß, wenn eben die gesamte natio­nale Empfindungsweise, die jedes Volk am allgemeinsten und sichtbarsten in der religiösen Architektur ausspricht, sich in solcher Gestalt darstellen durfte. Wir verstehen diese Harmonie, welche so einfach ist wie ein geometrisches Grundverhältnis, sehr wohl, aber das volle Gefühl ihres innern Zusammenhangs mit dem Wesen des Volks selbst können wir nicht mehr besitzen. So wenigstens glaube ich, daß der christliche Tempel von Monreale, das schönste Gegenbild dieses Concordiatempels, in seinem Zusammenhange mit den Lebensformen des Mittelalters uns viel lebendiger und begreiflicher erscheinen muß. Hätte Sizilien nichts mehr als diese beiden Gebäude, die Denkmäler oder Repräsentanten zweier großer Kulturen, so würde es schon um ihretwillen eins der merkwürdigsten Länder sein. Der dorische Tempel ist das leibhafte Abbild der strengen griechischen Weltordnung und ihrer tragischen Notwendigkeit; aller Zufall wie alles Phantastische ist von dieser ernsten Form abgeschieden, deren majestätische Einheit nicht zersplittert werden darf; kein vorwiegend malerisches Prinzip kommt zur Herrschaft, noch irgend Aufwand von Zeichnung, noch Spiel mannigfaltiger Gebilde. Dies gibt erst das christliche Gemüt vollständig frei und breitet sich malerisch in Arabesken und Mosaiken und Steinfigurenwerk jeder Art aus. Der dorische Tempel ist schmucklos bis auf die Triglyphen und die Skulpturen in den Metopen und Giebelfeldern, bis auf die schöne und einfache Zeichnung von Blättern und Mäandern am Gesimse; doch entbehrt er nicht der polychromen Malereien, deren Anwendung man in vielen Tempeln Siziliens nachweisen kann. Was endlich kann schmuckloser sein als die basenlose dorische Säule, deren ernstes und mächtiges Kapitäl imposanter wirkt als die späteren Formen ionischen und korinthischen Stils. Es scheint mir der dorische Tempel sehr charakteristisch für die ernste Natur Siziliens und für ein Land, welches eine nationale Begabung für die strenge Wissenschaft der Mathematik besaß.

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Olympieion
Agrigent

Neben dem Concordiatempel, einem der besterhaltenen griechischen Tempel, hat das Valle dei Templi